DIE NACHT DES VERRATS
ABENTEUER
IN MAROKKO
Eigenverlag Georg Kranz
Born / Darß
Books on Demand
AUS DEN SATZUNGEN DER GESELLSCHAFT
Die Gesellschaft übernimmt Aufträge für Ermittlungen, Nachforschungen und Expeditionen nur dann, wenn ihr der Auftrag moralisch gerechtfertigt erscheint.
§
Die Gesellschaft übernimmt Aufträge für Expeditionen in alle Teile der bewohnten und unbewohnen Erde, soweit deren Ausführung nicht den Gesetzen des betreffenden Landes widerspricht. Sollten aber die Gesetze eines Landes den Gesetzen der Menschlichkeit widersprechen, so wird die Gesellschaft bereit sein, übernommene Aufträge auch dort auszuführen.
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Die Kosten einer Expedition werden vom Chef-Expeditionsleiter geschätzt. Die eine Hälfte des angesetzten Betrages ist vor dem Aufbruch der Expedition zu zahlen, die andere nach deren Beendigung. Überschreiten die tatsächlichen entstandenen Kosten den veranschlagten Betrag, so werden sie zur Hälfte vom Auftraggeber, zur Hälfte von der Gesellschaft getragen.
§
Betrifft eine Ermittlungs- oder Erforschungsaufgabe Menschen, die in Not sind und niemand haben, der sich ihrer annehmen kann, so übernimmt die Gesellschaft die Kosten der notwendigen Hilfs- oder Rettungsaktion.
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Die Teilnehmer an einer Expedition haben sich über deren Ziel, Zweck und Ergebnis zu absolutem Stillschweigen verpflichtet. Berichte über Expeditionen werden nur dann veröffentlicht, wenn der General-direktor der Gesellschaft und der Auftraggeber damit einverstanden sind. Nichtveröffentlichte Expeditionsberichte werden im Geheimarchiv der Gesellschaft niedergelegt und dort dreißig Jahre lang aufbewahrt.
UBIQUE TERRARUM
(ÜBERALL IN DER WELT)
LIMITED COMPANY
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EHRENPRÄSIDENT
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GENERALDIREKTOR
ARTHUR MILLER
CHEFEXPEDITIONSLEITER
STEPHAN SLANTON, V.C.
EXPEDITIONSFORSCHER
DR. PHIL. DR. RER. NAT. PETER GEIST
EXPEDITIONSARZT: DOCTEUR EN MÉDECINE
GASTON DE MONTFORT
COMTE DE DARIFANT-CROY
EHRENRITTER DES SOUVERÄNEN MALTESERORDENS
UND IHRE MANNSCHAFT
PATRICK CROMBY aus Irland
CYPRIAN BOMBARDON aus Frankreich
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INHALT
Sie wussten nicht, wer es war, auf den sie warteten. Sie wussten nicht, wohin er sie führen würde. Sie wussten nicht, was dort, wohin der Unbekannte sie brachte, zu erfahren war. Sie wussten nur, dass sie auf irgendjemand hier zu warten hatten.
Die sechs Männer saßen nicht zusammen. Zwischen den vielen Marokkanern, die im Schatten der hohen, blühenden Palmen des großen viereckigen Platzes geruhsam ihren Nana tranken, den landesüblichen Pfefferminztee, hatten sie sich verteilt. Neben Dr. Peter Geist hatte der junge Inder Tschandru-Singh Platz genommen. Ein paar Tischchen weiter saß der französische Arzt, den seine Freunde den Grafen nannten, mit dem Expeditionskoch zusammen, der den Spitznamen Neunauge führte, und ein ziemliches Stück von ihnen entfernt, wo der Raum unter den Palmen schon zu einem anderen Café gehörte, saß der Engländer Stephen Slanton, der Chef-Expeditionsleiter. Für das vor ihm stehende Glas mit Pfefferminztee hatte er nur Verachtung. Er trank keinen Schluck davon, sondern zog stumm an seiner Pfeife. Er ärgerte sich jedoch nicht nur über den Tee. Noch mehr verstimmte ihn, dass sie in der Hafenstadt Melilla bei der Firma Manasse Ben Isaak, an die sie von London gewiesen worden waren, nur eine unbestimmte Auskunft erhalten hatten. Sie sollten, so war ihnen gesagt worden, in die Hauptstadt weiterreisen, in die Weiße Stadt, wie sie von den Eingeborenen genannt wurde. Hier, auf dem allen Reisenden wohlbekannten Platz Aljeddan, sollten sie warten, bis sich jemand ihrer annähme. Der Chef hasste unbestimmte Abmachungen. Seinem Begleiter, dem treuen Iren Patrick Cromby, tat es leid, dass der Chef so schlechter Laune war. Er mochte das stark gesüßte Getränk gern, ihm gefiel es hier unter den Palmen, und sein freundliches Vollmondgesicht sah zufrieden über den Platz, den so viele interessante Gestalten belebten. Nicht umsonst hatte der sanfte Mann den Beinamen ‚Plumpudding’. Übrigens hatte auch der Deutsche seinen Extranamen. Er war unter seinen Freunden als ‚Großer Geist’ bekannt, was ebenso anerkennend wie spöttisch gemeint war, weshalb der Spitzname nicht nur der Einfachheit halber mit GG abgekürzt wurde.
Unter den braunen Männern mit Turban und Tarbusch und den weiten Djellabas fielen die Sechs nicht besonders auf. Inder gab es viele in der Stadt, und auch den Anblick der Europäer waren die Muslime hier gewöhnt, denn dieser Platz war die Nahtstelle zwischen der Medina, dem Stadtteil der Einheimischen, und dem europäischen Viertel, das vor den Mauern der Medina entstanden war. Im Rücken der Cafégäste erhoben sich die weißen Mauern einer Moschee, des Sultanpalastes und vornehmer, niedrig gehaltener Häuser, die einmal alten maurischen Geschlechtern, den Andalus, gehört hatten. Jetzt waren die Caféhausbesitzer dort eingedrungen. Auf der andern Seite wurden die hohen Palmen von jenen Riesenbauten weit überragt, bei deren Anblick man sich fragen kann, ob man sich in New York oder in Rio de Janeiro befindet. Die neuen Hochhäuser waren jedoch wie die alten Adelsbauten in schneeigem Weiß gehalten, über die einen wie die andern wölbte sich fast schmerzend der blaue Himmel des Südens, und über Häuser und Menschen war das blendende Licht der heißen afrikanischen Sonne ausgegossen.
