100 WEISHEITEN, UM DAS LEBEN ZU MEISTERN
SELBST WENN DU AUS DEM GHETTO STAMMST
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Originalausgabe
1. Auflage 2021
© 2021 by Finanzbuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
80799 München
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Dieses Buch enthält auf den Seiten 201/202 und 228/229 mit freundlicher Genehmigung von dtv Auszüge aus: Arye Sharuz Shalicar: „Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude“ © 2010 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München.
Redaktion: Anne Büntig
Korrektorat: Silvia Kinkel
Umschlaggestaltung: Sonja Vallant
Umschlagabbildung: Martin U. K. Lengemann/Ullstein Bild
Satz: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-95972-382-4
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-708-2
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96092-709-9
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Vorwort
Kapitel 1: In da hood, oder besser: Raus aus da hood
1 Es gibt ihn, den Tag danach
2 Setz dir Grenzen!
3 Sind die Berge in der Ferne wirklich grüner?
4 Motzen und Meckern
5 Das Leben ist kein Rosinenbrötchen
6 »Straßenerfahrung« ist Gold wert
7 Traumatische Erlebnisse
8 Vergib!
9 Glück im Unglück
10 Übernimm Verantwortung!
11 Glaub an dich!
12 Wunder
Kapitel 2: Französisch – ja oder nein?
13 »Ich brauche kein Französisch!«
14 Lern, lern, lern!
15 Eine Sache beherrschen, aber von vielem etwas verstehen
16 Was du nicht kannst, das kannst du halt nicht
17 Technologie
18 Ehrliches Geld
19 Ohne Fleiß kein Preis!
Kapitel 3: Grundbausteine
20 Hör zu!
21 Rom wurde nicht an einem Tag erbaut
22 Rede über Ideen!
23 Akzeptiere andere Meinungen!
24 Sprachen
25 Kommunikation
26 Pünktlichkeit
27 Sei neugierig, aber nicht gierig!
28 Mut, ohne Übermut
29 Immer wieder aufstehen
30 Du bist so groß wie die Größe deines Zieles
Kapitel 4: Am Arbeitsplatz
31 Erster Eindruck
32 Positive Energie – positiver Einsatz
33 Neuer Tag – neuer Kampf
34 Humor
35 Think out of the box!
36 Auge auf dem Ball
37 Das Detail
38 Mit Kritik umgehen können
39 Aus Fehlern lernen
40 Nach vorn, mit Geduld
41 Improvisieren, wenn es sein muss
42 »Mauern« bauen, wenn es sein muss
43 Der Ton macht die Musik
44 Nach oben, nach unten, zur Seite
45 Sei ein Diplomat!
46 Das Ego bändigen
47 Fisch im Haifischbecken
48 Le Roi est mort, vive le Roi!
Kapitel 5: Respekt & Würde
49 Die menschliche Würde ist unantastbar
50 Respekt
51 Merk dir Namen!
52 Gewinn und bleib bescheiden – verlier und wahre dein Gesicht
53 Bleib auf dem Teppich!
54 Die Position der Stärke
55 Zuckerbrot & Peitsche
56 Kein Mehrfrontenkrieg
57 Bumerang
Kapitel 6: Sei ein Mensch!
