Annette Lies
Wie du mit einem kleinen Wort dein ganzes Leben verbesserst
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1. Auflage 2021
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Redaktion: Sybille Beck
Umschlaggestaltung: Karina Braun
Umschlagabbildung: Shutterstock.com/ByeByeSSTK
Satz: Achim Münster, Overath
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-7474-0276-4
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-625-3
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-626-0
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Willkommen im Nowana!
Das kleine Neinmaleins
Warum es uns so schwerfällt, Nein zu sagen
Es ist noch kein Neinster vom Himmel gefallen!
Me, myself & No – Selbstbeobachtung
Jede Menge Leutchen – Persönlichkeitsanteile
Die Nein-Physis – körperliche Symptome
Push the button – Glaubenssätze, Knöpfe und Knebelgedanken
Hidden Needs – versteckte Ja-Bedürfnisse
No, we can! – Selbstermächtigung und Nein-Kompetenz
Der Nein-Kongress – Ihr individuelles Nein-Profil
Das große Neinmaleins
No-Storys und No-Gos feat. heikle Neins
Nein zu Spenden
Nein zu Kindern (eigene und fremde)
Nein auf Tinder, eBay und Co.
Nein zu Eltern
Nein zu Patchwork
Nein zu Nachbarn und im Homeoffice
Nein zum Wohnungsmarkt
Nein zu Freunden
Nein zu Tieren
Last-Minute-Neins
Risiken und Neinwirkungen
Übergriffigkeitstypen
Der Verharmloser
Die Ja-Hoffer und Ignoranten
Die Kümmerer
Die Grenzenlosen
Die Skrupellosen
Die Extremen
Das schlechte Gewissen
Neinsamkeit
Die Nein-Apotheke
Nein oder nicht Nein – Entscheidungshilfe
How-to-no–Formulierungen
Zeit gewinnen
Notlüge
Aktives Nein
Noffirmationen
No to go
Spieglein, Spieglein rund ums Nein
No-Journaling
Die Ständige Nein-Kommission
Good-to-No-Meditation
NO BIG – Vision Board und Ziele
Neinmasté – verneine dich vor dir selbst!
Über die Autorin
Haben Sie schon einmal erlebt, dass Sie sich in unliebsamen Lebenslagen wiederfinden, sagen wir einer WhatsApp-Gruppe, mit Bronchitis als Komparse am Set von Notruf Hafenkante oder bei einem Absacker, obwohl Sie morgen früh joggen wollten? Dann sind Sie hier genau richtig! Denn alles das sind Rollen und Situationen, in denen nicht Ihr wahres Ich Sie gelenkt hat.
Mit jedem neuen Sonnenaufgang werden Dinge an uns herangetragen, auf die wir uns mehr oder weniger einlassen (je nach dem Grad Ihrer Nein-Problematik), obwohl sie uns nicht behagen, wir sie nicht leisten können oder wollen, oder sie uns anderweitig überfordern. Im besten Fall kaufen Sie nur ein Doppelpack Duschgel, weil es im Angebot ist, im schlimmsten Fall finden Sie sich in einem Bett, einer unglücklichen Beziehung oder ganzen Lebenslage wieder, von der Sie eigentlich vorher wussten, dass es Murks ist. Dieses eigentlich ist nämlich ein Nein. Eines, das nicht ausgesprochen, vor sich selbst nicht akzeptiert oder gar nicht erst gespürt worden ist. Allerdings muss man auch wirklich auf Zack sein, um so ein Nein rechtzeitig umzusetzen. Und zwar so, dass es unsere eigenen Grenzen wahrt, andere nicht verletzt und doch ganz deutlich klarmacht: Schätzelein, is nicht!
Was lustig klingt und manche Menschen mit der Muttermilch aufgesogen haben, ist für andere so schwer durchführbar wie ein gefahrloser Rachenabstrich beim Nilpferd. Und belastender Ernst.