„Sieh dir diese Männer an, Neunauge“, sagte der Graf. Es waren Bauern, Rifkabylen, welche die Aufmerksamkeit des Franzosen geweckt hatten. Sie trugen kurze erdbraune Kapuzenmäntel aus grober, dicker Schafwolle, die mit ein paar bunten Wollfäden dürftig verziert waren. Die dunkelbraune Haut der Männer war von der Hitze ausgedörrt und glich gegerbtem Leder. Tiefe Linien waren in ihre Gesichter geschnitten, und von einem unsäglich harten Leben schienen sie vor der Zeit gealtert. Barfuß schritten die Männer über den Platz, ohne nach rechts oder links zu blicken, und der Graf sah ihnen nach, bis sie in dem Dunkel des Tors verschwunden waren, das durch die Stadtmauer in die Medina führte.
„Ich bin überzeugt“, sprach der Graf weiter, „keiner von den Männern hat eine einzige Pesete bei sich, aber sie gehen einher, als entstammten sie alle einem Geschlecht von Königen!”
Neunauge hatte kein Auge für das, was dem Grafen solchen Eindruck gemacht hatte. Er starrte in sein Teeglas, aus dem er bis jetzt ahnungslos getrunken hatte. Nun aber hatte er in dem Grün der großen Pfefferminzblätter, die den Boden des Glases bedeckten, etwas erspäht, das ihm gar nicht gefiel – eine dicke weiße Made.
Er hielt den Kellner, der eben vorübergehen wollte, am Ärmel seines hellblauen europäischen Herrenjacketts fest; der junge Bursche trug es zu einer marokkanischen, weiten und ursprünglich weißen Pluderhose und einem roten Tarbusch. Empört zeigte Neunauge auf den unwillkommenen Bewohner seines Trinkglases. Doch den Kellner erschütterte der Anblick keineswegs. Gleichmütig nahm er das Glas in die Hand, fuhr mit seinem vor langer Zeit gewaschenen Zeigefinger in den Tee, suchte die Made herauszuangeln, und das gelang ihm auch schon beim dritten Male. Nun setzte er das halbvolle Glas zur gefälligen Weiterbenutzung wieder vor den Gast und verschwand, durchaus befriedigt.
Neunauge wollte explodieren, aber der Graf verhinderte seinen Zornesausbruch. „Sei dem Lümmel dankbar“, sagte er eindringlich. „Er hat dich auf etwas aufmerksam gemacht, das für ein geruhsames Leben erzwichtig ist. Ich meine den Grundsatz: ‚Es geht auch so!’“
An dem Tischchen neben GG und Tschandru-Singh hatte sich ein graubärtiger Mann mit dem Antlitz eines Patriarchen niedergelassen, für den der Europäer offenbar Luft war. Sein großer weißer Turban wies ihn als einen Mann aus, der streng am Alten hielt. Im Halsschlitz seiner schwarzgestreiften weißen Djellaba zeigte sich ein Untergewand, das mit grünen und goldenen Seidenfäden reich bestickt war. An den nackten Füßen trug er jene spitzen weißen Lederschuhe, die wie Pantoffeln wirken, weil die weiche Hinterkappe flach niedergetreten wird, so dass sie den Hacken frei lässt. Die hochmütige Nichtachtung für seinen Nachbarn, die er an den Tag legte, wirkte verletzender als ein böses Wort. Jedoch schien er überhaupt ein unzugänglicher Herr zu sein, denn den Kellner, der ihm ein Glas Tee hinsetzen wollte, wies er mit einer entschiedenen Handbewegung fort.
GG sah von ihm wieder weg auf den Platz. War der Bote schon da, den sie erwarteten? Saß er zwischen den Männern, die unter dem Dach des Kiosks in der Mitte des Platzes hockten und, ohne sich zu rühren, das Nichtstun genossen? Oder war er unter denen, die Hand in Hand langsam um den Kiosk herumschlenderten? Freilich konnte der Erwartete ebenso gut auch unter den Schuhputzern sein, die ihm ihre Dienste anboten. Aber wenn er den Kopf schüttelte, gingen sie bekümmert weiter, diese armseligen kleinen Jungen, um die sich niemand in der Stadt kümmerte, die kein Zuhause hatten und nachts wie die Tiere irgendwo in einen Winkel gekauert schliefen.
Ein Bettler kam langsam näher. Auch er trug eine Djellaba, denn in diesem Lande haben Sultan und Bettler dasselbe Gewand, aber die seine war nur noch ein Gehänge von Lumpen. Jedoch war er in Haltung und Gebärde von natürlicher Hoheit und sein Blick voll innerer Ruhe und Gelassenheit. Eintönig kam das Bettellied von seinen Lippen, dessen Worte GG verstand: „Gebt, gebt dem, der von Allah dazu bestimmt ward, dass ihr an ihm zeigen könnt, ob ihr barmherzig seid oder hartherzig. Hört, ihr Gläubigen, die Stimme der Armut! Werdet reicher, ihr Reichen, indem ihr von eurem Reichtum weggebt, ihr Söhne Mohammeds!” Als erweise er den Angebettelten eine Gnade, so hielt er ihnen seine ausgemergelte Hand hin. Alle gaben, auch der Unfreundliche mit dem Patriarchengesicht. Immer wieder dankte der Bettler mit dem doppelsinnigen Worten: „Gebe dir Allah so viel, wie du mir gibst!“, womit er ausdrückte, dass der Ewige den Freigebigen belohnen, den Geizigen jedoch zur Rechenschaft ziehen würde.
