Carlie Sorosiak

MEIN
WILDES
BLAUES

WUNDER

Aus dem Englischen von Ulrike Köbele

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Carlie Sorosiak
wurde in North Carolina geboren und studierte englische Literatur und kreatives Schreiben in Oxford und London. Zu ihren Lebenszielen gehört, alle sieben Kontinente zu bereisen. Außerdem ist sie Fan der Gilmore Girls und verbringt gerne ganze Tage in Museen. Momentan reist zwischen den USA und Großbritannien hin und her, wo sie lebt und arbeitet. Ihre Romane wurden in mehrere Sprachen übersetzt.

Ebenfalls von Carlie Sorosiak im Arena Verlag:
If Birds Fly Back – Über die Liebe unter Berücksichtigung allgemeiner Gesetzmäßigkeiten

Für Onkel Mike, der den Wert alter Holzboote erkannt hat.
Wir vermissen dich schrecklich
.

1. Auflage 2018
Copyright © Carlie Sorosiak 2018
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Wild Blue Wonder bei
Macmillan Children’s Books, an imprint of Pan Macmillan, a division of
Macmillan Publishers International Limited.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2018 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Aus dem Englischen von Ulrike Köbele
Gedicht S. 61: Sonnet XVII von Pablo Neruda, übersetzt von Ulrike Köbele
Zitat S. 65: Moby Dick von Herman Melville, übersetzt von Alice und
Hans Seiffert, Insel Verlag 1956.
Umschlaggestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de, unter Verwendung von
Bildern von © istockphoto/Iulila Maskinets, fatumwr und Anthony Sejourne
ISBN 978-3-401-80787-4

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»Die Welt ist voller magischer Dinge, die geduldig darauf warten, dass unser Verstand schärfer wird.«

– fälschlicherweise Bertrand Russell
zugeschrieben

Oktober

The Hundreds

Sie sollte doch nicht klopfen.

Hana Chang kommt aus dem Wäldchen gestürmt, das unsere beiden Häuser miteinander verbindet, und hämmert mit beiden Fäustlingen an mein Schlafzimmerfenster – genau das, was sie nicht tun sollte. Und schon gar nicht sollte sie dabei »Quinn! Hu-hu!« durch die Scheibe brüllen.

Ich reiße mir die Kopfhörer vom Kopf, befördere meinen Quilt mit einem Fußtritt ans Ende des Bettes und sprinte zum Fenster, während ich mit den Händen Nein gestikuliere.

Hana erstarrt. Sie hat Fern ganz vergessen.

Das Bett auf der anderen Seite des Zimmers quietscht, als meine kleine Schwester sich darin herumwirft. Ihre Augen sind fest geschlossen, aber die Art, wie sie atmet, verrät, dass sie wach ist und bloß so tut, als wäre sie es nicht. Letztes Jahr wäre Fern aus den Federn gehüpft, hätte ihr hüftlanges Haar zu einem nachlässigen Dutt hochgebunden, ihre Handschuhe übergestreift und sich mit uns ins Abenteuer gestürzt. Sie wäre auf Zehenspitzen durch den Flur geschlichen, hätte bei unserem Bruder Reed angeklopft und wir hätten uns zu dritt durch die Eingangshalle nach draußen in den diesig weißen Garten gestohlen.

Aber mittlerweile passiert so was nicht mehr. Jetzt läuft es so: Fern schießt mit dolchscharfen Blicken um sich, Reed bringt die Erde zum Beben, wo immer er auch hinstapft, und ich … Na ja, ich denke, es ist nicht übertrieben zu sagen, dass es keinem von uns gut geht.

Hana zeigt auf das Kürbisfeld und das Baumhaus hinter ihr und ich nicke in stummer Zustimmung: Gib mir drei Minuten. Ihre Stiefel ziehen eine Spur durch den frisch gefallenen Schnee und jeder Fußabdruck glänzt wie der nasse Bauch eines Fischs.

Ich husche auf leisen Sohlen durchs Zimmer, schnappe mir Dads alte Segeljacke vom Garderobenständer, streife ein extra Paar Socken über und versuche, meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammenzubinden, bevor mir wieder einfällt, dass ich sie ja abgeschnitten habe. Letzte Woche erst, ganze fünfundvierzig Zentimeter – schnipp, schnapp, ab. Ich glaube, ich hatte sie einfach satt. Ich hatte es satt, jedes Mal, wenn mein Blick in den Spiegel fiel, zu denken: So sahen meine Haare letzten Sommer aus. Jetzt reichen mir die längsten Strähnen gerade bis unters Kinn. Mom und Nana Eden sind aus allen Wolken gefallen, bevor sie im Scherz meinten, wir könnten die Haare ja auch aufheben und eine Decke daraus machen. (Schon klar, weil das ja genau das ist, was jedes siebzehnjährige Mädchen braucht: eine Decke aus ihren eigenen Haaren.)

»Spare in der Zeit, so hast du in der Not!«, gluckste Nana, während sie sich vor Lachen so sehr krümmte, dass sie sich den Bauch halten musste.

Ich verstehe meine Familie nicht mehr. Außer vielleicht Galileo, der miauend vor der Haustür steht und mich mit seinem herzerweichendsten Armes-kleines-Kätzchen-Blick ansieht. Eine Plastikkrause umrahmt seinen Kopf wie ein Heiligenschein – selbst schuld, was musste er auch dieses Stachelschwein in den Wald jagen? Ich binde meine kniehohen Stiefel zu, schiebe ihn vorsichtig beiseite und ziehe die Tür hinter mir ins Schloss.

Hana flüster-ruft mir vom Baumhaus entgegen: »Aaah, sorry, war Fern sauer?« Sie rückt die Öhrchen an ihrer Otterhäkelmütze zurecht und sieht zu, wie ihr Atem in der eisigen Nachtluft zu einer pilzförmigen Wolke gefriert. Der Mond lässt alles silbern erscheinen, ein bisschen wie meine Haare. Mom sagt, das liegt daran, dass wir Sawyers schon in jungen Jahren ausgesprochen weise sind, aber dem würden wohl locker 95 Prozent der Bevölkerung von Winship, Maine, widersprechen. Die Leute in der Schule verwenden jedenfalls alle möglichen Adjektive, um mich zu beschreiben, doch »weise« war bis jetzt noch nicht dabei.

Um ehrlich zu sein, kann ich ihnen das nicht mal verübeln.

»Das kann ich mir dann morgen früh alles anhören«, stöhne ich. »Was ich daran bloß nicht verstehe: Fern schleicht sich mindestens einmal die Woche raus und das ist überhaupt kein Problem. Aber wenn ich es mache, schon.«

»Immer schön, wenn mit zweierlei Maß gemessen wird.«

»Das kannst du laut sagen.« Ich lege den Kopf schief und mustere ihre weiß-braune Gesichtsbemalung und das dünne Rinnsal aus Theaterblut, das ihr übers Kinn läuft. »Ich dachte, du wolltest dich dieses Jahr als was Furcht Einflößendes verkleiden.«

»Googel mal ›Otterangriff‹. Die lassen sich nichts gefallen.«

Das hier – genau das – ist der Grund, weshalb wir beste Freundinnen sind, seit sie in der zweiten Klasse aus New Jersey hergezogen ist. Begonnen hat alles mit Harry Potter, obwohl sie eine Hufflepuff ist und ich eine Slytherin. (Inzwischen gibt es zwar den virtuellen Sprechenden Hut auf Pottermore, aber wir wollen gar nicht rausfinden, welchen Häusern wir wirklich zugeteilt werden würden, denn am Ende würde das vielleicht alles zunichtemachen, was wir über uns selbst zu wissen glauben.) Ohne sie wären die letzten fünf Monate die Hölle auf Erden gewesen. Okay, das waren sie trotzdem, doch Ehre, wem Ehre gebührt.

