Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert
Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.
Internet: https://ebooks.kelter.de/
E-mail: info@keltermedia.de
Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74093-053-0
Es war leider kein Gast, der den ›Seeblick‹ betrat, sondern es war der Postbote, eigentlich ein sehr netter freundlicher Mann. Er konnte nichts dafür, dass das, was ihr Unbehagen verursachte, mit der Post zusammenhing, die er ihr brachte.
»Hallo, Frau Herzog«, rief er und wedelte mit ein paar Briefen herum. »Heute gibt es mehr Post.«
Als wenn das etwas wäre, um in Freude und Begeisterungsstürme auszubrechen.
Sie bemühte sich, nett und freundlich zu sein, obwohl sie mit einem Blick bemerkt hatte, dass gleich obenauf ein Brief vom Finanzamt lag.
»Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«, erkundigte sie sich, »oder darf es etwas anderes sein?«
Der Mann freute sich.
Dennoch sagte er: »Ich bin heute spät dran, deswegen darf ich keine Zeit mehr verlieren. Einen Kaffee nehme ich gern ein andermal, aber ein Schluck Mineralwasser, das wäre nett, das werde ich nicht ausschlagen.«
Julia erhob sich, und sie kam sich vor wie eine alte, gebeugte Frau, als sie für diesen netten Mann das Mineralwasser holte, das er zügig austrank, sich bedankte.
»Ich habe die Briefe auf den Tisch gelegt, dann vielleicht bis morgen.«
Am liebsten hätte sie ihm zugerufen: »Lieber nicht.«
Das hätte ihn sehr verwundert, sie sagte nichts, und nachdem er gegangen war, setzte sie sich wieder an den Tisch.
Es dauerte eine ganze Weile, ehe sie die Briefe in die Hand nehmen konnte.
Eigentlich musste sie keinen der Briefe öffnen.
Das vom Finanzamt war eine Mahnung wegen der Umsatzsteuer, in dem nächsten Brief wurde sie an die Zahlung der Grunderwerbssteuer für den Kauf des ›Seeblick‹ erinnert. Mit dieser Mahnung hatte sie bereits seit Tagen gerechnet. Und wenn sie ehrlich war, dann hatte sie auf ein Wunder gehofft, auf etwas, was sie von all ihren Sorgen befreien würde. Ein frommer Wunsch, doch dann hätten sie vielleicht Lotto spielen müssen.
Mit ihrem Betrieb konnte sie nichts erwirtschaften, nicht genug.
Und nun?
Man würde sich nicht auf eine Verlängerung des Zahlungsziels einlassen, denn das war längst überschritten.
Bei den nächsten Briefen handelte es sich um Lieferantenrechnungen oder ebenfalls Mahnungen.
Die Lieferanten musste sie bezahlen, denn die saßen am längeren Hebelarm und würden bei Nichteinhaltung des Zahlungsziels einfach ihre Lieferungen einstellen. Und das war etwas, was überhaupt nicht ging.
Sie besaß ein Restaurant, hatte hohe Qualitätsansprüche, da musste geplant werden. Da konnte sie nicht einfach mal zum Einkauf in den Supermarkt gehen.
Julia seufzte bekümmert.
Alle wollten sie Geld von ihr. Und sie hatte Einnahmen, die nicht einmal die Kosten deckten. Heute Mittag war kein einziger Gast im Restaurant gewesen, obwohl sie eine ansprechende Mittagskarte zu sehr günstigen Preisen hatte.
Sie konnte zusehen, wie der letzte Rest ihres Geldes schwand wie Schnee in der Sonne. Und sie wusste sehr genau, dass sie von der Bank nichts bekommen würde. Von Banken bekam man nur Geld, wenn die Sonne schien, man bekam keines, wenn man einen Regenschirm brauchte. Mit den Zahlen, die sie vorzuweisen hatte, würde sie einem Banker nicht einmal ein müdes Lächeln abringen. Hinzu kam, dass sie den ›Seeblick‹ nicht weiter belasten konnte, da gab es ja schon diese hohe Hypothek.
Julia war wie gelähmt.
Wenn sie ehrlich war, dann hatte sie bislang den Kopf immer in den Sand gesteckt, wollte ihre Situation nicht sehen. Nun holte es sie ein, und das mit aller Macht.
Sie hatte den ›Seeblick‹ gegen die Wand gefahren!
So einfach war das, weil halt vegane und vegetarische Küche nicht jedermanns Sache war. Und da konnte sie sich immer wieder sagen, dass ein solches Konzept ihr Traum gewesen war.