58 Willst du alles, wirst du am Ende leer ausgehen
59 In den Spiegel schauen können
60 Hass ist keine Lösung
61 Eine gesunde Schraube im System
62 Tikkun Olam
63 Versöhnung & Frieden
64 Eine gute Tat
65 Tausend Leichen
Kapitel 7: Mit Blick in die Zukunft
66 Jemand oder niemand?
67 Sich der Realität anpassen und sie mitgestalten
68 Triebe
69 Kurz- und Langzeitziele
70 Einnahmen-Ausgaben-Check
71 Plan C
72 Zeit ist Geld
73 Erfahrung macht den Meister
74 Hör auf deinen Körper!
Kapitel 8: Inspiration
75 Fantasie
76 Bewundere!
77 Eltern & Kinder
78 Kindheitsfreundschaften
79 Prinzipien
80 In der Ruhe liegt die Kraft
81 Der Baum, die Wüste, das Meer
82 Weine nicht Vergangenem nach!
Kapitel 9: Die Kirsche auf der Sahnetorte
83 Happy wife, happy life
84 Relativ versus absolut
85 Alltag mit Abwechslung
86 Hobbys
87 Ein kulinarisch buntes Leben
88 Sei stolz auf etwas – immer wieder
89 Freu dich auf etwas – täglich
90 Freiheit
Kapitel 10: Generalschlüssel
91 Sei ein Optimist!
92 Eine zweite Chance
93 Die anderen kochen auch nur mit Wasser
94 Connections
95 Der Feind lauert näher, als du denkst
96 Sei dankbar!
97 Das Riesenrad
98 Hürdenlauf
99 Der Wolf und der Hügel
100 Ameisen
Nachwort
»Das Leben ist ein Ganzes, und Gutes und Böses muss zusammen hingenommen werden.«
Sir Winston S. Churchill, Schriftsteller und
ehemaliger Premierminister Großbritanniens
»Kein Mensch erklärt die Rätsel der Natur, kein Mensch setzt einen Schritt nur aus der Spur, die seine Art ihm vorschrieb, und es bleibt der größte Meister doch ein Lehrling nur.«
Omar Khayyam,
persischer Philosoph und Dichter
»Das Leben ist ein Hürdenlauf – bist du zu langsam, schaffst du es nicht über die ersten Hürden; bist du zu schnell, geht dir die Puste aus und du wirst die letzten Hürden nicht erreichen.«
Arye Sharuz Shalicar,
deutsch-persisch-israelischer Schriftsteller
»May your choices reflect your hopes, not your fears.«
Nelson Mandela,
Symbolfigur für Freiheit und Gerechtigkeit
Für Sebie
»Vom Tellerwäscher zum Millionär« ist insbesondere in sozial schwachen Gesellschaftsschichten und Bezirken oftmals der einzige Wunschausweg aus der Misere. Diese Misere beginnt in den meisten Fällen nicht selbst verschuldet, sondern wird einem mit auf den Weg gegeben, indem man in »problematische« Zustände hineingeboren wird und somit von klein auf einer Art täglichem Überlebenskampf ausgesetzt ist.
Es ist ein »Überlebenskampf« mit wenig Hoffnung für die Zukunft. Denn gesellschaftlich benachteiligte, in schwachen Gegenden und unter schlechten Rahmenbedingungen aufwachsende Jugendliche finden oftmals keinen Weg heraus aus der Spirale der Gewalt, Kriminalität und zuletzt tiefer Hoffnungslosigkeit.
Ich weiß, wovon ich rede. Ich war einer von ihnen!
Einer von unzähligen Deutschen, die in relativer Armut in einem Problembezirk – Berlin Wedding – ihre Jugendjahre verbringen und irgendwann fest davon überzeugt sind, dass die Zukunft nur zwei Optionen für sie bereithält:
Tod oder Knast!
Doch im Alter von 18 Jahren schwenkte ich um, als mich mein bester Freund, der gerade frisch aus dem Gefängnis kam, nicht an einem Raubüberfall beteiligen wollte, weil er der Meinung war, dass aus mir einmal etwas werden könnte.
»Aus mir könnte einmal etwas werden?«, fragte ich ihn verdutzt. Und er antwortete mir im Brustton der Überzeugung: »Ja, ich glaube fest daran, dass aus dir etwas Anständiges werden kann und du den Weg rausfinden wirst, wenn du dich nur bemühst.«
Ich folgte seinem Rat.
Es waren jene Worte, die mich bis heute begleiten und für die ich täglich dankbar bin. Hätte er mich damals nicht überzeugt, dann gäbe es für mich möglicherweise keinen Ausweg und ich wäre, wie er, schon während der Schulzeit in Handschellen aus der Schule abgeholt worden und würde, wie er, bis zum 40. Lebensjahr einen Großteil meines Lebens in geschlossenen Anstalten verbringen.
Ich bin ihm dankbar und widme ihm dieses Buch, denn ich habe es tatsächlich geschafft, während er leider nach wie vor »gefangen« ist in einer Spirale der Gewalt, Kriminalität und Perspektivlosigkeit. Er führt alles andere als ein »normales« Leben. Nicht weil er nicht gerne ein normales Leben führen würde, sondern weil er mittlerweile der Ansicht ist, dass der Zug in seinem Fall schon längst über alle Berge ist und ihm nichts anderes übrig bleibt, als das zu machen, was er am besten kann – in einer kriminellen Parallelwelt, fern jeglicher Normalität, sein Leben »meistern«.
So geht es vielen meiner damaligen Mitstreiter auf den Straßen Berlins und Hunderttausenden Jugendlichen deutschlandweit.
Ich bin raus!
Ich bin zwar kein Millionär geworden, doch es geht mir gut. Ich führe ein anständiges Leben. Und obwohl es ganz normal klingt, ein normales Leben zu leben, wirkt ein »normales Leben« so verdammt weit weg für viele Jugendliche und Heranwachsende in schwierigen Gegenden. Wie für mich und eventuell für dich.
Von uns gibt es leider sehr viele.
Jeder dritte Heranwachsende von uns verbockt seine Zukunft, weil er während seiner Jugendjahre in Situationen hineingerät, aus denen der Ausstieg schwierig ist.
Es spielt dabei keine Rolle, ob du in einem Plattenbau in Berlin Mahrzahn, in einer Siedlung in Berlin Staaken oder Gropiusstadt oder in einem von Migranten dominierten Kiez in Berlin Wedding oder Neukölln aufwächst. Es ist egal, ob es sich um rechtsoder linksgesinnte Deutsche ohne Migrationshintergrund handelt, die in ihrem Problem-Kiez die Mehrheit stellen, oder um Deutsche mit Migrationshintergrund, die oftmals in einer anderen Kultur und Sprache ihren Alltag meistern – oder eben nicht meistern. Sie alle haben gemeinsam, dass sie sich wie die allerletzten Ärsche fühlen.