Sie mustert mich zähneklappernd von Kopf bis Fuß. »Als w… was gehst du denn? Lass mich raten … Katniss Everdeen?«

»Ich glaube, dazu fehlen mir ein paar grundlegende Dinge: Pfeil und Bogen sowie Nerven aus Stahl.«

»Dafür hast du diese ganze Jägerin-im-Wald-Nummer voll drauf. Wir müssen dir nur noch eine braune Perücke besorgen.« Sie haut mir mit einem ihrer Otterpfotenfäustlinge auf die Schulter. »Ich hab dich echt tierisch vermisst heute.«

»Ach ja? Das hat man den siebenundzwanzig Fotos von karamellisierten Äpfeln, die du mir geschickt hast, kaum angemerkt.«

Sie grinst. »Ich dachte, damit könnte ich dich vielleicht aus deiner Hobbithöhle locken.«

»Tja«, sage ich, auch wenn das keine Antwort im eigentlichen Sinne ist.

»Du hast dir ein paar wirklich spektakuläre Kostüme entgehen lassen.«

»Welches war das beste?«

»Ich würde nicht sagen, das beste, aber Jason Talley ist als Duschvorhang gegangen. Unfassbar, dass er sich dabei keinen Gefrierbrand zugezogen hat oder so was. Im Grunde hat er bloß seinen nackten Körper in Plastikfolie gewickelt.«

»Musstest du dir danach die Augen waschen?«

»Mit viel Seife. Meine Netzhaut wird nie wieder die alte sein. Das gilt übrigens auch für die Polizisten, die gekommen sind, um ihn zu verhaften … Nächstes Jahr gehen wir aber zusammen hin, ja?«

»Ja«, wiederhole ich mit mehr Überzeugung in der Stimme, als ich empfinde. »Und, bist du startklar?«

Hana führt ein kleines Tänzchen auf, das ich als Jawoll werte.

Der Himmel versinkt in immer tieferem Schwarz, während die porzellanweißen Sterne uns fast schon schneidend hell anfunkeln – eine Oktobernacht, wie sie im Bilderbuch steht. Der Frost überzieht alles um uns herum mit Raureif. Ich schüttle meine Finger aus, damit sie mir nicht abfrieren, und sehe mich nach dem Luchs um, der sich früher immer in der Nähe unseres Kürbisfelds herumgetrieben hat. Nana behauptet steif und fest, dass seine Abwesenheit ein schlechtes Omen ist; in der ersten Nacht, in der er nicht aufgetaucht ist, haben sich all unsere Kürbisse lila verfärbt und die Temperatur ist um 15 Grad gefallen.

Fern hat ganze Nachmittage damit verbracht, aus dem Fenster zu gucken und ihn zu beobachten – weil sie es mochte, wie die Fellbüschel an seinen Ohren zuckten.

Wir verlassen das Baumhaus und bahnen uns einen Weg zwischen den gefrorenen Ranken hindurch. Als wir den Hügel erklimmen, platzt es aus Hana heraus: »O mein Gott. Ich glaube, ich werde echt nie darauf klarkommen.«

Ich auch nicht, schießt es mir sofort durch den Kopf, bevor ich kapiere, dass sie über The Hundreds spricht, das Sommerferienlager, das meiner Familie gehört. Wir sind nicht nur die Betreiber, wir wohnen auch auf dem Gelände. Im Mondlicht, mit der frischen Schneeschicht ist es fast schon aufdringlich schön. Kleine rustikale Holzhütten. Eine Wiese voll schlafender Wildblumen. Ein hundert Morgen großes Wäldchen aus Birken, Eschen und Ahornbäumen, die nachts miteinander wispern und tuscheln. Ganz egal, wie grün es hier im Juni auch ist, am schönsten ist The Hundreds im Herbst und im Winter. Einsam, ja, aber auch still und glatt – wie die langen, gleichmäßigen Pinselstriche auf einem Landschaftsgemälde.

»Es ist ein bisschen wie Narnia«, meint Hana.

»Nur ohne den Schrank.«

Im Juni und Juli halten wir hier ganze acht Sommerlager ab, für jeweils eine Woche – macht insgesamt fast achthundert Camper. Die Teilnehmer kommen montagmorgens an und fahren sonntagmittags ab; in der nächsten Woche trifft ein frischer Schwung ein und wir unternehmen wieder die gleichen Aktivitäten mit ihnen. Hana, meine Geschwister und ich gehören zum Betreuerstab – wir begleiten die Camper auf Entdeckungstouren in der Umgebung, entspannen mit ihnen in der Yoga- und Meditationshütte und führen alberne Theaterstücke auf. Die meisten Teilnehmer sind von außerhalb und für viele ist es das erste Mal, dass sie überhaupt aus der Enge der Stadt rauskommen. Das erste Mal, dass sie im Meer schwimmen, Glühwürmchen fangen oder an einem großen Lagerfeuer sitzen und geröstete Marshmallows essen. Und vor allem: das erste Mal, dass sie an einem Ort sind, der sich lebendig anfühlt – also, so richtig lebendig. Nana sagt, The Hundreds habe einen eigenen Herzschlag – wie ein Mensch. Als ich ein Kind war, habe ich deswegen oft Steine beiseitegerollt und meine Finger gegen die kühle Erde darunter gedrückt, um ihren Puls zu fühlen.

Egal, wen man in Winship auch fragt, jeder kennt die Gerüchte über all die unwahrscheinlichen Dinge, die sich auf The Hundreds abspielen. Blaubeeren, die im tiefsten Winter wachsen. Kranke Katzen, die sich in unseren Wald zurückziehen und gesund wieder rauskommen. Beim letzten Schneesturm sind sämtliche Tiere der Umgebung hierhergeflohen. Unser Haus ist genauso. Bunt zusammengewürfelte Tapeten, windschiefe Flure und hin und wieder taucht unerwartet ein geheimnisvolles Schimmern auf, mal in der Ecke eines Fensters, mal huscht es über die Badezimmerfliesen. Ein unnatürlicher Lichtfleck, der da vorher nie war. Gespenster? Nana und Mom glauben, ja.

Sie glauben außerdem, dass es auf The Hundreds ein Seeungeheuer gibt – irgendein Meereslebewesen, das in den Tiefen unserer Bucht haust. Jahrelang hielt ich die Vorstellung für so unwahrscheinlich, dass Nana sie sich nur ausgedacht haben konnte, vielleicht, um die Camper bei Dunkelheit vom Wasser fernzuhalten.

Aber dann habe ich angefangen, mich mit dem Thema unterseeischer Phänomene auseinanderzusetzen.

Und dann habe ich das Monster gesehen, in der schlimmsten Nacht meines Lebens.

Ein schwarzer Rücken. Glänzend. Glatt. Gigantisch.

Hör auf, hör auf, hör …

Schuldgefühle sprudeln in mir hoch wie Säure. Ich schiebe die Gedanken mit aller Macht beiseite.

