Und wieder sind wir auf einer Party. Käse, Oliven, Rotwein und Grappa, lustige Gespräche mit schwerer Zunge, es wird viel gelacht und geht wild zu!!
Mein Mann Frank und ich, wir schwimmen in unsren Gewässern - Lebenslust, Gesellschaft, Spaß und viele Unternehmungen, das ist unsere Welt.
Wir drehen Motorradtouren, ich als Sozius, sogar den Führerschein will ich auch machen, zeitweise besitzen wir mit einem Führerschein zwei Motorräder…
Aber es geht noch besser. Monatelang läuft Frank nur mit Laptop durch die Gegend und durchschnüffelt in jeder freien Sekunde das Internet nach dem Traum seiner schlaflosen Nächte. Da ich das scheinbar nicht bin, sucht und stöbert er rund um die Uhr und ständig muss ich in den Bildschirm spähen und Kommentare abgeben. Er sucht ein Schnellboot! Er filtert dabei nach Technik, Zustand und Preis und ich filtere nach Platzangebot und Farbe. Wir besichtigen mehrere und im Frühjahr 2006 ist es endlich soweit, fasst platzend vor Stolz zieht er ein riesiges Schnellboot auf den Hof.
Es ist ein monströses Teil und die Attraktion im Viertel und meine persönliche Attraktion ist es auch.
Mit sofortiger Wirkung dreht sich in jeder freien Sekunde alles nur ums Bootfahren… Frank hat den Bootsschein schon, nun erweitert er seine Führerschein-Sammlung um den Seeschein, damit dürfen wir aufs Meer, und ich mache den Binnenschein, für alle Fälle. Wir testen uns durch Saar, Mosel und Rhein und probieren gute Gewässer aus. Ganze Urlaube verbringen wir am Mittelmeer - mitsamt Hund – es sind traumhafte Zeiten. Uns kann es nicht wild genug zugehen.
Wir freuen uns also sehr über die Geburtstags - Einladung und natürlich schlagen wir dort auf, das ist selbstverständlich! An diesem einen Wochenende schaffen wir es, insgesamt drei Geburtstage zu besuchen. Wir waren vor der Party in unserem Dorf noch den Geburtstag meines Vaters hundert Kilometer entfernt feiern. Außerdem wird Franks Oma sonntags 83 Jahre alt, und natürlich wollen wir auch dort noch ein Weinchen schnappen.
Das heißt, wir absolvieren samstags zwei Geburtstage und sonntags noch die Nummer drei. Da quietscht die Galle!
Wir düsen also nach dem Besuch in Trier bei meinem Vater schnell heim, Casperle, unsren Hund, nach Hause bringen und freuen uns schon diebisch auf die Samstagabendparty!!
Es macht wieder mal einen Rieses-Spaß! Wir quatschen hier und quatschen dort, essen viel und trinken noch viel mehr. Es wird spät, der Tag war lang, so verabschieden wir uns am frühen Morgen. Ein anstrengender Party-Samstag geht zu Ende, so müssen sich VIPs fühlen, mit Jet-Lag.
Sonntags feiern wir den Geburtstag der Schwiegeroma mit verkatertem Mittagessen, natürlich Kaffee und Kuchen und natürlich einem Schlückchen Wein, den Rest des Sonntags verbringen wir damit, wie vollgestopfte Würgeschlangen einfach nur zu verdauen…Wir liegen auf der Couch und bewegen uns nicht, wir verdauen nur und ruhen.
Solche Wochenenden sind bei uns selten, aber nicht ungewöhnlich. Bei uns geht es manchmal richtig rund.
Wer feiern kann, kann auch arbeiten, so geht montags der Alltag wieder los, Arbeiten, Haushalt, Training, Hund, Training mit Hund und Freundschaften pflegen…
Hobbys, Interessen und Freunde haben wir jede Menge, manchmal ist uns beiden der Tag zu kurz! Jeder von uns beiden pflegt seine Hobbys mit viel Herzblut, auch zusammen wissen wir sehr wohl, wie man die Welt aus den Angeln hebt.
Es ist Sommer, die Sommerferien neigen sich dem Ende zu, das heißt wir Kinderlosen sind mit unserem Jahresurlaub an der Reihe, er will wieder geplant werden, wir haben noch wahnsinnig viel vor!