Obwohl sie es wirklich nicht wollen, finden sich diese Menschen regelmäßig in einer ungeeigneten Wohnung, einer übergriffigen Freundschaft oder einem unpassenden Handyvertrag wieder – und in diesem Text.
Sie wissen nicht, wovon ich spreche, Ihnen ist so etwas noch nie passiert und Sie können sich auch nicht vorstellen, wie jemand anders so gravierend über Ihr Leben entscheiden sollte? Dann gratuliere ich Ihnen: Sie brauchen dieses Buch nicht zu lesen! Allen anderen rate ich dringend dazu, denn Ihnen kann geholfen werden! Mit Selbsterkenntnis, Mut und Übung.
Auf den folgenden Seiten halten Sie gewissermaßen das Schwert von Gryffindor in Händen, um sich ab sofort gegen die dunklen Ja-Mächte zu verteidigen. Als da wären Fremde, Bekannte, Freunde, Kollegen und sogar Familienmitglieder. Nein sagen kennt keine Grenzen! Anhand des Nö-nö-Schnabeltiers und des NEINhorns (niemand Geringerer als der zeitweilige Anführer der Spiegel-Bestseller-Liste) erkennen Sie den Bedarf schon bei den Jüngsten. Denn die Fähigkeit, Nein zu sagen, ist für unsere Seele so elementar wie das Laufenlernen für unseren Körper. Und gehört zu den Grundrechten eines jeden Menschen! Auch Ihren.
Sofern Sie meiner Generation entstammen, erinnern Sie sich vielleicht noch an den Song »No, No, No« der Jamaikanerin Dawn Penn aus dem Jahre 1994, der gar nicht so hieß, sondern »You don’t love me«. Aber eben der prägnante Refrain war es, der ihn zum Hit machte. Immer, wenn Sie nun in eine Eigentlich-Situation geraten, können Sie ihn in Ihrem Kopf abspielen. Zum einen bringt der gechillte Reggae-Groove eine gewisse Ruhe in die Situation (Neinsagen ist Timing!), zum anderen wird er Sie bestärken, und drittens dient er uns an dieser Stelle als schmissige Intro-Musik zu unserer – Ihrer – persönlichen Reise, gleich einem Soundtrack.
Im Buddhismus bezeichnet der Begriff »Nirvana« oder auch »Nirwana« den Austritt aus dem Samsara, dem Kreislauf des Leidens. Dieses Buch vermittelt Ihnen das nötige No-How dazu. Sagen Sie Ja! Es könnte Ihr letztes für eine sehr lange Zeit sein. Und ich verspreche Ihnen: Es wird ein kleiner Schritt für Ihren Kehlkopf, aber ein großer für Ihr Leben sein! Das sich mit diesem winzigen Wort exponentiell verbessern wird …
Waren Sie schon einmal wandern? Ja? Nein? Das ist keine Fangfrage, ich will Ihnen bloß etwas aufzeigen. Und das geht mit so einem Vergleich wirklich gut. Denn da erklärt man etwas, das einem wenig vertraut ist (Neinsagen) mit etwas, das man schon kennt (Berge).
Stellen wir uns also vor, das solide, fest und unaufgeregt in Ihre Persönlichkeit integrierte Nein ist eine Hütte – mit verheißungsvollen Schupfnudeln, warmem Apfelstrudel, süßem Kakao und einem stolzen Eintrag am Gipfelkreuz, ja? Der Haken daran: Sie haben den Aufstieg noch vor sich.
Warum dieser nun so beschwerlich, gar gefährlich, sein könnte, und Sie vielleicht sogar umdrehen wollen, hängt von verschiedenen Faktoren ab: Dem Wetter (Nebel), Ihrer Ausrüstung (Schuhwerk), der Eignung Ihres Bergführers (wie gut verstehen Sie Schwizerdütsch?) und Ihrer individuellen Motivation (gibt es hier keine Gondel?). Reinhold Messner würde jetzt sicherlich protestieren und entweder noch tausend andere Sachen anführen oder aber sagen, dass barfuß loslaufen reicht, aber diese Metapher dient natürlich nur zur Veranschaulichung und soll Ihnen an dieser Stelle vermitteln:
Nein sagen lernen ist ein ebenso multifaktorielles Geschehen wie die Besteigung des K2. Eine Expedition, die nicht ganz ohne ist und für die Sie ein bisschen Ausrüstung brauchen, deren Erfolg Sie aber maßgeblich selbst beeinflussen können!