Schon war er vorüber. Seine Stimme verklang: „Ihr seid reich, ich bin arm. Aber alle sind wir durch das Schicksal verbunden.“ Nein, auch er war es nicht, der für die Sechs eine Botschaft gehabt hätte.
Von links her, wo die Mellah, das Viertel der Juden, vor dem Tor auf den Platz mündete, klang ein Schrei wie ein Tierruf: „Hoy! Hoy!” Aber es war kein Tier, das da rief, sondern ein Blinder, und sein Ruf bedeutete „Heute, heute!” Er verkaufte Lose zu der Lotterieziehung, die an diesem Tage stattfand. „Hoy! Hoy!” Dieser klagende Laut kam näher, und jetzt konnte GG den Unglücklichen sehen. Seine Augen schienen wie ausgebrannt, die Augenhöhlen waren tot. Der Blinde ging, von niemand geführt, mit ganz kleinen Schritten, wie ein Kind, das erst gehen lernt. Er ging mitten durch die grelle Sonne, denn wo die Palmen Schatten gaben, war der Weg für ihn durch Tische und Stühle versperrt.
Der Mann mit dem Patriarchengesicht rief dem Blinden zu, er solle warten, und erhob sich. Offenbar wollte er ein Los kaufen. Aber indem er sich durch die Enge wand, stieß er an den Stuhl, auf dem GG saß, und gedachte anscheinend nicht, sich zu entschuldigen.
GG hatte nicht Lust, sich das bieten zu lassen, und wandte sich nach ihm um. Da flüsterte der Mann, fast ohne die Lippen zu bewegen: „Aschi!” und ging auf den Blinden hin.
„Folge mir”, hatte er gesagt. Jetzt hatte er ein Los erstanden und schritt langsam der Medina zu.
GG stand auf. Er hatte wie Tschandru-Singh den Tee schon bezahlt, als er ihm gebracht worden war.
„Ist das der Mann?”, fragte Tschandru-Singh aufgeregt, jedoch in seiner heimatlichen Sprache, so dass ihn außer GG niemand verstehen konnte. GG nickte. „Schnell, schnell!” Sie schritten ihm nach.
Der Graf legte einige Peseten auf das Tischchen. „Mein lieber Neunauge“, sagte er, „jetzt werden wir also bald wissen, was man von uns hier erwartet!”
Auch der Chef war bereit. Aber er wartete, bis GG und Tschandru-Singh und dann der Graf und Neunauge vorüber waren. „Los!” ‚knurrte er. „Hat uns lange genug warten lassen, der Kerl!”
Als letzte gingen er und Plumpudding dem unbekannten Ziele zu.
Im Augenblick, als die sechs Männer den mächtigen hufeisenförmigen Bogen des alten dunklen Stadttors betraten, überfiel sie ein starkes Gemisch von wilden Gerüchen. Es roch nach Menschenschweiß und Leder, nach Fleisch, das auf dem Rost gebraten wurde, nach aufdringlichen, schwülen Parfüms, nach Pfefferminz und Eselsmist. Dazu kam in immer wieder neuen Wellen ein strenger Geruch wie von versengtem Papier und kartoffelkrautartigem Tabak; er stieg aus den winzigen Köpfen der Pfeifen, ohne welche die Unzähligen nicht mehr leben konnten, die dem Rauschgift Haschisch verfallen waren. Aber von den Sechs hatte keiner Zeit, sich darüber Gedanken zu machen; jeder musste seine ganze Aufmerksamkeit darauf richten, die nicht aus den Augen zu verlieren, denen er zu folgen hatte.
In den engen Gassen, die kaum drei Meter breit waren und die daher kein Wagen passieren konnte, wogte es von Menschen, die in zwei entgegengesetzten Strömen ohne alle Regelung durcheinander flossen. Aber nirgends war etwas von Hast zu spüren, niemand drängte sich rücksichtslos vorwärts, keiner stieß den anderen an. Ruhig und gelassen schritten die Männer in ihren weiten, farbigen Gewändern mit hocherhobenem Haupt, unbeachtet und bescheiden die verschleierten Frauen, die nackten Füße bis zu den Knöcheln mit Henna rot gefärbt.
„Ich sehe GG nicht mehr“, sagte Neunauge besorgt.
„Doch, doch. Da vorn steht er, bei dem Silberschmied!”
Wahrhaftig, GG schaute einem Handwerker zu, der vor einem kleinen Amboss, der wie für Zwerge gemacht schien, auf dem Boden hockte und in einen silbernen Reif mit seinem Stichel ein Ornament ritzte. An einer Schnur, die von einer Wand zu einer andern gespannt war, hingen Ringe für Finger, Ohren, Hälse, Fußgelenke und Nasen. GG konnte es sich erlauben, so zu verweilen, denn der Mann, dem er mit Tschandru-Singh nachging, tat es nicht anders. Auch der Graubart mit dem weißen Turban schlenderte gemächlich durch die Suks, blieb hier stehen und dort, sprach mit dem und jenem, als habe er nichts anderes zu tun, so dass wohl niemand auf den Gedanken kommen konnte, er erfülle einen geheimen Auftrag, an dem das Schicksal des Landes hing.
So kamen sie allmählich durch ein Gewirr von Ladenstraßen. Weiter, immer weiter –an den lauten Kesselschmieden vorbei und an den stillen Mattenflechtern, bei den Töpfern vorüber und den Arabern, die auf Bergen von Datteln hockten und auf die Käufer der Früchte warteten, durch den Suk der Salzhändler und den der Metzger, um deren aufgehängte und abgezogene Hammelleiber die Schwärme der blauen Schmeißfliegen in der Sonne glänzten.
„Mein lieber Neunauge, was hältst du als Koch und Meister der feinen Küche davon?”, fragte der Graf.
„Jedenfalls hängen die Hammel gut ab“, antwortete Neunauge sachlich. „Das Fleisch zergeht Ihnen nachher auf der Zunge, Herr Graf!”