Als wir auf der Hügelkuppe angekommen sind, beschleunigen Hana und ich unsere Schritte. In den Falten meiner Jacke sammelt sich die Feuchtigkeit. Ich ziehe sie enger um mich, obwohl mir die Kälte normalerweise nichts ausmacht. Ganz im Gegenteil. Bei Winships jährlichem Eisschwimmfest war ich immer die Erste im Wasser und habe hinterher noch im Badeanzug Schneeengel gemacht. Mom meint, das liegt daran, dass ich halb Mensch, halb Seehund bin – wie in diesem Hippiebuch, das Nana uns früher immer vorgelesen hat.

Hana fängt mit der Zunge eine Schneeflocke auf. »Es heißt doch, dass keine Schneeflocke der anderen gleicht, oder? Wäre es nicht cool, wenn sie je nach Ort auch anders schmecken würden?«

»Und wie genau? Der Schnee in Paris …«

»… würde nach Baguette schmecken. Ganz klar nach Baguette.«

»Und schwarzem Kaffee«, ergänze ich. »Trinken die da nicht immer literweise Kaffee?«

»Zumindest im Fernsehen … Oh!« Sie klopft auf ihren Otterrucksack und wippt auf den Zehenspitzen auf und ab. »Ich hab übrigens eine Kamera dabei. Die alte Spiegelreflex von meinem Dad. Ich dachte, wenn wir schon einen Geist fotografieren, sollten wir es auf die altmodische Weise machen.«

»Also gut, machen wir es auf die altmodische Weise.«

Am äußeren Rand von The Hundreds steht ein halb verfallenes Herrenhaus im viktorianischen Stil mit einem geradezu spektakulär spitzen Dach. Die Frau, die dort gelebt hat – der Winship Gazette zufolge eine siebenundachtzigjährige Tierfotografin namens Belinda Atwood –, war nicht unbedingt gesprächig; sie ist vor zwei Monaten gestorben und Nana hat erst davon erfahren, als es schon zu spät war, ihr zu Ehren einen Blaubeerkuchen zu backen. »Über-den-Jordan-Kuchen« nennt Nana das Rezept. Wann immer einer unserer Nachbarn das Zeitliche segnet, steht bald darauf eine mit Zwirn umwickelte Kuchenschachtel auf der Veranda der Angehörigen.

Gestern Nacht hat Hana auf der Rückfahrt von ihrem Monsterfilm-Club durch eines von Ms Atwoods Fenstern eine verschwommene Gestalt gesehen, die weiß gekleidet war und wie ein Weihnachtsbaum leuchtete. Hana stellte ihren Minivan ab, ging hinter einer Schneewehe in Deckung und rief mich an.

Ich antwortete: »Das kann auch jemand aus Ms Atwoods Familie sein oder so.«

»Ich sag dir, das ist niemand aus ihrer Familie.« Ihre Stimme schepperte durchs Telefon – eindringlich und resolut. »Erinnerst du dich an den Geist bei mir zu Hause, der angefangen hat, unsere Löffel zu stehlen? Ich weiß, wovon ich rede.«

»Ich dachte, das mit den Löffeln sei einer deiner kleinen Brüder gewesen?«

»Bleib bei der Sache, Quinn. Es ist das Wochenende vor Halloween, da passieren alle möglichen unerklärlichen Dinge. Und wir reden hier immerhin von The Hundreds.«

Da die Karriereaussichten als »Detektivin für Übernatürliches« eher begrenzt sind, ist Hana wild entschlossen, sich ihren zweitgrößten Berufswunsch zu erfüllen: Maskenbildnerin in Hollywood. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie viele Wochenenden wir damit verbracht haben, uns Der Herr der Ringe anzusehen, während Hana mir ausufernde Vorträge über die Feinheiten von Elbenohren hielt. Für sie ist das Abnormale etwas völlig Normales; sie glaubt aus ganzem Herzen an alles, was unerklärlich ist.

Trotzdem sollte sie nicht allein durch den Wald streifen. Also sagte ich zu ihr: »Okay, ich glaube dir. Aber jetzt fahr bitte nach Hause, ja?«

»Na schön. Dann sehen wir uns das eben morgen zusammen an.« Damit legte sie auf.

Der Schnee fällt in dickeren Flocken, als wir zu der Lichtung kommen, von der aus das blau-weiße Haus in sechzig Metern Entfernung vor uns zwischen den Hügeln auftaucht, als hätte es uns jemand vor die Füße geworfen. Sämtliche Lichter sind an.

Einen Moment lang stehen wir einfach nur da, während unser Atem sich wie die Tentakel eines Oktopus in der Luft kräuselt. Schließlich verlagere ich mein Gewicht von einem Bein aufs andere. Meine Zehen sind Eiswürfel. »Und was jetzt?« Stille. »Hana?«

Meine Freundin stockt, umklammert meine Hand mit ihrem Fäustling und flüstert: »Was ist das?«

Plötzlich höre ich es auch. Musik.

Die Geräusche des Waldes – der Wind, der zwischen den Bäumen säuselt, das leise Rascheln des Schnees, das ferne Rauschen des Ozeans – treten in den Hintergrund. Ich lasse Hanas Hand los und gehe zwei Schritte auf die Melodie zu, die aus einem der Fenster dringt. Gitarren, Streicher, ein fröhlicher Beat. Ich kann den Song nicht einordnen … aber habe ich ihn nicht schon mal gehört?

Ich bin mir vage bewusst, dass Hana wieder und wieder meinen Namen flüstert – Quinn, Quinn, das Fenster, das Fenster –, und in Gedanken erwidere ich: Jetzt warte verdammt noch mal, ich versuche, mich an was zu erinnern. Dann blicke ich auf und sehe den Geist. Nur, dass dieser Geist eindeutig kein bisschen übernatürlich ist: Es ist eine Frau, höchstens einen Meter sechzig groß, in einem formlosen weißen Kleid. Um sie herum flackert helles Kerzenlicht.

Und sie sieht uns direkt an.

Wie müssen wir auf sie wirken? Ein schwarzhaariges Mädchen im Otterkostüm, dem Blut aus dem Mundwinkel rinnt. Ein Mädchen mit rundem Gesicht und kniehohen Schnürstiefeln. Und beide stehen wie festgefroren im Schnee.

In dem Moment fällt mein Blick auf das sehr, sehr große Schild im Garten. ZUTRITT VERBOTEN steht drauf und es ragt glänzend aus einem Schneehaufen empor.

Ich sage: »Wir sollten gehen.«

Doch dann bricht die Musik ab. Aus dem Augenwinkel bemerke ich, wie die Haustür knarrend aufgeht und eine männliche Gestalt auf die Veranda tritt. Er hat etwas längere schwarze Haare, die wild in alle Richtungen abstehen, als sei er gerade erst aufgestanden, und er trägt eine Art gemusterte Schlafanzughose und ein T-Shirt, das die hellbraune Haut seiner Arme zur Geltung bringt.

»Wir sollten gehen«, wiederhole ich etwas lauter. Das Letzte, was ich gebrauchen kann, ist, dass jemand die Polizei ruft und den Leuten im Ort damit noch einen Grund gibt, sich das Maul über uns zu zerreißen. Ich packe Hanas Hand und zerre sie hinter mir her nach Hause.

Wenn es etwas gibt, worin ich gut bin, dann ist es Weglaufen.

Juni

In dieser Geschichte gibt es zwei Monster

Der Sommer begann mit einem Kanu.

