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Über dieses Buch:

Ist im Frankenreich des 8. Jahrhunderts die Zeit für einen Machtwechsel gekommen? Karl der Große schickt seine treuen Diener, den Edelmann Odo und den Mönch Lupus, nach Aachen: Sie sollen seinen Erben Pippin auf die neue Aufgabe vorbereiten. Aber der große Kaiser hat noch einen anderen Sohn, den er abschätzig nur den „Buckligen“ nennt – und Gibbus ist nicht länger bereit, sich in den Schatten zu verbergen. Er schmiedet einen ebenso mutigen wie eiskalten Plan, um selbst auf den Thron zu kommen. Doch damit bringt er nicht nur sich, sondern auch seine Familie und das ganze Reich in größte Gefahr … und Odo und Lupus müssen entscheiden, ob sie bereit sind, alles für die Krone zu riskieren.

Über den Autor:

Robert Gordian (1938–2017), geboren in Oebisfelde, studierte Journalistik und Geschichte und arbeitete als Fernsehredakteur, Theaterdramaturg, Hörspiel- und TV-Autor, vorwiegend mit historischen Themen. Seit den neunziger Jahren verfasste er historische Romane und Erzählungen. Eine Übersicht über seine bei dotbooks veröffentlichten Werke finden Sie am Ende dieses eBooks bei den Lesetipps.

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Originalausgabe Juni 2018

Copyright © der Originalausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Reiter

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Bildmotivs von shutterstock/Everett-Art.

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-96148-337-2

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Robert Gordian

Familienfehde

Odo und Lupus, Kommissare Karls des Großen – Achter Roman

dotbooks.

Kapitel 1

Dem edlen, gottesfürchtigen Petrus Candidus, Priester und Chorherrn in G., sendet Lupus, Notarius am Hofe des großen Königs Karl zu Aachen, Grüße und Heil.

Als dein Nachfolger in der Leitung des Skriptoriums des Klosters Fulda kannte ich dich gut und erinnere mich gern an unsere langen und tiefgründigen Gespräche über Gott, Jesus Christus und die Lehren des Augustinus und des Origenes. Nun hat mich ein Mönch namens Simon, der als Bote seines Abtes hierherkam, an dich erinnert, weil er dich in G. getroffen hatte. Er schilderte dich mir mit sehr freundlichen Worten und erwähnte auch, dass du dich nach mir erkundigt und ihm sogar einen Gruß an mich aufgetragen hättest.

Du möchtest erfahren, ob ich noch immer die Rechte und Gesetze unserer im Reich versammelten Völker studiere, um beizutragen, dass endlich eine allgemeine, aber auch für die einzelnen Stämme gültige Gesetzessammlung herausgebracht werden kann. Vorerst müssen ja die Capitulare unseres Herrn Königs Karl eine solche ersetzen, doch bestehen sie nur aus einzelnen Bestimmungen, manchmal ohne Zusammenhang, und geben den Richtern vor Ort viele Rätsel auf. Ein Gesetzbuch, das alle verstehen und anwenden können, wäre nötig. Ich war schon an verschiedenen, weit von hier entfernten Plätzen, um an Gerichtsversammlungen teilzunehmen und zu prüfen, wie die Richter, Scabini und Rachinburgen vorgehen. Vielerorts werden die alten Gesetze nicht mehr beachtet, zum Beispiel in Sachsen, wo wir wegen der allgemeinen Widerspenstigkeit und gottlosen Auflehnung eine »Capitulatio de partibus Saxoniae« anwenden müssen. Diese Gesetzessammlung wäre eines Drakon würdig. Für eher geringe Vergehen muss schon die Todesstrafe verhängt werden (zum Beispiel für Kirchendiebstahl, das Anbeten von Bäumen und Quellen oder die Verbrennung von Leichen). Das Volksrecht wird überhaupt nicht berücksichtigt. Dennoch befrage ich die Richter und mache mir Aufzeichnungen, es werden ja auch andere Zeiten anbrechen, und es wird dann milder und gerechter geurteilt werden.