So und nicht anders! Und sie konnte sich nicht einmal damit herausreden, dass es keine Bedenken gegeben hatte, von verschiedener Seite. Selbst der nette Roberto Andoni, der ihr das Restaurant zu einem Sonderpreis überlassen hatte, hatte ihr geraten, es sich noch einmal zu überlegen. Er hatte ihr gesagt, dass sie auf dem Stern aufbauen sollte, den sie für ihren früheren Chef erkocht hatte. Das war vernünftig, doch genau das wollte sie nicht, sie wollte ihren Traum leben, und nun hatte sie die Quittung!
Warum hatte sie nicht einen Augenblick daran gedacht, ihren Traum in einer Großstadt zu verwirklichen?
Oh, sie wusste schon warum.
Sie hatte sich in den ›Seeblick‹, seine einmalige Lage, verliebt und hatte nur noch emotional gehandelt und ihren Verstand einfach ausgeschaltet.
Hätte … hätte …
Es brachte nichts, sich jetzt zu zerfleischen. Es war allerhöchste Zeit, die Reißleine zu ziehen.
Ja, doch in welcher Hinsicht?
Aufgeben, was denn sonst. Sie hatte ja immer geglaubt, das Ruder irgendwann einmal herumreißen zu können. Gäste waren ja gekommen, und die waren begeistert. Doch die reichten nicht, um kostendeckend zu arbeiten. Auch wenn Graf Hilgenberg das Essen für seine Belegschaft bestellte. Das war kein Großbetrieb, das war nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.
Sie musste aufgeben!
Ob sie noch einmal die Kraft aufbringen würde, es anderswo neu zu versuchen, da war Julia sich nicht mehr sicher.
Also verkaufen!
Interessenten gab es genug, und eine Burgerkette bedrängte sie jetzt noch und rief immer wieder an. Eines stand auf jeden Fall fest, das Geld, das sie bezahlt hatte, würde sie nicht bekommen.
Das waren knallharte Geschäftsleute, die nur ihren Gewinn im Kopf hatten. Doch mit dieser Kette würde es am einfachsten sein, weil die über die nötigen Mittel verfügte und den Kaufpreis für den ›Seeblick‹ praktisch aus der Portokasse zahlen konnte.
Ihre Gedanken schwirrten durcheinander, sie war mutlos, hatte Magenschmerzen, was überhaupt kein Wunder war.
Julia war so sehr mit sich und ihren scheinbar unlösbaren Problemen beschäftigt, dass sie überhaupt nicht bemerkte, wie jemand ins Restaurant kam.
Erst als die Person unmittelbar vor ihr stand, zuckte Julia zusammen, blickte hoch.
Die sympathische Frau Rückert war gekommen, und Julia fiel siedend heiß ein, dass sie die noch nicht einmal angerufen hatte, um abzusagen.
»Ich … äh … tut mir leid, dass ich Sie noch nicht angerufen habe, um … abzusagen.«
Rosmarie winkte ab.
»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, erkundigte sie sich. Und sie setzte sich, ehe Julia etwas gesagt hatte.
»Ich bin froh, dass Sie mich nicht angerufen haben, Frau Herzog«, sagte Rosmarie, »ich habe mittlerweile verschiedene Restaurants ausprobiert. Nichts hat mich überzeugt, dieses Essen soll etwas Besonderes sein, und da muss einfach alles stimmen. Und entweder ist das Essen gut und das Ambiente schlecht, oder das Ambiente stimmt, und das Essen ist grottenschlecht. Der ›Seeblick‹ ist und bleibt meine erste Wahl, zumal sehr wichtige ausländische Geschäftsleute Gäste sein werden, für die der ›Seeblick‹ genau das wäre, was die von einem Restaurantessen in Deutschland erwarten.«
Julia sagte nichts, denn sie kannte ja die Vorstellungen der Frau Rückert.
Rosmarie war nicht neugierig, Neugier war eine Eigenschaft, die man ihr nicht nachsagen konnte, doch ihr Blick fiel eher zufällig auf die Mahnungen. Sie sah, wie deprimiert diese nette Wirtin war, und da brauchte es nicht viel Fantasie um zu sehen, dass es bei Julia Herzog lichterloh brannte.
»Frau Herzog, es ist eine geschlossene Gesellschaft, Sie müssen sich nur überwinden und größtenteils eine herkömmliche Küche anbieten und vegan und vegetarisch nur am Rande. Wo liegt eigentlich das Problem? Sie erfüllen Gästewünsche, und das bringt Ihnen Geld in die Kasse.«
Julia sagte noch immer nichts, zwei Seelen kämpften in ihrer Brust.
War das jetzt die Rettung?