Dylan: Eine Stunde, bevor die Teilnehmer des ersten Ferienlagers der Saison eintreffen sollten, dümpelten wir beide auf dem Wasser in der Bucht vor The Hundreds herum. Die Zeit rann bereits zäh und langsam wie Sirup dahin. Die Sonne tauchte uns in ihr gelbes Licht und brachte deine Sommersprossen zum Leuchten.

»Was wirst du ihnen über das Seeungeheuer erzählen?«, wolltest du wissen, die Augen gegen das helle Licht zusammengekniffen. »Ich denke, wir sollten unsere Geschichten abstimmen.«

Tags zuvor hatten wir unsere Betreuer-T-Shirts gebatikt. Ich meins in Korallenrot und Indigoblau. Du deins in leuchtendem Blau. Ich zog mir den Schirm meiner verblichenen Red-Sox-Baseballmütze ins Gesicht, um mich vor der Sonne zu schützen. Meine Haare waren noch nass von meiner morgendlichen Schwimmrunde – ein langes Seil, das ich mir über die Schulter geworfen hatte. »Ich sage, dass es eine Art Drache ist, der nur nachts rauskommt.«

Du musstest lachen. »Und das macht ihnen keine Angst?«

»O doch, und wie. Aber dadurch halten sie sich vom Wasser fern, wenn wir nicht in der Nähe sind.« Es war die erste Saison, in der wir beide zusammen den Schwimmunterricht übernehmen sollten, und meine Vorfreude war grenzenlos. Vor uns lagen acht Wochen voller Wasserschlachten, Bauchklatscherwettbewerbe und ersten Schwimmübungen für die Kleinen. Acht Wochen voller Sonntagnachmittage in deinem Truck mit der fürchterlichen Countrymusik aus dem Radio im Hintergrund, deren Texte du umdichtetest, um mich zum Lachen zu bringen. Der Winter war bitterkalt gewesen und ich freute mich auf die langen, heißen Tage in der Bucht. Darauf, stundenlang durchs Wasser zu gleiten, bis meine Finger zu Rosinen verschrumpelten und meine Muskeln ganz zittrig wurden.

Wenig später drang das Knirschen von Kies durch den Wald: Shuttlebusse vom Flughafen, die unter der knorrigen Holztafel vorfuhren.

»Wollen wir dann mal los?«, fragte ich.

Selbst in diesem winzigen Kanu erschien alles an dir so kräftig wie die Balken in unserer Scheune: breite Schultern, muskelbepackte Arme. Doch mit deinem versonnenen Lächeln, den feuchten rotblonden Locken und den alten Basketballshorts, die am Saum schon ganz ausgefranst waren, wirktest du vollkommen tiefenentspannt.

Nein, halt, streich das. Du wirktest selbstgefällig.

»Ich habe eine Überraschung für dich, Sawyer.«

Ich mochte es, dass du mich immer mit meinem Nachnamen angesprochen hast. Meine Geschwister hast du nie Sawyer genannt, nur mich. »Ist es ein Hundebaby?«

»Es ist besser als ein Hundebaby.«

»Okay, jetzt weiß ich, dass du lügst. Es gibt nichts Besseres als Hundebabys.«

Du hast mit den Schultern gezuckt und etwas Wasser nach mir geschnippt. »Warte nur, bis du es siehst.«

Also wartete ich. Und Junge, bekam ich etwas zu sehen!

Zwei Stunden später hatten sich hundert Camper vor der Freiluftbühne versammelt. Nana, von Kopf bis Fuß in Batik gehüllt, stieg durch eine Falltür im Boden empor. Dieser aufsehenerregende Auftritt brachte ihr immer jede Menge Oooohs und Aaaahs ein. Sie hieß alle willkommen-willkommen-willkommen, trug die Campregeln vor und erklärte, wie wir diesen Sommer zum besten Sommer aller Zeiten für die Teilnehmer machen wollten. Dann war es Zeit für die Vorstellung der Betreuer. Als Erste hüpfte meine Schwester Fern strahlend und voller Vorfreude auf die Bühne. Ihr Betreuer-T-Shirt passte farblich perfekt zu den pinken Jeansshorts und den lilafarbenen Chucks. Ihre Haare hatte sie zu einem aufwendigen Zopf geflochten. Wenn Gänseblümchen sprechen könnten, würden sie wie meine Schwester klingen: »Hi! Ich bin Fern. Bei mir könnt ihr was übers Fotografieren lernen und Tanzen biete ich auch an.«

Dann trabte mein Bruder Reed auf die Bühne. Er trug die gleichen Basketballshorts wie du. »Hallo zusammen. Ich bin für den ganzen Sportkram zuständig. Und nur, dass ihr es wisst: Die Teamwettbewerbe werden der Hammer!« Er hatte dieses alberne Grinsen im Gesicht, das er immer nur zu Ferienlagerzeiten aufsetzt. Normalerweise gehört »albern« nicht zu seinem Repertoire. Zeit mit Reed zu verbringen, war damals, wie am stillsten Strand der Welt zu liegen und dem Wind zu lauschen. Er war ruhig und weise und ähnelte den uralten Eichen in unserem Wald. Ich liebte ihn von hier bis zum Mond und zurück.

Fern strahlte ihn an und ich strahlte Fern an.

Das hier war mein sicherer Hafen. Der Sommer. Zusammen mit meinen Geschwistern zwischen den Bäumen zu stehen. Wir lagen nur jeweils anderthalb Jahre auseinander, was uns fast zu so etwas wie Drillingen machte. Als wir in der Grundschule Selbstporträts malen sollten, malten wir uns unabhängig voneinander alle drei Hand in Hand.

Als du an der Reihe warst, Dylan, hast du mich am Ellbogen gepackt und mich mit dir auf die Bühne gezogen. »Showtime, Sawyer.«

»Was?«

»Spiel einfach mit.« Du bist nach vorne an den Bühnenrand getreten und deine Stimme schallte über die Menge hinweg: »Hey, Leute, ich bin Dylan, aber ihr könnt mich gerne ›Lieblingsbetreuer‹ nennen. An meiner Seite ist die unglaubliche Schwimmsensation Quinn Sawyer und wir haben eine kleine musikalische Einlage vorbereitet, um euch an eurem ersten Tag ordentlich einzuheizen.«

Wie bitte, was?

Jedes Jahr lieferten wir uns einen erbitterten Wettkampf im Streichespielen. Anscheinend wolltest du diesmal keine Zeit verschwenden. Ich besitze das Gesangstalent eines hörgeschädigten Gorillas. »Dylan, nein.«

»Nana? Wärst du so freundlich?«

Nana wieselte mit zwei Mikrofonen in der Hand zu uns nach vorne. Ich warf ihr meinen besten Auch du, mein Sohn Brutus?-Blick zu. Dann ertönten über die Lautsprecher in den Bäumen die ersten Takte einer grauenhaften Karaokeversion von »Don’t Stop Believin’« von Journey.

O mein Gott, das passiert gerade nicht wirklich.

Du hast mit den Fingern geschnippt und alle zum Mitklatschen animiert. Dann hast du auf mich gezeigt, als sei ich das besungene Kleinstadtmädchen in ihrer einsamen Welt. »She took the midnight train«, hast du gesungen, »going anywhere.« Deine Stimme klang umwerfend. Vielleicht habe ich dir das nicht oft genug gesagt. Ich weiß, die ganze Nummer war bloß ein Witz, aber deine Stimme war weich und samtig und wirklich toll.