Von dem Kaleidoskop dieser bunten Bilder nahm der Chef keine Notiz. Er war zufrieden, dass die Sache, um derentwillen sie nach Marokko gereist waren, nun endlich in Schwung kam, und beschäftigte sich nur damit, dem Grafen und Neunauge in gehörigem Abstande zu folgen. Sein Begleiter aber bemühte sich angestrengt, sich den Weg genau einzuprägen, denn der sorgliche Plumpudding sagte sich, es könne unter Umständen nötig werden, dass sie den Ort, zu dem sie jetzt gebracht wurden, auch ohne Führer erreichen müssten, und das war nicht leicht. Die engen Suks waren ja ein wahres Labyrinth von Gassen und Gässchen, von Winkeln und toten Strängen. Von irgendeiner Ordnung war nichts zu erkennen. Nach keinem Plan schien diese Stadt der Eingeborenen gebaut, als wäre sie nur durch Wucherung in die Breite gequollen. War sie eigentlich etwas anderes als ein riesiger steinerner Kaninchenbau mit unzähligen Gängen und Schlupflöchern?
Aber Plumpudding sah eine Möglichkeit, mit diesem Wirrwarr doch fertig zu werden. Nicht nach den niedrigen Häusern freilich und Läden konnte er sich den Weg merken, den sie geführt wurden. Eins sah wie das andere aus, und die Läden waren eigentlich nur Steinkisten, die an einer Stelle offen waren und von denen keine sich von der nächsten unterschied. Nein, die Handwerker und Händler musste er sich merken, die Reihenfolge behalten, in der sie an ihnen vorüberkamen; nur daran konnte er sich orientieren. In dem ersten Stück freilich, gleich nach dem Tor, waren nur weiße Mauern gewesen mit Hauseingängen da und dort. Dann hatte sich dieser Strang in viele Suks aufgespaltet, und sie waren in den eingebogen, an dessen Eck in der weißen Hauswand mit roter Farbe eine große Hand angemalt war, deren weitgespreizte Finger gen Himmel wiesen. Von dieser Hand aus war er nicht zu verfehlen.
Jetzt sah GG, dass der Mann, der sie so unauffällig führte, in eine Seitengasse einbog. GG und Tschandru-Singh gingen rascher. Als sie die Biegung erreicht hatten, stand ihr Führer, der auf sie gewartet haben musste, vor einem Haus, über dessen Tür in arabischer Schrift und in großen lateinischen Buchstaben MAGHREB BAZAR zu lesen war. Mit einer unauffälligen Handbewegung wies er auf diesen Eingang und verschwand dann in der Krümmung der Gasse.
‚Das war gut ausgedacht’, dachte GG. Denn dass sie nun nach und nach alle sechs in diesen Basar gingen, konnte niemand auffallen. In einem solchen interessanten großen Geschäft kauften die Fremden gern ihre Reiseandenken.
In dem halbdunklen Raum, den GG und Tschandru-Singh als erste betraten, wurden sie wie hocherwünschte Kunden empfangen. Zwei junge Leute begrüßten sie mit gewinnendem Lächeln und vielen Verbeugungen. Die beiden Araber waren europäisch gekleidet und hatten kurzgeschnittene Schnurrbärtchen, wie sie zur Zeit bei Filmhelden Mode waren, trugen aber bunte Takiahs. Ein älterer Mann in Djellaba und grünem Turban hielt sich zurück; nur seine Lippen bewegten sich zu einem Gruß. Er hatte eine olivfarbene Haut, die im Gesicht und an den Händen Falten warf, als sei sein Körper ausgetrocknet und zusammen geschnurrt, was ihn als einen Mann kennzeichnete, der dem Haschischgift unentrinnbar verfallen war. Einen riesigen Dunkelhäutigen, so blauschwarz, dass er aus dem tiefsten Sudan hierher verschlagen sein musste, sah GG unbeweglich neben einem abgenutzten Ladentisch stehen, auf dem sich eine moderne amerikanische Registrierkasse befand, die hier so verloren anmutete, als wäre sie erbarmungslos in eine schreckliche Fremde verschleppt und könnte vor Heimweh nach der Welt, in die sie gehörte, gar nicht funktionieren.
Denn die Besucher mussten meinen, sich in keinem Haus mehr zu befinden, sondern in einem Zelt, das in der Oase einer Wüste aufgeschlagen war. Teppiche bedeckten die Wände, Teppiche verbargen, von Stangen aus Rohr gehalten, die Decke, Teppiche bedeckten den Boden. Auf ihnen standen, senkrecht gegen die Teppichwände gelehnt, riesige Messingteller, die über und über ziseliert waren, und davor Kannen aus Messing und Silber. Das hatten GG und sein Begleiter noch gar nicht im einzelnen betrachtet, als die beiden jungen Leute mit ihrem gewinnenden Lächeln und den vielen Verbeugungen sie schon aufforderten, sich doch weiter in das Innere des Basars zu bemühen. Die beiden folgten ihnen und machten eine überraschende Entdeckung.
Von außen hatte das Haus, das sie betreten hatten, den Eindruck eines kleinen, unscheinbaren, ja beinahe jämmerlichen Baues gemacht. Jetzt aber sahen sie, dass es überaus weitläufig war, ja dass dieser Basar eine genaue Wiederholung der Medina zu sein schien. Wie sich draußen die unübersehbaren Gassen der Suks in ein Gewirr von vielen Strängen verästelten, so führten hier fensterlose Gänge in immer wieder neue halbdunkle Räume, die durch verstaubte, an Bindfäden von den Decken herabhängende elektrische Birnen nur spärlich erhellt wurden. Es ging nach links, es ging nach rechts, es ging eine Treppe hinauf. Alle Gänge und Räume waren übervoll von Schränken und Regalen und alten Truhen; wo etwas Licht auf sie fiel, leuchteten Goldornamente auf. Die Schränke hatten Schubladen über Schubladen und schimmerten von eingelegtem Perlmutt und Elfenbein; auf den Regalen lagen zusammengerollte bunte Stoffe, grellbestickte Seiden, handgewebte wollene Tuche. Vor einem schönen Koranständer aus Bronze, die mit Silber tauschiert war, blieb GG stehen, und die eifrigen Verkäufer knipsten sofort eine der matt brennenden Birnen an, dass er das wertvolle Stück genauer betrachten konnte. Er schätzte dessen Alter auf sechshundert Jahre. Nun betrachtete er die kostbare gläserne Ampel aus einer Moschee, die mit Email und Gold verziert war, und dann zog ihn eine alte Standuhr an, deren Zifferblatt arabische Schriftzeichen trug. GG las: „Allah spricht: ‚Verfluche nicht das Schicksal, denn siehe, ICH bin das Schicksal’.”
