Der Autor
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Prof. Dr. Thomas Meyer ist Neurologe und Leiter der ALS-Ambulanz der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Seit 1991 beschäftigt er sich mit der ALS. Forschungsaufenthalte führten ihn an das California Pacific Medical Center in San Francisco, an die Mount Sinai School of Medicine in New York sowie an das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin. Seine neurologische Ausbildung absolvierte er in den Jahren 1996–2001 an der Charité sowie an der Universität Ulm. Seine Promotion und Habilitation widmeten sich molekular-genetischen Fragestellungen bei der ALS. 2002 gründete er an der Charité die ALS-Ambulanz, die sich zu einem spezialisierten Versorgungs- und Studienzentrum entwickelt hat. Er ist Mitgründer der Versorgungs- und Forschungsplattform »Ambulanzpartner« und Autor zahlreicher wissenschaftlicher Veröffentlichungen zur ALS.
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1. Auflage 2021
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-036841-5
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-036842-2
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Die Diagnose einer ALS ist für die Betroffenen und ihre Angehörigen mit drängenden und schwerwiegenden Fragen verbunden. In mehr als 20 Jahren der Betreuung von Menschen mit ALS an der Charité habe ich zahlreiche Fragen zur Diagnose, Prognose, Behandlung der ALS sowie zu den verschiedenen Auswirkungen der Erkrankung erfahren. Diese Fragen betreffen den gesamten Verlauf der ALS und unterschiedlichste Aspekte. Mehr als 350 dieser Fragen habe ich in diesem Buch zusammengetragen, thematisch geordnet und beantwortet. Dieses Buch im Frage-Antwort-Format ist als Ergänzung zum Patienten-Arzt-Dialog zu verstehen. Es soll Menschen mit ALS und deren Angehörigen die Möglichkeit geben, die für sie bedeutsamen Themen nachzulesen oder zu vertiefen.
Meine Antworten beruhen auf der Perspektive und Erfahrung eines spezialisierten Neurologen. Damit sind eine subjektive Sichtweise und fachliche Einschränkung verbunden. Dieses Buch erhebt damit keinen Anspruch auf medizinische und wissenschaftliche Vollständigkeit. Gerade die medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse – insbesondere zur Genetik und zu Biomarkern, aber auch zu Medikamenten und Hilfsmitteln – können raschen Veränderungen unterliegen. Daher werden bereits innerhalb einer Auflage einzelne Neuerungen zu erwarten sein, die im Buchformat nicht darstellbar sind. Allerdings sind die überwiegenden Fragen und Antworten vom medizinischen Wandel weitgehend unberührt und unverändert relevant.
Neben Betroffenen und ihren Angehörigen ist dieses Buch auch an ärztliche Kollegen sowie an Atmungs- und Ernährungstherapeuten, Physio- und Ergotherapeuten, Logopäden, Hilfsmittelversorger, Apotheker, Sozialarbeiter, Pflegeberater und andere Leser gerichtet, die in der Versorgung von Menschen mit ALS engagiert sind. Für Ergänzungs- und Verbesserungsvorschläge in Vorbereitung zukünftiger Auflagen dieses Buches bin ich sehr dankbar.
Möge dieser Leitfaden den Betroffenen eine Hilfe bei der Klärung offener Fragen sowie eine Orientierung bei den vielfältigen Entscheidungen sein, die im Verlauf der ALS unabdingbar entstehen.
Prof. Dr. Thomas Meyer
Die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine schwere neurologische Erkrankung, die zu fortschreitenden Lähmungen der Betroffenen führt. Es handelt sich um eine neurodegenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems. Darunter ist der fortschreitende Abbau (Degeneration) derjenigen Nervenzellen in Gehirn und Rückenmark zu verstehen, die für die Steuerung der Muskulatur verantwortlich sind. In der Folge der ALS entstehen fortschreitende Lähmungen (Paresen) oder eine unkontrollierte Muskelanspannung (Spastik) der Willkürmotorik. Diejenigen Muskelgruppen, die bewusst vom Menschen angespannt werden können, werden als Willkürmotorik bezeichnet. Die Zunge, die Schlundmuskulatur, die Rumpf- und Atemmuskulatur, aber vor allem die Extremitätenmuskeln gehören zur Willkürmotorik. Alle Muskelgruppen, die keiner willkürlichen Kontrolle des motorischen Nervensystems unterliegen, sind bei der ALS ausgespart. Dazu gehören die Herzmuskulatur sowie sämtliche Muskelgruppen der inneren Organe (z. B. Magen-, Darm- und Gefäßmuskulatur). Durch die gemeinsame Betroffenheit des Nerven- und Muskelsystems wird die ALS auch als eine neuromuskuläre Erkrankung bezeichnet.