Mein Gehirn sprang rasend schnell zwischen zwei Alternativen hin und her: mitsingen oder mich von der Bühne stürzen. Okay, scheiß drauf. »Just a city boy «

In der letzten Reihe, hinter all den Campern, verzog Fern das Gesicht und fing an zu kichern und Reed lachte zwar wie immer still in sich hinein, aber das so heftig, dass er sich den Bauch halten musste. Spätestens, als wir zum Refrain kamen, musste auch der letzte Depp gemerkt haben, dass ich (a) kein bisschen singen kann und (b) mit der ganzen Nummer vollkommen überrumpelt worden war. Aber den Leuten schien es zu gefallen – und du, Dylan, hast förmlich gesprüht vor Freude.

Ich weiß, dass es nicht genau da passiert ist. Wahrscheinlich war es eher die Summe einer Vielzahl einzelner Momente im Lauf der vergangenen vierzehn Jahre. Wie damals, als du dich um unseren gemeinsamen Goldfisch Mr Smitty gekümmert hast, bis er unmittelbar vor den Winterferien das Zeitliche segnete (wofür du rein gar nichts konntest). Oder als du mir Die Straße von Cormac McCarthy geliehen hast, dein Lieblingsbuch, und mir klar wurde, dass du die besten Stellen extra für mich mit kleinen Sternchen markiert hattest. Aber trotzdem, echt jetzt? Mich in dich zu verlieben, fühlte sich nicht an, als hätte es sich nach und nach entwickelt wie der Sommer. Es fühlte sich an, als würde ich mich vom Zehnmeterbrett in die Tiefe stürzen.

Als der Song zu Ende war, gab es in meinem Kopf nur noch einen Gedanken: Oh kacke, oh kacke, oh kacke, mach das bloß nicht kaputt.

Aber wie du weißt, kommt in jeder Sommerferienlagergeschichte ein Monster vor.

In dieser hier gibt es zwei.

Das Seeungeheuer.

Und mich.

Oktober

Salzwasser wird uns auch nicht helfen

Sechs Stunden, nachdem ich mit Hana durch den Wald nach Hause gerannt bin, wache ich auf. Mit einem Kloß im Hals, der so groß und kratzig ist wie ein Tannenzapfen. Galileo hat Glück, dass ich nicht senkrecht in die Höhe fahre, denn er hat sich wie eine Pelzmütze auf meinem Kopf zusammengerollt. Seine Plastikkrause bohrt sich in mein Kissen. Draußen ist es immer noch dunkel. Das Vorsonnenaufgangsblau des Himmels erzeugt eine leicht unheimliche Stimmung, die perfekt zu Halloween passt. Normalerweise würden meine Schwester und ich Galileo jetzt als Kürbis verkleiden und mitstoppen, wie lange er braucht, um das Filzkostüm in Fetzen zu reißen, doch ich bezweifle, dass es dieses Jahr dazu kommen wird.

Meine roségoldenen Kopfhörer schmiegen sich eng an meine Ohren, genau so, wie ich sie gestern Abend aufgesetzt habe. The Sunshine Hypothesis, mein Lieblingspodcast über fantastische Tiere, läuft noch. Der Axolotl mit seinen glänzenden Knopfaugen erscheint wie ein Alien und hat doch etwas beunruhigend Menschliches. Die Autorin dieses Podcasts heißt Indigo Lawrence; sie trägt diesen unfassbar tollen lilafarbenen Afro und dazu immer Jeans mit hohem Bund, knallroten Lippenstift und Ohrringe, die ihr bis aufs Schlüsselbein hinabhängen. Das weiß ich, weil sie außerdem Sängerin bei Spark Nation, der berühmtesten Indie-Rockband von Portland ist, was bedeutet, dass Indigo einfach überall ist: in Zeitschriften, Zeitungen und sogar als Motiv aller möglichen Street-Art-Kunstwerke. Wenn sie nicht gerade über die Bühne fegt, erzählt sie der Welt von Tieren, die eigentlich nur in unserer Vorstellung existieren sollten und doch wahrhaftig auf dieser Erde kreuchen und fleuchen. In jeder Folge geht es um ein anderes Tier. Ich habe mir alle angehört. Jetzt höre ich sie alle noch mal durch, wobei ich ganz besonders auf die Ungeheuer achte.

Indigo sagt: Das klingt wie etwas aus einem Fantasyroman, oder? Es ist so cool, wie ihre Stimme in den Pausen zwischen den Wörtern nachzuschwingen scheint. Ein bisschen wie das Nachbild, das manchmal beim Betrachten eines Bildes auf der Netzhaut entsteht. Ich könnte glatt darin versinken. An der Decke über meinem Bett hängt ein Poster von einem Zebrafisch und ich stelle mir vor, ich würde am Grund des wilden blauen Meeres liegen und nach oben schauen.

Ist das nicht unglaublich? Seine Fähigkeit, abgetrennte Gliedmaßen nachwachsen zu lassen, ist …

Fern knallt die Badezimmertür zu.

Das macht sie neuerdings gerne. Türen zuknallen. Vor allem, wenn sie glaubt, dass ich noch schlafe. Mom gegenüber habe ich das Thema getrennte Zimmer schon ungefähr … keine Ahnung, siebzig Millionen Mal angesprochen. Im Ernst, gebt mir einfach den Dachboden, war mein Vorschlag. Die Antwort meiner Mutter lautet jedes Mal: Laber laber laber, ihr seid Schwestern und habt euch doch lieb, bla bla bla, mein letztes Wort, wer will eine Tasse Birkenrindentee?

Stöhnend nehme ich meine Kopfhörer ab, schiebe mich aus dem Bett und klopfe kurz und sanft an die Badezimmertür.

Von der anderen Seite kommt: »Was?«

»Ich muss Pipi.«

»Verkneif’s dir.«

Ich klopfe fester und rüttle am gläsernen Türknauf. Drinnen raschelt es, dann wird der Badezimmerschrank zugeklappt und Fern zieht die Tür auf. Die Haut um ihre Augen ist rosa wie der Sonnenaufgang. Ihre Haare sind zu einem nachlässigen Zopf geflochten, aus dem einige Strähnen wie Schlaufen abstehen und überall lose Haare rausragen. Ihre Bluse ist schief geknöpft und ihre lilafarbenen, paillettenbesetzen Katzenohren sitzen eindeutig verkehrt herum. Sie ist fünfzehn – keine zwei Jahre jünger als ich –, doch ich verspüre trotzdem dieses seltsame Bedürfnis, mich um sie zu kümmern. Die ältere Schwester zu sein, die ihre Haare in Ordnung bringt. Ihr die Katzenohren richtig aufsetzt.

All die Worte, die ich zu ihr sagen sollte, steigen flatternd in meiner Kehle auf und stürzen sich dann im Sturzflug zurück nach unten.

Es tut mir leid.

Das ist alles meine Schuld.

Verzeih mir.

Aber habe ich das alles nicht schon eine Zillion Mal gesagt? Sie weiß, dass ich mich ebenfalls wie zerknülltes Krepppapier fühle.

»Danke«, murmle ich.

Fern tappt nach draußen in den Flur (sie hat die Katzennummer echt drauf), wobei ihre miese Laune sie wie eine radioaktive Wolke umwabert. »Gern geschehen«, sagt sie über ihre Schulter. Ihre Stimme erinnert an eine Rasierklinge – von den Gänseblümchen ist nicht mehr viel übrig.

Ich erledige mein Geschäft, dann schlüpfe ich in ein übergroßes Karohemd und kremple die Ärmel bis zu den Ellbogen hoch. In der Schule werden so ziemlich alle verkleidet sein – als Hexen, sexy Streifenhörnchen, Super Mario Bros. –, aber mal ernsthaft: Wozu sollte ich mir die Mühe machen? Wenn jemand fragt, behaupte ich einfach, ich gehe als Holzfäller. Das Kostüm hat den Vorteil, dass es gleichzeitig meine Kurven kaschiert. Das Letzte, worauf ich Lust habe, ist, dass die Jungs in der Schule meine Brüste bemerken, die vor ein paar Monaten praktisch aus dem Nichts gewachsen sind. Ta-da: Trauertitten. Als wollte das Universum mir sagen: Ich weiß, dein letzter Sommer war unerträglich scheiße, deswegen betrachte das hier als Wiedergutmachung!

Nachdem ich mir exakt anderthalbmal mit dem Kamm durch die Haare gefahren bin, schlurfe ich in die Küche, wo Fern mich mit den Worten begrüßt: »Gut, dass du dran gedacht hast, deine Maske aufzusetzen.«

»Erbschen«, rügt Mom sie vom Spülbecken aus, wo sie gerade damit beschäftigt ist, den letzten Rhabarber zum Einkochen zu putzen. Erbschen ist Ferns Spitzname und Mom hat keine Ahnung, dass sie ihn hasst wie die Pest. »Sprich nicht so mit deiner Schwester.«

Nana Eden sitzt am Küchentisch und strickt an einem orangefarbenen Ungetüm von Mütze. »Wenn du dich schon über deine Schwester lustig machen willst, dann denk dir wenigstens was Kreativeres aus. Die Beleidigung gab’s ja schon, als ich in eurem Alter war, Liebes. Du kommst also ungefähr« – sie legt den Kopf mit so viel Nachdruck schief, dass ihre Hexenohrringe hin und her baumeln – »zweihundertfünfundsiebzig Jahre zu spät damit.«

»Ja, tut mir leid«, sagt Fern, allerdings nicht zu mir.

Mom bedenkt uns beide mit einem melancholischen Blick und wandert dann weiter zum Büfettschrank, um noch ein paar mehr Einmachgläser zu holen. Ihr wollenes Cape weht hinter ihr her. Sie ist praktisch nie ohne Schal oder Tuch zu sehen und liebt es, sich Sachen zu stricken, Hauptsache, sie flattern und wallen ordentlich. Mutter Erde Hippie-Klamotten, nennt Fern ihren Stil. Wenn der Winter hereinbricht, hüllt sich Mom in riesige Norwegerpullis und zieht Keimlinge in Tontöpfen neben der Spüle. Sobald die Ferienlagersaison rum ist, muss sie sich anderweitig beschäftigen – und sie besitzt die Gabe, selbst an den eisigsten Tagen Pflanzen zum Leben zu erwecken. Das beste Beispiel ist der Gemüsegarten vor unserem Küchenfenster: Artischockenknospen bohren sich durch die Schneedecke und nebendran wächst ein Blaubeerstrauch trotz der arktischen Temperaturen ungerührt vor sich hin. Das Ding blüht und blüht, egal, welche Jahreszeit gerade herrscht. Manchmal verirrt sich ein Weißwedelhirsch in unseren Garten und knabbert sämtliche Beeren ab und trotzdem ist der Busch am nächsten Tag wieder voll mit reifen Früchten.

Nana legt ihr Strickzeug beiseite, steht auf und schnippt gegen Ferns Katzenohren. »Schick, schick – gefällt mir.« Dann kommt sie zu mir, legt mir die Hände auf die Schultern und flüstert in mein (menschliches) Ohr: »Nächstes Mal, wenn du dich rausschleichst, Krümel, sag Hana, sie soll nicht ans Fenster hämmern, als wären die britischen Truppen hinter ihr her.« Das ist ihr Spitzname für mich. Krümel, nach dem Krümelmonster aus der Sesamstraße. (Ich hatte eine Phase, in der ich förmlich süchtig nach Schokokeksen war.)

Aber … oh. Oh, kacke.

Zwischen uns entspinnt sich eine Unterhaltung, die ausschließlich mit Blicken geführt wird.

Ich: Du weißt Bescheid?

Sie: Ich bin eine allsehende, allwissende Gottheit und das sollte dir inzwischen eigentlich klar sein.

Ich: Bitte verrat’s Mom nicht.

Nana kichert in sich hinein und versucht, mir einen Kuss auf die Stirn zu geben, was allerdings daran scheitert, dass sie um einiges kleiner ist als ich. Jedenfalls, solange man ihre Haare nicht mitzählt, die sie zu einer gewaltigen Hochsteckfrisur aufgetürmt hat. Darin verbergen sich Haarklammern, Nagelfeilen, Bleistifte. Ich habe den leisen Verdacht, dass ein kompletter Kurzwarenladen rausfallen würde, wenn man sie auf den Kopf stellen und schütteln würde. Das ist eines der vielen Dinge, die Grandpa Michael so an ihr geliebt hat. Zumindest behauptet das die handgeschriebene Liste der hundert Dinge, die eingerahmt über unserem Kamin hängt. Als Grandpa in den 1950ern um ihre Hand anhielt, versprach er, ihr passend zu ihrem Namen einen Garten Eden zu kaufen: ein hundert Morgen großes Grundstück, auf dem er Sommerferienlager abhalten, hundert verschiedene Sorten Wildblumen anpflanzen und hundert Kinder beherbergen wollte. Inzwischen leiten sie und Mom das Camp mit der Unterstützung von zwei fest angestellten Hilfskräften aus dem Ort. Dad kommen eher die zeremoniellen Aufgaben zu: für Fotos posieren, hier und da mal ein Lagerfeuer entzünden und in seiner Freizeit Taglilien ausgraben und Hecken trimmen.

Nachdem ich Nana einen letzten flehenden Blick zugeworfen habe, wende ich mich an Mom: »Meinst du, ich könnte Hana ein bisschen was von der Rhabarbermarmelade mitbringen, wenn sie fertig ist?«

Mom wirbelt mit einer formvollendeten Pirouette zu mir herum. Sie liebt es zu tanzen, vor allem, wenn keine Musik läuft. So fühlt sie sich nicht durch irgendeinen Takt eingeschränkt. Sie sagt: »Klar. Du kannst sie ihr geben, wenn ihr euch das nächste Mal mitten in der Nacht rausschleicht.«

»Nana!«, rufe ich.

»Ich hab kein Sterbenswörtchen gesagt, Krümel.«

Mom fährt fort. Ihr Tonfall klingt leicht und scherzhaft, aber ich kann die Anspannung hören, die darin mitschwingt – ein winziges Kräuseln auf der stillen, glatten Oberfläche. »Ihr führt doch hoffentlich nichts Illegales im Schilde? Oder hattet ihr vor, mit einer Bikergang durchzubrennen?«

Ich trommle mit den Fingernägeln auf die Arbeitsfläche. »Ich glaube, Hana wäre für so eine Gang gar nicht geeignet. Sie würde vermutlich versuchen, die Motorräder nach B-Promis zu benennen oder so …«

»Das kann ich mir vorstellen.«

»Bist du sauer?«

»Nein, bin ich nicht … aber nächstes Mal sagst du uns Bescheid, okay? Was, wenn ich nachts aufwache, um nach dir zu sehen, und du bist nicht da?«

Ich zucke mit den Schultern. Was soll man darauf schon antworten?

