Stefan Dietrich

Gehalten zwischen Regenbogen und Sturm.

Zehn Schlaglichter auf das Leben

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Schon vor einiger Zeit entstand die Idee, Lebensgeschichten, Lebensbilanzen in einem Buch zur Sprache zu bringen. Angestossen durch die Tatsache, dass das Leben, wie es einst war und wie es gelebt wurde, nicht in Vergessenheit geraten soll, wuchs diese Idee zu diesem Buch.

Gerade die Bibel ist in weiten Teilen geprägt von Lebensgeschichten und von Lebenserfahrung.

Ich danke allen Personen, die sich zur Verfügung gestellt haben, an diesem Projekt Teil zu nehmen.

Es sind dies Menschen aus dem Berner Seeland, grösstenteils aus Walperswil und Bühl bei Aarberg, die ihr Einverständnis gaben, dass ihre Lebensgeschichte im Rahmen dieses Buches zur Sprache kommen soll.

Selbstverständlich lässt sich ein Leben nicht auf ein paar Buchseiten bannen. Dennoch geben die Erfahrungen von Freud und Leid, so hoffe ich, einen Einblick.

Das gelebte Leben zwischen Hoffen und Bangen ermöglicht einen Eindruck davon, wie es einmal war und auf welche Weise darüber erzählt wird, im Auf und Ab des Lebens immer wieder neu Halt und Mut zu finden.

Walperswil, im Februar 2013

Stefan Dietrich

Eltern sollen sein wie ein gerader Stecken

Ich trete in das Häuschen ein. Mich umfasst eine heimelige Atmosphäre. Die Frau braucht einen Rollator, um durch die Zimmer zu laufen. Unberechenbarer Schwindel lässt sie vorsichtig sein. Zwei aufmerksame Augen heissen mich willkommen. Ich spüre eine gesunde Neugier, einen wachen Geist und rege, tiefgründige Gedanken. Ich höre der lebendigen Erzählung zu. Manchmal scheint es, als hörte ich Worte wie aus einer anderen Welt.

„Ich wuchs in einem kleinen, heimeligen Holzhaus mit Holzwänden und Schindeldach auf. Allein der Stall, im Gegensatz zum Wohnhaus, bestand aus Steinen und Beton. Der Stall war klein, bot jedoch fünf Guschti1 und ein bis zwei Schweinen Platz.

Das Haus war durch und durch einfach. Wir hatten keinen Wasserhahn, sondern einen Wasserkessel mit einer Schöpfkelle in unserer Rauchküche. Es roch nach Daheim. Es gab kein elektrisches Licht, sondern eine Petroleumlampe, die an der vom Rauch dunkel gefärbten Küchenwand hing. So gelang es uns zu sehen, ob wir den Pellkartoffeln die Haut sauber abgezogen hatten. Zum Essen der Kartoffeln gab es für uns ein wenig Salz, so dass sie geniessbar wurden. Dazu assen wir immer Brot und Milch, manchmal am Abend auch Rösti.

Mutter brauchte das Licht auch zum Glätten2. Dafür hatte sie ein Eisen, das mit Holzscheiten aufgeheizt wurde. Manchmal sind etwas Funken heraus gespritzt. Vor allem auf weissen Hemden gab es gut sichtbare Brandflecken.

Hunger mussten wir nie haben. Da bin ich unseren Eltern dankbar. Am Abend wurde meistens Suppe aufgetischt: Kartoffeloder Mehlsuppe, dazu, wie immer, ein Stück Brot und Milch. Am Mittag assen wir Gemüse. Fleisch gab es selten. Die „Salat-Welle“ kam erst später. Schoggi bekamen wir gar nicht.

Um den Küchentisch herum stand eine Bank. Am Sonntag hockten3 wir auf den Tisch hinauf, die Füsse wurden in ein Becken hinein gehalten bzw. getaucht, und dann hat unsere Mutter uns Hals und Ohren geputzt.