Tschandru-Singh war bei den Waffen stehengeblieben, bei türkischen Eisenhelmen, die mit Schriftzeichen aus Silber bedeckt waren, bei maurischen Kettenpanzern und Krummschwertern, bei Dolchen, die Elfenbeingriffe hatten und in Scheiden staken, die mit grünem Samt bezogen waren. Während die beiden Verkäufer ihm pantomimisch klarzumachen suchten, dass diese Stichwaffen alle einmal vergiftet gewesen seien, ging GG auf einen Vorhang von Glasperlen zu, der von weither gekommen sein musste, denn seine bunten Perlen zeigten deutlich die Gestalt eines goldschimmernden Engels mit mächtigen Flügeln. Er konnte kein Werk islamischer Kunst sein, denn für sie ist es verpönt, Lebewesen bildlich darzustellen, überhaupt alles, was einen Schatten wirft. ‚Der Künstler oder die Künstlerin’, dachte GG, ‚muss ein byzantinisches Vorbild gehabt haben’, und trat dicht an den Vorhang heran. Aber weiter kam er mit seinen Gedanken nicht. Denn aus den Perlschnüren griff eine Hand heraus, fasste ihn am Arm und zog ihn durch die bewegliche Wand.
In dem Augenblick kam es Tschandru-Singh zu Bewusstsein, dass er sich zu lange verweilt hatte. Rasch wollte er GG wieder erreichen – aber er erblickte ihn nicht mehr. Er sah nur noch, wie die Perlenschnüre in einem letzten lautlosen Beben verebbten.
„Kommen Sie bitte, mein Herr!”, sagte eine Stimme zu GG auf französisch, „die Umstände erfordern diesen nicht angenehmen Weg.” GG konnte den Sprecher nicht erkennen, denn in dem Gang war es dunkel. Aber dann führte ihn der Unbekannte in einen Raum, der zwar auch kein Fenster besaß, in dem aber eine Stehlampe brannte, und nun sah GG einen Mann, der einen roten Tarbusch trug, sonst aber europäische Kleidung. Er war klein, untersetzt, jedoch beweglich. Sein kupferfarbenes Gesicht war rund, der spitz gehaltene Vollbart dünn, die Nase fleischig und breit. Auffallend waren seine langbewimperten Augenlider; er hielt sie fast immer gesenkt, und sie glänzten violett, als habe er sie geschminkt. Aber die Farbe war echt.
Er nannte seinen Namen, Mansur Da’ud, bezeichnete sich als den Besitzer des Basars und bat GG Platz zu nehmen.
Der Raum machte den Eindruck, als sei er für diese Unterredung erst in aller Eile hergerichtet worden. Wie in dem Empfangsraum, so verkleideten auch hier Teppiche die Wände, aber die Stehlampe und fünf europäische Stühle, die um ein niedriges Tischchen aus afrikanischem Rosenholz standen, sahen aus, als seien sie in letzter Minute von irgendwoher gebracht worden.
Der Basarbesitzer sprach nicht weiter. Stumm saß er GG gegenüber. Sein Atem ging rasch, aber der beleibte Mann schien nicht kurzatmig von Natur zu sein, sondern nur sehr aufgeregt. Er fuhr von seinem Stuhl wieder hoch, als der Graf und der Chef von dem ausgemergelten Mann mit dem grünen Turban in das Versteck, das der Raum offenbar war, gebracht wurden. Als sie sich gesetzt hatten, war immer noch ein Stuhl frei. Es wurde also noch jemand erwartet, und der kam, noch ehe die vom Hausherrn angebotene erste Zigarette zu Ende geraucht war.
Die Tür öffnete sich, und von niemand geführt, trat ein Araber herein, der höchstens dreißig Jahre alt sein konnte. Er trug eine mattgelbe Djellaba aus feinster Wolle, die seine Gestalt weich umfloss, darunter eine Seidenweste mit breiter Bordüre, dazu gelbe Pantoffeln und europäische Seidensocken in gleicher Farbe, auf dem Kopf eine weiße Mohammedija. Bei aller Fremdartigkeit wirkte sein Äußeres elegant, und das schien seinem Wesen zu entsprechen. Es tat wohl, ihn anzusehen. Aufs stärkste aber fesselte sein Gesicht. Es war schmal und hatte den Ton alten Elfenbeins, wie überhaupt der ganze Kopf das Überfeinerte hatte, das einem Spätgeborenen eines alten Adelsgeschlechts eigen sein kann. Das Weiß, in dem seine schwarzen Augen standen, ließ an irisierendes Perlmutt denken. Jede Müdigkeit war diesem Antlitz fern. Der bemerkenswerte Mann schien nicht nur wachsam und klug, sondern auch von Energie gespannt, so dass der Graf sehr recht hatte, in Gedanken zu sagen: ‚Ein Falkengesicht’.
Der Basarbesitzer stellte ihn als Nur din el Khalid vor, den Wekil Seiner Scherifischen Majestät des Sultans, „möge Allah sein Leben verlängern“, setzte er hinzu, und unaufgefordert nahm der Geheimschreiber und Erste Sekretär des regierenden Herrschers Platz. Niemand sprach es aus, aber die drei zweifelten nicht daran, dass das der Mann war, der sie hergerufen hatte.