Nun fragst du, was ich mit alldem zu tun habe. Hat Simon dir erzählt, dass ich als Königsbote unterwegs war, als missus dominici? Ja, in der Tat, ich war mehrmals eine Zeit lang an bestimmten Orten Stellvertreter des Königs. Unser Herr Karl hat nämlich einen Brauch eingeführt, den sein Vater, Herr Pippin, wiederentdeckt, den man aber eine Zeit lang vernachlässigt hatte: Er schickt jetzt wieder Königsboten in alle Richtungen, damit sie in den weitab vom Hofe gelegenen Städten, Weilern und Siedlungen überprüfen, ob die Menschen dort friedlich zusammenleben und ausführen, was die Regierung anordnet. Damit hapert es nämlich, unentwegt werden dem König Missbräuche und viele Verbrechen gemeldet, und es ist unsere Aufgabe, diese aufzuspüren und die Täter zu bestrafen. Du kannst dir denken, dass das keine leichte Angelegenheit ist. Vielerorts herrschen Verhältnisse, die vom Leben im Urwald noch nicht weit entfernt sind. Die Menschen vegetieren dort wie die Tiere in Erdhütten und Höhlen, bekämpfen und berauben einander, und Menschenleben gelten gar nichts. Aber genug geklagt. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu verbessern, was sich mit Gottes Hilfe verbessern lässt, und nach vorn in eine bessere Zukunft zu blicken.

Ich sage immer »uns«. Ja, als Königsbote habe ich einen Amtsgefährten. Sein Name ist Odo, er nennt sich »Odo von Reims« und ist Königsvasall. Ein prächtiger Bursche. Anfangs mochten wir uns nicht, jetzt aber sind wir dicke Freunde und verdanken uns gegenseitig, dass wir nach allem, was uns unterwegs widerfahren ist, noch lebendig auf Gottes Erde herumspringen. Ich werde dir Odo noch näher vorstellen, wenn es sich in meiner Erzählung ergibt. Wisse vorerst, dass wir auf unseren Reisen auch immer ein kleines Gefolge hatten: einen Diener und Schreiber namens Rouhfaz und einige Leibwächter, an der Spitze einen Sachsen namens Helko und einen Franken, der sich Fulk nennt, dazu – je nach Laune des Herrn Palastgrafen und des Herrn Kämmerers (von dem ja immer abhängt, wie viel Geld uns unterwegs zur Verfügung steht) –, dazu abhängig also von der Länge einer solchen Reise und den Gefahren, die wir zu gewärtigen haben, zwei weitere oder auch mal vier Wachleute, eher tumbe Knechte, doch brave Burschen. Auch von ihnen wird später noch die Rede sein.

In der hochgefährlichen Angelegenheit, in die wir, Odo und ich, verwickelt wurden und die ich dir schildern werde, handelten wir zeitweilig wieder als Königsboten, als missi dominici mit einer Mission, als commissarii mit einer Kommission. Leider ging diesmal manches in die Brüche, viele Hälse wurden zugeschnürt und mancher Kopf vom Rumpfe getrennt. Aber das konnten wir nicht verhindern. Wenn sich ein Sohn des Königs gegen seinen Vater empört … doch ich will nichts vorwegnehmen.

So wechsle ich, bevor ich dir den Fall erzähle, noch einmal das Thema. Simon, der Mönch, berichtete mir auch, dass du auf meine Hilfe hoffst. Wenn mich der Herr König oder der Herr Palastgraf zum Königsboten ernennt, bin ich ja nicht ganz ohne Einfluss. Doch das betrifft natürlich nur mein jeweiliges missaticum, mein Mandatsgebiet. Zurückgekehrt an den Hof, bin ich wie vorher ein einfacher Notarius mit der Nase in Pergamenten und Kodizes, mit krummem Rücken und mit Tinte beschmierten Fingern. Trotzdem will ich sehen, ob ich etwas für dich tun kann. Ich verstehe sehr gut, dass du dich schrecklich langweilst, wenn du mit den anderen Chorherren stundenlang das Lob Gottes singst, nur selten mal eine Messe zelebrieren darfst und täglich nur einen einzigen Becher Wein bekommst. So würdest du von deinem gegenwärtigen Posten gern in die Hofkanzlei wechseln. Stelle dir das nicht als Honigschlecken vor, aber mit Gottes Hilfe würdest du als ein kluger, gebildeter Geistlicher gewiss deinen Weg nach oben machen. Wie oft, so erinnere ich mich, sprachst du schon als Klosterbruder und frisch geweihter Pater in Fulda von deiner Hoffnung, einst zum Bischof emporzusteigen.