Im Winter gab es damals viel Schnee und grosse Kälte. Die Fenster waren voller Eisblumen, und wir haben jeweils Löcher in die Blumen mit unserer Atemluft geblasen. Es war so kalt, dass das Wasser in der Küche zu Eis gefroren war. Die Milch kam am Abend in die Stube; zuhinterst auf dem Kachelofen wurde sie zugedeckt, damit sie nicht zu einem Milcheisblock erstarrte.

Damit wir im Bett nicht froren, hatten wir als Bettflaschen ein gewärmtes Kirschenkisseli4, das wir jeweils am Abend fassten und mit ihm durch die kalte Küche ins Bett liefen. Das Kirschenkisseli wurde auf dem Ofenguggeli 5 warm gehalten. Ein Nachthemd kannten wir Kinder nicht. Wir trugen im Bett ein kurzes „Barchethemmli“6 – das genügte. Wir waren drei Mädchen in einem Bett, und so konnten wir uns gegenseitig wärmen. Ich musste jeweils bei den Füssen liegen. Das gab manchmal eine ziemliche Verwirrung mit den sechs Beinen.

Der Schulweg dauerte etwas mehr als eine halbe Stunde. Damals gab es keine warmen Hosen oder flauschigen Jacken. Der Rock war aus warmem Stoff gearbeitet. Bis Mitte der Wade trugen wir gestrickte Strümpfe mit einem Knopf. Der Knopf wurde mit einem Elastikband mit dem „Gstältli“7 verbunden. Wir trugen ausserdem ein gestricktes Jäckli8, eine Kappe und ein Halstuch, in das wir unsere Hände einwickelten. An die Füsse zogen wir Holzschuhe an. Damit der Schnee nicht zwischen Holzschuhen und Strümpfen eindringen konnte, wickelten wir die Beine mit Wadenbinden von Vati ein.

Das Eskimoöfeli9 in der Schule hatte allein die Funktion, unsere nassen Kleider zu trocknen. In der Nähe des Ofens war ein Draht gespannt. Dort wurden die nassen Kleider zum Trocknen aufgehängt. Man kann sich den „Geschmack“10 der vielen nassen Kleider kaum vorstellen! Kleider wurden damals nicht viel gewaschen. Deswegen stellte die Lehrerin auf das Öfeli ein Gefäss mit Wasser mit wohlriechendem Eukalyptusöl. Dieses Öl diente, neben der Verbesserung der Luftqualität, auch der Verbeugung gegen Schnupfen.

Im Winter konnten wir mittags von der Schule nicht nach Hause kommen. Es war schlicht und einfach zu weit. Deswegen erhielten wir in der Schule einen halben Liter heisse Milch und Brot, so viel wir mochten. Zu Hause mussten wir das Brot stets einteilen.

Später habe ich gemerkt, dass, obwohl ich viel Milch getrunken habe als Kind, dies keineswegs eine Garantie ist, später keine Osteoporose zu bekommen.

Der Beck11 brachte das Brot ganz frisch in die Schule. War das gut!

Zu Hause war es anders: Hier holten wir Brot für eine ganze Woche. Mit dem Leiterwägeli und dem Brotsack kauften wir im Dorf jeweils acht 2-Kilo-Brote ein. Diese wurden im Keller auf eine Hurd12, die - aus Eisendraht gefertigt - frei von der Decke herab hing, aufgereiht – zum Schutz vor Mäusen. Frisches Brot war für uns deshalb immer ein Hochgenuss!

Spielzeug hatten wir überhaupt keines. Ein alter, alleinstehender Mann, ein Freund meiner Eltern, brachte uns manchmal ein schönes Bäbi13. Meine Freude darüber hielt sich allerdings in Grenzen. Denn für mich war es etwas Fertiges, Fremdes mit Haaren, Augen, beweglichen Armen und Beinen. Dazu immer dasselbe Lächeln auf dem Gesicht! Ich habe viel gespielt, die Spiele und das Spielzeug jedoch lieber selbst entwickelt. Deswegen waren unsere Holzscheite uns lieber. Ds Muetti brauchte diese Scheite zum Kochen. Und keines dieser Scheite glich einem anderen. So konnten wir uns eines auswählen, das uns am besten gefiel.