Es war merkwürdig – vom Augenblick an, da er den sonderbaren Raum betreten hatte, schien den drei Männern des Teams die fremde Welt, in die sie hier gekommen waren, versunken. Das Unbestimmte, Ungewisse war auf einmal fort – jetzt lag nur noch die Aufgabe vor ihnen, die sie in Angriff zu nehmen hatten. Offenbar schien die Gegenwart des Wekils auch den Basarbesitzer zu verändern. Als er jetzt auf eine kurze Weisung Khalids zu reden begann, ging sein Atem ruhig, und er führte sicher und klar aus, worum es hier ging.
In der Stadt El Kasr ala albaar, die 85 Kilometer von der Hauptstadt entfernt am Atlantischen Ozean lag, residierte der Pascha Sidi Mohammed Abdullah Ben Asayim. Er gehörte einem jahrhundertealten Herrschergeschlecht der Berber an, aber im Lande regierte der Sultan, welcher der arabischen Dynastie der Alawiten entstammte. Im Laufe der Zeit hatten die von Osten her in das Land gedrungenen Araber die alteingessenen Berberstämme immer mehr in die unwegsamen Berge gedrängt – „der Araber isst den Berber“, hieß es im Lande. Immer wieder hatten die Berber versucht, sich gegen die Herrschaft des Sultans aufzulehnen, und ihre plötzlichen Überfälle waren gefürchtet. „Die Berber kommen!”, war ein Schreckensruf, mit dem die Mütter widerspenstigen Kindern noch heute Angst machten. Am gefürchtetsten war der kriegerische Stamm der Beni Bechiri, dem der Pascha von El Kasr besonders nahestand. Nicht ohne Absicht hatte er alle seine vier Frauen aus diesem Stamm gewählt. Vor achtzehn Jahren hatten die Beni Bechiri den letzten Aufstand gewagt, waren aber zurückgeschlagen und der Stamm für immer entwaffnet worden. Bei der Revolte hatte der Pascha, damals ein junger Mann von zwanzig Jahren, seine Hand im Spiel gehabt.
„Ich nehme an“, sagte GG, „dass der Pascha nach einem Siege der Berber den Sultan entthront hätte!”
Der Basarbesitzer nickte.
„Verstehe nicht, warum ihn der Sultan dann nicht aus dem Lande gejagt hat“, warf der Chef ein. „Ist ja eine ständige Bedrohung für ihn!”
Der Basarbesitzer warf einen hilfesuchenden Blick auf den Wekil.
Aber der schwieg nach wie vor, und so musste Mansur Da’ud weiterreden. „Unser Sultan“, sagte er, „ist von Allah mit tiefer Einsicht begnadet. Er ist überzeugt, nur eine Versöhnung zwischen Arabern und Berbern gibt dem Lande die Möglichkeit eines Aufstiegs. Er begnügte sich damit, dass der Pascha auf den Koran beschwor, nie gegen den Sultan zu kämpfen. Er ließ ihm den Paschatitel. Er ließ ihm auch den Titel ‚Herr der Berge’. Er verbannte ihn nur in das alte Schloss El Kasr ala albaar.“
Je länger der Basarbesitzer sprach, desto lückenreicher wurde sein Französisch, und er flocht immer häufiger arabische Worte, ja ganze Wendungen ein, und jetzt, wo er von dem, was er zu berichten hatte, erregt wurde, sprach er nur noch in seiner Muttersprache, so dass ihn von den drei europäischen Gästen allein GG verstand.
„Seit einiger Zeit“, so sagte er, wobei sein Atem wieder rascher ging, „mehren sich die Anzeichen, dass der Pascha irgend etwas plant. Bei ihm lebt ein Levantiner namens Aristides Caruana. Er muss in Malta aufgewachsen sein. Er hat, wie man hört, eine Griechin als Mutter und einen Malteser als Vater. Er hat dunkle Geschäfte hinter sich, sehr dunkle, wie es heißt. Aber er ist ein sehr geschickter Mann, ohne Zweifel, ganz ohne Zweifel. Er hat für den Pascha an den Börsen spekuliert. Er hat ihm enorme Gewinne verschafft, ganz enorme Gewinne –wenigstens wird das behauptet“, setzte er einschränkend hinzu, als wolle er den Anschein vermeiden, er sei über die Geschäfte des fragwürdigen Mannes genau unterrichtet.
„Jedenfalls hat ihn der Pascha zu seinem Finanzberater gemacht“, sagte er hastig und holte dann ein paar Mal tief Atem, als müsse er jetzt den schwierigsten Teil der Strecke bewältigen: „Jetzt aber hat der…” Er rang nach einer passenden Bezeichnung, begnügte sich jedoch, fortzufahren: „Jetzt hat Herr Caruana irgendeinen großen Schlag vor, wenn nicht alle Vermutungen trügen. Vielleicht hat er sogar den Pascha aufgestachelt, wieder einen Angriff auf den Sultan zu wagen! Man hört dies, man hört das, aber man hört nichts Genaues. Sie müssen seine Pläne herausbekommen, meine Herren. Sie müssen seine Anschläge zunichte machen. Dafür sind Sie in das Land unsres Sultans gerufen worden. Allah gebe ihm ein langes Leben!”
Als GG das seinen beiden Gefährten übersetzt hatte, machte der Chef sofort eine ablehnende Handbewegung. „Faule Sache“, sagte er entschieden. „Regierung hat doch überall ihre bezahlten Spitzel und Zuträger. Kann durch ihre Kreaturen ganz genau erfahren, was gespielt wird. Verstehe nicht, dass wir dazu nötig sind. Lege Wert darauf, dass Sie den Leuten klarmachen: So etwas liegt uns nicht!”