Sie fühlen sich wie die letzten Loser.
Niemand will sie haben.
Niemand glaubt an sie.
Niemand sieht sie und will sie sehen.
Sie können ja auch nichts und wissen deshalb auch nichts Gescheites mit ihrem Leben anzufangen.
Sie fühlen sich als das »andere Deutschland«.
Und sie sind, beziehungsweise wir sind, viele. Sehr viele.
Ich will dir mit diesem Buch sagen, dass ich dich sehe. Ich sehe dich und ich will dir Mut zusprechen. So wie mein bester Freund es damals mit mir tat und mir somit, man könnte fast schon behaupten, das Leben rettete.
Ich sehe dich und will dir aufgrund meiner eigenen Erfahrungen 100 Ratschläge geben.
Damit auch du dein Leben in den Griff bekommst.
Damit auch du an eine positive Zukunft glauben kannst. Damit auch du zu einer gesunden »Schraube« im System wirst.
Es gibt einen Tag danach. Wenn du nur willst. Es ist möglich.
Ich bin der Beweis dafür.
Manchmal wirkt alles so verdammt perspektivlos. Ohne Hoffnung auf bessere Zeiten. Wie oft wolltest du das Handtuch schmeißen? Ich für meinen Teil war sehr oft kurz davor.
Doch ich weiß heute vieles, was ich damals nicht wissen konnte. Rückblickend weiß ich deshalb, dass es Perspektive und Hoffnung geben kann, wenn du nur willst. In diesem ersten Kapitel will ich einen Startschuss geben, für deinen Weg in eine neue Zukunft. Dir lege ich ans Herz, auf die folgenden Ratschläge zu hören und sie in die Tat umzusetzen.
Danach wird nichts mehr so sein, wie es einmal war.
Im Alter von 17 Jahren war ich an meinem persönlichen Tiefpunkt angelangt. Ich hing mit der türkischen Black Panthers Gang vom Nauener Platz ab, hatte beste Freunde bei den libanesisch dominierten Kolonie Boys des El Zein-Clans und war Anführer der größten Graffitibande Berlins, wenn nicht Deutschlands, Berlin Crime. Man könnte sagen, ich war mit einer ganzen Reihe krimineller Jungs, aller Couleur, befreundet.
Sehr viele von ihnen kamen aus armen Familienverhältnissen und hingen auf der Straße statt in der Schule ab. Auch ich hing auf der Straße ab, allerdings erst nach der Schule. Das lag daran, dass meine Eltern mir von klein auf in den Kopf gesetzt haben, dass ich eines Tages einmal studieren sollte, und dafür braucht es nun mal einen anständigen Schulabschluss. Daher ging ich täglich zur Schule, schaffte nicht jedes Jahr auf Anhieb, wurde auch einmal von der Schule geschmissen, aber am Ende habe ich das Abitur bestanden. Ich war ein schlechter Schüler, doch ich wollte meine Eltern nicht enttäuschen und blieb dran.
Die schulische Ausbildung stand bei einem Großteil meines Freundeskreises weder an erster Stelle noch an zweiter. Ihre Eltern übten auch keinen Druck aus wie meine und so konnte manch 14-Jähriger schon, statt in die Schule zu gehen, mittags Drogen verkaufen, ohne dass es negative Konsequenzen für ihn hatte. Generell ging es vielen eher darum, sich den Respekt der Straße zu erkämpfen und schnelles Geld zu machen.
An schnelles Geld gelangt man in der Regel auf illegalem Weg. Jeder zweite Jugendliche im Ghetto war auf schnelles und leichtes Geld aus. Denn Taschengeld bekamen die wenigsten und so standen Klauen, Abziehen und auch Raubüberfälle an der Tagesordnung.
Auch bei mir.
Ich weiß, es klingt ein wenig komisch und manch einer mag mir nicht sofort Glauben schenken, denn schließlich sieht man mir diese Vergangenheit nicht an. Aber so war es nun mal. Das waren die Zustände im Ghetto. Und ich war mittendrin.
An einem jener Tage kam ein Kumpel auf mich zu und bot mir an, an einem Raubüberfall auf einen Juwelier mitzumachen. Wir wären zu dritt. Das Ganze sollte in der Residenzstraße ablaufen. Mit Fahrrädern. Und danach mit der U-Bahn. Weit vom Tatort wegfahren. Er erklärte mir den genauen Plan. Es schien ein gut durchdachter Plan zu sein. Schließlich saß er bis vor kurzem in Plötze (JVA Plötzensee) ein und hatte genug Zeit, um sich einen gut durchdachten Überfall zu überlegen. Er war ein Profi. Ich hatte Lust, mitzumachen, denn es klang nach leicht verdientem Geld. Viel Geld.