Durch theoretisches Wissen, praktisches Training, Anleitung durch einen qualifizierten Mentor (dieses Buch) und den Grund, aus dem Sie da rauf wollen – wahlweise Leidensdruck oder Neugier. In jedem Fall aber:
Der Wunsch nach persönlicher Weiterentwicklung!
Das alles sage ich deshalb, weil es Ihre Erfolgschancen maßgeblich steigert, wenn Sie die Sache richtig einschätzen. Sie dürfen sich also sehr darauf freuen, den Berg zu bezwingen, sollten aber auch wissen, dass es zuweilen kein Spaziergang wird. Neinsagen ist eine grundlegende Änderung Ihres Verhaltens und glauben Sie mir – unsere Psyche hat was dagegen! Sonst würden Sie längst täglich meditieren, Ihr Sixpack im Spiegel bewundern und Ihrer Steuererklärung entgegenfiebern. Ganz ohne Kaffee, Alkohol oder Süßkram, dafür mit farblich sortiertem Kleiderschrank. Aber bisher sind Sie ja auch so ganz gut durchgekommen, oder?
Schön, hier und da haben Sie gelitten, wurden verletzt, ausgenutzt und überfordert, aber im Großen und Ganzen haben Sie mit Ihrer Strategie bis zum heutigen Tage überlebt. Vor allem in der Kindheit – und genau da liegt der Hase im Pfeffer.
Auch auf die Gefahr hin, dass Sie einschlägig vorgebildet sind und das ganze Innere-Kind-Gedöns nicht mehr hören können, leider führt auch hier kein Trampelpfad daran vorbei. Denn was wir in dieser verletzlichen Zeit lernen, prägt uns mehr als alles, was noch danach kommt.
Unser Bewusstsein der ersten sieben Lebensjahre wird unser späteres erwachsenes Unterbewusstsein.
Das dürfen Sie ruhig mal kurz sacken lassen!
Der nächste Wegweiser in diesem Zusammenhang ist, dass wir als Kinder abhängig waren. Abhängigkeit ist ein Booster, der ultimative Verstärker von allem.
Allein aus biologischem Eigennutz scannen Kinder permanent ihre Umwelt und die Hand, die sie füttert. Und tun das, was dort angesagt ist, um ihr Überleben zu sichern. Anpassung nennt man diesen Vorgang – ein evolutionärer Allrounder, um sich selbst unter den jeweiligen Bedingungen die bestmögliche Versorgung und damit Entwicklung angedeihen zu lassen. (Und es bestreitet ja niemand, dass Ihre Eltern Sie nicht auch wirklich geliebt haben, Sie die Spitze auf den Weihnachtsbaum oben setzen durften und all das.) Aber hie und da ist was schiefgelaufen, sonst wären Sie jetzt nicht hier und in Nein-Not.
Irgendwo zwischen dem ersten Schrei, den ersten Töpfchenerfolgen und dem ABC durften Sie sich nicht abgrenzen, keine Wut zeigen oder wurden alleingelassen, wenn Sie Ihrem Unmut freien Lauf ließen. Formen Ihres frühen Neins, sozusagen. Das haben Sie spitzgekriegt und dieses unerwünschte Verhalten (kurz, den Ausdruck Ihrer wahren Gefühle) schnell gegen ein beliebteres Muster getauscht – zum Beispiel Unterwerfung, Unterdrückung oder gar komplettes Nichtfühlen. Mit einem Lächeln auf den Lippen! Das Blöde daran: Sie erinnern sich heute nicht mehr.
Die Situation ist weg, Ihr Verhalten noch da!