Aber verriet sie nicht ihr Konzept?
Rosmarie überlegte. Es war ja nicht so, dass sie unbedingt wollte, dass das Essen im ›Seeblick‹ stattfinden sollte. Ja, das wäre schön. In erster Linie allerdings wollte sie der Frau Dr. Steinfeld helfen, die sie gefragt hatte, ob sie nichts für die nette Wirtin tun könne. Das wollte sie, doch diese Frau war stur wie eine Eselin.
Sie überlegte einen Augenblick, dann sagte sie leise: »Frau Herzog, die Mahnungen auf dem Tisch sprechen eine Sprache für sich. Sie brauchen Geld. Ich will Ihnen eine Chance geben, warum, zum Teufel, wollen Sie die nicht ergreifen?«
Julia wurde abwechselnd rot und blass. Wie peinlich! Warum hatte sie die Mahnungen einfach auf dem Tisch liegen lassen, so, dass jeder sie sehen konnte!
»Ich …, nun …«
»Frau Herzog, es muss Ihnen nicht peinlich sein, und ich werde auch mit niemandem darüber reden. Das verspreche ich Ihnen. So, und nun besprechen wir das Menü, ich bin auf Ihre Vorschläge gespannt. Es muss alles erlesen sein, in diesem Fall spielt Geld keine Rolle. Für meinen Mann ist es wichtig, in diesem Fall zu glänzen.«
War das der Rettungsanker?
Es sprach vieles dafür, doch ganz war Julia noch immer nicht überzeugt. Doch sie kannte Rosmarie Rückert nicht. Wenn die etwas wollte, konnte sie sich an einer Sache festbeißen wie ein Terrier in eine Wade.
Julias Hand zitterte, als sie die Mahnungen und Rechnungen zusammenraffte, beiseitelegte, sodass niemand sie mehr sehen konnte, dann atmete sie tief durch.
»Ich mache es.«
Rosmarie nickte zufrieden.
»Frau Herzog, das ist eine gute Entscheidung. Sehen Sie, Sie haben sich hier etwas so wunderbares aufgebaut. Sie haben Herzblut hineingelegt und viel Geld in die Hand genommen. Es ist ja schön, wenn man weiß, was man will. Doch manchmal muss man seinen Weg auch ändern. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich habe mein Leben auch vollkommen umgekrempelt, und ich wollte, ich hätte es früher schon getan, da wäre mir vieles erspart geblieben, vor allem besäße ich die Liebe meiner Kinder.«
Als sie Julias erstaunten Blick bemerkte, weil für die kaum vorstellbar war, dass eine Frau wie Rosmarie Rückert überhaupt Probleme haben könnte, sagte Rosmarie leise: »Ich glaubte viele Jahre lang, mein Leben nach außen leben zu müssen. Ich habe mich über teuren Schmuck, Designerkleidung definiert und glaubte, gesellschaftlich den Ton angeben zu müssen. Bei mir musste alles größer, schöner, teurer sein …«, sie machte eine kurze Pause, »ich habe meine Kinder wechselnden Kinderfrauen überlassen. Ich habe neben ihnen, aber nicht mit ihnen gelebt, und nun habe ich die Quittung. Mein Sohn akzeptiert mich, weil ich seine Mutter bin, und meine Tochter …, die hat ihr Leben von Grund auf geändert, sie hat ihren Ehemann verlassen, ist mit ihren Kindern zu einem anderen Mann nach Belo Horizonte gezogen, nach Brasilien, und obwohl das tiefgreifend ist, habe ich es bis heute nicht von ihr erfahren, sondern durch Dritte, und ich …« Rosmarie brach ihren Satz ab. »Entschuldigung, warum erzähle ich Ihnen das eigentlich? Das hat doch überhaupt nichts mit Ihren Sorgen zu tun, die Sie jetzt haben. Eines sollten Sie allerdings wissen, ich möchte Ihnen helfen.«
Und dann erzählte sie ihr von der Frau Doktor, von Inge Auerbach und von Teresa und Magnus von Roth, die sich alle so sehr wünschten, dass sie, Julia Herzog, im ›Seeblick‹ bliebe.
»Frau Herzog, Sie sehen, Sie haben hier eine richtige Fangemeinde. Und die muss größer werden.«
Julia war gerührt. Sie war seelisch angeschlagen, finanziell am Ende, da waren Worte wie die von Rosmarie Rückert sehr wohltuend.
In Julia erwachte ein kleiner Hoffnungsschimmer.
Sie wollte ja den ›Seeblick‹ retten, und sie vergab sich wirklich nichts, wenn sie für eine geschlossene Gesellschaft herkömmlich kochte.
