Buchbeschreibende Angaben der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Veröffentlichung in der Deutschen Nationalbibliographie; genauere buchbeschreibende Angaben sind im Weltnetz über www.dnb.de abrufbar.

© 2017 Baron Árpád von Nahodyl Neményi

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7431-4758-4

Inhalt

  1. Formáli (Prolog)
  2. Gylfaginning 1-9
  3. Gylfaginning 10-18
  4. Gylfaginning 19-27
  5. Gylfaginning 28-36
  6. Gylfaginning 37-45
  7. Gylfaginning 46-54
  8. Bragarœður
  9. Aus Skáldskaparmál

Vorwort

Die wissenschaftliche Betrachtung der Jüngeren Edda sieht in diesem Werk, welches dem Snorri Sturluson zugeschrieben wird und zwischen 1220 und 1225 entstanden sein soll, nichts weiter als ein Lehrbuch für Skálden (Dichter). Der erste Teil, die „Gylfaginning“, ist demnach eine Gesamtdarstellung der Mythologie, damit die Skálden überhaupt verstehen, auf was sich die vielen mythologischen Umschreibungen und Kenningar beziehen, der andere Hauptteil, Skáldskaparmál („Skáldensprache“) bringt zahllose Beispiele für Skáldenstrophen, und der letzte Teil, „Háttatal“ („Aufzählung der Versarten“) listet die gebräuchlichen Vers- und Strophenarten auf. Das klingt alles logisch und überzeugend.

Allerdings: Skálden sind viel mehr, als nur beliebige „Dichter“, es sind Personen, die für die Überlieferung der heiligen Göttermythen zuständig waren und schon in heidnischer Zeit einen wichtigen Bestandteil der heidnischen Religion bildeten. Denn Goden (Priester) konnten sich neben der Kenntnis der zahllosen kultischen Gebräuche sowie der Gesetze für das Thing kaum auch noch um den Vortrag der heiligen Götterlieder kümmern. Auch bei den alten Indern waren die Kultleitung und der Vortrag mythologischer Lieder später auf mehrere Personen verteilt1.

Skálden konnten also in heidnischer Zeit durchaus wie ein Lektor im Christentum eine religiöse Funktion innehaben. Somit bildet ein Werk, das zu ihrer Ausbildung oder Qualifizierung beitragen will, durchaus einen Teil der Religion und ist keine nüchterne Betrachtung derselben durch Außenstehende. Auch erkennen wir an Hand bestimmter Einzelheiten und Formulierungen, daß der Zusammensteller der Gylfaginning innerlich Heide gewesen sein muß, somit bestand seine Intention auch darin, das Heidentum zu bewahren.

Und schließlich können wir davon ausgehen, daß einst in heidnischer Zeit auch die Jugendlichen in einer Art Schulung das Heidentum mit seinen Mythen und Zeremonien erlernen mußten. Dazu muß es Hilfsmittel gegeben haben, denn sonst hätte sich mit der Zeit in jedem Dorf, in jedem Hof eine eigene Art des Heidentums entwickelt und wäre keine Einheitlichkeit vorhanden, die aber – ausweislich der Quellen – vorhanden gewesen ist. In der Zeit, als man allein eine mündliche Überlieferung hatte und nichts aufschrieb, muß es mündlich tradierte Texte gegeben haben, die dazu dienten, den Schülern die Mythologie beizubringen. Ich gehe daher von einem Lied aus, das in einem Zwiegespräch zwischen fragendem Menschen und antwortender Gottheit die Mythologie und die Glaubensvorstellungen erklärte. Vermutlich war dieses Lied gedichtet, so daß es leichter erlernt und vorgetragen werden konnte. Fand der Zusammensteller (mutmaßlich Snorri) dieses Lied vielleicht während seines Aufenthaltes in Oddi in schriftlicher Form oder hörte er es nur mündlich? Das wissen wir nicht und müssen es auch nicht wissen. Dieses Lied ist meiner Meinung nach die Urfassung des Liedes, daß uns heute in den Gylfaginning vorliegt. Der Zusammensteller hat dabei die Strophen in Prosa aufgelöst und den Text mit Zitaten aus den anderen Liedern ergänzt, die damit zugleich erklärt werden. Um den Umfang und damit Preis des vorliegenden Buches nicht zu groß werden zu lassen, habe ich die Besprechung dieser Eddastrophen hier auf ein Mindestmaß beschränkt und verweise auf die Bände I bis III dieser Reihe, „Kommentar zu den Götterliedern der Edda“ 2, und dort auf die Seiten, wo man die Besprechung der Strophe findet. Diese Anmerkungen lasse ich im Text stehen, um ein zusätzliches Blättern zu vermeiden. Die Angabe z. B. „Kommentar I, 65“ verweist also auf Band I der Kommentar-Reihe und dort auf Seite 65.

In der Gylfaginning werden Strophen aus den folgenden Eddaliedern zitiert: 22 Strophen aus der Völuspá, 9 Strophen aus den Vafþrúðnismál, 3 Strophen aus der Lokasenna, je eine Strophe aus Hávamál, Hyndluljóð, Skirnisför, Fáfnismál und Heimdallargaldr. 5 Strophen aus max. 4 unbekannten Eddaliedern und 2 Skáldenstrophen. Da zuweilen nur eine Zeile von einer Strophe genommen wurde oder Zeilen unterschiedlicher Strophen zusammengesetzt sind, ist die Bestimmung der genauen Anzahl uneinheitlich. Auch können Inhalte weiterer Eddastrophen mit in dem Prosatext verarbeitet worden sein.

Wir sehen jedenfalls, daß der Zusammensteller mehrere Eddalieder, die uns vorliegen, gekannt haben muß, viele weitere, die uns auch erhalten sind, verwendete er aber nicht. Und er hat teilweise leicht abweichende Lesarten verwendet; zu seiner Zeit waren also unsere bekannten Eddalieder noch in verschiedenen Versionen im Umlauf. Zuweilen wurden Strophen aber auch nur deswegen verändert, um sie dem Inhalt des Textes anzupassen, ich weise in dem Kommentar jeweils darauf hin.

Abb. 1: Titelabbildung der Edda van Ólaf Brynjólfsson von 1760.

Für uns aber noch interessanter sind die Strophen, die aus Liedern stammen, die uns leider nicht erhalten sind. Das sind Heimdallargaldur (Gylfaginning 27), ein Lied über Njörd und Skaði (Gylfaginning 23), ein Lied über die Vanen und Gná (Gylfaginning 35), ein Lied über Baldrs Tod (Gylfaginning 49) sowie die Strophe eines Redeliedes (Gylfaginning 2). Diese letzte Strophe könnte auch von dem von mir angenommenen Ur-Gylfaginning stammen und wurde dann beibehalten, oder sie stammt von einer uns nicht erhaltenen Fassung der Vafþrúðnismál.