Die Abkürzung ALS steht für den medizinischen Begriff »Amyotrophe Lateralsklerose«. Es handelt sich um den medizinischen Namen, den der Erstbeschreiber der ALS für diese Erkrankung im Jahre 1874 vorgeschlagen hat. Dieser medizin-historische Begriff beschreibt Grundelemente der Erkrankung. »Amyotroph« lässt sich mit der Formulierung »ohne Muskeln« übersetzen. Das Wort »Lateralsklerose« steht für eine »seitliche Verkalkung«. Diese Formulierung zielt auf den Abbau des Seitenstranges im Rückenmark, der die zentrale motorische Nervenbahn im Rückenmark verkörpert und bei der ALS degeneriert. Eine freie Übersetzung des Begriffes der Amyotrophen Lateralsklerose bedeutet »Muskelschwund durch einen Abbau der Seitenstränge im Rückenmark«. Dieser Begriff ist ausschließlich historisch zu verstehen, da in der Begrifflichkeit nur die Veränderungen auf Rückenmarksebene beschrieben werden und auch der Lähmungscharakter im Wort nicht beschrieben wird. Der ALS-Begriff ist damit inhaltlich nicht »korrekt«, aber ein weltweit verbindlicher Name der zugrunde liegenden Erkrankung. Der weite Gebrauch eines historischen Krankheitsbegriffes ist nicht nur für die ALS typisch, sondern betrifft die gesamte Medizin. Beispiele für weitgenutzte historische Begriffe sind »Multiple Sklerose«, »Krebs«, »Arteriosklerose«, »Schlaganfall« und zahlreiche Bezeichnungen anderer schwerer Erkrankungen.
Der Begriff »Motoneuron-Erkrankung« lässt sich als »Erkrankung der motorischen Nervenzellen« übersetzen. »Moto« steht für das Wort »motorisch«, während das »Neuron« der medizinische Begriff für »Nervenzelle« darstellt. Motoneuron-Erkrankungen sind damit die Gesamtheit aller Erkrankungen, bei denen motorische Nervenzellen abgebaut werden Bei Motoneuronen-Erkrankungen können die folgenden Symptome auftreten: unvollständige Lähmungen (»Parese« genannt), vollständige Lähmungen (»Plegie« oder »Paralyse« genannt), Muskelschwund (»Myatrophie« genannt) oder eine unkontrollierte Muskelanspannung, die sich als Muskelsteifigkeit darstellt (»Spastik« genannt). Die ALS ist die häufigste Motoneuron-Erkrankung. Neben der ALS gehören auch andere Erkrankungen dazu, die diagnostische und prognostische Unterschiede zur ALS-Erkrankung aufweisen. Zur Gruppe der Motoneuron-Erkrankungen, die keine ALS verkörpern, gehören die Spinale Muskelatrophie (SMA, Frage 60), die Spinobulbäre Muskelatrophie (SBMA; auch Kennedy-Erkrankung genannt,
Frage 61) sowie die Spastische Spinalparalyse (SSP,
Frage 65), die unter bestimmten Umständen auch als Hereditäre Spastische Paraparese (HSP) bezeichnet wird. Die Symptomverteilung, der Schweregrad und die Dynamik der Symptomentwicklung zwischen diesen Erkrankungen sind sehr unterschiedlich. Für einen Spezialisten ist die Unterscheidung zwischen diesen Diagnosen möglich. In bestimmten Kliniken wird der Begriff der »Motoneuron-Erkrankung« auch synonym für die ALS benutzt, da sie die häufigste Motoneuron-Erkrankung des Erwachsenenalters darstellt. In Großbritannien und britisch-geprägten Gesundheitssystemen wird der Begriff Motoneuron-Erkrankung (Motor Neuron Disease; MND) anstelle des Wortes der ALS benutzt.