Man kann sich übrigens auch hier langweilen. Jetzt, da der Winter zu Ende geht, ist noch immer nicht viel zu tun. Sobald die Straßen jedoch wieder völlig schneefrei sind und die hohen Herren sich hier am Hof auf die Füße treten, haben wir ganze Berge von Akten auf unseren Schreibpulten. Zurzeit ist nichts los. Der König ist abwesend, vermutlich jagt er oder bereitet den nächsten Kriegszug gegen die Sachsen vor. Viele Straßen, vor allem die Waldwege, sind noch zugeschneit und unpassierbar. Der Hof wechselt alle zwei Wochen den Aufenthalt in einer der Pfalzen, die hier dicht beieinanderliegen und mit gemeinsamer Anstrengung unsere Versorgung (wir sind ja über 400 Leute) gerade noch gewährleisten können.

Da ich trotzdem nicht in meiner Zelle liegen darf und unter einer warmen Pelzdecke, die ich mir heimlich besorgt und vor Spitzeln und Dieben gut versteckt habe, ein Schläfchen machen kann, bewege ich meine klammen Hände (wir haben nur zwei dünne Kohlefunzeln hier in der Kanzlei) und schreibe Briefe. Meinem Vetter Volbertus, der Prior in einem bayerischen Bergkloster ist, habe ich schon mehrere geschrieben, und allmählich komme ich mir dieser ziemlich langen Episteln wegen schon fast wie ein Schriftsteller vor. Na, damit übertreibe ich. Doch wer alles maßt sich heute nicht an, ein Schriftsteller zu sein. Dazu braucht man weder Tugenden noch Talent, weder Kenntnisse noch Erfahrungen, man muss nur das dumme, ungereimte Zeug, was man im Kopf hat, einigermaßen wirkungsvoll aufs Pergament werfen können. O Horaz! O Vergil! O Tacitus!

Doch nun zur Sache. Wenn du, mein gottergebener alter Freund, dich für einen Richter, scabinus oder Rachinburgen des Hofgerichts geeignet hältst, wird es gut für dich sein zu erfahren, wie die Wahrheit in dieser Sache herauskam und unter welchen Umständen zuletzt noch das Schlimmste vermieden wurde.

Ich nehme an, dass du, obwohl weit entfernt vom Ort des Geschehens, von dem Prozess am Hofgericht vor zwei Jahren gehört hast, der mit so vielen Todesurteilen und anderen schweren Strafen für die Täter endete. Zum Unglück war auch ich direkt in den Fall verwickelt, und das hätte mich teuer zu stehen kommen können. Doch ich konnte meinen Kopf aus der Schlinge ziehen, was anderen nicht gelang. Viel verdanke ich meinem Freund Odo, der uns im letzten Augenblick durch einen Einfall rettete, auf den ich nie gekommen wäre.

Wenn ich dir jetzt zunächst die Namen der hohen Personen nenne, die in dieser Erzählung eine Rolle spielen, wirst du erstaunt sein oder erschrecken und vielleicht sogar das Pergament lieber ins Feuer werfen als weiterlesen. Mache es aber besser als ich und spare die teure Kalbshaut, du kannst ja den Inhalt im Gedächtnis bewahren und später noch einmal aufzeichnen. Ich habe den Mönchen, die im Kloster Lorsch die Reichsannalen verfassen, einen genauen Bericht angeboten, aber sie wollten ihn nicht haben. Der Abt würde niemals erlauben, dass späteren Generationen so viel Gottloses über unsere Zeit überliefert werde. Der wieder hat Angst vor dem Herrn Einhard, einem frommen Eiferer und Reliquiensammler, der jetzt am Hof der wichtigste Mann ist und ohne dessen Genehmigung nichts in die Annalen hineinkommt.