Titelgebende Hauptperson der Gylfaginning ist König Gylfi von Schweden. In den Lexikar wird er als mythischer Vorzeitkönig, über den nichts weiter bekannt ist, bezeichnet. Tatsächlich aber hat er wirklich gelebt, eine Version der Hervarar Saga enthält Angaben über seinen Stammbaum: Er hatte eine Tochter Heiðr Gylfesdótter, die Sigrlami Óðinsson, König von Garðarriki (in Rußland) heiratete und Königin dort wurde. Der Stammbaum läßt sich lückenlos bis in unsere Zeit weiterverfolgen, ihm entstammen auch Hárald Hildetann und Sigurðr Hring Randversson, König von Dänemark und schließlich sogar Ragnar Loðbrok Sigurðsson. Viele Menschen aus heutiger Zeit haben diese Personen unter ihren Ahnen, auch ich. Durch den Stammbaum können wir in etwa errechnen, wann König Gylfi gelebt hatte: Er kann um 223 u. Zt. geboren sein, seine Tochter um 249.

Dieser König Gylfi reiste nun also nach Ásgarðr, in das Reich der Ásen. Sicher ist damit nicht Byzanz oder Tyrkland gemeint (der Prolog, der davon berichtet, ist ja erst später angefügt worden), sondern hier ist tatsächlich die Welt der Götter gemeint. Es gab in heidnischer Zeit Kultzentren, wo sich viele Priester und Seherinnen aufhielten und – vielleicht unter Zugabe von Rauschdrogen – suchenden Menschen Visionen der Götter verschaffen konnten. Ich denke, daß König Gylfi in den sog. „Osning“ (Ásenhain) reiste, der sich in Westphalen (zwischen Detmold und Paderborn) befand. Hier liegen die berühmten Externsteine und zahllose weitere Heiligtümer. Alte Flurnamen erinnern dabei noch an die Götterburgen der Ásen, wie etwa Truhem (Þrúðheim), Bilsteinschlucht (Bilskirnir) usw. G. A. B. Schierenberg hat darüber zu Ende des 19. Jh. geforscht und spekuliert3. Der König Gylfi gab sich dabei einen Kultnamen „Gangleri“, der zugleich ein Name Óðins ist. Das war wohl bei Óðinseinweihungen üblich, daß sich der Einzuweihende mit der Gottheit namensmäßig verbindet; einen reinen, unveränderten Götternamen durfte man aber nicht im Alltag führen. Als die Vision dann beendet war, konnte der König wieder in sein Reich zurückkehren und sorgte dann dafür, daß das, was er in der Vision erfahren hatte, weitererzählt wird. Wir haben hier also einen realen König des 3. Jh. der tatsächlich eine Vision erfahren hatte. Natürlich wird der Zusammensteller dieses Liedes hier auch noch Eingriffe vorgenommen haben, das ist zu erwarten. Der Kern aber ist eine reale Vision, eine Offenbarung der Götter an König Gylfi.

Das zweite Stück der Jüngeren Edda ist Bragarœður, „Bragis Reden“. Es ist nur kurz und als einzelnes Stück nicht wirklich hervortretend, es ist als Anfang oder Einleitung der „Skáldskaparmál“ damit verbunden, obwohl es sich inhaltlich doch abhebt. Die klare Trennung zu den Skáldskaparmál fehlt, was aber wiederum nicht ungewöhnlich ist: Die Eddalieder wurden fortlaufend nacheinander ohne Absatz aneinandergereiht, da Pergament teuer war. Es ist auch möglich, daß der Zusammensteller seine ursprüngliche Absicht, mythologische heilige Lieder aufzuzeichnen, aufgab und sich dann doch mehr der Erstellung eines Lehrbuches für Skálden zuwendete, zumal dies in christlicher Zeit weniger gefährlich war. Wer sich aus religiösen Gründen mit solchen Liedern befaßte, der lief Gefahr, wegen der Ausübung des Heidentums in Verdacht zu geraten, wer hingegen ein harmloses Lehrbuch für Skálden schrieb, der war über jeden Verdacht erhaben. Und „Bragis Reden“ aufzuschreiben bedeutete letztendlich, die Reden einer Gottheit zu protokollieren, das konnte die neue, christliche Religion nicht zulassen. So ist dieses Lied also in die Skáldskaparmál integriert und damit ihres heidnischen Offenbarungscharakters beraubt worden. In Ausgaben finden wir dieses Lied daher oft nicht unter seiner eigenen Überschrift. Ich behandele es aber gemäß der ursprünglichen Intention des Zusammenstellers wieder als eigenes Lied.

Die Skáldskaparmál behandele ich hier nur in einem kurzen Auszug, da dies den Umfang des Buches ansonsten sprengen würde. Auch sind die darin enthaltenen Skáldenstrophen nur höchst ungenau ins Deutsche übersetzbar. Eventuell wird diese Aufgabe später einmal zu bewältigen sein.

Die Jüngere Edda wird auf Grund einer nicht vom ursprünglichen Zusammensteller stammenden Vorbemerkung, die es nur in einer einzigen Handschrift gibt, dem Snorri Sturluson (1178 oder 1179 – 22. 9. 1241) zugeschrieben. Aber drei isländische Gelehrte, Magnús Ólafsson (um 1573 – 1636), Björn Jónsson á Skardsá (1574 – 1655) und Arngrímur Jónsson (1568 – 1648) berichteten, daß die Jüngere Edda das Werk zweier Verfasser sei, nämlich habe Sæmundur Sigfusson inn fróði (1056 – 1133) die Grundlage gelegt, auf der Snorri aufgebaut habe. Als Quelle nannten sie Pergamente aus dem Mittelalter, die aber während des 17. Jh. auf Island umgekommen sind. Sæmundur habe Wortverzeichnisse und Synonyma erstellt, die Snorri verwendet hätte. Das ist nicht unmöglich, betrieb doch Sæmundur die Goden- und Skáldenschule in Oddi, die später auch Snorri besuchte.

Es steckt also viel mehr in dieser Jüngeren Edda, als uns die Philologen weismachen wollen. Es wird Zeit, die Jüngere Edda wieder als ernstzunehmende heidnisch-religiöse Schrift zu betrachten und nicht als bloßes Dichterlehrbuch oder sentimentalen Rückblick des 13. Jh. in eine vergangene und verklärte Vorzeit.

Die wichtigsten Handschriften der Jüngeren Edda sind:

Codex Upsaliensis DG Nr. 11, 80, (um 1300),

Codex Wormianus, Arnamagnæanus Nr. 242 fol. (1350),

Codex Regius GKS Nr. 2367, 40, (ca. 1324),

Codex Trajektinus (Trektarbók), Utrechter Papierhandschrift 1374 (Abschrift um 1600, Pergamentvorlage vermutlich 13. Jh.),

Codex Arnamagnæanus Nr. 748, 40 (Fragmente),

Fragm. Arnamagnæanus 1eß fol. (Fragmente),

Fragm. Arnamagnæanus 756, 40 (Fragmente),

Fragm. Arnamagnæanus 757, 40 (Fragmente).

Außerdem gibt es zahlreiche Papierabschriften, teilweise auch bebildert, wie z. B. die von Ólaf Brynjólfsson von 1760 (Nks 1867, 4to) und die von Jakob Sigurðsson von 1764 oder 1765 (Melsteðs Edda SÁM 66), die beide auf eine verlorene Vorlage von 1665 zurückgehen, oder der Codex Oblongata, Arnamagnæanus 738, 4to (17. Jh.). Die meisten Bilder habe ich der Handschrift von Jakob Sigurðsson entnommen.