Die ALS wurde erstmalig im Jahr 1874 vom französischen Neurologen Jean-Martin Charcot am Pariser Universitätskrankenhaus Hôpital de la Salpêtrière beschrieben. Er bezeichnete die Erkrankung als »Amyotrophe Lateralsklerose«. Bereits im Jahr 1850 hat der französische Neurologe François Aran die progressive Muskelatrophie (PMA, Frage 38) entdeckt. Zum damaligen Zeitpunkt ging man davon aus, dass die PMA und ALS unterschiedliche Erkrankungen seien. Heute ist bekannt, dass die PMA eine spezifische Variante der ALS darstellt. Damit wurde die ALS im weiteren Sinne erstmalig von Aran bereits 1850 charakterisiert. Die Namensgebung, die bis heute Gültigkeit hat, folgte dann 24 Jahre später durch Charcot.
Die ALS ist eine schicksalshafte Erkrankung, für die nach dem heutigen Stand der Medizin keine äußeren Ursachen bekannt sind. Damit ist die ALS in jedem Fall ohne »Eigenverschulden« zu betrachten. Bestimmte Erkrankungen sind mit einem Risikoverhalten verbunden (z. B. bestimmte Krebserkrankungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch Rauchen, Alkoholgenuss, körperliche Inaktivität usw.). Diese beeinflussbaren Risikofaktoren liegen bei der ALS nicht vor. Daher ist der Begriff der »Schicksalshaftigkeit« der ALS gerechtfertigt. Die Mehrheit der Betroffenen war vor der Diagnose einer ALS gesund und ohne wesentliche Vorerkrankungen. Die ALS tritt daher ohne Vorboten auf. Die Mehrheit der Betroffenen erkrankt im Alter zwischen 50 und 60 Lebensjahren. Männer und Frauen sind fast gleichermaßen betroffen: das männliche Geschlecht überwiegt geringgradig (1,5 : 1). Verschiedene Studien haben versucht, ein bestimmtes Profil von Menschen mit ALS zu identifizieren. Verschiedene Untersuchungsserien zeigen, dass Menschen mit ALS vor Erkrankungsbeginn schlanker und sportlicher sind als entsprechende Vergleichsgruppen. Weitere Studien haben nachgewiesen, dass Menschen mit ALS – in einer statistischen Betrachtung – einen höheren Bildungsstatus und ein überdurchschnittliches Einkommen aufweisen. Für viele Studienergebnisse zu Persönlichkeitsmerkmalen von ALS-Patienten liegen auch gegenteilige Untersuchungsergebnisse vor. Insgesamt lässt sich damit kein »Persönlichkeitsprofil« für Menschen mit ALS festlegen. Insgesamt kann grundsätzlich jeder Mensch im Verlauf des Lebens an ALS erkranken. Das Risiko für eine ALS ist erhöht, wenn eine familiäre (erbliche) Form der ALS vorliegt ( Frage 130).
Die Frage »Warum hat mich die ALS getroffen?« beschäftigt fast alle Menschen mit ALS. In dieser Frage liegt die Vermutung oder Sorge, dass möglicherweise ein Ereignis in der eigenen Biografie als Krankheitsursache zugrunde liegt, das einem bisher nicht bewusst war. Die Sorge oder Vermutung ist jedoch medizinisch nicht begründet: Für die ALS liegen auch keine Ursachenfaktoren vor, die an einen Lebensstil oder andere biografische Ereignisse gebunden sind. Bestimmte Berufe, Ernährungsgewohnheiten, die Belastung mit Toxinen (Holzschutzmittel, Farben, Lacke und andere Chemikalien), Fremdkörper (Zahnfüllungen, Implantate) oder Infektionen (Borreliose) sind keine Ursachenfaktoren der ALS. Die Frage »Warum ich?« lässt sich vereinfacht so beantworten, dass die ALS »zufällig« entsteht. Hinter diesem »Zufall« sind bisher unverstandene molekulare Fehler zu vermuten, die zu einer schädlichen Ereignisabfolge auf zellulärer Ebene führen und die Degeneration der motorischen Nervenzellen einleiten. Zu einem geringeren Teil der ALS-Patienten sind bereits heute genetische Faktoren (Mutationen in »ALS-Genen«) bekannt, die von vorangehenden Generationen übertragen wurden oder in der eigenen Embryonalentwicklung entstanden sind ( Frage 130).
In Deutschland sind vermutlich 6.000–8.000 Menschen an ALS erkrankt. Diese Zahl ist eine Annahme, die auf Studienergebnisse zur Häufigkeit der ALS in regionalen oder internationalen Patientenregistern (z. B. dem Schwäbischen oder dem Niederländischen ALS-Register) beruht. Die exakte Zahl der Betroffenen ist in Deutschland nicht bekannt, da bisher kein bundesweites ALS-Register besteht. Die Studienlage in den bisherigen Registern zeigte eine Häufigkeit von 8–10 Betroffenen pro 100.000 Einwohner. Unter der Annahme, dass die Häufigkeitsverteilung der ALS in der Region Schaben oder den Niederlanden sowie Deutschland weitgehend übereinstimmen, ist bei 80 Millionen Einwohnern in unserem Land von der genannten Zahl von etwa 8.000 Betroffenen auszugehen. Die Anzahl der Erkrankten pro 100.000 Einwohner wird als ALS-Prävalenz bezeichnet. Davon zu unterscheiden ist die ALS-Inzidenz. Diese Zahl beschreibt die Anzahl der Neuerkrankungen pro Jahr pro 100.000 Einwohner. Bei der ALS ist von etwa 1,5–2 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner auszugehen. Damit treten in Deutschland 1.200–1.600 Neuerkrankungen pro Jahr auf. Diese Zahl entspricht auch der Anzahl der jährlichen Todesfälle infolge der ALS in Deutschland.
Die ALS erfüllt die formalen Kriterien der Europäischen Union (EU) einer »seltenen Erkrankung«, die mit einer Häufigkeit von weniger als 50 Betroffenen pro 100.000 Einwohner definiert ist. Die ALS tritt mit einer Häufigkeit von 10 pro 100.000 Einwohnern auf, sodass die genannten Kriterien einer seltenen Erkrankung erfüllt sind. Diese formale Einordnung hat vor allem für die Entwicklung und Zulassung von Medikamenten eine Bedeutung, die in der EU und den USA durch gesetzliche Regelungen gefördert werden. Innerhalb der »seltenen Erkrankungen« gehört die ALS jedoch zur Gruppe der »häufigen Seltenen«.
In Deutschland liegen bisher keine zuverlässigen Daten über die ALS-Häufigkeit und deren zeitlichem Verlauf vor. Allerdings konnte eine große Studie zur Häufigkeitsentwicklung der ALS in den USA zeigen, dass (im Verlauf von den 1950er bis zu den 1990er Jahren) eine Zunahme der Häufigkeit um 30 % zu verzeichnen war. Die Studie wurde von einem Institut für Epidemiologie erstellt und veröffentlicht. Die Epidemiologie ist eine Teilwissenschaft der Medizin, die sich mit Häufigkeitsverteilungen, Veränderungen und Risiken von Erkrankungen in Bevölkerungsgruppen wissenschaftlich beschäftigt. In epidemiologischen Studien werden damit Faktoren der Diagnosegenauigkeit (z. B. durch veränderte diagnostische Möglichkeiten in den 1990er Jahren im Vergleich zu den 1950er Jahren) sowie eine veränderte Aufmerksamkeit bestimmter Diagnosen berücksichtigt. Damit sind die beschriebenen 30 % der Häufigkeitszunahme als »bereinigte Werte« und relevant zu betrachten. Trotz der fehlenden Datenlage in Deutschland zur Entwicklung der ALS-Häufigkeit ist (in Analogie zu den USA) zu vermuten, dass auch in Deutschland die Häufigkeit der ALS in den zurückliegenden Jahrzehnten zugenommen hat.
Das mittlere Erkrankungsalter bei der ALS beträgt 55 Jahre. Eine Erkrankung vor dem 18. Lebensjahr und nach dem 80. Lebensjahr ist jedoch sehr selten. Insbesondere der frühe Erkrankungsbeginn (vor dem 18. Lebensjahr) ist besonders selten. Eine Erkrankung nach dem 80. Lebensjahr ist ungewöhnlich, aber nicht so selten wie die jugendlichen Verlaufsformen der ALS. Eine Erkrankung vor dem 25. Lebensjahr wird als »juvenile ALS« (JALS) bezeichnet (»juvenil« lässt sich mit »jugendlich« übersetzen). Eine Erkrankung zwischen dem 25. und dem 40. Lebensjahr wird »frühe adulte ALS« genannt (»adult« lässt sich mit »erwachsen« übersetzen). Damit soll unterstrichen werden, dass in diesem Fall die ALS vor dem typischen mittleren Erwachsenenalter auftritt. Die juvenile und die frühe adulte ALS sind durch besondere Verlaufsmerkmale gekennzeichnet. Bei der frühen adulten ALS stehen schlaffe Lähmungen (Paresen, Frage 87) und ein Muskelschwund (Myatrophie,
Frage 88) der Arme in Kombination mit einer Steifigkeit (Spastik,
Frage 97) der Beine besonders häufig auf. Dieser Verlaufstyp ist auch bei der JALS bekannt. Jedoch ist bei der JALS die Variabilität des Krankheitsverlaufes sehr hoch. So ist eine chronische JALS bekannt, deren typischer Krankheitsverkauf 20–30 Jahre beträgt. Der bekannteste Patient mit einer chronischen JALS war der Astrophysiker Stephen Hawking. Im Gegensatz zur chronischen JALS ist auch eine akute Verlaufsform der JALS bekannt, die ein besonders hohes Erkrankungstempo aufweist. Bei der akuten JALS kommt es in rascher Abfolge zu schlaffen Lähmungen und einem ausgeprägten Muskelschwund sowie einer Einbeziehung der Atemmuskulatur. Die akute JALS kann innerhalb weniger Monate zum Tode führen – oder zur Notwendigkeit einer Beatmungstherapie.
Männer und Frauen erkranken fast gleichermaßen an ALS. Das männliche Geschlecht überwiegt leicht. Das Geschlechterverhältnis beträgt 1,5 : 1. Dieses Verhältnis bedeutet, dass 15 ALS-erkrankten Männern etwa zehn betroffene Frauen gegenüberstehen. Auffällig ist jedoch, dass spezifische Verlaufsformen der ALS sehr dominant mit dem männlichen Geschlecht assoziiert sind (z. B. das Flail Arm-Syndrom, Frage 46). Die Ursache für den deutlichen Geschlechtsunterschied ist unbekannt. Diskutiert wird der Einfluss von Genen auf den Geschlechtschromosomen (X- oder Y-Chromosom), die das Risiko oder das Ausprägungsmuster der ALS bestimmen. Diese Hypothese wird durch andere neurologische Erkrankungen unterstützt, die Parallelen zur ALS aufweisen und durch Mutationen in einem geschlechtsbezogenen Gen verursacht werden. So kommt die Spinobulbäre Muskelatrophie (SBMA; Kennedy-Erkrankung
Frage 61) nur bei Männern vor. Die SBMA führt zu Muskelschwund (Myatrophie) und Lähmungen (Paresen) der Zungen- und der Extremitätenmuskulatur – wie bei der ALS. Im Unterschied zur ALS schreiten jedoch die Lähmungen wesentlich langsamer fort. Die Ursache der SBMA liegt in Gen-Veränderung im Androgen-Rezeptor-Gen auf einem Geschlechtschromosom (X-Chromosom). Die SBMA zeigt, dass Motoneuron-Erkrankungen in geschlechtsabhängiger Weise (mit Bezug zu Veränderungen auf Geschlechtschromosomen oder durch hormonelle Prozesse) verursacht oder beeinflusst werden können.
Die ALS verläuft grundsätzlich bei beiden Geschlechtern in gleicher Weise. Das Erkrankungsalter, die Verlaufsgeschwindigkeit und die Krankheitsdauer zeigen keine wesentlichen Unterschiede. Bestimmte Verlaufsformen der ALS kommen beim männlichen oder weiblichen Geschlecht häufiger vor. So tritt eine Sonderform der ALS, das Flail-Arm-Syndrom ( Frage 46) überwiegend bei Männern auf (Verhältnis von Männern zu Frauen; 9 : 1). Im Gegensatz dazu tritt eine Sonderform der ALS mit einer Spastik der Zunge (Pseudobulbärsyndrom) in Kombination mit einer Verhaltensstörung (frontotemporale Demenz, FTD,
Frage 51) überwiegend bei weiblichen Patienten auf. Diese geschlechterbezogenen Sonderformen der ALS sind insgesamt sehr selten.
Die Erkrankung von Kindern und Jugendlichen an ALS ist extrem selten. Der Beginn einer ALS vor dem 16. Lebensjahr wird nur im Ausnahmefall beschrieben. Allerdings treten im Kindes- und Jugendalter andere Motoneuron-Erkrankungen auf, insbesondere die Spinale Muskelatrophie (SMA, Frage 60) oder die Spastische Spinalparalyse (SSP,
Frage 65), die ebenfalls mit Lähmungen (Paresen,
Frage 87), Muskelschwund (Myatrophie,
Frage 88) oder Steifigkeit (Spastik,
Frage 97) einhergehen können. Zumeist liegt diesen kindlichen Motoneuron-Erkrankungen eine genetische Ursache zugrunde
In Deutschland und Europa ist von einer ähnlichen Häufigkeit auszugehen. Dennoch sind regionale Unterschiede möglich, deren Ursachen noch nicht geklärt sind. Informationen über die Größe der regionalen Unterschiede ist von »ALS-Registern« zu erwarten, die derzeit in der Region Schwaben und anderen Bundesländern aufgebaut werden. Wiederholt wurden kleinere Orte beschrieben, in denen mehrere Menschen an ALS zeitgleich erkrankt sind. Das gilt auch für Unternehmen, in denen Arbeitskollegen mit kurzem Zeitabstand an ALS erkrankt sind. Diese Konstellationen waren über Jahrzehnte der Anlass für Hypothesen von Umweltfaktoren, die eine regionale oder kollektive Häufung von ALS bedingen. Diese externen Faktoren konnten bisher nicht identifiziert werden. Auch ist bisher unklar, ob es sich bei den Berichten tatsächlich um regionale Häufungen oder vielmehr um statistische Phänomene handelt. Darunter ist zu verstehen, dass im Auftreten von Erkrankungen keine statistische »Gleichverteilung« besteht. Dieses Phänomen ist beim Würfelspiel zu beobachten – so kann eine Zahl für mehrere Durchgänge besonderes häufig oder sogar hintereinander gewürfelt wird, obwohl die Zahl auf dem Würfel nur einmal vorkommt. In gleicher Weise ist erklärbar, dass die Diagnose einer ALS mehrfach hintereinander in der gleichen Gruppe gestellt wird. Im Gegensatz zu statistischen Effekten (einer scheinbaren ALS-Häufung) ist zu vermuten, dass genetische Faktoren zu einer realen Häufung der ALS in bestimmten Regionen beitragen. So kann es in Regionen mit geringer genetischen »Durchmischung« (z. B. durch Abgeschiedenheit der Bevölkerung auf Inseln) zu einem erhöhten genetischen Risiko der ALS kommen. Die Insel Guam ist ein seltenes Beispiel für eine tatsächliche regionale Häufung der ALS. In den 1940er–1960er Jahren war eine komplexe neurologische Erkrankung mit Ähnlichkeiten zur ALS die häufigste Todesursache in einigen Dörfern der Insel Guam. Die Erkrankung war eine Kombination von ALS, Parkinson-Syndrom und Demenz. Sie wurde als Guam-ALS-Parkinson-Demenz-Komplex bezeichnet. Als Ursache der regionalen Häufung wurden ursprünglich bestimmte Toxine vermutet, die von der regionalen Bevölkerung mit der Nahrung (Produkte der Palmfarne) verzehrt werden. Der New Yorker Neurologe und Buchautor Oliver Sacks hat in einem Buch »Die Insel der Palmfarne« über die Häufung der ALS auf Guam und die damit verbundenen Hypothesen berichtet. Oliver Sacks hat durch sein Buch »Zeit des Erwachens«, (das sehr erfolgreich verfilmt wurde) eine große Bekanntheit erlangt. Die Toxin-Hypothese der ALS-Häufung auf Guam konnte bisher nicht bewiesen werden. Eine alternative Hypothese besteht darin, dass sich genetische Faktoren innerhalb der abgeschlossenen Bevölkerung auf Guam angereichert haben. Tatsächlich hat die Häufigkeit des ALS-Parkinson-Demenz-Komplex auf Guam dramatisch abgenommen. Dieser Effekt könnte sowohl mit einer genetischen Durchmischung (größere Zuwanderung auf Guam mit verändertem genetischem Hintergrund), aber auch durch veränderte Ernährungsgewohnheiten (Verminderung der Toxinbelastung) erklärt werden. Die starke Häufung der ALS-ähnlichen Erkrankung auf Guam ist ein medizin-historisches Phänomen, das in seiner Ursache bisher noch nicht vollständig aufgeklärt ist. In Deutschland und Europa sind vergleichbare regionale Häufungen nicht bekannt.
Innerhalb von Deutschland sind keine wesentlichen Häufigkeitsunterschiede z. B. ein Nord-Süd- oder Ost-West-Gefälle bekannt. Ein regionales Risiko im Sinne einer geografischen Häufung ist nicht vorhanden. Das erste systematische ALS-Register in Deutschland untersucht die Region »Schwaben« in den Bundesländern Bayern und Baden-Württemberg. Hier zeigt sich, dass keine vollständige »Gleichverteilung« des ALS-Vorkommens besteht. So sind Kommunen mit einer größeren ALS-Häufigkeit dokumentiert, während andere Gemeinden (auch in unmittelbarer Nachbarschaft) eine geringere Häufigkeit aufweisen. Die Ursachen dafür sind noch weitgehend unverstanden. Außer einer statistischen Ungleichverteilung sind auch methodische Effekte zu diskutieren. Insgesamt sind diese regionalen und lokalen Unterschiede relativ gering.
Ein bundesweites ALS-Register ist nicht vorhanden. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat ein lokales Register der Region »Schwaben« gefördert, das definierte Flächen der Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg erfasst. Die Daten werden im Institut für Epidemiologie und der Klinik für Neurologie der Universität Ulm erfasst und ausgewertet. Weiterhin bestehen regionale Register in Nordrhein-Westfalen sowie in Rheinland-Pfalz, die jeweils von ALS-Zentren organisiert werden und ALS-Patienten der jeweiligen ALS-Ambulanz systematisch erfassen. Weitere Erkenntnisse werden durch Daten der Versorgungs- und Forschungsplattform »Ambulanzpartner« gewonnen, die nicht den formalen Status eines Registers trägt, aber mehr als 20 % aller ALS-Patienten in Deutschland in überregionaler Weise erfasst. Damit ist dieses Netzwerk die umfangreichste Datenerfassung für ALS-Erkrankungen in Deutschland. Auch im internationalen Vergleich sind bisher nur wenige ALS-Register etabliert. Allein in den Niederlanden ist eine nationale Erfassung aller ALS-Patienten bekannt. Die Erklärung liegt in der Zentralisierung des Gesundheitswesens und der Versorgungsstrukturen in den Niederlanden und der deutlich geringeren Bevölkerungszahl in dem genannten Land. Mit mehr als 100 gesetzlichen Krankenversicherungen, einer komplexen Struktur der Wissenschafts- und Versorgungslandschaft sowie der Selbstverwaltung von ärztlicher Versorgung ist in Deutschland eine Zentralisierung nach niederländischem Vorbild kaum realisierbar. In Deutschland liegt die Chance bei der Digitalisierung der Versorgungsprozesse in internet-basierten Strukturen, sodass auf diesem Weg eine Zusammenführung von Patientendaten möglich sein wird.
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