So will ich dich also, verzeihe mir das, als ein lebendiges Reichsarchiv benutzen. Du bist etwa zehn Jahre jünger als ich und wirst länger leben. So ist alles länger bei dir aufgehoben, und du wirst es vielleicht weitergeben in treue Hände. Hier gibt es solche Hände nicht. Warte aber damit noch, bis du glaubst, das Ende deiner Tage sei nahe, dann wähle nur einen Einzigen als deinen Gedächtnisbewahrer aus. Vermeide es, diesen Brief unter euch Chorherren herumzureichen und die Geschichte schon jetzt zu verbreiten. Es gibt unter den Dienern des Herrn zu viele Schwätzer, man hat ja in solchem Dienst viel Zeit. Wem immer du etwas anvertraust, er wird es ausplaudern. Der Fall gehört aber noch zu den streng gehüteten Geheimnissen des Reiches.

Als Boten sende ich dir den Simon zurück, der sich zurzeit auf Pilgerreise nach Rom befindet und mir versprach, uns hier in Aachen vor seiner Heimkehr noch einmal aufzusuchen. Er büßt, wie du wohl weißt, eine Schuld ab, und wenn Seine Heiligkeit ihn absolviert, wird er den größten Wert darauf legen, sich nicht gleich wieder schwer zu versündigen. Weiß man es aber? Er ist ein Mensch. Doch ich riskiere es mit ihm.

Und hier sind die Namen der hohen Personen: König Karl, Königin Fastrada, der Thronfolger Karl, der junge König Pippin von Italien, die Schwester der beiden Letzteren Rotrud, der Seneschalk Meginfred, der berühmte Gelehrte Alkuin, der Priester Fardulf; vor allem aber einer: der älteste Sohn König Karls – Pippin der Bucklige.

Die Namen einiger Nebenfiguren musste ich erfinden, weil sie meinem Gedächtnis verloren gegangen sind. Sie sind aber nicht wichtig.

Ich fange also in der Zeit vor zwei Jahren an, als es unversehens zu einer Verschwörung kam, die niemand erwartet hatte und die die Grundfesten des Reiches erschütterte.

In diesem Frühjahr hatte der König sich zunächst nach Ingelheim begeben, mit der Absicht, wie jedes Jahr ein Heer zu sammeln und auf die Sachsen dreinzuschlagen, damit sie sich endlich zu Gott im Himmel und Jesus Christus und nicht mehr zu Wodan, Donar und Saxnot bekannten, damit sie sich taufen ließen und brav den Zehnten zahlten. Mit der erwähnten »Capitulatio de partibus Saxoniae« hatte er ja schon die eiserne Keule geschwungen und sie massenweise bekehrt – und wenn nicht, in der Weser, der Aller, der Werra, der Fulda, der Ems und anderswo taufen oder ersaufen lassen.

Er wollte weiterreisen zum Reichskloster Lorsch, wo er sich gern aufhielt, weil er hier gegen sie auf der Lauer liegen und zur Abwechslung in den Bergen und Wäldern der Umgebung, im Odenwald, jagen konnte. Er wollte sich in Ingelheim, in der Nähe der großen Stadt Mainz, dem ehemaligen römischen Militärstützpunkt Mogontiacum, sogar eine ständige Residenz errichten, doch nun hatte er sich wohl endgültig für Aachen entschieden, wegen der heißen Quellen, die ihm das Badewasser liefern. Du weißt wohl, dass er ein leidenschaftlicher Schwimmer ist. Er braucht für die gewaltigen Schwimmzüge seines über sechs Fuß langen Körpers ein Becken von solchem Ausmaß, dass auch noch 100 andere Männer seines Gefolges darin Platz finden, mit denen er um die Wette schwimmen, sie untertauchen und sich mit ihnen seinen Spaß machen kann. Auch ich musste mich schon mit ihm messen, verlor natürlich und wurde ausgelacht.