Ich weise auch darauf hin, daß ich die Schreibweise der mythologischen Namen nach den Handschriften beibehalten habe, d. h. „Baldur“ schreibe, statt „Baldr“ (Schreibweise in der Älteren Edda). Das mag ungewöhnlich sein, wenn man die Namen schon in der bisherigen Form kennt, ist aber der wissenschaftlichen Genauigkeit geschuldet. Die Handschriften haben meist (nicht immer) schon den Sproßvokal (das „u“) und zeigen damit, daß sie jünger sind, als die Haupthandschrift der Älteren Edda, anders als von den Philologen behauptet wird. Ich verwende auch die Sonderzeichen „þ“ (th) und „ð“ (dh) sowie „œ“ (ö) und „æ“ (ä), statt „ọ“ aber bleibe ich beim ö.

Kapitel 1

Formáli (Prolog)

»Dieses Buch heißt Edda. Snorri Sturluson hat es auf die Art zusammengestellt, die hier eingerichtet ist. Zuerst von den Ásen und Ymir, danach die Skáldskaparmál und die Benennungen vieler Dinge, schließlich Háttatal, die Snorri für König Hákon und Herzog Skuli gedichtet hat.«

Diese Vorbemerkung findet sich nur im Codex Upsaliensis. Nur hier ist der Name „Edda“ als Bezeichnung für das Buch überliefert. Auf Grund der inhaltlichen Ähnlichkeit wurde die Bezeichnung „Edda“ dann (im 17. Jh.) auch auf die Sammlung der Älteren Edda übertragen. Was „Edda“ bedeutet, darüber wird diskutiert, Wissenschaftler gehen neuerdings von lateinisc edo = ich verkünde, aus. Mir erscheint ein lateinisches Wort hier unglaubwürdig, zumal da nicht „edo“ sondern „Edda“ steht. Da in der Rigsþula (4 und 7) „Edda“ in der Bedeutung „Urgroßmutter“ steht (Kommentar III, 90f), halte ich diese Deutung für glaubwürdiger. Auch mit dem Ort, wo Sæmundur die Eddalieder sammelte und Snorri seine Edda zusammenstellte, „Oddi“ in Südwest-Island könnte der Name „Edda“ etwas zu tun haben, aber auch hier sind mir die Schreibabweichungen (Oddi-Edda) zu groß. Auch ergibt eine Ortsbezeichnung wenig Sinn: „Dieses Buch heißt Oddi“ bzw. übersetzt „Dieses Buch heißt Landzunge“.

Snorri Sturluson wird hier als derjenige genannt, der die Edda „zusammenstellte“. Eindeutig steht da nicht „verfaßte“, was bezeichnend ist, da ja im Text der Gylfaginning selbst am Ende gesagt wird, daß König Gylfi die Geschichten erzählte und andere sie weitererzählt hatten. Somit konnte Snorri nur einen in irgendeiner Form bereits vorhandenen Text neu zusammenstellen, ein „Ur-Gylfaginning“. Wichtig ist, daß Snorri eben nicht der Dichter und Verfasser dieser Mythen war, sondern bestenfalls der Sammler und Zusammensteller. So machte er es ja auch bei seinem anderen Hauptwerk, der Heimskringla. Dort findet sich am Anfang die Ynglinga Saga in Prosaform. Snorri hatte als Quelle u. a. das Gedicht Ynglingatal verwendet. Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß Snorri es bei der Jüngeren Edda anders gemacht haben sollte, weder war er hier ungenauer, noch weniger quellenorientiert. Aber es ist auch möglich, daß der Schreiber der Vorbemerkung sich irrte und das Werk fälschlich dem Snorri zuschrieb und es in Wahrheit einen anderen Bearbeiter hatte. Trotzdem bleibe ich dabei, von Snorri als Zusammensteller zu sprechen, auch wenn seine Urheberschaft durchaus nicht sicher ist.

Abb. 2: Titelseite der Eddahandschrift von Ólaf Brynjlófisson (1760): »Bookinn Edda Hvöria Samsette Snorre Sturlu Son Logmadur... 1760« (Das Buch „Edda“ welches zusammensetzte Snorre Sturlu-Son, Logmadur ... 1760).

Abb. 3: Seite 2 der Eddahandschrift van Ólaf Brynjólfsson von 1760. Die obere, gereimte Strophe in dänischer Sprache ist in der Mitte noch einmal in nordischen Runen und ganz unten in lateinischer Sprache aufgeführt.

Es muß im Heidentum Texte gegeben haben, die dazu verwendet wurden, den Menschen die Götter und ihre Mythen beizubringen, also Lehrtexte zur Unterrichtung der Menschen. Ein solcher Text liegt der Gylfaginning und vielleicht der Bragarœður zu Grunde.

Warum nun nennt die Vorbemerkung den ersten Abschnitt „von den Ásen und Ymir“ statt den Titel zu verwenden, der ja auch in den Handschriften steht, nämlich „Gylfaginning“? Er enthält ja auch die beiden anderen Titel Skáldskaparmál und Háttatal unverändert. Von den Ásen und dem Urriesen Ymir handeln genaugenommen nur die Kapitel 5-8 der Gylfaginning, die insgesamt 54 Kapitel umfaßt. Somit bezieht sich dieser Titel nur auf weniger als ein Zehntel der Gylfaginning.

Ich sehe hier zwei Gründe, nämlich einmal, daß der Titel „Gylfaginning“ heidnisch ist und der Schreiber dieser Vorbemerkung ihn unbedingt vermeiden wollte. Denn mir scheint sicher, daß Snorri diese Vorbemerkung nicht verfaßt hat (sonst würde sie auch in allen Handschriften stehen). Snorri hätte seinen eigenen heidnischen Titel nicht verschwiegen. Somit ist die Weglassung des heidnischen Titels ein Beweis, daß diese Vorbemerkung nicht von Snorri sein kann. Auch daß er seine Urheberschaft quasi in der 3. Person angeführt haben soll, wäre unwahrscheinlich. Wenn Snorri Bedenken wegen seines heidnischen Titels „Gylfaginning“ gehabt hätte, dann hätte er diesen Titel auch über dem eigentlichen Text nicht verwendet. Ein späterer Besitzer der Handschrift (oder Abschreiber) setzte also diese Vorbemerkung hinzu und vermutlich hatte er nur den Anfang des Werkes flüchtig gelesen, so daß er die Gylfaginning allein auf die Auseinandersetzung der Ásen mit Ymir zusammenfaßte. Außerdem ist ein Dualismus in der Bezeichnung „von den Ásen und Ymir“ enthalten, denn die Ásen sind die Götter und damit geistige Wesen, Ymir ist Riese und Stoff (er heißt auch Aurgelmir = brüllender Lehm). Somit ist hier die Gestaltung des Stoffes durch die Götter angesprochen.

Bezeichnend ist auch, daß der Schreiber der Vorbemerkung den Prolog mit keinem Wort erwähnt. Möglicherweise gab es diesen Prolog in seiner Version noch gar nicht. Vielleicht hat dieser Schreiber den Prolog aber auch noch nachträglich selbst verfaßt.