Der Einwand des Chefs schien eine wunde Stelle berührt zu haben, denn nachdem GG ihn übersetzt hatte, fuhr sich der Basarbesitzer mit seinem Taschentuch über die Stirn, als sei ihm der kalte Schweiß ausgebrochen. Er erwiderte hastig, es sei zweifellos richtig, dass der Sultan – „Allah verlängere sein Leben” – über einen ausgezeichneten geheimen Nachrichtendienst verfüge, aber gerade weil die Angaben der Vertrauensleute in diesem Falle so merkwürdig unbestimmt seien, müsse man schließen, dass die Lage sehr gefährlich sei. Das sehe nämlich so aus, als rechneten die Eingeweihten schon damit, dass ein etwa geplanter Umsturz Erfolg haben werde, und da wolle es keiner mit dem zukünftigen Machthaber verderben.
Das leuchtete ein, aber der Chef kam sofort mit einem neuen Einwand: „Sultan hat doch, wie Sie uns erklärt haben, seine eignen Truppen.”
„Vielleicht kann er seiner Mehalla so wenig trauen wie seinen Vertrauensleuten?”, meinte der Graf.
„Schön“, knurrte der Chef, aber der Graf protestierte: „Bitte, Chef, sagen Sie nicht: ‚schön’. Sagen Sie: ‚So wird es sein’, oder: ‚So kann es sein’, aber sagen Sie nicht: ‚schön’. Denn schön ist das nicht.“
Der Chef warf ihm nur einen Blick zu. „Meine, wenn seine Leute nicht schießen…”
„Verzeihung, Chef“, bemerkte der Graf sehr höflich, „warum sollten sie nicht schießen? Es kommt nur darauf an, auf wen sie schießen!”
„Ob sie zuverlässig sind oder nicht“, sagte der Chef böse, „darauf kommt es überhaupt nicht an. Neben dem Palast des Sultans steht der Palast, in dem der Generalgouverneur der europäischen Schutzmacht sitzt, und er hat eine Armee im Lande, die schießt, so wie er befiehlt. Die Berber aus den Bergen haben, wie uns gesagt wurde, nicht einmal mehr Waffen.”
„Sollte nicht die Möglichkeit bestehen, Chef, dass sie sich die insgeheim wieder beschafft haben?”, lautete die mit bezwingender Harmlosigkeit vorgebrachte Frage des Grafen. „Haben jedenfalls keine Flugzeuge wie der Generalgouverneur“, antwortete der Chef energisch, „haben keine Maschinengewehre, oder wenn doch, können sie die nicht bedienen. Habe auf der Karte gesehen: überall im Land Militärstationen. Kommen meinetwegen aus ihren Bergen angeritten –ein telefonischer Anruf genügt –”
„Meinen Sie nicht, Chef, dass jene Vertrauensleute, die sich nicht trauen, die Wahrheit zu berichten, schon vor dem Aufbruch der Reiter die Telefondrähte zerschnitten haben?”
„Bitte ergebenst“, fragte der Chef in dem schönen Gefühl zurück, nicht widerlegt werden zu können, „und wie zerschneiden Ihre Leute die Funkwellen?“ Dann endlich kam er zu dem Argument, das seiner Meinung nach durchschlug: „Jede Kavallerie wird aus den alarmierten Blockhäusern, die Straßen und Gelände beherrschen, zusammengeschossen. Keiner der armen Kerle erreicht die Hauptstadt!”
Jetzt ergriff zum ersten Mal der Wekil des Sultans das Wort. Er wartete nicht ab, bis GG die Meinung des Chefs übersetzt hatte –er musste also genau verstanden haben, was der Chef und der Graf gesprochen hatten. Er sprach leise, und wie es schien, ganz leidenschaftslos, aber jeder seiner kurzen Sätze klang wie gehämmert: „Wenn die Berber kommen, werden sie Waffen haben. Wenn die Berber kommen, werden die Maschinengewehre des Generalgouverneurs schießen. Wenn die Berber kommen, schießt auch die Mehalla. Dann fließt Blut. Wenn aber Blut zwischen Arabern und Berbern geflossen ist, dann gibt es keinen Frieden mehr in diesem Lande!”
Er machte eine Pause, als solle jeder Zeit haben, sich zu vergegenwärtigen, was es heißt, wenn zwei Völkerstämme eines Landes einander im Vernichtungskampf zerfleischen, und sein Schweigen lastete auf allen. Der Basarbesitzer saß ganz zusammengesunken da.
„Es darf zu keinem Angriff der Berber kommen“, fuhr der Wekil fort. „Ermitteln Sie, ob er geplant ist. Ist er geplant, dann verhindern Sie ihn, ohne dass ein Schuss fällt.”
Es war der Graf, der darauf antwortete, aber ohne Scherz, denn dafür war die Zeit jetzt vorbei. „Wenn man von der Voraussetzung ausgeht“, sagte er, „dass dieser Malteser der Unruhestifter ist, dann wäre es doch wohl geraten, dass man ihn aus der Umgebung des Paschas entfernte. Er gilt, das haben wir gehört, als eine fragwürdige Persönlichkeit. Demnach liegt einiges gegen ihn vor. Wäre es da nicht das einfachste, man ließe ihn auf Grund dessen, was gegen ihn vorliegt, von der Polizei belangen und zwänge ihn, das Land zu verlassen?”
Der Basarbesitzer raffte sich auf, das sofort zu klären. „Der Malteser hält sich nur im Palastbezirk des Paschas auf. Er verlässt diesen Bereich mit keinem Schritt. Innerhalb dieser Grenzen untersteht er allein der Gerichtsbarkeit des Paschas. Niemand hat das Recht, dort einzudringen.”
„Kann man dieses Recht nicht für sieben Tage aufheben?”
„Nein“, antwortete der Wekil, „das kann man nicht. Denn mit diesem Recht ist auch die Person des Paschas geschützt. Höbe der Sultan es auf, so gibt es für die Berber nur eine Deutung: Der Sultan will dem Herrn der Berge ans Leben.”
Es sah von einem zum andern und fragte dann: „Ist jetzt alles klar?”