Ich bat meinen Kumpel, mir ein bis zwei Tage Zeit zu geben, um mir das Ganze durch den Kopf gehen zu lassen, und erzählte meiner damaligen Freundin davon. Sie hörte mir angespannt zu und sagte erst einmal nichts. Schließlich meinte sie: »Ich werde dich nicht im Knast besuchen kommen.«
Ich musste heftig schlucken. Plötzlich sah ich mich hinter Gittern und allein. Schmerzhafte Gedanken. Und dann sagte sie noch: »Ich weiß, was du hier in der Gegend so durchmachst. Wenn du der Annahme bist, dass du es machen musst, dann werde ich dich nicht davon abhalten. Aber vergiss nicht, es wird einen Tag danach geben. Einen Tag nach deiner Jugendzeit hier im Wedding. Vermassele dir deine Zukunft nicht mit dummen Aktionen, die du nicht mehr rückgängig machen kannst.«
»Es wird einen Tag danach geben? Werde ich irgendwann einmal 22 und 25 und 30 Jahre alt sein und raus aus dem Ghetto sein?«, fragte ich mich innerlich. Ein vernünftiger Beruf wäre dann wünschenswert.
»Wird dieser Tag wirklich kommen?«, fragte ich sie den Tränen nahe, und sie erwiderte: »Ja, Sharuz, ganz sicher!«
Ähnlich intensiv wie die Worte meines besten Freundes vernahm ich die Worte meiner Freundin. Beide gaben mir das Gefühl, dass ich es besser machen könnte und dass es ein Morgen geben wird. Wie zwei Schutzengel, die mich davor bewahrten, mein Leben auf den Müll zu werfen.
Ja, es gibt einen Tag danach. Auch wenn es schwerfällt, als Jugendlicher in schwierigen Verhältnissen in die Ferne zu schauen, ist es wahr, dass man irgendwann einmal nicht mehr auf der Straße abhängt. Man sucht nicht mehr nur nach Respekt, weil man sich davon einfach kein Brot kaufen kann. Und irgendwann einmal will man auch nicht mehr so einfach den Weg des »schnellen Geldes« suchen, weil dieser schnelle Weg in den meisten Fällen ganz schnell für viele Jahre hinter Gitter führt.
Also, ob man will oder nicht, der Tag wird kommen, an dem es anders wird. Es ist wichtig, dies jederzeit im Hinterkopf zu behalten und niemals die Hoffnung auf eine bessere Zukunft aufzugeben.
Es ist sehr einfach, zu versagen.
Es kann schneller gehen, als man denkt.
Für Jugendliche, die in bestimmten Gegenden Deutschlands aufwachsen, wo jeder im Alter von 15 Jahren schon bewaffnet ist, kann jeder Tag im wahrsten Sinne des Wortes der letzte sein. Ein falscher Move, ein falscher Stich, eine übertriebene Aktion oder Reaktion und dein Leben wird sich schon in jungen Jahren auf einem ganz gefährlichen Pfad bewegen, von dem es noch schwieriger sein wird, wegzukommen. Denn wenn man erst einmal mit 16 oder 17 in die Jugendstrafanstalt gelangt – was für viele eher ein Ehrentitel als eine Bestrafung ist, was auch ein riesiges Problem darstellt, aber dazu später noch –, dann verpasst man den Schulabschluss und kann somit in den meisten Fällen auch keine wirklich anständige Ausbildung, geschweige denn ein Studium antreten.
Irgendwann ist man jedoch über 18 und hat durch den Aufenthalt im Gefängnis größtenteils Kriminelle in seinem Umfeld, die teilweise nach ihrer Entlassung wieder ins kriminelle Leben einsteigen, denn sie haben nicht immer eine attraktive Option parat. Schließlich braucht man Geld, und aus Ehrgefühl kommen viele Jobs nicht infrage.
Die Spirale der Kriminalität.
Wenn man erst einmal drin ist, egal in welcher kriminellen Branche, dann ist es sehr schwierig, da wieder herauszufinden. Es ist schließlich dein täglich Brot und Butter. Du kannst ja auch nichts anderes. Deine Straßenerfahrung ist deine Langzeitausbildung. Das bringt auch Positives mit sich, wenn man das Erfahrene in den Koffer packt und aus dem Milieu aussteigt. Somit ist es wichtig, dass man in seiner Jugendzeit nicht übertreibt, ganz gleich in welchem Milieu oder welcher kriminellen Branche man sich befindet, denn eine Langzeitstrafe hat in vielen Fällen einen großen Einfluss auf die spätere Entwicklung, wohingegen eine Kurzzeitstrafe in der Regel kaum Einfluss auf den weiteren Lebensweg hat.
Ich war kriminell, habe mich aber zum Glück in erster Linie auf Soft-Kriminalität spezialisiert, und zwar das Sprühen. Daher wurde ich vom Staat jedes Mal soft bestraft. Mal wurden mir mehrere Tage Sozialarbeit aufgebrummt, mal habe ich als Bestrafung ein paar Tage Arrest erhalten, aber mehr auch nicht. Es hat meinen natürlichen Werdegang nie wirklich beeinflusst, und das war auch gut so. Deshalb konnte ich das Abitur machen und vom schiefen Weg abspringen und mein Leben in den Griff bekommen.