Doch kommen wir nun zu den eigentlichen Formáli oder Prolog. Die Wissenschaftler diskutieren die Frage, ob Snorri der Verfasser dieses Prologes war, oder ein späterer Abschreiber ihn hinzusetzte. Auffällig jedenfalls sind die Abweichungen der Fahrten der Ásen mit denen in Snorris Heimskringla. Wenn der Prolog von Snorri stammen würde, dann müßten sich doch beide Schilderungen gleichen. Daß der Sammler der Stücke der Jüngeren Edda (also Snorri) innerlich Heide gewesen sein muß, erkennt man an Einzelheiten in den Texten, die ein Christ leicht hätte weglassen oder anders formulieren können. Ich gehe darauf bei Besprechung der Abschnitte noch ein. Auch ist auffällig, daß sich Snorri Sturluson nie zum Priester weihen ließ, was zu seiner Zeit für einen Gelehrten wie ihn eigentlich selbstverständlich war. Er bezog ja aus verschiedenen Kirchen Einkünfte, außerdem durften Priester damals noch heiraten. Snorri hätte also das mit Privilegien verbundene Priesteramt leicht annehmen können, er tat es aber nicht. Der Isländer Þórsteinn Guðjónsson ging daher davon aus, daß Snorri innerlich Heide gewesen sein muß. Da nun aber der Prolog unbestreitbar christlich ist, kann Snorri als Verfasser desselben nicht in Frage kommen, es sei denn, wir gingen davon aus, daß Snorri sich lange nach seiner Zusammenstellung der Jüngeren Edda zum Christentum bekehrt hätte und nachträglich diesen Prolog hinzusetzte. Das wäre immerhin denkbar, zumal man an dem Text erkennt, daß der Autor quasi die Heiden rechtfertigt in dem Sinne, daß sie es eben nicht besser wußten und ihre Götter sowieso nur vergöttlichte Vorzeitheroen und -könige wären. Aber wenn wir uns die Umschreibungen für „Krist“ (Christus) in der Jüngeren Edda ansehen, dann stehen sie theologisch weit hinter dem Prolog. Der Verfasser des Prologes kannte die Bibel (z. B. Genesis), während der Zusammensteller der Jüngeren Edda nur „Krist“ als christlichen Haupt- und Weltallsgott kennt. Er hat also keine biblischen Kenntnisse. Wenn dieser Prolog also von Snorri stammen sollte, dann müßte er ihn viele Jahre später angefügt haben und wir müssen annehmen, daß er in der Zeit bis dahin intensiv Theologie studiert haben wird, was bei Kenntnis des unsteten und bewegten Lebens von Snorri Sturluson sehr unwahrscheinlich ist. Deswegen gehe ich davon aus, daß Snorri den Prolog nicht verfaßt hat. Die Überschriften der einzelnen Abschnitte des Prologes, die ich beibehalte, finden sich nur in Ausgaben.

»1. (Þróun guðshugmyndar [Die Entwicklung Gottes])

Der allmächtige Gott schuf am Anfang Himmel und Jörð und alles, was zu ihnen gehört, und zuletzt die beiden Menschen Adam und Eva, von denen die Geschlechter abstammen. Ihre Nachkommen vermehrten sich und breiteten sich über die ganze Welt aus. Aber im Laufe der Zeit unterschieden sich die Menschen voneinander; die einen waren gut und rechtgläubig, aber viel mehr wandten sich den Begierden der Welt zu und vernachlässigten Gottes Gebote. Deshalb vernichtete Gott die Welt mit der Sintflut und alle irdischen Geschöpfe, außer denen, die mit Nóa in der Arche waren. Nach der Nóaflut lebten noch acht Menschen, die die Welt bewohnten, und von ihnen stammen die Geschlechter. Und es kam wieder wie früher: Sie vermehrten sich und besiedelten die Welt. Nun war es die ganze Menschheit, die die Gier nach Reichtum und Hochmut liebte, aber den Gehorsam gegenüber Gott verschmähte. Und es kam so weit, daß sie Gott nicht beim Namen nennen wollten. Aber wer sollte damals seinen Söhnen von Gottes Wundern erzählen? So kam es, daß sie den Namen Gottes vergaßen, und in der ganzen Welt fand sich kein einziger Mensch, der von seinem Schöpfer wußte.«

Dieser 1. Abschnitt des Prologes referiert Teile der Genesis, die biblische Geschichte von der Erschaffung der Welt durch den allmächtigen Gott (almáttigr guð), Adam und Eva die Sintflut (sjóvargangi), die hier auch Nóaflut (Nóafloð) genannt wird, Noah sowie ansatzweise die Sünden der Menschheit. Die Erde wird hier wie im ganzen Prolog mit ihrem Namen Jörð genannt. Der Verfasser kannte die biblischen Geschichten also offenbar, während Snorri Sturluson diese Geschichten wohl eher nicht gekannt hatte, wenn man sich seine Umschreibungen für „Krist“ (Christus) in der Jüngeren Edda ansieht.

»Aber dennoch gab ihnen Gott irdische Güter, Besitz und Glück; weil sie in der Welt bestehen sollten, verteilte er auch die Klugheit, sodaß sie alle irdischen Phänomene und Verstandesdinge begriffen, die man in der Luft und auf der Jörð sehen konnte. So überlegten sie und wunderten sich, wie dies zusammenhängen könnte, daß die Jörð, die Tiere und die Vögel in manchen Punkten dieselbe Beschaffenheit hatten und doch ungleich in der Art waren. Eine Beschaffenheit war die, daß, wenn die Jörð auf hohen Berggipfeln aufgegraben wurde, dort Wasser entsprang. Man mußte dort nicht länger nach Wasser graben als in tiefen Tälern. So verhält es sich auch bei Tieren und Vögeln: Es ist für das Blut gleich weit im Kopf wie in den Füßen. Eine zweite natürliche Eigenart der Jörð ist die, daß in jedem Jahr auf ihr Gras und Blumen wachsen, und im gleichen Jahr stirbt alles ab und verfault. So ist es auch bei Tieren und Vögeln, daß Haare und Federn wachsen und in jedem Jahr abfallen. Dies ist die dritte Natur der Jörð: Dort, wo sie geöffnet und ausgegraben wird, wächst Gras auf dem Erdboden, der zuoberst auf der Jörð liegt. Felsen und Steine verglichen sie mit Zähnen und Knochen von Lebewesen. Daher stellten sie fest, daß die Jörð lebendig sei und auf irgendeine Art und Weise Leben habe. Und sie erkannten, daß sie außerordentlich alt an Jahren war und mächtig in ihrer Natur.«

In diesem Abschnitt beginnt die Rechtfertigung für das Heidentum, das ja dann in der Jüngeren Edda den Inhalt bildet. Hier weicht der Verfasser vom kirchlichen Dogma ab. Nach kirchlicher Lehre verehrten die Heiden höllische Dämonen, die sie in ihrer Unwissenheit für Götter hielten. In dem hier vorliegenden Text aber wird erklärt, daß die Heiden die Erde (Jörð) vergöttlichten, also die Naturerscheinungen zu Göttern machten. Dieser Text ist also auch ein Beleg dafür, daß Naturdinge mit Gottheiten assoziiert wurden (Naturmythologie). Die Erde ist also auf Grund ihrer Beschaffenheit als lebendiges Wesen oder Gottheit (Jörð) erkannt und verehrt worden, nicht weil sie irgendetwas mit dem Satan zu tun hätte.