Jetzt hatte er aber Aachen verlassen und sich erst einmal nach Ingelheim begeben. In Aachen atmeten wir auf. Im Frühjahr, wenn wieder ein Kriegszug bevorsteht, ist er unerträglich, und wehe dem, der seine Befehle nicht sorgfältig ausführt. Bevor er an der Spitze von 600 Königsvasallen davonritt, ordnete er noch die Schwertleite für seinen Sohn Pippin an, der gerade 15 Jahre alt geworden war. Er selbst hieb dem schwachen Knaben das Schwert auf die Schulter, sodass der dabei fast zusammenbrach. Die Ärzte vermuteten schon einen Knochenbruch. Königin Fastrada soll den König heftig gescholten und Pippin höchstselbst gesund gepflegt haben.

Dieser Vorfall sollte Folgen haben.

Dazu muss ich ein wenig ausholen. Pippin ist, wie du vielleicht nicht weißt, kein Sohn der Königin Fastrada, sondern das vierte Kind ihrer Vorgängerin als Gemahlin Karls, der Hildegard. Diese war erst 13 Jahre alt, als er sie zur dritten Frau nahm, nachdem er ihre Vorgängerin verstoßen hatte, eine Langobardin (die er zur Legitimierung nicht mehr brauchte, weil er das Langobardenreich in Norditalien schließlich militärisch erobert hatte). Unser König, schon Mitte 20, heiratete also diese blutjunge Schwäbin, die ihm in zehn Jahren acht Kinder gebar, von denen sechs – drei Söhne, drei Töchter – am Leben blieben. Dann starb sie mit 24 Jahren, sie war erschöpft und hatte wohl auch genug von diesem Karnickelschicksal. Ich sah sie oft, ein blasses Geschöpf, sie watschelte ja fast immer mit vollem Bauch daher, und alle Reisen des Königs, sogar zu den Feldzügen, musste sie mitmachen. Der König weinte ihr heiße Tränen nach und heiratete ein paar Monate später Fastrada, die wohl einer mächtigen Familie der Ostfranken entstammte. Die neue Frau war immerhin zum Zeitpunkt der Heirat schon 18 Jahre alt. Ihr Gemahl hatte ihr nun allerdings fast 20 Jahre voraus.

Auch sie gebar ihm Kinder, wenngleich in elf Jahren Ehe nur zwei Mädchen (von Fehl- und Totgeburten dieser von vielen Leiden Geplagten mal abgesehen), und sie lebte auch etwas länger, sie wurde 29. Um diese weinte er nicht, denn sie vertrugen sich nicht, und er hatte, als sie starb, schon lange eine Geliebte, unsere jetzige Königin Luitgard, vom Stamm der Alamannen. Ob sie wirklich Königin ist, kann ich allerdings nicht genau sagen, von einer Hochzeit, einer Krönung und Salbung weiß ich nichts. Jedenfalls scheint sie noch jünger zu sein als die anderen.

Ich hoffe, dich mit den Familiengeschichten unseres Königs, den man schon seiner ruhmreichen blutigen Waffentaten wegen den »Großen« nennt (was besser klingt als nur Karl oder Kerl), nicht verwirrt zu haben. Denn es geht noch weiter, und ich komme erst jetzt zur Hauptfigur.

Kapitel 2

Ich erwähnte oben die Schwertleite für den 15-jährigen Pippin, einen Sohn der Hildegard. Es gab hier am Hofe aber, wie du vielleicht gehört hast, noch einen zweiten Pippin – oder besser: einen ersten, Pippin den Älteren nämlich, den Sohn der Himiltrud, der ersten Frau König Karls. Alle Welt nannte ihn aber nur Pippin den Buckligen, und das mit Recht, denn er trug einen gewaltigen Höcker auf seinem Rücken herum, was ihn nötigte, sich beim Stehen und Gehen stets etwas krumm nach vorn zu neigen, damit das Gewicht dieses Ungetüms ihn nicht hintenüber zog. So musste er auch die Schritte auf seinen dünnen Beinen vorsichtig setzen und einen Stab von Elfenbein zur Stütze benutzen, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Bedenke, ein junger Mann von 20 Jahren! Wir haben zwar hier am Hof viele Krüppel, denen Hände und Füße fehlen oder denen Feinde Ohren und Nasen abgeschnitten hatten, doch eher wenige, die die Natur selbst so entstellt hat. Ich gestehe, stets Mitleid, aber auch Achtung für diesen Pippin empfunden zu haben, wenn er dahergewackelt kam. In das heimliche oder manchmal auch offene Gelächter der anderen konnte ich nicht einstimmen.