Und deshalb kann jemand Sie heute während Ihrer Existenzgründung, Ihrer Scheidung oder Ihrer Sommergrippe unbehelligt auch noch für den Elternbeirat einspannen, wofür Sie sich fröhlich bedanken, während Ihnen hinterrücks der kalte Schweiß ausbricht. Und das ist nun wirklich nicht lustig, denn obwohl ich es hier so heiter aufbereite:
Eigentlich sind es Todesängste, die uns in solchen Fällen immer noch steuern.
Unser unangepasstes Verhalten bedrohte ja einst tatsächlich unsere Existenz. Zumal Sie keine Alternative hatten, weil Sie sich schlecht selbst das Fläschchen geben konnten, ein Konto eröffnen oder mit dem Auto wegfahren.
Doch was Ihnen damals so dienlich war, funktioniert als erwachsener Mensch nicht mehr. Inzwischen hat sich Ihre Umwelt verändert, weg von der diktatorischen Aufforderung, Ihr Zimmer aufzuräumen, mit anschließender Belohnung durch Liebe, Lob, Spielzeug und Essen, hin zu »Kannst du noch schnell das Grillfleisch für die Betriebsfeier besorgen?«.
Und dann stehen Sie da, mit drei Kilo Hack und einer Rinderhüfte in Ihrem Viertürer, dem vorgestreckten Betrag für die Bürogemeinschaft im Dispo und dem Gefühl: Das wollte ich alles gar nicht! Eigentlich …
Die nicht zu unterschätzenden Folgen: Frustration, Wutanfälle, die Sie sich vielleicht selbst nicht einmal erklären können, oder eine handfeste Depression, Schuppenflechte und ein fieses Erschöpfungssyndrom.
Denn nichts ist anstrengender, als nicht man selbst zu sein.
(Nicht zu verwechseln damit, dass Sie trotzdem Ihre Unterhosen in die dafür vorgesehene Trommel stecken und einen Fahrschein in öffentlichen Verkehrsmitteln lösen sollten, versteht sich.)
Im schlimmsten Fall entwickeln Sie sogar eine Autoaggression, also eine Stinkwut gegen sich selbst, weil Sie sich wieder einmal nicht getraut oder es irgendwie verpasst haben, für sich selbst einzustehen (oder – der Super-GAU – gar nicht erst gemerkt haben, dass Sie sich verpflichten, etwas zu tun, das Sie gar nicht leisten können oder wollen). Und als Resultat schlimmstenfalls dann auch noch etwas nicht tun können, das Sie stattdessen tun müssten oder viel lieber tun wollen (arbeiten, Zeit mit den Kindern verbringen, Sudoku, ausschlafen, Netflix, aufs Klo gehen).
Je nachdem, wie vielen dieser unliebsamen Situationen Sie in Ihrer heutigen Gegenwart noch ausgesetzt sind, und in welcher Größenordnung Sie Ihr wahres Ich aktuell nicht leben können, kassieren Sie also jede Menge Grenzüberschreitungen und machen sich zur Krönung selbst dafür fertig. Das macht nicht glücklich. Doch keine Sorge: Sie können nachreifen! Hier und jetzt. Ganz gleich, wie alt Sie sind oder was Sie so hinter sich haben. Und ich finde, es lohnt sich durchaus auch noch kurzfristig, sich angesichts einer Patientenverfügung, einer Organspende, einer für Sie unpassenden Bestattungsart oder der Testamentsvollstreckung ein flottes Nein draufzuschaffen.
Was nun den Widerstand unserer Psyche angeht, verfügt unser Gehirn, neben einem bequemen Anti-Änderungs-Energiesparmodus, über jede Menge schlauer Mechanismen, um diesen furchtbaren Kindheitskram nicht mehr ertragen zu müssen. Nämlich Vergessen, Verdrängung und manchmal sogar Spaltung.
Bei Letzterem wird gleich ein ganzes Gefühl oder ein kompletter, seinerzeit unbeliebter Wesenszug abgeschaltet wie der Reaktor eines Kraftwerks. Die gute Nachricht auch hier: Das Haus verliert nichts. Es ist alles noch da! Nur im Keller.