»Sie gab allen Lebewesen Leben, und sie nahm sich alles, was starb. Aus diesem Grunde gaben sie ihr einen Namen und führten ihr Geschlecht auf sie zurück. Dies hörten sie auch von ihren Vorfahren, weil es danach viele Jahrhunderte erzählt wurde. Damals gab es dieselbe Jörð wie auch Sól und Gestirne, aber der Lauf der Gestirne war ein anderer; einige hatten einen längeren, andere einen kürzeren. Wegen dieser Phänomene vermuteten sie, daß irgendjemand der Lenker der Gestirne sein müsse, einer, der ihren Lauf nach seinem Willen regeln könne. Er müßte sehr stark und mächtig sein. Deshalb nahmen sie an, daß er, wenn er über die Elemente herrsche, auch vor den Gestirnen existiert haben müsse. Und dies war ihre Erkenntnis: Wenn er den Lauf der Gestirne beherrsche, dann verursache er auch den Sonnenschein, den Tau der Luft und das Wachstum der Jörð, das sich danach richtet, ebenso wie den Wind der Luft und damit den Sturm auf der See. Damals wußten sie nicht, wo sein Reich war. Darum glaubten sie, daß er alle Dinge auf Erden wie in der Luft des Himmels und bei den Gestirnen, alle Erscheinungen des Meeres und der Winde beherrsche. Aber um besser davon erzählen zu können und sich dessen zu erinnern, gaben sie allen Dingen von sich aus Namen. Und dieser Glaube hat sich auf vielerlei Weise gewandelt, so wie sich die Völker verteilten und sich die Sprachen verzweigten. Alle Dinge begriffen sie jedoch mit irdischer Erkenntnis, denn ihnen war keine geistliche Weisheit gegeben. Auf diese Weise erkannten sie, daß alles aus irgendeinem Stoff geschaffen war.«

Hier finden wir das bekannte Erklärungsbild wieder, wonach man an Hand des Uhrwerkes auf den Uhrmacher schließen kann. Die Menschen schlossen also von der Natur der Erde und des Weltalls auf einen Schöpfergott, der alles beherrscht. Damit ist natürlich nicht der biblische Gott gemeint, denn ansonsten wäre die Aussage, den Menschen sei keine geistliche Weisheit gegeben worden, ja unzutreffend. Hier geht es also um den heidnischen Allvater, letztendlich also um Óðinn. Und wir erfahren hier, daß die Menschen, also die Heiden, ihr Geschlecht auf die Jörð (Erde) zurückführten. Wir kennen zwar diverse Mythen und Stammtafeln, wonach die Menschen von bestimmten Gottheiten abstammen (etwa von Heimdallr in der Rigsþula), aber nirgends wird die Erde oder Jörð als Ahnin der Menschen genannt.

»2. (Um þrjár hálfur veraldar [Die drei Teile der Welt])

Die Welt wurde in drei Kontinente eingeteilt: Der Teil von Süden nach Westen und bis zum Mittelmeer [Miðjarðarsjó] wurde Affríká genannt; und der südliche Teil dieser Gebiete ist durch die Sonne [sólu] so heiß, daß dort alles verbrennt. Der zweite Kontinent erstreckt sich von Westen nach Norden und bis zum Meer; ihn nennt man Evrópá oder Énéá. Seine nördliche Region ist so kalt, daß dort kein Gras wächst und niemand dort siedelt. Das, was sich von Norden über die ganze Osthälfte bis Süden erstreckt, wird Asíá genannt. In diesem Teil der Welt gibt es überall Schönheit und Pracht, gibt es Länder mit reichen Ernten, Gold und Edelsteinen. Dort ist auch die Mitte der Welt. Und so wie dort die Erde in jeder Hinsicht schöner und besser ist als in anderen Gegenden, so waren auch die Menschen dort mit allen Gaben am ausgezeichnetsten, mit der Klugheit und der Stärke, mit der Schönheit und mit Fähigkeiten aller Art.«

Die Beschreibung des heißen Südens und des kalten Nordens erinnert an die Vorstellung von Muspellsheimr und Niflheimr, die in der Gylfaginning Kap. 4 folgen wird. Nur der schöne Osten paßt nicht in dieses Bild. Andererseits wird Asien als „Mitte der Welt“ (mið veröldin) geschildert, was wiederum mit der irdischen Herkunft der Ásen zusammenpaßt, die hier, in der Ynglinga Saga und bei Saxo Grammaticus erwähnt wird. Ich habe die Schreibweisen des Originals beibehalten. Affríka = Afrika, „Reich der Affen“, Evrópa = Europa, „Weiter Blick“, Énéá = Aeneas, „Loben“. Asíá = Asien, „Osten“. Europa ist Tochter des phönicischen Königs Agenor und der Telephassa und Geliebte des Gottes Zeus, Aeneas ist ein trojanischer Krieger der den römischen Staat gründet, Asia ist eine Nymphe, die Mutter des Prometheus.

Vermutlich aber gingen der Verfasser des Prologes wie auch Snorri Sturluson davon aus, daß Asien nach den Ásengöttern benannt sei.

Eine ähnliche Erklärung der Erdteile findet sich auch in Kap. 1 der Ynglinga Saga. Beide Texte scheinen eine mittelalterliche Weltkarte mit drei Kontinenten zu beschreiben wie sie schon in der Etymologiae des Isidor von Sevilla (XIV, 2,2) erscheint.

»3. (Frá Trjóumönnum [Von den Trojanern])

Nahe der Mitte der Welt wurde in dem Land, das wir Tyrkland nennen, die Siedlung erbaut, die am berühmtesten war und die Trjóa heißt. Diese Stadt war viel größer als andere und in vieler Art mit mehr Kunstfertigkeit erbaut, mit Aufwand und Mitteln, die dort vorhanden waren. Es gab zwölf Königreiche und einen Oberkönig, und viele Länder gehörten zu jedem Reich. In der Stadt lebten zwölf mächtige Männer. Diese Fürsten übertrafen die anderen Menschen, die auf der Welt lebten, in allen menschlichen Tugenden.«

Hier geht es um die Vorstellung, daß die Götter einst als menschliche Könige oder Oberpriester auf der Erde in Byzanz lebten. Byzanz ist hier bereits als „Tyrkland“ bezeichnet, war also schon durch den Einfall der Türken fast ganz von der Landkarte verschwunden. Das geschah Mitte des 14. Jh.; somit muß der Prolog ab Mitte des 14. Jh. entstanden sein. Würde er von Snorri Sturluson stammen, dann hätten hier die Verhältnisse von 1220 oder davor zu Grunde gelegt werden müssen. Damals war das Byzantinische Reich noch recht groß und vom Türkenland sprach noch niemand.

Saxo Grammaticus verfaßte seine „Gesta Danorum“ gegen 1200 und dort heißt es4:

»Die Götter aber, die ihren Hauptsitz in Byzanz hatten, ...«

Die zwölf „mächtigen Männer“ mit den zwölf Königreichen sind natürlich die 12 männlichen Götter mit ihren Himmelsburgen. In der Ynglinga Saga 2 werden sie als oberste Priester bezeichnet, aber auch als Dróttnar (Könige, Fürsten). In der Saga heißt es5:

»Das Land in Asien östlich vom Tanakvisl nannte man Ásenland oder Ásenheim, und die Hauptstadt des Landes hieß Ásgarður. In der Burg aber lebte ein Häuptling namens Óðinn. Dort war eine große Opferstätte. Es war dort Brauch, daß zwölf Tempelpriester als oberste Goden galten. Sie hatten die Opfer zu leiten und unter den Männern Recht zu sprechen. Man nannte sie Díar oder Dróttnar. Denen mußte alles Volk Dienste und Verehrung erweisen.«

Das Land zwischen den beiden Don-Flußläufen nennt die Ynglinga Saga Vanenland oder Vanenheim, und östlich des Don (der dort Tanakvisl genannt wird) liegt Ásenland oder Ásenheim. Als Orte für Ásgarðr/ Troja werden also entweder Byzanz/ Tyrkland oder die Gegend östlich des Dons, nördlich des Schwarzen Meeres genannt. Die Quellen widersprechen sich also deutlich, können somit nicht beide von Snorri stammen.