Als ich 16 war, zog ein Freund von mir aus Berlin weg nach Nürnberg. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wo sich Nürnberg auf der Landkarte befand, aber es klang für mich absurd, dass er Berlin verlassen wollte, um in einer Kleinstadt (so stellte ich mir Nürnberg vor) irgendwo auf dem Land zu leben. Er sagte zu mir, dass er dort eventuell eine Zukunft haben könnte. Im Wedding hätte er die definitiv nicht.
So stellte auch ich mir vor, »in die Ferne« zu ziehen, und sah plötzlich Dahlem in Zehlendorf vor meinen Augen und wie es sich dort leben würde, wenn man ausreichend Geld hätte. Ein großes Haus, einen Luxuswagen vor der Tür, vielleicht sogar zwei, und einen schönen Garten mit Pool. Perfekt.
Doch Geld und Erfolg fallen nicht einfach mal so vom Himmel. Man muss dafür arbeiten. Man muss dafür schwitzen. Täglich. Jahrelang. Eigentlich das ganze Leben. Pausenlos.
Die Berge in der Ferne sind nicht immer grüner als die, vor denen man sich befindet. Man neigt dazu, neidisch auf andere zu schauen, die es besser haben, und blendet dabei aus, wie viel mehr Menschen es eigentlich um einiges schlechter haben auf der Welt. Man übersieht oft das halbvolle Glas und konzentriert sich auf das halbleere Glas.
Das ist falsch!
Du solltest das Positive wahrnehmen.
Du solltest zu schätzen wissen, was du hast. Denn wenn du das erst einmal geschafft hast, dann hast du schon mal eine stabile Grundlage, um dann langsam, aber sicher auf etwas Besseres hinzuarbeiten.
Der Deutsche hat viele positive Eigenschaften, aber auch ein paar negative.
Eine, die sehr weit verbreitet ist, ist das Meckern und Motzen. Es ist eine Art Volkssport, würde ich hier einfach mal frecherweise behaupten. Man tut es die ganze Zeit. Eigentlich zu allem und über alles. Nie ist man wirklich zufrieden, sondern man findet in allem Guten die Schwachstelle, über die man dann nicht nur herziehen kann, sondern muss.
Diese Eigenart hilft einem eigentlich nirgendwo weiter. Insbesondere dann nicht, wenn man aus schwierigen Umständen kommt. Wenn sowieso schon alles schwierig ist, wieso sollte man es noch schwieriger machen, indem man motzt und meckert?
Ich habe in meiner Jugend sehr viel gemotzt und gemeckert. Auch geflucht und verflucht.
Es wirkte alles so verloren, im Ghetto.
Es gab nur Frust, Depressionen, Gewalt und Hass. Ich hatte einen Hass auf alles, was ich für meine Misere schuldig machen konnte. Allen voran hatte ich meine Eltern im Visier, die, so dachte ich damals, mit unserem Umzug in ein Problemviertel mein Leben absichtlich aufs Spiel gesetzt hätten. Doch sie konnten damals nicht ahnen, dass eine Duplex-Sechs-Zimmer-Wohnung mit Garten inmitten von Berlin für relativ wenig Mietgeld eine »Leiche im Keller« hat. Diese »Leiche« war die sozial schwächste Bevölkerung Deutschlands, mit der ich ab sofort in der Schule, auf den Straßen und auf dem Fußballplatz unterwegs war.
Ich meckerte viel.
Es half nichts.
Man kann sich sehr schnell reinsteigern in eine »Alles Scheiße«-Einstellung, die einen im Endeffekt nur runterziehen wird. Viele meiner damaligen Freunde haben kein Licht am Ende des Tunnels gesehen. Die »Alles Scheiße«-Einstellung war deshalb weit verbreitet und half, die Hemmschwelle zu senken und noch gewalttätiger und noch krimineller zu werden.
Der erste Schritt raus aus dem Ghetto und in eine normale Zukunft ist, das Motzen einzuschränken und sich am Riemen zu reißen.
Selbstmitleid ist nicht die Lösung.
Ich kann davon viele Lieder singen.
Wer im Ghetto aufwächst, der lernt sehr früh, dass das Leben kein Sonntagsspaziergang ist, sondern ein knallharter Überlebenskampf.
Das klingt dramatisch? Ich übertreibe keinesfalls.
Ich weiß mittlerweile, dass viele Menschen das so wahrnehmen, auch diejenigen, die aus guten Verhältnissen stammen. Auch sie haben nämlich große Angst vor dem Versagen und dem anschließenden Fall. Das kann jedem jederzeit passieren und es gibt keine Garantie dafür, dass, wenn man wohl situiert ist, es auch so bleiben wird.
Interessanterweise sind eigentlich diejenigen mit einer harten Kindheit und Jugend besser für die harten Tage des Erwachsenenlebens ausgestattet als diejenigen, die einem Problem oder einer Gefahr zum ersten Mal im Alter von 30 Jahren begegnen.
Ich musste im Alter von 14 Jahren um mein Leben fürchten, nur weil einigen gewaltbereiten muslimischen Jugendlichen in meinem Bezirk nicht passte, dass sich ein Jude unter ihnen befand. So wurde ich gedemütigt, verfolgt und sogar geschlagen. Ich musste lernen, mit der Angst zu leben. Der Angst um mein Leben und das Leben meiner jüngeren Geschwister. Ein täglicher Überlebenskampf begann damit für mich und er sollte mich jahrelang begleiten. Jene Tage haben mir die schwierigen Seiten des Lebens nähergebracht. Damals habe ich das Leben verflucht. Heute helfen mir jene Situationen, um mit aktuellen Schwierigkeiten entspannter umzugehen.
Tatsächlich nehme ich immer wieder wahr, wie ich Kollegen und Freunden in bestimmten Stresssituationen mehrere Schritte voraus bin.
Ich bin höchstwahrscheinlich eine andere Belastung gewohnt.
Dank Wedding.
Menschen, denen ich heute im Alter von 43 Jahren über meine Jugend im Wedding erzähle, lachen mich aus und glauben mir in der Regel kein Wort.
Wieso sollten sie?
Schließlich sitzt ihnen ein erfolgreicher Regierungsbeamter, Schriftsteller, Publizist, Politologe, Blogger et cetera gegenüber, der auch noch mehr Sprachen spricht und versteht, als alle anderen Menschen, denen sie je über den Weg gelaufen sind.
Also gerade der soll arm aufgewachsen sein?
Gerade der soll kriminell gewesen sein?
Gerade der nahm einmal nur zwei Optionen für seine Zukunft wahr: Tod oder Knast?
Absurd.
Meine Vergangenheit in Berlin passt für niemanden so richtig ins Bild, ins Bild des Strebers, das man mittlerweile von mir hat.
Ein Großteil der Menschen um mich herum haben nahezu identische Werdegänge: Sie waren gute Schüler, haben Medaillen in irgendwelchen Sportdisziplinen gewonnen und Musikinstrumente gespielt. Ihre Eltern konnten größtenteils finanziell helfen, um das Studium zu ermöglichen. Im Anschluss: Guter Beruf. Intaktes Familienleben. Fertig.
Doch ich tue mich ziemlich schwer, meine Jugendjahre hinter mir zu lassen, denn sie haben mich wesentlich beeinflusst – zum Guten und nicht zum Schlechten. Das Gute ist nämlich, dass ich eine andere Art der Menschenkenntnis und der Welt an sich mit in den Alltag bringe, ob im Büro, bei Vorträgen vor Publikum oder wenn ich abends vor dem Schlafengehen versuche, meinem 9-jährigen Sohn die Welt zu erklären.
Die Welt ist ein komplizierter Ort.
Wir Menschen sind komplizierte Wesen.
Es fällt vielen Menschen schwer, Menschen zu verstehen, die anders sind. Sie können sich nicht in andere Menschen hineinversetzen. Erst wenn man bestimmte Dinge am eigenen Leibe durchgemacht hat, fängt man an, seinen Horizont zu erweitern und auch andere Menschen zu verstehen, die anders reden, sich anders benehmen oder eine andere politische Einstellung haben.
Meine Vergangenheit auf den Straßen Berlins hilft mir, auch den »einfachen« Menschen zu verstehen, zu tolerieren und, wenn möglich, ihm unter die Arme zu greifen.
Es hilft mir, ihm auf Augenhöhe zu begegnen.
Und genau das ist Gold wert!
Denn ein Großteil der Menschen wird nicht reich geboren, sondern hat wie du und ich zu kämpfen, damit einmal etwas aus ihnen wird.
Meine Kindheitsjahre verbrachte ich in Berlin Spandau.
Eigentlich tat ich nichts anderes als Fußball spielen, vor der Schule, in den Pausen, nach der Schule bis kurz vor dem Schlafengehen. Jeden Tag. Jahrelang. Das Einzige, was meinen Fußballalltag unterbrach, war der Klavierunterricht jeden Samstag in der Musikhochschule hinter dem Rathaus Spandau, zu dem mich meine Eltern zwangen, anzutreten. Einschließlich Hin- und Rückweg aus der Pichelsdorfer Straße waren das für mich zwei verlorene Stunden, in denen ich nicht dem Ball hinterherrennen konnte. Aber ich hatte keine Wahl. Das war das Einzige, was ich meinen Eltern im Austausch für tägliches Toben auf dem Fußballplatz geben musste. In meinen Augen war das ein fairer Deal.
Bis zum Alter von 13 Jahren verlief so mein Leben. Viel mehr war da nicht. Ich interessierte mich für nichts anderes. Nicht einmal dafür, warum meine Eltern mir zu Weihnachten sagten, dass wir keinen Tannenbaum in die Wohnung stellen, weil es nicht unser Fest sei. Ich verstand nicht wirklich, was es hieß, Jude zu sein, und ehrlich gesagt war es mir auch egal. Für mich stank das nach Religion, und alles, was mit Religion zu tun hatte, war für mich Mittelalter. Punkt.
Dann zogen meine Eltern, als ich 13 Jahre alt war, nach Wedding, in die Osloer Straße, Ecke Stettiner Straße. Als Erstes graste ich die neue Gegend nach Fußballplätzen ab und wurde zwei Straßen weiter, in der Eulerstraße, fündig. Da rollte der Ball, und ich rannte ihm mit Freude hinterher. Bei den Jungs, die fast ausnahmslos dunklerer Natur waren als ich, kam ich gut an, weil ich ein guter Kicker war. Eine Sache jedoch war anders, ich wurde immer wieder nach meiner Identität, meiner Religion, meiner Herkunft gefragt.
In der Regel antwortete ich, dass meine Eltern aus dem Iran stammen, ich aber schon in Deutschland geboren worden sei. Als Reaktion darauf bekam ich normalerweise zu hören: »Super, wir sind auch Muslime, willkommen im Wedding.« Das verwirrte mich sehr. Ich verstand nicht, warum für viele türkische und arabische Jugendliche die Religionszugehörigkeit eine so zentrale Rolle spielte. Als ich mich kurz darauf als Jude outete, stellte sich mein Leben auf den Kopf, denn plötzlich wendeten sich viele von mir ab, wollten mir nicht mehr die Hand, geschweige denn Wangenküsschen zur Begrüßung geben, und noch bevor ich überhaupt Zeit hatte, über diese plötzlichen Veränderungen nachzudenken, wurde ich schon von den ersten Jungs beleidigt, verfolgt und geschlagen.
Es begann ein Spießrutenlauf.
Ich lebte monatelang in Angst. Dabei hatte ich niemandem etwas Böses getan. Ich hatte nur den Fehler begangen, Jude zu sein.
Jene Tage, in denen ich Angst um mein Leben und das meiner Familie hatte, haben meine gesamte Jugendzeit, wenn nicht mein ganzes Leben, überschattet und beeinflusst. Ich musste als 14-jähriger Junge um mein Leben fürchten, und das mitten in der Hauptstadt eines demokratischen Staates. Eigentlich ist das vollkommen absurd und unlogisch. Wenn ich es nicht am eigenen Leib hätte durchmachen müssen, ich würde mich wahrscheinlich schwertun, jemand anderem das abzunehmen.
Das waren traumatische Zeiten für mich.
Meine Autobiografie Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude schrieb ich nicht, um damit Geld zu verdienen, sondern um mir in erster Linie Frust von der Seele zu schreiben und jene traumatischen Jahre zu verarbeiten. Ich spreche über jene Tage sehr offen, denn jeder Vortrag und jedes Gespräch darüber helfen mir, mein Trauma zu verarbeiten und mit meinem Leben besser zurechtzukommen.
Viele Menschen haben Traumatisches erlebt. Ich bin da keinesfalls allein. Es ist von höchster Priorität, schlimme Zeiten zu verarbeiten, um das Leben in den Griff zu bekommen.
Wer in Selbstmitleid verfällt, wird im Leben im besten Fall stehen bleiben.
Im Alter von 23 Jahren wanderte ich aus Deutschland aus.
Es war keine einfache Sache, denn ich hatte kaum etwas im Gepäck: keinen Uni-Abschluss, keine abgeschlossene Ausbildung, kein Geld.
Doch ich musste weg, denn das Ghetto zog mich nach wie vor runter.
Mir war klar, dass der letzte Zug abfahren wird und ich ihn entweder nehmen und versuchen kann, mein Leben auf die Reihe zu bekommen, oder, falls ich ihn verpassen sollte, im Wedding untergehen werde.
Ich verließ nicht nur all die Menschen, die mich am liebsten umgebracht hätten, nur weil ich Jude bin, sondern auch all die Menschen, die mich geliebt haben, allen voran meine damalige Freundin, enge Freunde und meine Familie. Mein Bruder war gerade einmal 16, als ich ihm den Rücken zudrehte und ihn allein zurück im Weddinger Dschungel ließ. Meine Freundin und meine Mutter weinten stundenlang ununterbrochen. Sie wussten, dass wenn ich erst einmal wegziehe, es nie wieder so werden wird, wie es einmal war. Ich war voller Frust und voller Hass all denen gegenüber, die schuld daran waren, dass ich weg wollte. Das waren vor allem gleichaltrige Berliner Araber, denen ich ein Dorn im Auge war.
Ich habe sie dafür gehasst. Ich habe sie dafür verflucht.
Im Laufe der letzten 20 Jahre habe ich ihnen jedoch vergeben.
Ich habe nicht vergessen, aber vergeben.
Denn irgendwann habe ich eingesehen, dass auch sie Opfer der radikalen Erziehung ihrer Eltern und Imame gewesen sind. Sie haben den Hass auf Juden von klein auf beigebracht bekommen. Als dann plötzlich ein Jude, ein echter Jude, vor ihnen stand, wussten viele nicht damit umzugehen und entschieden sich für Angriff statt für Freundschaft oder Versöhnung.