So stand eine Freundin von mir einst tränenüberströmt da, als der Bus ihres Kindes zur Klassenfahrt abfuhr – und konnte sich keinen Reim auf die Heftigkeit ihrer Reaktion machen. Dass sie im selben Alter ihre eigene Mutter verloren hatte und dieser Moment allertiefste Verlustängste aufriss, wollte ihre Psyche aus Selbstschutzgründen partout in keinen Zusammenhang stellen. Stattdessen strafte sie sich als hochsensible Glucke ab, ohne eigene Hobbys, und las ein paar Bücher mit loslassen können im Titel, was die Sache nur verschlimmerte.
Ein anderer Freund von mir litt nach schönen Ereignissen, die ihm Freude machten, wie Geburtstagen oder einem Ausflug in den Vergnügungspark, stets unter der Angst, jemand könne ihn auf der Rückfahrt verprügeln, vor allem, wenn er in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs war. Auch seinem Psychologen kam das spanisch vor, zumal wir hier von einem durchtrainierten, tätowierten und freundlichen Zweimeterzehn-Mann sprechen. Dass sein Vater ihn in jungen Jahren immer dann geohrfeigt hatte, wenn er es wagte, seiner Freude im Spiel lautstark Ausdruck zu verleihen, war seinem Langzeitgedächtnis gezielt entfallen, nicht aber seinen Synapsen! Das nämlich sind unsere intrakraniellen Verbindungsstücke, die sich bei ihm schlicht merkten: Freude = Schläge, also lassen!
Der leidvolle Rest einer unliebsamen Erinnerung wird also entsorgt, damit unsere Festplatte nicht zu voll wird und wir trotz solcher Erfahrungen später mal gut gelaunt aufstehen und zur Arbeit gehen können, das Learning aber wird behalten.
Ja, da kann man sich nun aufregen über so einen Vater, aber bedenken Sie: Gerade solche Menschen sind fast ausnahmslos selbst das Opfer eines Opfers gewesen. Und die eigentliche Frage lautet letztlich ja auch nicht Was ist das Problem?, sondern immer: Was ist die Lösung? Und an der können Sie nun selbstbestimmt arbeiten.
Abgesehen von diesen Schutzmechanismen aufgrund unserer individuellen Vita, die uns den Zugang zum Keller erschweren, gibt es noch weitere smarte Finessen, die uns daran hindern, uns authentisch zu verhalten und anderen Menschen so gegenüberzutreten, wie es unserer Seele entspricht. Sie also auch von Ihrem Ur-Nein trennen. Historische und pädagogische Prägungen zum Beispiel …
Als Mutter besitze ich ein eigenes biologisches Erzeugnis, nennen wir es die Sumseeule, bei dem ich versuche, möglichst wenig in der Richtung und überhaupt zu versauen. Mit so einer Sumseeule muss man was unternehmen, also waren wir bei einer Führung mit dem Titel »Einmal Prinzessin« im Schloss Nymphenburg unterwegs. Unter Perücken, Puffärmeln und Puderquaste erfuhren wir Folgendes: »Eine Prinzessin durfte niemals Nein sagen, das war eine Todsünde!«
Die Sumseeule war entsetzt – ein gutes Zeichen – dennoch wollten wir uns auf den Schreck mit einem Buch beruhigen. Die Sumseeule zog das neueste Geschenk der Großeltern aus dem Regal: Der Struwwelpeter. Ahnen Sie es?
»Ich esse keine Suppe! Nein!
Ich esse meine Suppe nicht!
Nein, meine Suppe ess’ ich nicht!«
Am v i e r t e n Tage endlich gar
Der Kaspar wie ein Fädchen war.
Er wog vielleicht ein halbes Lot –
Und war am f ü n f t e n Tage tot.
Tja, Angst bringt Menschen bekanntlich am besten unter Kontrolle.