»Ein König, der dort war, wird Múnón oder Memnón genannt. Er war mit der Tochter des Großkönigs Príami verheiratet, die Tróan hieß. Sie hatten einen Sohn namens Trór, den wir Þór nennen. Er war zur Erziehung in Trakíá bei dem Herzog, der Lóríkús genannt wird. Als er zehn Jahre alt war, nahm er die Waffen seines Vaters entgegen. Er war, verglichen mit anderen Menschen, in seiner äußeren Erscheinung so schön, wie wenn Elfenbein in Eichenholz eingelegt ist. Sein Haar war glänzender als Gold. Als er zwölf Jahre alt war, hatte er schon seine volle Körperkraft; in diesem Alter hob er zehn Bärenfelle auf einmal vom Erdboden empor. Und dann erschlug er Herzog Lóríkús, seinen Ziehvater, samt dessen Frau Lórá oder Glórá und eroberte das Reich Trakíá. Wir nennen es Þrúðheim. Darauf zog er weit in den Ländern umher und erforschte alle Teile der Welt. Er besiegte ganz allein alle Berserker und Riesen, den gewaltigsten Drachen und viele wilde Tiere.«

Hier wird nun der Gott Þórr als Sohn des Menmón und der Tróan bezeichnet, eine völlig unsinnige Genealogie, die natürlich auch den Angaben in der Gylfaginning widerspricht, wonach Þórr Sohn Óðins und der Jörð ist. Aber der Abschnitt enthält dennoch einen uralten Þórs-Mythos. Þórs Zieheltern waren ja (nach Skáldskaparmál Kap. 4) Vingnir und Hlóra, hier nun sind Vingnir zu Lóríkús und Hlóra zu Lórá oder Glórá geworden. Beide waren Riesen, in einer Strophe des Skálden Þjóðólfr kommt „Vingnir“ als Riesenname vor, desgleichen in den Nefnaþulur der Jüngeren Edda, und trachteten Þórr nach dem Leben. Daher tötete Þórr seine riesischen Zieheltern und nahm deren Namen als Beinamen an: Vingþórr (oder Vingnir) und Hlórriði. Im Rigveda ist dieser Mythos ausführlicher von Indra erzählt: Die Götter hatten gegen die Dämonen verloren und die Erdgöttin übergab ihr Kind (Indra) daher den Wassern. Es wurde von der Riesin der Wassertiefen, Kushav, verschluckt, die es aufzog. Die Dämonen versuchten alles, um Indras Hervorkommen aus dem Leibe Kushavs zu verhindern. Indra brach aus der Kushav heraus, die dabei starb, und der ihn erwartende Dämon Vyamsa versuchte, Indra zu töten, doch erschlug ihn Indra mit seiner Keule. So wird der Mythos, wonach Þórr seine Zieheltern Vingnir und Hlóra tötete, einst gelautet haben.

Þórr wird hier als Herrscher von Trakíen bezeichnet, das mit Seiner Himmelsburg Þrúðheim identifiziert wird. Dies ist ein Versuch, himmlische Dinge auf der Erde zu lokalisieren.

»In der nördlichen Welthälfte traf er die Seherin mit Namen Síbíl, die wir Sif nennen, und heiratete sie. Von Sifs Familie kann ich nichts erzählen; sie war die schönste aller Frauen, ihr Haar war wie Gold.«

In einem skandinavischen Lied6 freit Þórr um Ingerlild, doch diese ist bereits einem Herrn Lovmand versprochen, der 7 Jahre auf einer Insel siech lag und deswegen als vermißt galt. Er kommt wieder und Þórr erkennt die ältere Verlobung an. Herr Lovmand gibt Þórr stattdessen seine eigene Schwester zur Ehe.

»Ihr gemeinsamer Sohn war Lóriði, der seinem Vater glich. Sein Sohn war Einriði, sein Sohn Vingeþórr; sein Sohn Vingener, sein Sohn Móða, sein Sohn Magi, sein Sohn Seskef, sein Sohn Beðvig, sein Sohn Athra, den wir Annan nennen, sein Sohn Ítrmann, sein Sohn Heremóð, sein Sohn Skjaldun, der bei uns Skjöld heißt, dessen Bjáf, den wir Bjár nennen, sein Sohn Ját, sein Sohn Guðólf, sein Sohn Finn, sein Sohn Fríallaf, den wir Friðleif nennen; er hatte den Sohn, der Vóden genannt wird und bei uns Óðin heißt. Er war ein an Weisheit und allen Fähigkeiten hervorragender Mann. Seine Frau hieß Frígíða, die wir Frigg nennen.«

Es folgt nun ein sehr eigenartiger und anscheinend völlig konfuser Stammbaum der Nachkommen von Þórr und Síf. Lóriði ist wohl Hlórriði, ein Beiname Þórs, Einriði ist gleichfalls ein Beiname Þórs, wie auch Vingeþórr (Vingþórr) und Vingener (Vingnir, = Der seine Waffe schüttelnde Gott). Der Name Vingnir kommt in den Nefnaþulur als Name Þórs vor. Die nächsten beiden Söhne Móða und Magi entsprechen wohl Þórs tatsächlichen Söhnen Móði und Magni – daß der Name Magni falsch geschrieben wurde, ist ein weiteres Indiz dafür, daß Snorri Sturluson nicht der Verfasser des Prologes sein kann. Seskef ist verderbt aus Sceaf (= Garbe), einem mythischen König der Langobarden, der nach William von Malmesbury auch in Slaswic/ Haithebi (Schleswig/ Haithabu) herrschte und der mit Skjöld, dem Ahnherrn der Skjöldungen identisch sein soll. In der Angelsächsischen Chronik von 855 ist Scef Sohn des Noe (Noah), es folgen Bedwig, Hwala, Hratha, Itermon, Heremod, Sceldwa, Beaw, Tætwa, Geat. Diese Genealogie ist im Prolog zu Grunde gelegt, denn die Namen entsprechen sich: Beðvig-Bedwig, Athra-Hratha, Itrmann-Itermon, Heremóð-Heremod, Skjaldun-Sceldwa, Bjáf-Beaw, Ját-Tætwa (oder Geat). Der Verfasser des Prologes kannte also diese angelsächsische Genealogie, was für Snorri Sturluson sicher nicht zutrifft.