Dabei hätte er ohne den Buckel ein schöner Mann sein können. Seine Erscheinung wäre der eines Prinzen und Thronfolgers durchaus würdig gewesen. Seine ebenmäßigen Züge, seine Geist und Tatkraft verratenden Augen, sein welliges Haar, die lange, spitze, leicht aufgeworfene Nase, der schwarze Bart – alles an ihm war königlich. Doch leider … der Buckel, die etwas eingefallene Brust, die schmalen Schultern, gerade etwas mehr als fünf Fuß. Da war sein Vater, der »Kerl«, doch ein anderer: achteinhalb Fuß, die gewaltigen Atlasschultern, der Stiernacken, der runde Schädel, das kraftvolle eckige Kinn, der herrische Blick … nun, eben ein König. Wenn er auch nur allein ins Schwimmbecken stieg, schwappte das Wasser schon seitlich über.

Wenn aber »der Große«, die mächtigen Arme schwingend, seine Schwimmstöße tat und eine Bahn nach der anderen im warmen Wasser zurücklegte, erblickte er am Beckenrand seinen Sohn, den Buckligen. Der stand dort ängstlich, zitternd, krumm und starrte auf das Wasser, in das er hineinspringen sollte, hielt sich die Nase zu und konnte sich nicht entschließen. Und nackt und unbedeckt ragte an seinem schmalen Rücken der Buckel. Da schämte der König sich dieses Sohnes und lenkte die Blicke der Gefolgsleute ab, indem er sich auf den Nächsten warf und ihn tauchte und indem er sich selbst tauchen ließ. Das Badevergnügen war ihm aber verdorben. Sein Sohn – ein Missratener, eine groteske Figur, ein Feigling!

Und dabei war nun dieser Sohn der Thronfolger. Unzweifelhaft war er ja der Älteste. Er trug auch den Namen des mächtigen Großvaters. Pippin der Dritte, der Kurze, ebenfalls nicht gerade ein Riese, war ja als erster Karolinger König der Franken gewesen, er hatte den letzten Merowinger zum Abdanken gezwungen. Es grauste Karl, wenn er sich vorstellte, wie sein Sohn den Frankenthron bestieg und vielleicht nur auf dem Rand hocken konnte, weil ihn der Buckel hinderte, sich majestätisch zurückzulehnen. Bald mochte er ihn nicht mehr sehen, und nach und nach verbannte er ihn aus dem Hofleben. Zuerst musste der Knabe weit von ihm entfernt am Ende der Tafel sitzen, bei Ausflügen und höfischen Festen wurde er nicht mitgenommen oder fortgeschickt, die Halle mit dem Schwimmbecken durfte er nicht mehr betreten. Und schließlich, als er volljährig war, wies ihm sein Vater ein Königsgut zum ständigen Aufenthalt und Niesbrauch zu. Hier ging es ihm allerdings nicht schlecht, denn eine höfische Lebensweise inmitten einer angemessen zahlreichen Gefolgschaft war ihm erlaubt. Auch concubinae waren dabei, die ihn lehrten, was ein Karolinger früh lernen musste.

Ja, er war ein Karolinger, und er war auch der Thronfolger. Das aber bedrückte seinen Vater, und er erwog, die Thronfolgeordnung zu ändern. Als seine Dritte, die sehr fruchtbare Hildegard, als erstes Kind einen kräftigen Sohn gebar, wurde er Karl genannt, und man munkelte schon bei Hofe, dass der Bucklige, was das Reich betraf, enterbt sei. Er war es auch, doch unterließ es der König, dies schon amtlich zu machen. Er wartete noch auf weitere Söhne und sah sich nicht getäuscht, als nach einem Mädchen (das bald starb) und einer weiteren Tochter der erwähnte jüngere Pippin zur Welt kam. Da es nun aber schon einen Pippin in der Familie gab, erhielt der Neugeborene zunächst den Namen Karlmann. Dieser Name, der ja nichts weiter aussagt, als dass ein Kerl ein Mann ist (oder sein sollte), war in der Familie der Karolinger ein üblicher, auch der selige Bruder des Königs hatte ihn getragen.