Wenn Sie also zwischen 1844 (das waren die Zeiten vom seinerzeit schwer angesagten Psychiater und Struwwelpeter-Autor Heinrich Hoffmann) und dem 21. Jahrhundert geboren sind, sind Sie mit Ihrer ANS (Allgemeine Nein-Schwäche) also bei Weitem nicht allein. Das Gegenmittel für all diese Prägungen lautet:
Eine Neuprogrammierung muss her!
Dauert etwas, klappt aber gut.
Daher widmen wir uns hier exakt dieser Arbeit: das Kellergerümpel, zur erstmaligen Inbetriebnahme oder Reaktivierung des Neins in Ihnen, zu orten, zu stärken und wieder hochzuholen! Ganz gleich, was wann und warum durch wen mit Ihnen passiert ist. Denn auch Ihnen ist Ihr beherztes Nein so natürlich angeboren wie der aufrechte Gang!
Die hat gut reden, sagen Sie jetzt? Ja, natürlich – schließlich habe ich alle erdenklichen Leidensstufen durch. Wie auch viele meiner Freundinnen, von deren Nein-Reise ich in diesem Buch in hilfreichen Fallbeispielen berichten darf. So auch Cordula, die sich an heißen Sommertagen in ihrer Dachgeschosswohnung regelmäßig vier Stunden lang auf dem Küchenfußboden totstellte, um den Anfragen der Nachbarin zu entgehen, ob sie dieses oder jenes mit ihr unternehmen wolle. Wollte Cordula nicht.
Falls Sie nicht auf diese Technik zurückgreifen möchten, brauchen Sie jetzt festes Schuhwerk, gutes Wetter, einen Kompass, Proviant, festen Willen und die nächsten Kapitel. Aber am Ende, da gibt es Schupfnudeln. Sind Sie bereit für den Aufstieg?
Dann willkommen im Basislager! Sagen Sie Neinhold zu mir.
Nachdem wir nun grob umfasst haben, worum es hier geht, sollten wir auch noch kurz klären, worum es nicht geht: Arbeitsverweigerung, unterlassene Hilfeleistung oder zu behaupten, Sie hätten eine seltene Blutspende-Allergie. Mit anderen Worten ist der Sinn des Neinsagens nicht, dass Sie Ihrer Schwiegermutter das Tragen der Einkäufe verwehren oder Ihrer besten Freundin das versprochene Chili con Carne beim Umzug – sondern Dinge souverän, bestimmt und dennoch höflich abzulehnen, deren Durchführung Ihr eigenes Wohlbefinden so stark beeinträchtigen würde, dass Sie darunter leiden. Oder Ihnen nahestehende Dritte (Kinder, Haustiere, lieb gewonnene Lebensgefährten). Seelisch, körperlich, finanziell oder sonst wie. In diesem Fall dürfen und müssen Sie ablehnen!
Im Zuge Ihres eigenen bewussten Selbstschutzprogramms.
Zur Verdeutlichung ein kleines Quiz:
Bei den unten genannten Beispielen 1, 2, 3, 4 und 5 stimmt eine Nein-Antwort nicht mit der Botschaft dieses Buches überein! Können Sie herausknobeln, welche?
1) Ihre quietschfidele Nachbarin schreibt Ihnen eine SMS, dass zwischen 8 und 15 Uhr heute ein Paket kommt, das sie selbst aufgrund einer vorherrschenden Pandemie nicht annehmen möchte. Sie freut sich, dass Sie dies nun tun, und wünscht Ihnen gute Besserung für Ihre Lungenentzündung!
A ☐ Da ich eh schon krank bin, helfe ich gerne!
B ☐ Ich sage Nein.
2) Eine verifizierte Tinder-Bekanntschaft bittet Sie darum, von Ihrer USA-Dienstreise unverzollt einen Laptop zu importieren. Bei Ihrem guten Aussehen drücke man doch sicher ein Auge zu bei den Beamten?
A ☐ Ich bitte sie/ihn, mir genau aufzuschreiben, wie viele elektronische Artikel sie/er benötigt.
B ☐ Ich sage Nein (und freue mich über das Kompliment).
3) Ihr bester Freund bittet Sie um dieselbe Straftat, stellt aber ein gemeinsames Abendessen in Aussicht.
A ☐ Ich sage Nein.
B ☐ Ich nehme das Steak.
4) Ihre alleinerziehende Schwester weint durch die Leitung, dass sie nach einem Unfall in der Notaufnahme sitzt. Sie bittet Sie, spontan Ihre Nichte von der Kita abzuholen.
A ☐ Ich lasse alles stehen und liegen und suche die umliegenden Spielplätze raus.
B ☐ Ich sage Nein und schicke ihr dieses Buch auf Station.
5) Ein Cousin dritten Grades bittet Sie (Sie sind Polizist) an Karneval um Ihre Dienstuniform.
A ☐ Ich lasse die Uniform auf seine Maße ändern und stecke heimlich Kamelle ins Waffenholster.
B ☐ Ich sage Nein.
Gut gemacht! Der Vollständigkeit halber zur selbstständigen Überprüfung hier die richtigen Antworten verkehrt herum:
1B, 2B, 3A, 4A, 5B. Ihrer Schwester sollten Sie helfen!
Ebenso wenig geht es darum, dass Sie sich um das Recycling, den TÜV oder die Unterhaltszahlungen für Ihre Kinder drücken sollten. Im Gegenteil könnte es nun sogar eintreten, dass Sie durch konsequentes, aber gezieltes Neinsagen an der richtigen Stelle mehr Kapazität in Ihrem Leben schaffen. Für Menschen, Tiere, Dinge und Ämter, die Ihren Einsatz verdienen! Allen voran für sich selbst, und so dürfen Sie sich nebenbei auch schon mal darüber klar werden, was Sie in der Welt so alles anstellen möchten. Ohne die vielen Gefälligkeiten, Ausnahmen, die Mental Load, die Überstunden, überschüssigen Kilos und den fehlenden Respekt Ihnen und Ihrer Lebenszeit gegenüber. Dafür mit viel Schlaf, Sinn für Kunst, langen Sonnenbädern und jeder Menge Selbstachtung, also einem insgesamt ganz neuen Lebensgefühl. Kurz, über das, was Sie eigentlich wollen in Ihrem Leben! (Sollten Sie an dieser Stelle Probleme haben, etwas zu finden: Es geht um genau die Sachen, die Leute immer erwähnen, wenn man sie auf die Rente anspricht. Die Rente ist das Synonym für: Wenn ich könnte, wie ich wollte, und wäre, wer ich bin, dann würde ich … Und alles wäre ganz anders. Das anders, das nämlich sind Sie. Ihr echtes Ich.)
Möglicherweise werden Sie durch Ihr zukünftig verändertes Verhalten auch die eine oder andere neue und bereichernde Freundschaft schließen, weil Sie nicht mehr auf Menschen anspringen, die Ihnen Aufgaben und Lob erteilen, sondern solche, die nichts von Ihnen wollen – außer Freude an und mit Ihnen zu haben. Im Kino oder beim Schlittschuhlaufen, beim gemeinsamen Kochen oder Lachen, und die Sie zu ihrem Geburtstag einladen, weil sie Ihre Lebenserfahrung schätzen, Ihren Humor und schlicht und ergreifend Ihre puristische Gesellschaft. Folglich Ihr reines Selbst! Das auch eine Vielzahl unbefangener Neins umfasst.
Möglicherweise auch Ihr Ukulele-Spiel, das Sie jetzt erlernen, weil Sie Ihrer Nachbarin neuerdings zumuten, ihre Katze während ihrer zahlreichen Geschäftsreisen in einer professionellen Pension unterzubringen. Ja, solche Sachen dürfen Sie der Welt ab sofort abverlangen! Denn auch falls Sie diese Erfahrung bisher vielleicht noch nie im Leben oder nur selten gemacht haben: Für Zuneigung, Sympathie und sogar Liebe müssen Sie nichts tun! Nur sein. Wer Sie sind. Liebe ist.