»4. (För Óðins norðr í heim [Die Fahrt Óðins in die nördliche Welt])

Óðinn besaß wie seine Frau die Sehergabe, und aus seinen Visionen erfuhr er, daß sein Name oben in der Nordhälfte der Welt bekannt sein würde und daß er darüberhinaus von allen Königen geehrt würde. Aus diesem Grunde wollte er seine Reise von Tyrkland antreten. Er führte eine große Gefolgschaft mit sich, junge und alte Menschen, Männer wie Frauen, die viele wertvolle Dinge bei sich hatten. Und in den Ländern, durch die sie zogen, erzählte man viel Ruhmreiches über sie, sodaß sie Göttern ähnlicher als Menschen schienen.«

Hier ist der bekannte euhemeristische Versuch, Óðinn als historischen Menschen anzusehen, erkenntlich. So wollten christliche Schreiber die heidnischen Geschichten entgöttlichen, um so bei der Kirche nicht in Ungnade zu verfallen. Das ging übrigens so weit, daß man sogar Óðinn als nordische Adaption des persischen Reiterfürsten des 4. Jh. Odeanath erklärte, obwohl ja zwischen Odaenath und Óðinn nicht nur tausende von Kilometern Abstand, sondern auch mindestens 500 Jahre Zeitunterschied liegen. Denn zu Odeanaths Zeit wurde der Gott überall noch Wodan genannt, erst in der Víkingerzeit wurde daraus nur in Skandinavien dann Óðinn.

Tatsächlich aber ist die Vorstellung, daß sich Gottheiten auf der Erde menschlich verkörpern können und dann auch sterben, durchaus heidnisch. Noch heute ist dies im Hinduismus fester Glaube, daß etwa der Gott Vishnu mehrfach auf der Erde inkarnierte, darunter als Krishna oder als Gautama (Buddha).

»Sie unterbrachen ihre Fahrt nicht eher, als bis sie nordwärts in das Land kamen, das heute Saxland genannt wird. Dort blieb Óðinn lange Zeit und nahm das Land weit und breit in Besitz. Er setzte seine drei Söhne zum Schutz des Landes ein: Der eine hieß Vegdeg; er war ein mächtiger König und herrschte über Ost-Saxland. Sein Sohn war Viturgils, dessen Söhne waren Vitta, der Vater Heingests, und Sigarr, der Vater des Svebdeg, den wir Svipdag nennen. Der zweite Sohn Óðins hieß Beldeg, den wir Baldur nennen; er besaß das Land, das jetzt Vestfál heißt. Sein Sohn war Brandur, dessen Sohn Frjóðigar, der bei uns Fróða heißt. Ihm folgten Freóvin, Uvigg, Gevis, den wir Gave nennen. Der dritte Sohn Óðins wird Sigi genannt, sein Sohn Rerir. Ihre Nachfahren herrschten über das Land, das jetzt Frakland heißt. Von dort stammt das Geschlecht der Völsungen. Von ihnen allen stammen große und viele Sippen ab.«

Die Fahrt Óðins und der Ásen wird auch in der Ynglinga Saga erzählt 7:

»Ein hoher Bergwall zieht sich von Nordosten nach Südwesten, der Großschweden von andern Reichen scheidet. Südlich des Gebirges ist es nicht weit bis zum Türkenlande. Dort hatte Óðinn große Besitzungen. In jener Zeit zogen die Römerhäuptlinge weit in der Welt umher und unterwarfen sich alle Völker. Viele Häuptlinge aber flüchteten vor diesen Kriegsunruhen von ihren Besitzungen. Da aber Óðinn zukunfts- und zauberkundig war, wußte er, daß seine Nachkommen im nördlichen Teil der Erde herrschen würden. Da setzte er seine Brüder Vé und Vili über Ásgarður, und er zog fort mit allen Díar und vielem andern Männervolk. Zuerst zog er westwärts nach Rußland und dann südwärts nach Saxland. Er hatte viele Söhne. Er eroberte Reiche weithin in Saxland und setzte dort seine Söhne zum Schutz der Länder ein. Dann zog er nordwärts zur See und nahm seinen Wohnsitz auf einer Insel. Der Ort heißt jetzt Odensee auf Fünen.«

In der Ynglinga Saga wird also Óðins Fahrt weniger ausführlich erzählt, als im Prolog. Hier sind noch die Namen der Söhne und ihre Königreiche bekannt, was man auf eine Vereinfachung zurückführen könnte. Nun aber beginnt eine Abweichung. In der Ynglinga Saga landet Óðinn schließlich auf der Insel Fünen, im Prolog aber in Reiðgotaland, was heute Jütland heißt. Wäre Snorri der Verfasser beider Texte, dürften wir so eine Abweichung nicht finden.

»Danach setzte Óðinn seine Reise in den Norden fort und kam in das Land, das sie Reiðgotaland nannten. Er nahm dort alles in Besitz, was er wollte. Über dieses Land setzte er seinen Sohn namens Skjöldur, dessen Sohn war Friðleifur. Daher entstammt das Geschlecht der Skjöldungar. Das sind die dänischen Könige, und das Land, das damals Reiðgotaland genannt wurde, heißt heute Jótland.«

Übereinstimmung herrscht nun wieder in der Geschichte, daß Óðinn von Hreiðgotaland oder Fünen nach Svíþjóð (Schweden) hinüberwechselt:

»5. (Óðinn tók sér bústað í Sigtúnum [Óðinn nahm seinen Wohnsitz in Sigtuna])

Danach zog er weiter nordwärts in das heutige Svíþjóð. Dort herrschte der König, der Gylfi genannt wird. Als er vom Zug der Ásíamanna, die man Ásen [æsir] nannte, erfuhr, reiste er ihnen entgegen und bot ihnen an, Óðinn könne in seinem Reich so viel Macht haben, wie er selbst wolle. Und ihrer Ankunft folgte die Zeit, in der überall dort, wo sie sich aufhielten, reiche Ernten und Friede herrschten. Alle glaubten, daß sie deren Verursacher seien; denn die herrschenden Männer stellten fest, daß sie anders als andere Menschen waren, die sie bisher gesehen hatten, sowohl in ihrer äußeren Schönheit als auch an Verstand. Dort schien es Óðinn gutes Land und andere Vorteile zu geben, und so entschied er sich da für eine Stadt, die jetzt Sigtún heißt. Dort setzte er die Oberhäupter so ein, wie es in Trója gewesen war. Er bestimmte zwölf Anführer in diesem Ort, die Landesgesetze beschließen sollten. So ordnete er alles Recht, wie es früher in Trója gewesen war und wie es die Tyrken gewohnt waren.«

Die Ynglinga Saga beschreibt die Fahrt Óðins nach Schweden so8:

»Als aber Óðinn hörte, daß im Osten bei Gylfi gute Gelegenheit zum Landerwerb sei, zog er dorthin, und er und Gylfi schlossen Frieden untereinander, denn Gylfi fühlte sich nicht kräftig genug zum Widerstand gegen die Ásen. Óðinn und Gylfi trieben miteinander viel Spuk- und Zauberkünste, doch behielten die Ásen darin immer die Oberhand. Óðinn nahm seinen Wohnsitz am Mälarsee an der Stätte, die jetzt Alt-Sigtuna heißt. Er errichtete dort einen großen Tempel und setzte Blutopfer ein nach der Sitte der Ásen. Er nahm Besitz von dem ganzen Lande, daß er Sigtuna nennen ließ (...)