Mit diesem zweiten Sohn von der Hildegard hatte unser Herr Karl ebenfalls Großes vor, er brauchte nämlich einen König in Italien. Das 200-jährige norditalische Machtgebilde hatte er ja seinem Frankenreich einverleibt und sich selbst die eiserne Krone der Langobarden aufs Haupt gesetzt. Nur hatte er keine Zeit für die unruhigen Italer, weil ihn Sachsen, Awaren und Mauren beschäftigten, und er musste einen Stellvertreter benennen. Dazu sah er mit seinem berühmten Scharfblick den vierjährigen Karlmann schon besonders befähigt. So nahm er ihn und seine Mutter mit nach Rom zu Papst Hadrian und ließ ihn umtaufen: auf den Namen Pippin. Diesen Namen hatten schon zwei ruhmbedeckte Ahnen der Karolinger im Jahrhundert zuvor getragen, er war also tradiert und, so albern er klingt mit seinen drei »p«, besonders würdig. Man muss freilich aufpassen, dass er, wenn man ihn jubelnd ausstößt, nicht wie ein Schuss mit dem Mauerbrecher oder wie ein dreifacher Furz klingt. Ich bevorzuge deshalb, obwohl ich Ostfranke bin, gewöhnlich in mündlicher Rede nicht die tiudiske, sondern immer die frankoromanische Fassung dieses Namens, die man hier auf der westlichen Seite des Rheins verwendet – Pépäng. Das klingt zwar auch nicht gut, doch etwas besser. Schriftlich will ich zur Unterscheidung der beiden Pippine den jüngeren, den König, von nun an Pippinus nennen. Den älteren Pippin werde ich auch wie alle, die nur Latein oder Romanisch sprechen, gelegentlich als »Gibbus« bezeichnen, was »Buckel« bedeutet. Nimm es nicht übel, doch die Gewohnheit …

Der kleine Karlmann kehrte also als kleiner Pippinus an den Hof zurück, wo ihn nun einer besonders scheel ansah: dieser sieben Jahre ältere Halbbruder gleichen Namens, Pippin der Bucklige, Gibbus. Der Elfjährige, der beim Unterricht in Grammatik und Rhetorik in der Domschule immer der Beste war, beschwerte sich laut und öffentlich über den Diebstahl seines Namens. Dabei durfte er ihn aber behalten, er selbst wurde nicht umbenannt. Dennoch hielt er, meistens aus seiner Ecke an der Tafel, gewagte Reden mit Vorwürfen gegen seinen Vater, der ihnen, weil des Lateinischen nicht ausreichend kundig, aber kaum folgen konnte, zumal sie mit Zitaten aus römischen Schriften gewürzt waren. Anstelle seines königlichen Vaters, der sich dabei lieber dem Schweinebraten widmete, antwortete ihm der gelehrte Herr Alkuin, diese leuchtende Sonne der Wissenschaft, der gute Geist an unserem Hofe. So setzte er dem Buckligen zum Beispiel auseinander, dass bei seinen bewunderten Römern aus einem Octavian ein Augustus, aus einem Nero Claudius ein Germanicus und – abwertend – aus einem Gaius ein Caligula, ein Stiefelchen, geworden war. Und dabei endeten sie alle ganz weit oben, wurden Kaiser und Feldherren.

Damit konnte er aber Pippin den Buckligen nicht beruhigen. Denn am Ende wurde es auch amtlich: Nur die Söhne der Hildegard sollten dem Herrn Karl nachfolgen und erben: Karl, der Älteste, als König der Franken das ganze Reich, Pippinus, der Mittlere, als Unterkönig Italien, schließlich der Jüngste, Ludwig, Burgund und Aquitanien. Alle waren zunächst noch unmündig, wurden nun jedoch sorgsam vorbereitet, damit sie sich später auf ihrem Thronsitz nicht nur die Hosen aufscheuerten. (Ich selber hatte an ihrer educatio als Lehrer verschiedener Volksrechte Anteil.)