Irgendwie mochte ich es lieber, als Mom die Zügel noch komplett hat schleifen lassen. Reed kommt mit einer Schnapsfahne nach Hause? Der wird hinterher einen ordentlichen Kater haben – Strafe genug. Doch neuerdings hat Mom frische Falten auf der Stirn. Letzten Sommer hat sie wohl endgültig begriffen: Wenn sie die Zügel schleifen lässt, gehen die Pferde mit uns durch. Und uns wieder einzufangen, ist schwer.

»Okay«, sagt sie. »Aber dafür hast du die nächsten zwei Wochen Spüldienst.«

Und welche Strafe kriegt Fern dafür, dass sie praktisch andauernd rausschleicht? Sollte ich sie wirklich weiter decken? »Von mir aus.«

»Das geht schneller rum, als du denkst.« Sie greift in den nächstgelegenen Schrank und holt eine Packung Kräutermischung raus. Sie ist der festen Überzeugung, dass gehacktes Grünzeug mir da durchhelfen wird.

Aber was, wenn es keinen Weg da durch gibt?

»Jetzt setzt euch, setzt euch!«, befiehlt sie.

Zusammen frühstücken gehört zu Moms und Nanas Plan, uns Geschwister wieder zu vereinen. Und das Jeden. Verdammten. Morgen. Heute biegt sich der Tisch unter einer Ladung Kürbiskern-Hanf-Waffeln (die ehrlich gesagt ziemlich lecker sind, wenn man den grasigen Nachgeschmack außer Acht lässt) und sechs dampfenden Tassen mit hausgemachtem Kräutertee (bloß nicht fragen, was drin ist). Nana umrundet den Tisch und streut jedem ein paar Minzblätter auf den Teller.

In den Wochen, bevor die Ferienlagersaison beginnt, frühstücken wir immer zusammen. Aber dann ist das Wetter auch so gut, dass wir draußen im Garten sitzen können, und Dad steuert Tomaten für frisch gepressten Tomatensaft bei. Im Herbst ist das etwas vollkommen anderes. Es fühlt sich falsch an. Wir alle wissen, dass Mom und Nana uns damit einfach nur an einen Tisch kriegen wollen. Als würde eine gemeinsame Tasse Tee alles wieder in Ordnung bringen.

Fern nimmt zähneknirschend Platz.

Ich nehme zähneknirschend Platz.

Dann kommt – bumm, bumm, bumm – die massige Gestalt meines großen Bruders die Treppe runtergepoltert. Sein silberblondes Haar steckt unter einer Mütze der Vancouver Canucks. Er hat neuerdings einen regelrechten Kappenfimmel. Vermutlich, weil er sie sich tief in die Stirn ziehen kann und dann niemandem mehr in die Augen sehen muss – ganz besonders mir nicht. Ich wette, er ist schon seit Stunden wach und auf Einhörnern durch die Wüste geritten oder was auch immer er in seinen Videospielen so treibt. Oder er stand mit seinen riesigen Hanteln vor dem Spiegel und hat seine Schwarzenegger-Nummer abgezogen. Dabei kommt mir in den Sinn, dass Ameisen das Zwölffache ihres Körpergewichts tragen können. Vielleicht ist er eines Tages ja auch so stark. Stark genug, um … alles zusammenzuhalten. Doch bis dahin werden sich wohl weiterhin die Kisten mit der Aufschrift REEDS UNIKRAM in unserem Flur stapeln, wo sie stehen, seit er drei Monate nach seinem achtzehnten Geburtstag sein Forstwirtschaftsstudium an der UMaine abgebrochen hat und wieder zu Hause eingezogen ist.

Früher hatten seine Bewegungen etwas von Blättern, die über den Boden tanzten. Von ihm ging eine innere Gelassenheit aus, die geradezu greifbar war. Jetzt scheint es, als tobe in ihm ein Taifun, der nicht zur Ruhe kommt. Der Sturm braust und wirbelt in ihm herum, in seiner Brust, seinen Eingeweiden, seinem Herz. Wenn er nicht bei Leo’s Lobster Pond arbeitet, hilft er als Co-Trainer beim Basketballteam der Winship High aus. Und er hat jetzt einen Freund. Charlie.

»Hat jemand meine Sporttasche gesehen?«, ruft er. Seine Stimme klingt so schroff wie eine Felswand.

»Guck mal in der Diele«, meint Dad, der gerade hinter ihm die Stufen herabgestapft kommt. Sein Bart nimmt langsam waldschratmäßige Ausmaße an.

»Woher weiß Willie Nelson, wo Reeds Sporttasche steht?«, frage ich Nana.

»Das ist nicht Willie Nelson.« Sie lacht. »Das ist eindeutig einer von – wie heißt diese Sendung noch mal?« Sie schnippt mit den Fingern. »Dark Dynasty?«

»Duck Dynasty«, korrigiert Dad. Von Nahem hat sein Bart etwas Hypnotisches wie diese Tintenkleckse, in denen man mal einen Schmetterling, mal einen Hasen sehen kann. Schwer zu sagen, ob er ein Bart mit einem Mann dran ist oder umgekehrt. Damit will er Mom nach all den Jahren beweisen, dass das Stadtkind in ihm bestens in der Wildnis klarkommt. Er ist in Boston aufgewachsen, hat Mom aber an der Winship U kennengelernt, der hiesigen Uni, wo er Meeresbiologie unterrichtet.

»Mein Bart steckt diese Duck Dynasty-Bärte mühelos in die Tasche«, prahlt Dad. »Merkt euch das.«

»Bärte haben keine Taschen, Henry«, entgegnet Mom und drückt ihm einen dicken Schmatzer auf den Mund. Die meiste Zeit finde ich es irgendwie süß, meine Eltern so zu sehen, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass mich ihre Art auf Dauer erdrückt. Durch das Fotoalbum von ihrer Hochzeit an den Niagarafällen zu blättern, ist eine Sache; zu beobachten, wie sie mitten in der Küche – da, wo ihre Kinder ihr Essen zu sich nehmen – förmlich übereinander herfallen, dagegen noch mal was ganz anderes.

Instinktiv verdrehe ich die Augen und bemerke, dass Fern und Reed genau das Gleiche tun. Für den Bruchteil einer Sekunde vergessen wir, dass wir einander eigentlich nicht mehr anlächeln. Als es uns wieder einfällt, wirkt es, als würde selbst der Raum um uns herum aufseufzen. Sämtliche Holzbohlen stoßen ein kollektives Ächzen aus.

Fern setzt einen finsteren Blick auf und räuspert sich. Allem Anschein nach ist sie kurz davor, ihnen zu sagen, dass sie sich gefälligst ein Zimmer nehmen sollen.

»Nur zu.« Mom löst sich aus dem Kuss. »Lasst es euch schmecken.«

Weil keiner sie enttäuschen will (Mom zu enttäuschen, ist, als würde man den Dalai Lama zum Weinen bringen), schaufeln wir unter unserem Dach aus Wünschen gehorsam unsere Waffeln in uns rein. Sieben Reihen frei stehender Balken tragen unsere Decke. Am Ende jeder Ferienlagerwoche schreiben die Camper ihre Wünsche auf kleine Zettel, die Nana dann mit Bindfäden an den Dachbalken befestigt. Das bringt Glück, behauptet sie. So viel Hoffnung auf einem Haufen kann nur Gutes bewirken.

Gleichzeitig mit meinem ersten Bissen beginnt auch Versuch Nummer 19.584, uns alle in ein Gespräch zu verwickeln.

»Ich habe mich übrigens drüben in der Künstlerkommune für einen neuen Kurs eingetragen«, berichtet Nana. »Will jemand raten, wie er heißt?« Letztes Jahr hat sie einen zwei Meter langen Einbaum geschnitzt und das Jahr davor stand im Zeichen einer in Öl gemalten Liebeserklärung an die Tierwelt Maines. Seitdem hängen allein im Badezimmer im Erdgeschoss rund siebentausend Gemälde von Wasservögeln. Pinkeln war nie beängstigender.

»Bildhauerei?«, wirft Mom in den Raum.

»In gewisser Weise, aber nicht ganz. Quinn, was denkst du?«

»Äh, Seifensieden?«

Nana schüttelt den Kopf. »Daneben.« Als sonst niemand mehr etwas beiträgt, plappert sie munter weiter. »Ich finde, das ist eine ziemlich gute Idee, vor allem, wenn man bedenkt, wie viele hochbetagte Menschen hier leben. Eigentlich bin ich überrascht, dass nicht schon früher jemand dran gedacht hat.« Sie macht eine ausholende Handbewegung, als würde sie beim Glücksrad die Buchstaben umdrehen. »›Zum Sterben schön: Bauen Sie sich Ihren eigenen Sarg‹.«

Dad verschluckt sich an seinem Tee.

»Ich hab mich wohl verhört«, meint Mom.

Nana merkt immer noch nicht, welchen Shitstorm sie damit ausgelöst hat. »Also, ich finde das genial. Endlich mal etwas Praktisches. Seien wir ehrlich: Mit dem Einbaum werde ich doch nie fahren.«

In dem Moment knurrt Reed: »Hör auf damit.« Allerdings meint er damit nicht Nana, sondern Fern, die ihre Gabel auf den Tisch geknallt und ihren Teller von sich geschoben hat. Wütende Blicke und wütende Gesten verdüstern die Atmosphäre.

»Womit?«, faucht sie.

»Damit, dich wie die Prinzessin auf der Erbse aufzuführen.«

»Reed«, mahnt Mom.

»Mach ich«, kontert Fern. »Wenn du aufhörst, so ein Arschloch zu sein.«

»Fern«, mahnt Mom.

Meine Schwester rückt lautstark vom Tisch weg und steht auf. »Können wir das mit dem blöden Frühstück nicht einfach lassen? Wir sind keine sechs mehr, okay? Wir müssen nicht so tun, als würden wir einander mögen.«

Fern stolziert aus der Küche, während Moms Stimme sich an ihre Fersen heftet: »Erbschen, es gibt keinen Grund …«

Alle am Tisch stoßen ein kollektives Seufzgrunzen aus.

(Immerhin eine Sache, die wir alle gemeinsam machen.)

Eine Zeit lang herrscht Stille. Nana nippt betreten an ihrem Tee und Galileo rammt seine Plastikkrause gegen mein Schienbein.

»Familien sollten sich nicht so verhalten.« Mom bricht das Schweigen wie ein Löffel die Schale eines hart gekochten Eis. Sie wirft die Hände in die Luft, dass die silbernen Reifen an ihren Handgelenken nur so klimpern. »Und außerdem glaube ich, dass wir eine Erscheinung im Haus haben.«

Nana bekundet ihre Zustimmung mit einem derart nachdrücklichen Kopfnicken, dass ein Bleistift aus ihrer Frisur rutscht.

Dad hebt abwiegelnd die Hände. »Wir sollten keine voreiligen Schlüsse …«

Doch Mom ist bereits auf dem Weg zum Kräuterschrank. Ihr Schal weht flatternd hinter ihr her und wehrt Dads Worte ab, bevor sie zu ihr durchdringen können. (Dieser Schal besitzt magische Fähigkeiten.) Als ich klein war, war ich fest davon überzeugt, dass meine Mom eine Hexe ist. Eine gute, wohlgemerkt, so wie Glinda in der Neuverfilmung vom Zauberer von Oz aus den 1970ern. Immer mal wieder spürt sie die Gegenwart einer Erscheinung – eines Gespensts, eines Geists, eines Dämons –, was bedeutet, dass die Schränke gereinigt, Salz auf den Boden gestreut und ein Stechpalmenzweig in jedes Fenster gehängt werden müssen. Obwohl wir selbst dran glaubten, machten Reed und ich uns gerne darüber lustig.

Das Brot!, rief ich, wenn eine Scheibe aus dem Toaster hochschnellte. Das Brot ist verhext!

Es muss gereinigt werden!, erwiderte er dann. Mit geweihter Marmelade!

Doch nicht mal sämtlicher Salbeirauch dieser Erde kann die Trauer aus diesem Haus vertreiben. Wir haben es nicht mit einem Dämon zu tun, den Mom mit einer Dosis Pfeilwurz bannen kann. Salzwasser wird uns auch nicht helfen.

Jetzt ist es Reed, der vom Tisch wegrückt. Er verkündet, dass er die Zeitmaschine (das ist unser Spitzname für den uralten Chevy-Kombi, der zum Camp gehört) braucht, um Charlie abzuholen. Er bietet nicht an, mich mitzunehmen, und Mom kann ihn nicht hören, weil ihr Kopf bereits tief im Schrank steckt. Gläser stoßen klimpernd aneinander.

Während wir weiter auseinanderdriften.

Ich stehe mit Fern und ihrer neuen besten Freundin Harper an der Bushaltestelle und beide sehen mich an, als verspürten sie das unbändige Verlangen, mir eine halbe Tonne vergammelten Lachs ins Schließfach zu kippen. Was vielleicht daran liegt, dass ich Harper gerade erklärt habe, dass in »Pegasus« (als der sie verkleidet ist) definitiv kein R vorkommt: »PE-ga-sus, nicht Pe-GAR-sus. Das hat nichts mit ›gar‹ im Sinne von kochen zu tun.«

Fern legt Harper mitfühlend den Arm um die weißen Flügel. »Wer hat dich denn gefragt, Besserwisser? Sei nicht so ein Arsch, Quinn. Halt einfach die Klappe.«

Ich würde mich am liebsten in eine Molluske verwandeln. Oder besser noch, in einen Gliederfüßer. Irgendwas mit einem undurchdringlichen Schutzpanzer, unter dem ich meine weiche Unterseite verbergen kann, den Teil von mir, den diese Worte mühelos durchbohren.

Ich zupfe an dem Flanellhemd unter meiner Jacke. Obwohl wir gut und gerne minus zehn Grad haben, ist mir kochend heiß. Meine Haut ist vor Schweiß schon ganz klebrig. Das ist der Stress – zusammen mit dem North-Face-Parka, den Mom zum halben Preis erstanden hat und der ganz offensichtlich für Polarexpeditionen gemacht ist.

»Wisst ihr was?«, sage ich. »Ich gehe zu Fuß.«

»Mach, was du willst«, antwortet Fern. Oder vielleicht meint sie auch: Ich hoffe, du fällst tot um und gefrierst zu einer von diesen Leichen, die man beim Aufstieg zum Mount Everest findet. Schwer zu sagen. Dem Tonfall nach könnte es beides sein. Dabei ist es nur einige Monate her, dass wir uns bloß über Kleinigkeiten gekabbelt haben: Welcher Film ist besser: Fight Club oder The Big Lebowski? Wer ist heißer: der Typ aus dieser Vampirserie oder Reeds Kumpel Spencer? Nein, du bist dran mit Katzenklo – schon vergessen?