Ich kenne Sie aber gut? Na klar, ich bin ja eine von Ihnen! Nur jetzt eben mit Schwert in der Hand und als Nein-Samurai unterwegs. Und so einer werden Sie auch!
Machen Sie mal eine Bestandsaufnahme: Wie viele solcher Menschen, also der puristischen Ukulele-Hörer und Liebhaber Ihres Neins, befinden sich aktuell in Ihrem Umfeld? Wie oft bekommen Sie einen Anruf, eine SMS oder eine E-Mail, vor der Sie nicht zittern müssen, weil sich darin höchstwahrscheinlich nur jemand erkundigt, wie es Ihnen geht? Na?
Unsere Kommunikationsgeräte sind reine Ja-Nein-Kanäle. Und deswegen kommt ihnen hier, als kleiner Abstecher, auch eine besondere Bedeutung zu – denn als qualifizierte Nein-ist-meine Superkraft-Leserin befinden Sie sich heutzutage inmitten eines andauernden Meteoritenhagels aus Anfragen, Anliegen, Anmerkungen und Ansagen, der mit Warp II auf Sie zufliegt.
Früher musste man mit dem Boot übersetzen, einen Tagesritt absolvieren, klingeln, einen Brief schreiben, eine Marke kaufen und zur Post gehen, oder dann anrufen, wenn mutmaßlich jemand zu Hause war, sofern man was wollte. Also nach der Tagesschau oder dem Mittagessen. Und der Sonntag gehörte der Familie. Es gab inoffizielle Ruhezeiten, in denen man voneinander abließ, außer in einem echten Notfall (Auto springt nicht an, ausgesperrt, Milch am Feiertag alle). Für Situationen, in denen eine Fachkraft erforderlich war, suchte man gleich montags eine Firma aus den Gelben Seiten heraus und wartete auf den KVA – per Briefpost, versteht sich. Oder auf den nächsten Besuch von Tante Gerda, um sie bei der Gelegenheit nach dem dunkelblauen Garn zu fragen.
Freuden und Fragen waren im Gleichgewicht und es gab auch immer genug Zeit, um zu reagieren. (Wie gesagt, Timing ist wichtig, denn auch der gewiefteste Neinsager muss erst mal kurz in sich hineinspüren, ob er dieses oder jenes will, und, falls nicht, welches Nein.)
Heute hingegen bleibt nicht einmal mehr Bedenkzeit, um die Einladung zur Unterwasser-Hochzeit von Rüdiger und Petra elegant abzusagen, erkennt man doch schon an unserem Gesichtsausdruck per FaceTime-Einladung die Antwort. Hoch entwickelte Technik ist für fast jeden erschwinglich, ein Überseegespräch kostet, WLAN sei Dank, kein Vermögen mehr und viele Familien sind so zerrüttet, dass kein geruhsamer Sonntagsbraten im selben Landkreis mehr denkbar ist.
Sprich, die meisten unserer gesellschaftlichen wie technischen Begrenzungen von früher sind weggefallen. Und mit ihnen sämtliche Hemmschwellen, wenn es darum geht, einander zu kontaktieren.
Daher müssen Sie welche bauen! Einen Nein-Staudamm.
Heute drückt man einfach die Kurzwahltaste oder macht gleich eine internationale Zoom-Konferenz – und schon ist man mit seinem schlappen Hefeteig, seiner miserablen Verfassung und seiner Langeweile nicht mehr allein. Noch dazu hat sich alles potenziert und beschleunigt. Nur nicht Sie selbst!
Wir Menschen haben uns in den letzten 100 Jahren nämlich nicht mehr nennenswert weiterentwickelt, schon gar nicht exponentiell. (Auch wenn ich Ihnen gerne glaube, dass Sie jetzt fließend Italienisch sprechen.) Als Spezies natürlich schon – als Individuum aber, im esoterisch viel zitierten SchmerzkörperApple