Óðinn führte nun die Gesetze ein in seinem Lande, die seit altersher bei den Ásen gegolten hatten.«

Die Geschichte der Einwanderung von Óðinn und den Ásen von Byzanz/ Tyrkland/ Ásgarðr nach Skandinavien mag dunkle Erinnerungen von der Einwanderung der Indogermanen nach Europa enthalten, so man der Theorie der Einwanderung von Osten folgen will. Glaubwürdiger erscheint mir aber die Auswanderung der Indogermanen von Mitteleuropa nach Osten. Dann könnten auch die Hunnenzüge mit hineinspielen, denn unzweifelhaft kamen sie von Osten nach Mitteleuropa. Eine ganze Reihe mittelalterlicher skandinavischer Quellen des 12. und 13. Jh. enthält diese Einwanderungsgeschichte, so Aris vor 1133 abgeschlossenes Isländerbüchlein (Libellus Islandorum). Dort werden Yngvi (der Gott Yngvi-Freyr) als Türkenkönig, der Gott Njörðr als Schwedenkönig erwähnt, Freyr wird dort auch Frayr genannt. Auch die Skjöldunga Saga (spätes 12. Jh.) enthält eine derartige Schilderung. Die lückenlose Herleitung nordischer Königsgeschlechter auf die Ásen finden wir auch in der im 7. Jh. entstandenen Chronik Fredegars und Geoffrey of Monmouths Historia Regum Britanniae um 1130, während sich bei den Angelsachsen eigene Königsstammbäume mit Göttern am Anfang erhalten haben. Auch die um 727 entstandene Gesta Francorum des Gregor von Tours bringt heidnische Göttergenealogien mit der historischen Geschichtsschreibung zusammen

Die Chronik des Fredegar berichtet am Ende des II. und Anfang des III. Buches von einer Gruppe Trojaner, die nach dem Trojanischen Krieg auf der Flucht nach Macedonien gelangten und so zu den Urvätern Alexanders des Großen wurden. Später sollen sie durch ein Bündnis mit den Sachsen der Unterwerfung durch Pompeius entgangen und über Pannonien an den Rhein gezogen sein. Hier gründete der mythische König Francio das nach ihm benannte Geschlecht der Franken. König Francio stammt danach aus der Linie des Frigas, dem Sohn des Priamos. Frigas soll Bruder des Aeneas sein, dem Stammvater des römischen Volkes (nach Vergil).

»6.

Danach zog er noch weiter nach Norden, so weit, bis er an das Meer kam, von dem sie glaubten, es begrenze das ganze Land. Dort setzte er seinen Sohn über das Reich, das jetzt Nóregr heißt. Er wird Sæmingr genannt, und die Nóregskönige führen ihr Geschlecht auf ihn zurück, ebenso die Jarle und andere mächtige Männer, wie es im Gedicht der Háleygjatali heißt. Aber Óðinn hatte einen weiteren Sohn bei sich, der Yngvi genannt wird. Der war nach ihm in Svíþjóð König, und von ihm stammt das Geschlecht der Ynglinge ab.«

Nóregr ist Norwegen, Svíþjóð ist Schweden, die Háleygjatali sind die Halogaländer. Dieser letzte, sechste Abschnitt des Prologes hat keine eigene Überschrift, weil manche ihn noch als Ende des 5. betrachten. Hier finden wir nun eine völlige Abweichung etwa von der Ynglinga Saga, denn während im Prolog Óðinn bis an das Nordmeer reist, zumindest also in Norwegen ist, stirbt Óðinn in der Ynglinga Saga bereits in Schweden (Kap. 9)9:

»Óðinn starb in seinem Bett in Svíþjóð, und da er im Sterben lag, ließ er sich mit der Spitze eines Speeres zeichnen und erklärte alle Männer für sein eigen, die in ihren Waffen stürben. Er sagte, er führe nach Goðheim und würde dort seine Freunde bewillkommnen. Die Schweden meinten nun, er sei nach Alt-Ásgarð gekommen und lebe nun dort für immer.«

Möglicherweise geschah hier eine Verwechslung, denn „Goðheim“ (Götterheim) kann der Verfasser des Prologes fälschlich auf den höchsten Norden (also die heidnische Gebetsrichtung) bezogen haben. Mit Alt-Ásgarð aber ist wiederum das Ásgarð in Byzanz/ Troja gemeint.

»Die Asen nahmen sich dort im Land Frauen, und manche verheirateten ihre Söhne. Diese Sippen wurden so zahlreich, daß sie sich über Saxland und die ganze Nordhälfte ausbreiteten. So wurde die Sprache der Ásíamanna die Landessprache in allen diesen Gebieten. Die Menschen glauben dies deshalb erkennen zu können, weil die Namen ihrer Vorväter niedergeschrieben wurden. Denn die Namen gehörten zu dieser Sprache, und die Asen haben ebendiese Sprache hierher in den Norden gebracht, nach Nóreg und Svíþjóð, nach Danmörk und Saxland. Aber in Englandi gibt es alte Landes- und Ortsnamen, bei denen zu erkennen ist, daß sie aus einer anderen Sprache stammen.«

Hier am Schluß wird auf die Celten hingewiesen; der Verfasser des Prologes kannte ja altenglische Genealogien, daher waren ihm auch die Celten bekannt.

Kapitel 2

Gylfaginning 1-9

Schon über den Titel dieses Werkes herrscht offenbar Unklarheit. So übersetzen Prof. Simek, Arnulf Krause, Karl Simrock ihn mit „Täuschung Gylfis“, Hugo Gering übersetzt mit „Gylfis Verblendung“ und Gustav Neckel und Felix Niedner übersetzen mit „Gylfis Betörung“. Alle diese Übersetzungen sind aber eindeutig falsch. Der zugrundeliegende nordische Begriff „gynare“ („Gauner, Betrüger, Täuscher“) ist viel zu jung. Das ursprünglich hebräische Wort stammt aus dem Rotwelschen und taucht erst im 15. Jh. als „Jauner“ und davor „Juner“ („Ionier“) bei uns auf, was damals ein Synonym für „Grieche“ war. Den Hebräern galten die Griechen nämlich als betrügerische Leute, in der eddischen Zeit gab es diesen Begriff in Skandinavien noch gar nicht 10 und also kann ein Liedtitel des 13. Jh. noch nicht mit einem bei uns erst nach dem 15. Jh., im Norden noch später, eingeführten Begriff übersetzt werden.

Dennoch liegt es nahe, davon auszugehen, daß der Liedtitel in einem positiven Sinne heidnisch gedeutet werden muß, denn in der Vorbemerkung unterdrückt ihn ein Bearbeiter, auch ersetzen ihn verschiedene jüngere Handschriften der Jüngeren Edda durch den negativ zu verstehenden Titel „Hárs Lygi“ („Hars Lügen“). Diese Ersetzungen wären nicht nötig, wenn der Titel von sich aus eine negative oder zum Heidentum distanzierte Bedeutung hätte, wie es die Übersetzung mit „Gylfis Täuschung“ ja darstellt. Auch finden wir im Text der Gylfaginning, in Kap. 2, wo von diesem „Blendwerk“ die Rede ist, das die Ásen Gylfi vormachten, den Begriff „sjónhverfingar“. Und auch in Kap. 47 steht „sjónhverfingar“ für den Begriff „Blendwerk“, wo Utgarðlóki dem Þórr erklärt, daß Er ihm ein Blendwerk vorgemacht habe. Bezeichnenderweise steht nirgends „ginning“ für „Blendwerk“, sondern immer „sjónhverfingar“ („Sinnesverrückung“).