Das war es. Die Männer des Teams wussten, woran sie waren –aber es sollte ihnen noch deutlicher werden. „Bitte, hören Sie, was ich Ihnen jetzt zu sagen habe“, bemerkte der Wekil. „Sie sind ganz allein auf sich gestellt. Der Generalgouverneur wird nie zu Ihren Gunsten eingreifen, denn er weiß von Ihnen nichts. Seine Scherifische Majestät der Sultan darf von Ihnen nichts wissen, denn die Ihm vielleicht drohende Gefahr muss ihm verschwiegen werden, aus Gründen, über die ich mich nicht äußern kann. Sollten Sie und ich uns irgendwo begegnen, so kenne ich Sie nicht.”
Der Basarbesitzer fühlte sich gedrängt, auch etwas zu äußern, aber er brachte nur hervor: „Ja, so ist es, genau so, und wenn Sie mir eine Million dafür gäben –ich wüsste nicht zu sagen, wie Sie das nun machen sollen“, wobei der Graf den Eindruck hatte, der bekümmerte Mann hätte eigentlich ausdrücken wollen, das beste wäre, wenn sie das Land so schnell wie möglich wieder verließen.
Der Wekil erhob sich. Damit war die Unterredung zu Ende. Der Basarbesitzer sprang eilig auf, öffnete die Tür, horchte hinaus und verließ dann als erster den Raum, um den Weg zu zeigen. Der Chef folgte ihm, dann der Graf. Als GG sich ihm anschließen wollte, hielt ihn der Wekil auf, indem er seinen Arm berührte. „Sie sind nicht ganz allein“, flüsterte er hastig. „In der Stadt werden Sie beschützt. Aber draußen im Lande nicht. Trauen Sie niemand! Im Falle der höchsten Not müssen Sie sich an mich wenden. Sagen Sie dem Rais der Palastwache: ‚Watano arrayul hueva alofok!’“
„Watano arrayul hueva alofok“, wiederholte GG leise, sich damit den Satz einprägend. Er verstand das große Wort: „Des Mannes Heimat ist der Horizont.“
Nun verließ auch GG den Raum, aber voller Unruhe. Warum hatte der Wekil zu ihm leise gesprochen, und anders als vorhin? ‚Trauen Sie niemand’ –traute etwa der Wekil auch dem Basarbesitzer nicht, musste sich aber seiner bedienen, weil er niemand sonst hatte, dessen Dienste er in Anspruch nehmen konnte? Stand auch der Wekil allein?!
Schon kam der Basarbesitzer angeschossen, um GG durch die verwinkelten Gänge des Basars zum Ausgang zu führen. Der Chef und der Graf waren dort bereits angelangt, und auf niedrigen Sitzkissen hockend, tranken Plumpudding, Neunauge und Tschandru-Singh mit den Angestellten des Hauses Pfefferminztee. Der Besitzer wollte unbedingt, dass er auch für die drei Herrn gebracht würde, aber noch von seinem Zweifel bedrängt, lehnte GG so entschieden ab, dass Mansur Da’ud nicht weiter darauf bestand. Doch keiner seiner Gäste durfte fortgehen, ehe seine Angestellten nicht jedem Stirn, Schläfen und Handflächen mit einem starken Parfüm eingerieben hatten, und schließlich drängte er noch jedem ein Zigarettenetui aus hellem Leder auf, dem anzufühlen war, dass es wohlgefüllt war. „Hassan wird Sie an den Ausgang der Medina bringen“, sagte er noch, und der riesige Schwarze setzte sich in Bewegung.
Vergebens wehrten die Herren ab, vergebens sagte Plumpudding, er habe sich den Weg so genau eingeprägt, dass er nicht nur wieder zum Tor zurückfinde, durch das sie gekommen seien, sondern auch jederzeit den Basar wieder besuchen könne – „das Haus mit der roten Hand weist mir den Weg!”, sagte er, seiner Sache sicher.
Als GG das dem Basarbesitzer übersetzt hatte, sah Mansur Da’ud Plumpudding mit zusammengekniffenen Augen an, als müsse er sich vergegenwärtigen, welches Haus jener meine. Schon aber fielen seine violetten Lider wieder herab, als schlösse sich ein Vorhang, und er sagte: „Hier kommt niemand heraus, der sich nicht willig führen lässt.“
GG stutzte. War das nur so hingesagt, oder war das eine Drohung? Sogleich aber schüttelte er seinen Verdacht ab. Er war, dachte er, durch die Warnung des Wekils überempfindlich geworden. Übrigens verließ der Wekil das Haus nicht mit ihnen. GG hatte die Vorstellung, dass es Wege gab, auf denen man den Basar ungesehen erreichte und ungesehen verlassen konnte.
Ohne ein Wort zu sprechen, führte der Farbige sie durch die Medina, und es schien Tschandru-Singh, als spräche aus den Augen des Riesen Angst. Der Inder war hier ebenso in der Fremde wie der Dunkelhäutige aus dem Sudan, aber Tschandru-Singh lebte ja bei seinem Sahib und für ihn – hatte der Afrikaner etwa niemanden, bei dem er sich wohl fühlte?
„Sahib“, flüsterte der junge Mensch GG zu, „willst du nicht dem Mann etwas geben? Er sieht aus, als ob keine Freude bei ihm ist.”
GG drückte Tschandru-Singh einen ansehnlichen Schein in die Hand, und als der Schwarze sie an das Tor der Medina gebracht hatte und wieder umkehren wollte, schob Tschandru-Singh ihm das Geld zu. Der Riese sah den Schein an und dann Tschandru-Singh. Er lachte nicht, und es verzog sich in seinem Gesicht überhaupt keine Miene. Aber er gurgelte ein paar Laute, doch niemand verstand sie, und der Inder ging mit Plumpudding und Neunauge in ihr Hotel, das im Europäerviertel lag, während der Chef, der Graf und GG sich wieder an eins der Tischchen unter die Palmen des großen Platzes setzten.