Sie waren auch nur Opfer. Andere Opfer. Aber Opfer.
Wie ich.
Als ich anfing, zu vergeben, fühlte ich mich befreit von einer Last, die mich aufgehalten hat, ein glückliches Leben zu führen.
Man könnte sagen, je geringer die Last, desto schneller kann man laufen.
Ich wurde von der Schule geworfen, saß in einer Jugendstrafanstalt, musste Sozialstunden ableisten. Mein Vater schmiss mich mehrmals aus der Wohnung.
So viel Unglück.
Rückblickend bin ich mittlerweile jedoch fest davon überzeugt, dass jedes Unglück eine Art Baustein war und mich etwas auf meinem harten Weg gelehrt hat.
Jedes persönliche Unglück von damals ergibt somit für mich aus heutiger Sicht einen Sinn.
Glück im Unglück.
Das klingt absurd?
Ich weiß.
Aber stell dir kurz vor, du hättest keine harten Zeiten durchgemacht und kein Unglück erlebt. Würdest du heute in der Lage sein, Menschen und ihr Schicksal, ihre Probleme, ihr Unglück zu verstehen?
Könntest du dich mit ihnen identifizieren? Ihnen helfen?
Würdest du nicht eher von oben herab urteilen, weil es dir gut geht und du einfach nicht nachvollziehen kannst, wie es sein kann, dass jemand Drogen verkauft, Mitglied in einer kriminellen Gang ist oder einen Raubüberfall begeht?
Nicht, dass ich all das rechtfertigen will, aber da es nun mal Teil der Realität ist, und zwar überall auf der Welt, sollte man sich auch Gedanken über diese Mitmenschen machen und darüber, wie es ihnen so ergeht.
Weggucken geht nicht.
Schließlich könnten diese Menschen euch eines Abends, wenn du mit deiner Lebensgefährtin auf dem Heimweg vom Kino bist, anpöbeln. Vielleicht ist einer von ihnen angetrunken. Vielleicht ist einer high. Womöglich sind sie bewaffnet. Was dann geschehen könnte, könnte dein ganzes Leben radikal verändern.
Diese Menschen könnten aber auch deine Cousins in einer anderen Stadt sein. Also dein Fleisch und Blut.
Weißt du was? Du könntest einer dieser Menschen sein!
Wenn ich heute von Kindern höre, die von der Schule geflogen sind, oder von Heranwachsenden, die ins Gefängnis kommen, kann ich mich ein Stück weit in ihre Lage hineinversetzen, statt sofort negativ über sie zu urteilen und sie als »Loser« abzustempeln.
All meine negativen Erfahrungen, all das Unglück, das ich verarbeiten musste, um überhaupt etwas aus mir machen zu können, motivieren mich umso mehr, diese Zeilen zu schreiben.
Rückblickend kann ich also auch in dieser Hinsicht meine unglücklichen Erfahrungen als Glück betrachten, denn sie geben mir das Material aus erster Hand, um dir eventuell helfen zu können, das Leben zu meistern.
Es liegt wahrscheinlich in der Natur des Menschen, dass er, wenn es schlecht läuft, die Schuld bei anderen sucht. Es besteht kein Zweifel daran, dass wir Menschen in der Lage sind, jeden und alles für unser eigenes Versagen schuldig zu sprechen. Das fällt uns leicht. Wir können das. Nur sehr ungern blicken wir in den Spiegel, um die Schuld bei uns selbst zu suchen.
Meine Eltern zogen aus Spandau nach Wedding, und ich musste fast 10 harte Jahre durchmachen. Mir blieb keine andere Wahl. Ich musste in einer teilweise extrem feindlich gesinnten Nachbarschaft überleben. Das war keine leichte Herausforderung. Meine Strategie war, mich meinem Umfeld anzupassen und auf keinen Fall aufzufallen. Ich wollte, dass alle um mich herum vergessen, dass ich ein Jude bin. Mit dem jüdischen Glauben und religiösen Vorschriften hatte ich eh nichts am Hut. Weder betete ich in irgendeiner Synagoge, noch aß ich koscher. In dem Sinne war es sehr einfach für mich, mich anzupassen, da ich nichts an mir hatte, das mich von den anderen unterschied. Ich zog mich so an wie alle und sprach mit demselben Weddinger Akzent. So schaffte ich es sehr bald, viele muslimische Freunde zu haben und Mitglied verschiedener Straßengangs zu werden.
Doch mitgefangen, mitgehangen. Fast alle waren kriminell. Ich somit auch. Wie gesagt, ich durfte nicht anders sein. Musste bei allem mitmachen. Am besten in erster Reihe.
So führte das eine schnell zum anderen und ich wurde mehrmals von der Polizei erwischt. Anfangs wurde ich verwarnt, dann bekam ich mehrfach Sozialstunden aufgebrummt und wurde für kurze Zeit eingelocht.