Das konnte sie, dafür hatte sie einen Stern erhalten, und da machte ihr ebenfalls niemand etwas vor.
»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten, Frau Rückert?«, erkundigte Julia sich.
»Gern einen Kaffee«, antwortete Rosmarie. Den konnte sie jetzt brauchen, denn sie würde bleiben. Sie beschloss in diesem Augenblick, das Eisen zu schmieden, solange es heiß war. Rosmarie war ein bisschen stolz auf sich, weil es ihr gelungen war, Julia zu überreden. Nein, zu überzeugen …
*
Roberta freute sich, dass ihre Freundin Nicki sich jetzt häufiger im Sonnenwinkel sehen ließ. Doch irgendwo war ihr das nicht geheuer. Eigentlich mochte Nicki den Sonnenwinkel nicht, fand ihn zu öd und langweilig.
Als sie Mathias kennengelernt hatte und nach ihm auf der Suche gewesen war, war sie öfters bei ihr gewesen. Das hatte sich ja leider erledigt, als herausgekommen war, dass es sich bei Mathias um den Grafen von Hilgenberg handelte. Da war es für Nicki von einem Tag auf den anderen vorbei gewesen.
Eigentlich schade, denn Nicki und der Graf waren ein schönes Paar, und er hätte Nicki wirklich gern näher kennengelernt. Doch nach dem ganzen Theater, das sie vorher veranstaltet hatte, war es plötzlich vorbei. Sie wollte nicht. Und Roberta war sich nicht sicher, ob Nicki sich da nicht um eine große Chance brachte, Gräfin Hilgenberg zu werden.
Tja, Nicki und ihre Männer.
Das war wirklich ein Kapitel für sich. Ihre Freundin war ein so wundervoller Mensch, sie war ein Frauentyp auf den die Männer hüpften, doch Nicki griff immer daneben. Wenn man so wollte, dann hatte sie schon viele Frösche geküsst, ohne das ein Prinz darunter gewesen wäre. Mit einem Grafen hätte es etwas werden können, und es war doch normal, dass man sich erst einmal kennenlernen musste, ehe man sich dafür entschied, den Lebensweg gemeinsam zu gehen. Nicht bei Nicki, die hatte romantische Vorstellungen von der großen Liebe, die einfach da war im Leben, und die man lebte, ohne nach dem Morgen zu fragen, wenn doch die Gegenwart so wundervoll war. Was hatte es ihr gebracht? Nichts als Enttäuschungen!
Nicki hatte noch nicht mit ihr darüber gesprochen, doch Roberta war sich sicher, dass es da einen Mann in Nickis Leben gab, und das musste jemand sein, der hier in der Nähe wohnte.
Nicki war verliebt …
Da war Roberta sich beinahe sicher, und sie fragte sich, wer es denn diesmal wohl sein mochte. Ein bisschen neugierig war sie schon, doch da Nicki nichts sagte, fragte sie auch nicht. Nicki hatte gewiss ihre Gründe dafür, weil sie es für sich behielt. Roberta konnte sich nur wünschen, dass es nicht wieder in einer großen Enttäuschung münden würde.
Einen idealen Mann gab es nicht, den musste man sich vermutlich backen.
Sie selbst und ihr Lars waren das ideale Paar. Sie liebten sich, begegneten sich auf Augenhöhe, sie konnten miteinander lachen, diskutieren, sie waren voller Zärtlichkeit. Lars Magnusson mit seinen unglaublich blauen Augen war ihre große Liebe.
Roberta würde ihn sofort heiraten, sie würde mit ihm Kinder bekommen. Mittlerweile ahnte sie, dass das immer ein großer Wunschtraum bleiben würde. Sie hatte Lars nicht für sich allein, er war letztlich ein einsamer Wolf, der immer sein Ding machen würde, wie gerade jetzt, wo er sich einer Forschergemeinschaft angeschlossen hatte, um über Vulkane in Island zu berichten, und dann würde er weltweit für National Geographic sein Buch über die bedrohten Eisbären vermarkten. Das war für ihn selbstverständlich, er dachte überhaupt nicht darüber nach, dass die Frau an seiner Seite vielleicht andere Wünsche und Träume haben könnte. Er liebte sie über alles, das stimmte, und daran zweifelte Roberta auch nicht einen einzigen Augenblick. Wenn sie zusammen waren, da war er für sie da und nur für sie allein. Da waren sie auf der berühmten Wolke Sieben, doch wenn er ging, dann war der Absturz für sie ganz schrecklich, während er neugierig zu neuen Ufern aufbrach.