Um den ältesten der Söhne unseres Herrn Karl, Pippin den Buckligen, kümmerte sich niemand mehr. Er bekam zwar nach einigen Jahren auch seine Schwertleite, galt aber nicht viel mehr als ein einfacher Königsvasall, soviel er auch weiter protestierte. Er fand unter seinesgleichen kaum noch Zuhörer, denn welcher Vasall oder Priester oder Notarius wollte sich diese Brandreden gegen den höchsten Gebieter anhören oder gar Beifall dazu schreien, um dann bei der nächsten Beförderung leer auszugehen oder vielleicht in den Kerker geworfen zu werden. Nach mehreren unangenehmen Zwischenfällen – einmal gerieten Leute des Königs und des Pippin mit Fäusten und Dolchen aneinander, sodass es Tote und Verletzte gab – wurde der Bucklige, wie ich erzählte, vom Hofe verbannt. Da waren wir, offen gesagt, alle froh, weil das Feuer auf diesem Unruheherd gelöscht war.

Vorerst, muss ich sagen, vorerst! Der Gemaßregelte nahm Vernunft an. Was konnten er und seine Gefolgschaft von 20, 30 Schwächlingen auch gegen das Gebot des mächtigen, gottgefälligen, gesalbten Herrschers unternehmen? Man sah ihn zunächst nur noch manchmal am Hofe, wenn sein Vater abwesend war. Dann humpelte er in seinen mit Diamanten besetzten hohen Schuhen umher, den gepolsterten weiten Seidenmantel, der seinen Rücken etwas begradigte, hinter sich herwehen lassend, immer noch lateinische Reden haltend, die kaum jemand verstand, immer noch den Thronfolger spielend. Wenn er kam, kam er nur nach Aachen, der Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten wegen, die diese Pfalz bot, und wohl auch, weil die Entfernung von seinem domicilium nur eine sehr kurze war. Er kündigte sich nie, wie es üblich ist, durch Boten an, sondern war plötzlich da. Und wenn ich am Fenster der Kanzlei saß und schrieb, hörte ich plötzlich seine helle, Befehle erteilende Stimme, und hinausblickend sah ich, wie er sich, von mehreren gestützt und geschoben, auf seine sanfte Stute quälte. Einmal wurde ich Augenzeuge, wie er dabei stürzte und sich ein Bein brach, doch dieser Schaden konnte behoben werden.

In letzter Zeit war er wieder häufiger in Aachen aufgetaucht, was daran liegen mochte, dass sein Vater, der immer noch die Sachsen und wieder die Awaren bekämpfte, während der warmen Jahreszeiten ständig im Felde lag und sich kaum noch in seinen Pfalzen aufhielt. Der Bucklige war nun 20 oder 21 Jahre alt.

Ich selbst befand mich zu der Zeit, in der die Geschichte beginnt, die ich dir, mein Freund, schildern will, gerade in Ingelheim, der 15 Meilen von Mainz entfernten, prachtvoll neu gestalteten Königspfalz. Hierher hatte der König – oder besser: Herr Alkuin, der für den Schriftverkehr des Hofes mehr oder weniger allein zuständig war – vorübergehend die Kanzlei verlegt. Vor der längeren Abwesenheit des Herrschers musste noch manches erledigt werden. Aus allen Teilen des Reiches reisten die hohen Herren an, Bischöfe, Äbte und Grafen zumeist, und ließen sich ihre Ämter, Lehen und Privilegien bestätigen oder aufs Neue beschenken. Wir Notare und Referendare schufteten bis tief in die Nacht. Bei dem Konzert unserer kratzenden Federn fand nicht einmal Soccus, unser Kanzleihund, seine Nachtruhe.

Jetzt bin ich – zwei Jahre später – wieder an meinem Platz in der Aachener Kanzlei, und nun soll die Geschichte, nachdem einige wichtige Figuren vorgestellt sind (es müssen und werden noch mehrere folgen), in dem Augenblick beginnen, als unser Herr Kanzler an mein Schreibpult trat, mir einen mit Wachs bestrichenen Kodex reichte und sprach: