Bücher von Harry Eilenstein:

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Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783743186613

Die Themen der einzelnen Bände der Reihe „Die Götter der Germanen“

  1. Die Entwicklung der germanischen Religion
  2. Lexikon der germanischen Religion
  3. Der ursprüngliche Göttervater Tyr
  4. Tyr in der Unterwelt: der Schmied Wieland
  5. Tyr in der Unterwelt: der Riesenkönig Teil 1
  6. Tyr in der Unterwelt: der Riesenkönig Teil 2
  7. Tyr in der Unterwelt: der Zwergenkönig
  8. Der Himmelswächter Heimdall
  9. Der Sommergott Baldur
  10. Der Meeresgott: Ägir, Hler und Njörd
  11. Der Eibengott Ullr
  12. Die Zwillingsgötter Alcis
  13. Der neue Göttervater Odin Teil 1
  14. Der neue Göttervater Odin Teil 2
  15. Der Fruchtbarkeitsgott Freyr
  16. Der Chaos-Gott Loki
  17. Der Donnergott Thor
  18. Der Priestergott Hönir
  19. Die Göttersöhne
  20. Die unbekannteren Götter
  21. Die Göttermutter Frigg
  22. Die Liebesgöttin: Freya und Menglöd
  23. Die Erdgöttinnen
  24. Die Korngöttin Sif
  25. Die Apfel-Göttin Idun
  26. Die Hügelgrab-Jenseitsgöttin Hel
  27. Die Meeres-Jenseitsgöttin Ran
  28. Die unbekannteren Jenseitsgöttinnen
  29. Die unbekannteren Göttinnen
  30. Die Nornen
  31. Die Walküren
  32. Die Zwerge
  33. Der Urriese Ymir
  34. Die Riesen
  35. Die Riesinnen
  36. Mythologische Wesen
  37. Mythologische Priester und Priesterinnen
  38. Sigurd/Siegfried
  39. Helden und Göttersöhne
  40. Die Symbolik der Vögel und Insekten
  41. Die Symbolik der Schlangen, Drachen und Ungeheuer
  42. Die Symbolik der Herdentiere
  43. Die Symbolik der Raubtiere
  44. Die Symbolik der Wassertiere und sonstigen Tiere
  45. Die Symbolik der Pflanzen
  46. Die Symbolik der Farben
  47. Die Symbolik der Zahlen
  48. Die Symbolik von Sonne, Mond und Sternen
  49. Das Jenseits
  50. Seelenvogel, Utiseta und Einweihung
  51. Wiederzeugung und Wiedergeburt
  52. Elemente der Kosmologie
  53. Der Weltenbaum
  54. Die Symbolik der Himmelsrichtungen und der Jahreszeiten
  55. Mythologische Motive
  56. Der Tempel
  57. Die Einrichtung des Tempels
  58. Priesterin – Seherin – Zauberin – Hexe
  59. Priester – Seher – Zauberer
  60. Rituelle Kleidung und Schmuck
  61. Skalden und Skaldinnen
  62. Kriegerinnen und Ekstase-Krieger
  63. Die Symbolik der Körperteile
  64. Magie und Ritual
  65. Gestaltwandlungen
  66. Magische Waffen
  67. Magische Werkzeuge und Gegenstände
  68. Zaubersprüche
  69. Göttermet
  70. Zaubertränke
  71. Träume, Omen und Orakel
  72. Runen
  73. Sozial-religiöse Rituale
  74. Weisheiten und Sprichworte
  75. Kenningar
  76. Rätsel
  77. Die vollständige Edda des Snorri Sturluson
  78. Frühe Skaldenlieder
  79. Mythologische Sagas
  80. Hymnen an die germanischen Götter

Inhaltsverzeichnis

  1. Eide, Segen, Flüche, Gesang und Zaubersprüche
  2. Eide
  3. Der Segen in der germanischen Überlieferung
  4. Flüche in der germanischen Überlieferung
  5. Zaubersprüche
  6. Der Gesang in der germanischen Überlieferung

I Eide, Segen, Flüche, Gesang und Zaubersprüche

Eide, Segen, Flüche und Zaubersprüche haben gemeinsam, daß sie sich fast alle an Gottheiten wenden und sie um die Erfüllung und Verwirklichung dessen bitten, worum es in dem Eid, dem Segen, dem Fluch oder dem Zauberspruch geht. Des weiteren werden fast alle diese „magischen Worte“ gesungen.

Es ist daher anzunehmen, daß alle diese Texte ihren Ursprung im Kult der Götter und Göttinnen haben und sozusagen Gottheiten-Anrufungen zu einem speziellen Anlaß sind.

Aufgrund dieser großen Ähnlichkeit der Eide, Segen, Flüche und Zaubersprüche miteinander sowie ihrer gemeinsamen Wurzel werden sie hier in diesem Band zusammen betrachtet.

Mit diesem Thema eng verwandte Bände sind:

Band 64: Magie und Ritual
Band 72: Die Runen
Band 58: Priesterin – Seherin – Zauberin – Hexe
Band 59: Priester – Seher – Zauberer
Band 18: Der Priestergott Hönir
Band 37: Priester in den Mythen (Hermod, Skirnir, Thialfi u.a.)

II Eide

Ein Eid ist im Wesentlichen ein Versprechen, bei dem der Eid-Geber die Götter auffordert, dem Eid-Geber einen bestimmten Schaden zuzufügen, wenn er seinen Eid bricht. Die Grundlage eines solches Eides ist natürlich, daß alle Beteiligten davon überzeugt sind, daß die Götter sowohl die Macht als auch den Willen haben, im Falle eines Eidbruches den Eidbrecher auf die betreffende Weise zu strafen.

Man könnte einen Eid daher auch einen „an eine Bedingung geknüpften Auto-Fluch“ nennen.

II 1. Wortfamilie und Wortfeld „schwören“

Die Fachbegriffe zum Schwören im Altnordischen geben einen guten Überblick über die damalige Schwur-Praxis:

Der Brauch des Eid-Ablegens

munn-eidr = „Mund-Eid“, der Brauch des Ablegens von Eiden

Der Eid

eidr = Eid

heit = Eid, Schwur, feierliches Versprechen

söri = Eid, Schwur, Fluch

varar = Schwur, feierlicher Eid

Der erzwungene Eid

naudungar-eidr = „Not-Eid“, d.h. erzwungener Eid

Oft verlangte ein Sieger von den Besiegten unter Todesandrohung, daß sie einen

Treue-Eid ablegten, d.h. daß sie für den Fall eines Aufstandes einen Fluch der Götter auf sich herabriefen.

Das Schwören

efla heit = einen Eid ablegen

eid-spjall = Ablegen eines Eides („Eid sprechen“)

eid-unnung = Ablegen eines Eides

sverja eidr = schwören („Eid schwören“)

sörr = schwören

vinna eidr = schwören („Eid durchführen“)

ganga til eida = einen Eid ablegen gehen

heit-strengja = feierlicher Schwur

strengja efla heit = einen feierlichen Schwur ablegen

heit-strenging = das Ablegen eines feierlichen Eides

Es wurde anscheinend zwischen einem einfachen Schwur und einem feierlichen Schwur, der nach strengen Regeln durchgeführt wurde, unterschieden.

Das Thema des Eides

veittust varar = etwas beschwören

eid-vätti = Aussage unter Eid

trygda-eidr = Treue-Eid

trunandar-eidr = Treue-Eid

eid-brodir = Schwur-Brüder

söring = „Schwören“ = Exorzismus

söringa-madr = „Schwur-Mann“ = Exorzist

Als Eid-Thema erscheinen die beschworene Aussage, der Treue-Eid und der Exorzismus, der jedoch eigentlich kein Eid ist, sondern nur wie der Eid eine Anrufung der Götter verwendet.

Aus der Benennung des Exorzismus als „Schwur“ kann man schließen, daß die Anrufung der Götter der wesentliche Punkt beim Eid ist, da der Eid und der Exorzismus nur die Anrufung der Götter gemeinsam haben.

Die Worte des Eides

forn-ordr = Schwur-Worte

eida-mal = Eid-Formel

eid-stafr = Eid-Formel

tragda-mal = Eid-Formel

Es scheint traditionelle Eid-Worte („Formeln“) gegeben zu haben, die oft verwendet worden sind.

Der beim Eid angesprochene Gott

heid-gud = Gott, bei dem man schwört

baug-eidr = Ring-Eid, Schwur auf den Ring im Tempel

Die Eid-Zeugen

eida-fullting = Eid-Hilfe („Zeugenschaft“)

eida-kona = „Eid-Frau“ = Eid-Helferin, Eid-Zeugin

eida-lid = Eid-Helfer, Eid-Zeugen

svannanar-madr = Bürge für das Wort oder den Eid eines anderen

Die Wirkung des Eides

heit-bunndinn = Eid-gebunden

eid-svari = durch einen Eid gebunden; Lehensmann

eid-sörr = Eid-sicher, absolut sicher

eid-varr = Eid-vorsichtig, mit allergrößter Vorsicht

hlyda til eid-spjalls = auf jemandes Eide hören, jemandem glauben

eigi verdr einn eidr alla = „der Eid eines Mannes ist nicht der Eid aller (Männer)“

Der Eid-Bruch

rjufa eid = einen Eid brechen

eid-brigdi = Eidbruch

eid-rof = Eid-Bruch

meineidr = Meineid (altnordisch „mein“ = verletzen, hindern, verweigern)

heit-rofi = Wort-Brecher, Eid-Brecher

vara vargr = Eidbrecher („Eid-Würger“ = „Eid-Wolf“)

eid-rofi = Eidbrecher

meinn-sörandi = eidbrüchig, meineidig

Das Eid-Lied

heit-söngr = Eid-Lied, Votiv-Lied

Das Eid-Lied ist ein religiöses Lied, daß sich an eine Gottheit wendet. Auch diese Bezeichnung zeigt, daß die Anrufung einer Gottheit das gemeinsame Element eines Eides, eines Exorzismus und eines religiösen Liedes ist und daß alle drei nach dieser Anrufung benannt worden sind.

Zusammenfassung

Aus der Wortfamilie und dem Wortfeld „schwören“ ergibt sich, daß ein Eid die folgenden Elemente hat :

Als zusätzliche Elemente zu der Beschreibung eines Eides am Anfang dieses Kapitels kommen hier noch die Eid-Zeugen, die traditionellen Eid-Formeln, die zentrale Stellung der Eid-Gottheit und der Eid-Bruch hinzu.

II 2. Der Handschlag-Eid

Die allereinfachste und formloseste Variante eines Eides ist die Bekräftigung per Handschlag. Genau genommen ist dies jedoch kein Eid, da ihm alle wesentlichen Elemente wie die Bezugnahme auf die Gottheit und die Eid-Formel fehlen.

II 2. a) Nials-Saga

Da gab Thorgeir nach; er gelobte Hald durch Handschlag, daß Flose und seine Genossen vor ihm sicher sein sollten, bis die Versöhnung stattfände, und Hald versprach ihm dasselbe in Flose's und der Sigfussöhne Namen.

II 2. b) Saga über König Harald Hart-Rat

Diese einfache Bekräftigung eines Abkommens findet sich des öfteren in der germanischen Überlieferung:

„Der König stimmte allen zu, was Fin bestimmt hatte und es wurde durch Zeugen und durch Handschlag bekräftigt.“

II 3. Die Bekräftigungs-Formel

Eine weitere formlose Variante der Bekräftigung einer Aussage ist der Vergleich mit etwas, was allgemein als wahr angesehen wird. Auch dies ist wie der Handschlag kein wirklicher Eid.

II 3. a) Saga über Thordr den Unruhestifter

„So wahr meine Nase jemals geatmet hat!“

Etwas freier übersetzt, lautet dieser Ausruf: „So wahr ich atme!“

II 4. Eide in den Mythen

Einer der bekanntesten Eide aus der germanischen Überlieferung ist der Eid, Baldur nicht zu verletzen, den alle Wesen außer der Mistel leisteten.

II 4. a) Wegtam-Lied

„Wir wollen besenden die Wesen alle

Frieden erbitten, daß sie Baldur nicht schaden.“

Alles schwur Eide, ihn zu verschonen;

Frigg nahm die festen Schwüre in Empfang.

II 4. b) Gylfis Vision

In dieser Mythen-Übersicht des Snorri Sturluson findet sich eine weitere Schilderung dieses Eides:

Da frug Gangleri: „Haben sich noch andere Abenteuer mit den Asen ereignet? Eine gewaltige Heldentat hat Thor auf dieser Fahrt verrichtet.“

Har antwortete: „Es mag noch von Abenteuern berichtet werden, die den Asen bedeutender scheinen. Und das ist der Anfang dieser Sage, daß Baldur, der gute, schwere Träume träumte, die seinem Leben Gefahr deuten. Und als er den Asen seine Träume sagte, pflogen sie Rat zusammen und beschlossen, dem Baldur Sicherheit vor allen Gefahren auszuwirken.

Da nahm Frigg Eide von Feuer und Wasser, Eisen und allen Erzen, Steinen und Erden, von Bäumen, Krankheiten und Giften, dazu von allen vierfüßigen Tieren, Vögeln und Würmern, daß sie Baldurs schonen wollten.“

II 5. Der Willensbekundungs-Eid

Ein Eid hat die Funktion, eine Sache abzusichern. Solch ein Eid wird manchmal auch freiwillig ausgesprochen, wenn der Sprecher sicherstellen will, daß er sich an die eigene Aussage hält und daß alle wissen, daß er sich daran halten wird.

II 5. a) Völsungen-Saga

Da sprach Brünhild und sagte: „Zwei Könige kämpften miteinander. Einer von ihnen war Helmgunnar, ein alter Mann und der größte der Krieger. Ihm hatte Odin den Sieg versprochen. Sein Feind war Agnar, Audis Bruder. Ich warf jedoch Helmgunnar in diesem Kampf nieder.

Da stieß Odin aus Rache für diese Tat den Schlaf-Dorn in mich und sagte, daß ich nie wieder den Sieg haben sollte, sondern verheiratet werden sollte.

Doch ich setzte dagegen den Eid, daß ich niemals einen Mann heiraten werde, der das Wort Furcht kennt.“

II 5. b) Völsungen-Saga

Vermutlich ist die Auffassung der Krähe als Seelenvogel die Auffassung für diesen zunächst recht merkwürdig scheinenden Schwur.

„Ich habe geschworen, daß ich eher eine junge Krähe heiraten werde als ihn!“

Da sich der Tote in seinem Hügelgrab (Jenseits) mit der Jenseitsgöttin vereinte, um sich selber wiederzuzeugen, sodaß er anschließend von der Göttin als Seelenvogel wiedergeboren werden konnte („junge Krähe“), hat dieser Schwur wahrscheinlich einen mythologischen Hintergrund (siehe auch „Krähe“ in Band 40). Wenn diese Deutung zutreffen sollte, stellt sich die Frau, die den Schwur ausspricht, an die Stelle der Jenseitsgöttin.

Der Schwur lautet daher etwas freier übersetzt ungefähr: „Lieber sterbe ich und gehe ins Hügelgrab, als daß ich ihn heirate!“

II 5. c) Die Saga über Hrafnkell Freysgodi

Auch der folgende Eid ist ein freiwilliger Eid, der allen Menschen einen bestimmten Entschluß und eine damit zusammenhängende Handlungsweise bekanntmachen sollte – in diesem Fall die Todesstrafe für eine bestimmte Handlung.

Hrafnkell Freyr-Priester hatte in seinem Eigentum ein Kleinod, welches ihm besser als jedes andere schien. Dies war ein Hengst von brauner Farbe, mit einem schwarzen Streifen längs dem Rücken herunter, welchen er Freyr-Mähne nannte. Er gab denselben seinem Freund Freyr zur Hälfte.

Zu diesem Hengst hatte er eine so große Zuneigung, daß er das Gelübde tat, daß er den Mann töten würde, der ohne seinen Willen auf ihm reiten würde.

Mit dem „Freund Freyr“ ist der Gott Freyr gemeint, dem Hrafnkell einen Tempel erbaut hatte, zu dem dieser Hengst gehörte.

II 5. d) Saga über König Sverri von Norwegen

Bei einer Krönung legte der König einen Eid über sein beabsichtigtes Verhalten ab. Dieser Brauch ist auch von den Jarlen (Grafen) bekannt und er war auch allgemein ein Bestandteil der Zeremonie beim Antritt eines Erbes.

Ich wurde von einem Gesandten Roms und mit der allgemeinen Zustimmung des Volkes des Landes zum König geweiht und gekrönt und habe bei meiner Weihung geschworen, daß ich die Gesetze des Landes befolgen werde und es mit dem Schwert, das mir bei meiner Weihung gegeben wurde, gegen die Gier und die Feindseligkeit hinterhältiger Männer verteidigen werde. Und ich habe geschworen, daß ich lieber mein Leben verlieren als gegen die Worte meines Eides handeln werde.

II 5. e) Saga über Thrond von Gate

In dieser Saga dient das Angebot des Ablegens eines Eides dazu, die eigene Aussage als wahr zu beweisen:

„O König, hier sage ich, daß ich und alle meine Schiffs-Gefährten diese Tat nie begangen haben, und ich bin bereit, darauf einen solchen Eid abzulegen, wie es eure Gesetze verlangen, oder, wenn dies für Dich ein vollständigerer Beweis ist, will ich Eisen tragen und Du selber sollst bei der Verhandlung dabei sein.“

Eisen = in Ketten gefangen

II 5. f) Atli-Lied

In diesem Lied findet sich ein Eid, der daraus besteht, daß der Schwörende sein eigenes Leben zum Pfand für die Wahrheit des von ihm Gesagten einsetzt: Wenn er gelogen hat, wird er am Galgen hängen und es wird ihn der Riese holen, d.h. er wird ins Jenseits gebracht werden.

Je größer die Strafe ist, die man im Falle eines Eidbruches von den Göttern auf sich selber herabruft, desto sicherer ist der Eid. Die Aufforderung an die Götter, den Tod zu senden, wenn man den Eid bricht, ist daher der sicherste aller Schwüre.

Trotzdem handelt es sich bei dem folgenden Eid um einen absichtlichen, geplanten und von König Atli befohlenen Meineid … Die Sicherheit eines Eides hängt davon ab, ob derjenige, der den Eid ablegt, auch daran glaubt, daß die Götter ihn strafen werden, wenn er den Eid bricht.

Da begann Glaumwör, Gunnars Gemahlin,

Zu Wingi gewandt, wie ihr würdig schien:

„Ich weiß nicht, wie ihr guten Willen uns lohnt:

Hier warst Du ein arger Gast, wenn Übels dort geschieht.“

Da verschwur sich Wingi und schonte sich wenig:

„Der Jote soll mich holen, wenn ich euch belog:

Am Galgen soll ich hängen, wenn ich Frieden geheuchelt habe.“

II 5. g) Völsungen-Saga

In dem folgenden Eid ruft Sigurd die Götter insgesamt als „Straf-Instanz“ für einen möglichen Bruch seines Eides an:

Sigurd antwortete (an Sigrun/Brünhild gewandt): „Welche Königstochter gibt es, die mich verführen könnte? Und ich bin in dieser Sache auch nicht zweifachen Herzens – und ich werde nun bei den Göttern schwören, daß ich Dich zur Frau nehmen werden und niemand anderen.“

Auf genau diese Weise sprach er.

Sigurd dankte ihr für ihre Rede und gab ihr einen Goldring. Da schworen sie ihre Eide noch einmal.

Auch die Ehe gehört zu den „freiwilligen Willensbekundungs-Eiden“.

II 5. h) Die Saga über Olaf den Ruhmreichen

Sein eigener Sohn, König Olaf von Schweden, hatte bei Thors Hammer geschworen, die Beleidigung seiner Mutter, der Königin Sigrid der Stolzen, zu rächen.

II 6. Der Notsituations-Eid

Eine andere freiwillige Form des Eides wird in Notsituationen gesprochen. Diese Art von Eid ist gewissermaßen ein „Handelsabkommen“ mit den Göttern, bei dem einer Gottheit für den Fall der eigenen Errettung aus einer großen Not etwas Bestimmtes versprochen wird.

II 6. a) Saga über die Siedler von Eyre

In den späten Tagen König Olafs des Heiligen fuhr Gudleif nach Westen auf eine Handelsfahrt nach Dublin und als er vom Westen wieder fortsegelte, wollte er nach Island und segelte zunächst westlich um Irland herum. Doch dann wehten starke Stürme von Osten und Nordosten und so fuhren sie eine lange nach Westen und Südwesten ins Meer hinaus und sahen nirgendwo Land. Der Sommer war schon fast vorüber und sie legten viele Eide ab, damit sie aus dem Meer entkommen würden. Und schließlich erreichten sie Land – es war ein großes Land und keiner wußte, welch ein Land dies war.

II 6. b) Die Saga über Hallfredr Ärger-Skalde

Manchmal wurde ein solcher Eid auch abgelegt, bevor die Not eintrat – sozusagen ein „prophylaktischer Notfall-Eid“ …

Da kamen die Schiffs-Gefährten überein, daß sie einen Eid ablegten, daß sie eine große Geldsumme dem Freyr geben würden, wenn sie Wind nach Schweden erhielten, oder dem Thor oder dem Odin, wenn sie Island erreichten.

II 7. Der Treue-Eid

Der Wert eines Eides liegt darin, daß er gehalten wird … selbst wenn dadurch das eigene Leben bedroht wird.

II 7. a) Die Saga über Olaf den Ruhmreichen

Die folgende Szene schildert die Bedeutung eines Treue-Eides zwischen zwei Männern, also eines Ziehbruder-Eides, durch den die beiden zu „Blutsbrüdern“ werden.

Ziehbrüder sind zwei Männer, die gemeinsam von demselben Mann aufgezogen worden sind – es war damals weithin üblich, daß die Kinder von hochstehenden Männern in Familien ihrer Untergebenen aufgezogen wurden, also z.B. die Söhne von Königen bei den Jarlen (Grafen) dieser Könige. Dadurch wurden die Königssöhne zu den „Zieh-Brüdern“ der Kinder des betreffenden Jarls. Diese Form der Bruderschaft wurde als feste, dauerhafte Verbindung angesehen, die einer tatsächlichen Verwandtschaft gleichgestellt war.

„Du bist nicht von unserem Volk, Egbert,“ entgegnete Thorgils und ließ sich auf das trockene Laub nieder, „und Du weißt nicht, was der Ziehbruder-Eid verlangt. Du hast mich gebeten, etwas zu tun, dem ich den Tod vorziehen würde. Ole und ich werden uns niemals trennen bevor uns der Tod trennt. Und wenn einer von uns getötet werden sollte, dann wird der andere seinen Tod rächen. Wenn Ole in seiner Gefangenschaft bleiben will, bis er alt und grau ist, werde ich trotzdem immer sein Bund-Gefährte bleiben. Aber ohne ihn fliehen – das werde ich niemals tun!“

II 7. b) Saga über König Sverri von Norwegen

Dies ist ein weiteres Beispiel für einen Treue-Eid:

Auf der Versammlung der acht Grafschaften wurde Sverri der Königs-Titel verliehen und durch das Erheben der Waffen bestätigt; Land und Lehensleute wurde ihm gemäß den alten Bräuchen mit Eid übergeben.

II 7. c) Die Saga über Olaf den Ruhmreichen

Ein Eid wurde oft abgelegt, in dem man die Hand auf einen Gegenstand legte, der als eine Verbindung zu der Gottheit angesehen wurde, von der man im Falle des Eid-Bruches eine Strafe auf sich selber herabrief.

Zur Aufnahme in den Kreis der Jomsburg-Vikinger gehörte das Befolgen einer Reihe von strengen Regeln, zu denen u.a. auch das Ablegen des folgenden Eides gehörte. Dieser Eid ist ein Ziehbruder-Eid.

Die Außenwirkung des Ziehbruder-Eides bestand vor allem darin, daß ein Mann verpflichtet war, einen Ziehbruder genauso zu rächen wie einen leiblichen Bruder. Wer also einen Mann mit mehreren Brüdern und Ziehbrüdern tötete, hatte automatisch viele Todfeinde.

Jedes Mitglied schwor bei dem Hammer des Thor, alle anderen seiner Brüder zu rächen.

II 8. Der Friedens-Eid

Eines der wichtigsten Dinge, die mit einem Eid bekräftigt werden konnten, war das Schließen von Frieden zwischen zwei Parteien.

II 8. a) Tryggdamal

Der „Urfehdebann“ ist ein ritueller Text, der benutzt wurde, um einen Streit endgültig zu schlichten. Er ist eine Mischung aus Rechtstext und Zauberspruch, aus Lyrik und Sachlichkeit.

Wörtlich hat „Tryggdamal“ die Bedeutung „Treue-Spruch“, wobei „Treue“ hier auch „Wahrhaftigkeit“ und „Frieden“ umfaßt.

Der folgende Text ist aus mehreren Quellen zusammengestellt, die sich jedoch sehr ähnlich sind und nur hier und da ein paar Zeilen mehr oder weniger haben. Die ausführlichste Fassung findet sich in der Heidarviga-Saga.

Im folgenden sind die beiden ersten Sätze, die in der Heidarviga-Saga in indirekter Rede stehen, in die direkte Rede übertragen worden.

Dieses Tryggdamal besteht im Wesentlichen aus dem alten germanischen Text, der jedoch schon durch christliche Formulierungen ergänzt worden ist.

Der zweite Abschnitt dieses Textes ist je nach Anlaß variiert worden – in dem unten dargestellten Fall wurden diese Verse bei der Zahlung eines Wergeldes und der damit erlangten Beendigung einer Fehde gesprochen. Je nach der Art des Anlasses hat der Redner entweder „wir“ oder „ihr“ gesagt.

So beginnt unser Treuegelöbnis:

„Möge Gott mit uns allen in Frieden sein;

und mögen auch wir Menschen untereinander

in Frieden sein und in gutem Einvernehmen.

Streit war zwischen 'AA' und 'BB';

aber jetzt ist er beigelegt und mit Geld gebüßt worden,

wie die Wäger es wogen

und die Zähler es zählten

und der Spruch es sprach

und die Nehmer es nahmen

und es fortführten

als volle Gabe

und empfangenes Geld,

dem in die Hand gezahlt,

der es haben sollte.

Ihr sollt sein

versöhnt und gemeinsam

bei Met und Mahl,

bei Thing und Ratsversammlung,

beim Kirchenbesuch

und im Königshause;

und überall, wo Männer sich versammeln;

da sollt ihr so ausgesöhnt sein,

als hätte sich niemals dieser Streit

zwischen euch erhoben.

Teilen sollt ihr

Messer und geschnittenes Fleisch,

ja, und alle Dinge

unter euch beiden

als Freunde und nicht als Feinde.

Wenn künftig Streit zwischen euch entsteht,

dann soll man das mit Geld entschädigen,

doch nicht die Klinge röten.

Doch wer von euch

angreift den Urfehdeschwur

oder nach dem vollen Treuegelöbnis noch kämpft,

der wird so weit wie ein Wolf vertrieben,

friedlos und flüchtig,

soweit Menschen Wölfe jagen,

Christenmenschen Kirchen besuchen,

Heiden in Tempeln opfern,

Feuer emporflammt,

Flur grünt,

Knabe seine Mutter beim Namen ruft,

Mutter ihren Knaben nährt,

Leute Lohe entfachen,

Schiffe segeln,

Schilde blinken,

Sonne scheint,

Schnee fällt,

Finne Ski läuft,

Föhre wächst,

Falke fliegt

den frühlingslangen Tag,

mit frischer Brise unter seinen beiden Flügeln,

Himmel sich wölbt,

Erde bewohnt ist,

Wind braust,

Wasser zur See strömen,

Knechte Korn säen.

Meiden soll er

Kirchen und Christenmänner,

Gottes Häuser

und die Höfe der Menschen,

jedes Heim,

nur die Hölle nicht.

Nun fasset beide das heilige Buch,

auch liegt nun auf dem Buche das Geld,

das 'AA' gibt.

Jeder von uns nimmt den Frieden von dem anderen

für sich selber und für seinen Erben,

geboren und ungeboren,

gezeugt und ungezeugt,

genannt und ungenannt.

'AA' leistet den ewigen Treueschwur,

und 'BB' nimmt entgegen den Treueschwur,

den Lebens-Eid,

den Freundes-Eid,

ja, den Haupt-Eid.

'BB' leistet den ewigen Treueschwur,

und 'AA' nimmt entgegen den Treueschwur,

den Lebens-Eid,

den Freundes-Eid,

ja, den Haupt-Eid.

Ihn sollt ihr immer halten,

solange Marken stehen

und Erde und Menschen leben.

Nun sind 'AA' und 'BB'

geeint und ausgesöhnt,

wo auch immer sie sich begegnen

auf Land oder Meer,

auf Schiff oder Schneeschuh

auf hoher See oder im Sattel.

Ihr sollt Ruder teilen

und Ruderbank,

Schöpfeimer

und Schiffsplanken,

wenn es dessen bedarf.

Seid nun so ausgesöhnt miteinander

wie Vater und Sohn

oder Sohn und Vater

in allem Umgang miteinander.

Gebt euch nun eure Hände

zu den Worten des Treue-Gelöbnisses,

'AA' und 'BB',

haltet wohl den Treue-Eid

so wie Christus es will;

und alle Männer,

die nun das Treue-Gelöbnis gehört haben,

sind Zeugen.

Gottes Huld habe,

wer den Treueschwur hält,

doch seinen Zorn, wer den

gerechten Treueschwur zerreißt!

Heil uns allen,

daß wir wieder in Frieden miteinander sind,

und möge Gott in Frieden mit uns allen sein!“

Dieses Gelöbnis hat dieselbe Struktur wie alle diese Eide in früher Zeit: Beide Parteien, jede Partei für sich oder ein Redner rufen für den Fall der Vertrags-Einhaltung den Segen der Götter auf sich herab und für den Fall des Vertragsbruches den Zorn der Götter.

Schon der früheste bekannte Friedensvertrag, der um 1292 v.Chr. in Kadesh zwischen Ramses II und dem Hethiterkönig Hattusili III geschlossen wurde, folgt genau diesem Muster. Diese Art von Vertrag ergibt sich zwar schon aus der inneren Logik eines magisch-mythologischen Weltbildes, aber es besteht auch eine direktere Verbindung zwischen dem Friedensvertrag zwischen diesen beiden Königen und dem Tryggdamal, da die Hethiter wie die Germanen zu den indogermanischen Völkern gehören.

II 8. b) Gridamal

Das Gridamal ist eine Variante des Tryggdamal, das benutzt wird, um Unterhändlern zwischen Kriegsparteien freies Geleit zuzusichern. Dieser Begriff bedeutet wörtlich „Waffenstillstands-Spruch“.

II 9. Der erzwungene Eid

Dieser Eid hat den Zweck, einen Verlierer daran zu hindern, Rache zu nehmen oder einen Aufstand anzuzetteln.

II 9. a) Saga über König Sverri von Norwegen

Die Männer von Sokna-Tal und der Marktstadt kamen und schlossen Frieden mit ihm und sagten kein Wort gegen den Wunsch des Königs und banden sich mit einem Eid, seinen Wunsch zu erfüllen.

II 9. b) Die Saga über Olaf Tryggvason

Eines frühen Morgens, nachdem sich der König angekleidet hatte, befahl er, die Messe zu lesen, und als die Messe geendet hatte, bliesen seine Männer zu einem Haus-Thing ins Horn.

Als alle zu dem Thing zusammengekommen waren, erhob sich der König, sprach und sagte: „Wir haben ein Thing in Frosta gehalten und dort gebot ich den Bauern, sich taufen zu lassen, doch sie baten mich, mit ihnen zusammen an einem Blut-Opfer teilzunehmen, so wie der Ziehsohn des Königs Adelstein an einem teilgenommen hatte.

Wir kamen überein, daß wir uns in Maerin treffen und dort ein großes Blut-Opfer bringen sollten. Aber wenn ich zusammen mit euch opfern soll, dann werde ich bestimmen, daß das größte mögliche Opfer dargebracht werden soll, das heißt das Opfer von Menschen. Aber ich werde als Opfer für die Götter nicht Sklaven und Übeltäter wählen, sondern die edelsten Männer und dafür bestimme ich Orm Lygra von Medalhus, Styrkar von Gimsar, Kar von Gyrting, Asbiorn Thorbergson von Varnes, Orm von Lyxa und Haldor von Skerdingstad.“

Zu diesen Namen fügte er noch fünf weitere der edelsten Männer, die dort anwesend waren, hinzu. Alle diese, sagte er, sollten für Frieden und ein gutes Jahr geopfert werden und er befahl, daß sie sofort ergriffen würden.

Die Bauern, die sahen, daß sie nicht zahlreich genug waren, um dem König zu widerstehen, baten um Gnade und legten die ganze Angelegenheit in seine Hände, woraufhin man übereinkam, daß alle, die dorthin gekommen waren, sich taufen ließen und dem König einen Eid schworen, daß sie sich fest an den Wahren Glauben halten würden und daß sie nie wieder etwas mit Opferungen zu tun haben würden.

Alle diese Männer hielt der König gefangen, bis sie ihm ihre Söhne oder Brüder oder andere nahe Verwandten als Geiseln gegeben hatten.

II 9. c) Sörli-Saga

Als der Königssohn Sörli von einer sommerlichen Raubfahrt zurückkehrte, gerieten er und seinen Männer in einen dichten Nebel und gelangten schließlich in ein unbekanntes Land. Dort traf Sörli auf blaue Riesen und tötete sie. „Blau-Riesen“ und „Blau-Menschen“ sind ursprünglich Totengeister gewesen – „blau-schwarz“ war bei den Germanen die Farbe des Todes. Sörli ist also ins Jenseits gelangt.

Danach fährt die Saga wie folgt fort:

Als nächstes hörte Sörli ganz in der Nähe ein lautes Hufgeklapper und wollte unbedingt wissen, wer dort ritt. Er ging ein Stückchen weiter an dem Berghang entlang in den Wald hinein bis er zu einer großen Höhle kam. Er blickte durch ein Höhlenfenster hinein und schaute sich überall um.

Er sah einen schrecklich großen Riesen in seinem Bett liegen. Der Königssohn hatte noch nie einen so großen Mann gesehen. Er reichte von der einen Höhlenwand bis zu der anderen und war von solch einer häßlichen und unförmigen Gestalt, daß der Königssohn sehr erstaunt war.

Er sah dort auch eine recht große alte Frau. Sie stand am oberen Ende der Halle und hackte menschliches Fleisch und Pferdefleisch klein und war damit emsig beschäftigt.

Da hörte der Königssohn die alte Frau mit ihrem Mann – der Skrimnir genannt wurde – in dieser Weise sprechen: „Nun haben wir,“ sagte sie, „keine Vorräte mehr in unserer Höhle, wenn ich unser Mahl bereitet habe.“

Skrimnir sagte, daß das vorauszusehen war, aber daß die Dinge sich zum Guten gewendet hätten, „und auch wenn jetzt alles völlig leer ist, werden wir doch wieder etwas haben, wenn unsere Jungs heute Abend heimkommen, denn an der Küste hat ein Schiff angelegt mit nicht weniger als acht Mann Besatzung, so wie es mein Wunsch war, denn ich habe ihnen einen starken Wind und Nebel gesandt, damit sie sich hierhin verirren – und sie werden alle in der Hel sein, bevor der Tag endet.“

Darüber war die alte Frau sehr glücklich und ging in eine Seitenhöhle. Da sprang der Königssohn von dem Fenster auf und ging in die Höhle hinein. Er trug in seiner rechten Hand seinen Speer und in seiner linken sein Schwert und stieß seinen Speer mit beiden Händen in den Bauch des Riesen sodaß die Speerspitze wieder zum Rücken herauskam. Danach stieß der Königssohn das Schwert mit beiden Händen in den Schlund des Riesen, woraufhin der Riese, als er den Stoß erhielt, mit einem schrecklichen und wilden Geschrei zu um sich zu schlagen begann bis das Bett unter ihm zusammenbrach und der Riese mit einem großen und heftigen Zucken zu Boden stürzte.

In dem Augenblick kam die alte Frau zurück in die Höhle und sah, was geschehen war. Da ergriff sie ein kurzes, scharfes Schwert und schlug so nach dem Königssohn, daß sie seinen ganzen Schild von einem bis zum anderen Ende spaltete und die Spitze ihres Schwertes in seiner Brust steckenblieb und in seinem Knochen festsaß.

Sie schlug ein ums andere mal, sodaß der Königssohn sich zurückziehen und sich in alle möglichen Richtungen ausweichen mußte, um zu vermeiden, daß er getötet wurde. Sie eilte ihm erstaunlich rasch hinterher und wurde immer heftiger, je länger sie ihn angriff. Sie bellte und gab hohe, schrille Töne von sich und aus ihren Augen und aus ihrem Maul schien Feuer zu flammen.

Der Königssohn war wegen ihrer Wut in solch einer Angst, daß er es nicht wagte, auf ihren feurigen Atem zu blicken, der aus ihren Kiefern hervorloderte, und er konnte die schrecklichen Töne, die sie machte, kaum ertragen.

Da sah der Königssohn in dem Boden der Höhle eine Spalte, die so tief war, daß er glaubte, daß ein jeder, der in sie stürzte, sterben müsse. Er stand an der Kante der Spalte und glaubte, daß die Riesin ihn dort hinabstürzen wolle. Er erhob sein Schwert und stürzte sich auf die Troll-Frau, aber sie drängte ihn gar heftig zurück und schlug ihre Krallen bis auf seine Knochen. Da gab es einen fürchterlichen Kampf zwischen ihnen und der Königssohn jagte sie in der Höhle umher. Doch obwohl sie stark wie ein Troll war, konnte sie doch nicht entkommen.

Dem Königssohn gelang es, seine Arme um ihren Nacken zu schlingen und nichts schien mehr gewiß zu sein, als daß sie beide in den Abgrund hinabstürzen würden. Die Trollfrau erhob sich auf dem Höhlenboden wieder auf ihre Knie und zog den Königssohn wieder zu sich heran und beide schienen auf der Schwelle des Todes zu stehen. Ihre Fersen erreichten die Kante des Abgrundes und Sörli stürzte so heftig in ihrem Griff, daß sie beide in die Kluft hinabstürzten.

Sie fielen tief hinab und schlugen beide auf einem Vorsprung auf, der in dem Abgrund war. Sorli war nun auf ihr. Die alte Frau hatte nun eine Hand in dem Haar des Königssohnes und die andere an seiner Brust, doch da sie sich durch den heftigen Sturz nicht mehr bewegen konnte, ließ sie die Hand los, mit der sie seine Haare gepackt hatte. Da griff Sörli mit beiden Händen um ihre Kehle und ließ nicht wieder los und stieß sein Knie in ihren Bauch.

Da verließ sie ihre ganze Kraft, sodaß sie um Gnade zu bitten begann und sagte: „Gebt mir Gnade, Königssohn, und ich werde alles für euch tun, was ihr wollt, wenn ich damit mein Leben retten kann!“

Der Königssohn sagte, daß er auf keinen Fall ihr Leben schonen werde, und er sagte ihr, daß sie nun ohne Verzug so schnell wie möglich in diesem Abgrund sterben werde.

Doch sie bat auf jede erdenkliche Weise um ihr Leben.

Nach einer Weile sagte Sörli: „Ich werde es wagen, daß Du Dein Leben behältst, aber nur unter der Bedingung, daß Du für mich ein Kampf-Gewand findest, das kein Schwert beißen kann, und dazu ein Schwert, das sowohl Stahl als auch Stein schneidet. Dies mußt Du innerhalb eines Monats vollbringen. weiterhin mußt Du mir jederzeit helfen, wenn ich es brauche und will!“

Die alte Frau sagte:

„Alles, was Du gesagt hast, soll geschehen

und all dies soll in jeder Hinsicht erfüllt werden.“

Diese Antwort klingt wie eine in Eid-Ritualen übliche Formulierung.

Da erlaubte der Königssohn ihr aufzustehen und sie gingen beide aus der Höhle hinaus. Sie bat ihn, den toten Mann in die Kluft legen zu dürfen und er gewährte ihr dies. Als dies vollbracht worden war, befestigte die alte Frau eine Falltür über dem Abgrund.

Dann geleitete sie den Königssohn zu dem Bett und er fand, daß dies Bett so gut bereitet war, daß es einem Königssohn wohl anstand, in ihm zu schlafen.

Da nahm die alte Frau ein Horn und bat ihn, daraus zu trinken Das tat er. Er fand, daß es nicht übel schmeckte und fiel schon nach kurzem in Schlaf.

II 10. Der „12 Männer Eid“

Bei Thing-Versammlungen wurde manchmal der „12-Männer-Eid“ abgelegt, um eine Aussage vollkommen abzusichern.

Die „12“ hat vermutlich um ca. 500 n.Chr. die „8“ aus der Tyr-zentrierten Mythologie als die Zahl der Vollständigkeit und Vollkommenheit abgelöst. Es ist zumindestens gut denkbar, daß die im Mittelmeerraum schon seit 3000 v.Chr. neben der „8“ weit verbreitete „12“ durch die Südgermanen zusammen mit den Odin-Mythen zu den Nordgermanen gelangt ist.