So reiht sich dieses Wochenende an all die andren, an denen uns die Welt zu klein ist, um unsren Tatendrang zu stillen.
Am nächsten Morgen geht’s mir schlecht… aber anders schlecht… unbeschreibliche Bauchschmerzen plagen mich…
So schlecht ging’s mir noch nie! Ich kann nicht mehr richtig atmen, krümme mich, versuche noch meinen Morgen-Spaziergang mit dem Hund, weit komm ich nicht…
Die Galle, denke ich, ich rufe meine Freundin an, Ihr Mann ist ein Gallenkandidat, sie arbeitet in einer Apotheke, hat schon so manches gesehen, na ja, die Schmerzen sollen affig sein… Gallenkolik, kann schon sein…
Ich rufe meinen Mann auf der Arbeit an: "So ein Mist, Ich kann nicht mehr laufen", stöhne ich, "So ein Scheiß, ich hab meiner Galle die Lichter ausgeblasen, fürchte ich….".
Tränen kullern mir über die Wangen…"Kannst Du mich zum Arzt fahren?? Ich kann, glaub ich, die Kupplung nicht mehr treten.“.
Aufgeregt kommt mein Mann angefahren, "Was’n los?", fragt er, "Komm steig ein!", und los geht’s zum nächsten Hausarzt…Tausend Dinge schießen mir durch den Kopf, was kann das wohl sein?
Nachdem ich mich anmelde und mein Kärtchen zücke, schleiche ich noch schnell in den Hausflur, um dort in Ruhe telefonieren zu können. Ich muss mich noch im Büro abmelden oder zumindest Bescheid geben, dass ich etwas später komme. Das ist mir ganz wichtig. Schnell rufe ich im Büro an: „Ich muss zum Arzt, ich rufe später an, du machst das schon!", tröste ich die Kollegin und humple die Treppe wieder rauf zur Praxis.
Eine Nachbarin treffe ich auch noch im Wartezimmer. "Jaja, die Galle, das tut weh, raus damit, dann haste Ruh…", muntert sie mich auf, "Ja…“, japse ich… "Schade eigentlich, wir haben uns gerade angefreundet", grinse ich, dann krümme ich mich wieder… Maria hilf!!
Dann schießt mir noch etwa siedend heiß in den Kopf. Eigentlich erwarte ich den Besuch meines Bruders. Wir hatten uns ja am Wochenende in Trier getroffen und da er im Moment Urlaub hat, war schnell ausgemacht, dass er uns besuchen kommt! Und da freue ich mich natürlich wie Bolle drüber!! Dann ist mein Schwächeln ja jetzt zeitlich gesehen echt Kacke! "Und Markus??", frage ich. Er wohnt 600km entfernt und seine Besuche sind selten und etwas ganz Besonderes. Ich freue mich wahnsinnig auf den Besuch des großen Bruders, und umso enttäuschter bin ich von mir selber, dass ich jetzt hier in einem miesen Wartezimmer sitzen muss, weil ich wieder irgendetwas hab. Es nutzt nichts, die Angelegenheit mit Markus, das müssen wir leider später klären…
Unglücklicherweise kann der Arzt mit seinem antiquarischen Ultraschallgerät nicht viel erkennen. Mir ist sowieso schleierhaft, wie man da differenzieren kann, mit verdrehtem Kopf und kaltem Froschlaich auf dem Bauch versuche ich, auf dem Achtziger-Jahre-Bildschirm etwas zu erkennen.
Ich kann nur sehen, und er auch: ‚Ja - da ist eine Galle.‘.
So werde ich mangels Erkenntnis zu weiteren Untersuchungen überwiesen in das nächste Krankenhaus, wo wir auch gleich hin fahren - das hier war der letzte Besuch in seiner Praxis….
Und das hier war erst der Anfang der Geschichte von der Galle und dem Grappa.
Im kleinen Kreiskrankenhaus werde ich sehr sehr nett empfangen. Ich sitze auf einen Drahtbank im Warteraum und eine junge freundliche Ärztin hockt vor mir und schaut mich treuherzig an.
Bei dem von mir geschilderten Anfangsverdacht kündigt sie mir an, dass sie mich von der Abteilung Innere erst einmal an die Chirurgie übergebe. Im Zweifelsfalle kommen die Mitarbeiter dort dann auf sie zurück, falls ich doch ein Patient für die Innere sei. Auf jeden Fall wünscht sie mir alles Gute und streichelt mir über den Arm.
Dass wir uns bald wieder sehen werden, hofft wohl wirklich keine von uns beiden.
Der aufnehmende Chirurg zweifelt ziemlich schnell an meinem Verdacht und wird immer stiller. Ich liege auf einer Pritsche hinter einem Vorhang, mein Mann steht nervös hinter dem Arzt und schaut verzweifelt. Wieder glitscht Froschlaich auf meinem Bauch, routiniert fährt der Arzt hoch und runter, drückt hier und da und brummt. Schwestern mit Gesundheitslatschen laufen durch den Raum. Er ruft seinen Chefarzt zur Rate, der glitscht dann auch. Gesprächiger werden sie nicht, nur unruhiger… Mein Humor löst sich gerade in Luft auf…Das kommt mir jetzt doch alles verdächtig vor.
Dafür werden die Ärzte immer mehr…Noch ein Arzt, von der Inneren, wie prophezeit. Dann noch dessen Chefarzt. Die Stimmung wird immer frostiger…Die Galle ist es wohl nicht.
Dann geht alles ganz schnell… Stationär, Schmerzmittel, Bluttests, Untersuchungen, Roggenmischbrot mit Käse und Tee. Es ist der 16.08.2010.
Die Ungewissheit, das Nichtverstehen der Situation, das Begreifen der drohenden Katastrophe zerfressen mich und unsere ganzes Umfeld. Wie geplant kommt mein Bruder Markus bei mir, leider halt im Krankenhaus, vorbei, sein so herbeigewünschter Besuch steht unter so schlechtem Stern.
Um die Anspannung etwas zu lindern, bitte ich den mich behandelnden Arzt, mich nicht noch unnötig zu quälen. Mit der Ungewissheit leben zu müssen, ist für mich schlimmer, als seinen Gedankengängen zu folgen und somit die Untersuchungen und Schlussfolgerungen besser zu verstehen. "Bitte schweigen Sie nicht drei Tage und lassen dann eine Bombe platzen!", bitte ich ihn. "Ich kann mit Problemen umgehen, aber die Ungewissheit ist für mich Folter.". Ich bin hier irgendwie im falschen Film. Ich weiß nur, hier läuft war ganz schön schief.
Schweren Herzens verrät er mir mit leiser Stimme seinen Verdacht. "Leberentzündung, Zirrhose, Amöbe oder Krebs…", haucht er.
Ich bin platt. Das Ausmaß dämmert mir so langsam… Der Spaß ist vorbei - jetzt wird es ernst.
Von den Schwestern bekomme ich Lorazepam, Beruhigungsmittel. Ich kenne die Tabletten, denn sie brachten mich schon einmal trotz fürchterlicher Flugangst heil in den Türkei-Urlaub und zurück. Sie sind eine Wunderwaffe und dämpfen die mich aufzufressen drohende Angst ein wenig. Sie können den Kloß im Hals und die Ameisen im Bauch ein wenig in Schach halten. Leider halten sie auch meine Aufnahmefähigkeit und mein Gehirn ganz schön in Schach.
18.08.2010.
Ich erfahre die Diagnose.
"Das Schlimmste, was wir befürchtet hatten. Es ist Krebs".
"Scheiße!", sage ich, "Ich hab gehofft, es sei die Amöbe. Das wäre wenigstens witzig gewesen…!". Meine Stimme versagt.
"Ja", antwortet er, "das hab ich auch gehofft, wir zwei wären in die Zeitung gekommen, das hatten wir hier noch nie…!". Seine Stimme wackelt. Sein Kinn zittert. Er sitzt auf meinem Bett und knetet die Hände… "Wissen Sie, Sie sind nur 6 Jahre jünger als ich…".
Ich heule. Mein Mann heult. Der Arzt heult.
Ich verbringe noch fast zwei Wochen im Krankenhaus, die Suche nach dem Primärtumor bleibt erfolglos.
Nur eins ist klar, die Leber ist voll Metastasen. Voll. Wie eine Traubendolde in Leberform. Und ich war noch so munter gewesen drei Tage vorher. War Stadtläufe mitgelaufen. Klettern gewesen. Fit wie ein Wiesel. Munter und gut gelaunt. Mit einem Schlag wird mein ganzes Leben in Frage gestellt. Mit einem Schlag stehe ich vor einem übermächtigen Gegner, den ich noch nicht einmal kenne. Alles um mich herum weint, versucht, mit der Situation klar zu kommen, mir bleibt keine Luft mehr zum Atmen, ich habe einen mächtigen Stein im Magen, meine ganze Kraft, Tatendrang und Frohsinn sind verpufft, mein Leben fällt in sich zusammen wie ein Soufflé.
Ich rufe meine Freundin Rosemarie in der Apotheke an, sie ist eine feste Säule in meinem Leben. Zwanzig Jahre älter als ich strahlt sie die nötige Ruhe und Besonnenheit aus, die ich in so mancher Situation einfach nicht auf dem Zettel habe. Ihr medizinisches Knowhow und ihre Erfahrung sollen mir noch öfter helfen, als wir beide uns jemals ausgemalt hatten. Sie bleibt mir eine tapfere und engagierte Freundin, die so manchen Kloß im Hals runterschluckt, wenn ich wieder in besonders miesem Zustand bin.
Ich rufe sie in jedem Fall an, brauche dringend Hilfe, Stärkung, Rat. Sie ist völlig überrumpelt und überfordert. Ungläubigkeit und Schock lassen sie erstarren, ihre Sprache geht verloren. Stille am Telefon.
Schluchzen.
Jeder versucht für sich, damit klarzukommen.
Ich erinnere mich an nicht mehr viel. Der Arzt und seine junge Assistentin sind sehr sehr bemüht. Ich erinnere mich an die überaus liebe und verantwortungsvolle Art. Die Gesichter sind gelöscht.
Schmerzmittel, Beruhigungsmittel, Morphium. Mein Hirn ist ein Schwamm. Und erholt sich bis heute nicht.
Mein Mann zerbricht. An der Last. Am übergroßen Gegner. Am Ungewissen.
Wieso läuft die Leber überhaupt noch?? Das kann alles so nicht sein. Wo ist der Scheiß-Haupttumor? Hatten sie denn echt nicht geirrt??
Das Morphium tut seinen Dienst. Nichts funktioniert mehr… Mein Gehirn ist wie gelähmt. Nur noch das Brech-Zentrum läuft, und das auf Knopfdruck.
Innerhalb von zwei Wochen verliere ich 10kg, ich sehe aus wie ein Storch im Salat, wackele vor mich hin.
Jede Nahrungsaufnahme wird zur Zeitbombe, mein Radius ums Bad wird immer kleiner…Mein Zustand ist desolat.
Am Wochenende darf ich zum Glück nach Haus. In unseren Garten… Zu meinem Hund. Luft schnappen. Kraft tanken.
Leider rutsche ich dort vom Stuhl und sacke zusammen. Beim Quatschen schlafe ich einfach ein und rutsche vom Stuhl. Erst läuft die Platte immer langsamer, dann lalle ich komplett, dann Stille, dann rumms - weg! Da staunen sie nicht schlecht, meine Freundin Chrissi, die selbst Arzthelferin ist, und mein Mann.
An Schlafittchen schleppt mein Mann mich ins Auto, schwer bin ich ja nun nicht mehr.
Er meldet uns hysterisch im Krankenhaus an, dort kommen sie uns mit dem Rollstuhl und betretenen Gesichtern entgegen gelaufen. Leider war das Beruhigungsmittel etwas zu hoch dosiert. Fünffach so hoch sozusagen.
Ich schlafe wie ins Koma gefallen und bekomme das Tänzchen meines Mannes leider nicht mit…
Wir sollten noch öfter Anlass zu Tänzchen bekommen, das ahnen wir zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht.
So ist mein Wochenende zuhause vorerst vorbei. Zurück zu Roggenmischbrot mit Käse.
Futtertechnisch ist es ohnehin egal, es bleibt ja eh nichts in mir drin.
Sonntags ist der Geburtstag meiner Schwiegermutter, wir sitzen alle um den Kaffeetisch. Jeder versucht für sich, mit mir klarzukommen. Es ist wohl die schrecklichste Geburtstagsfeier der gesamten Nordhalbkugel. Ich benommen, alle beklommen…
Mein Bruder Markus kommt mich noch einmal besuchen, er bringt unsere Mutter aus Trier mit. Sie begreift den Ernst der Lage überhaupt nicht, bis heute, sitzt genervt vor meinem Bett und spielt sich an Ihren Goldringen. Ich glaub, sie will einfach heim in ihr winziges Universum, für sie ist Trier eine Scheibe. “Du bist ja in guten Händen.“, sagt sie. Es wird ihr einziger Besuch bei mir bleiben. Bis heute. Meine Schwiegermutter bricht bei diesem Spruch in Tränen aus. Die Angst und Hoffnungslosigkeit sieht man in ihren Augen.
Wie konträr die beiden doch sind.
An manchem Tagen im Krankenhaus werde ich mehreren Untersuchungen unterzogen, ich habe ein richtiges Programm.
Allein die Vorbereitungen für so manche Untersuchung sind an sich schon äußerst spektakulär. Zur Darmspiegelung soll ich Unmengen abführender Salzlösung trinken. Ich bin zwar ein guter Wassertrinker und schaffe bequem vier Liter am Tag, aber dies hier sprengte tatsächlich mein Aufnahme-Volumen. Der Geschmack ist… grauenhaft…
Mit Orangenaroma versetztes Thunfisch-Wasser. Kein Wunder, dass mein Körper das so schnell wie möglich wieder loswerden will. Woher mein Magen die Fließrichtung allerdings kennt, weiß ich bis heute nicht, es scheint aber auf jeden Fall zu funktionieren, denn würgen muss ich irgendwie nicht. In möglich großen Schlucken leere ich eine dieser Flaschen nach der andren… Natürlich verfehlen sie ihr Ziel nicht, so wackele ich alle paar Minuten mehr oder weniger hektisch vom Fenster-Bett zum Bad… ich habe absolut meine Beschäftigung und meine Zimmernachbarinnen ihr Entertainment.
Keiner meiner Gänge bleibt unkommentiert.
Der letzte Schluck aber will und will nicht runter… ich fühle mich an, wie eine dicke pralle warme Wärmflasche und gluckere auch so…. ’
Was sein muss, muss sein’, denke ich mir aber und setze ein letztes Mal an. Der letzte, mühevoll runtergewürgte Schluck ist aber eindeutig zu viel, er bringt das Fass, quasi mich, zum Überlaufen….
Die herbei geklingelte Schwester lässt mein Malheur in der Tat kalt. "Die wenigsten Patienten in der Darmspiegelungsvorbereitung", schüttelt sie den Kopf, "schaffen die ganzen 2 Liter", philosophiert sie.
„Die Verpackungseinheiten sind halt nun einmal literweise.“.
Na Mahlzeit!!
"Danke!", entfährt es mir, zu mehr war mein Hirn nicht fähig. Wahrscheinlich drückte die viele Flüssigkeit auch noch aufs Hirn…
Das hätte sie ja mal früher sagen können…
Der Oberarzt fährt mich diesmal selbst zur Untersuchung, es liegt ihm wohl sehr am Herzen, keine Zeit zu verlieren.
Ist der Tumor also im Darm? Sollte dies der Fall sein, muss sofort meine Familie informiert werde, heißt es, besonders die männlichen Mitglieder sind gefährdet.
Eine liebe Krankenschwester nimmt mich in Empfang. Sie hält meine Hand und tröstet mich, auch als ich kurz aufwache, schaue ich gleich über Kopf in ihr Gesicht… Nur ein kurzer Augenblick, dann wird die Anästhesie nachgeladen, die Untersuchung dauert sehr lange.
Auch Magen, gynäkologisch, Brust, alles wird untersucht. Nichts.
Dann kommt die Leberbiopsie…. Ich werde ins Erdgeschoss gefahren, immer dabei ein Taschentuch, ständig muss ich würgen und heulen, ständig diese Ameisen im Bauch, ständige Angst.
Es ist wieder dieselbe junge Krankenschwester, die mich in Empfang nimmt, "Gott sei Dank", seufze ich, "Sie sind da!". Ihre beruhigende Art ist wie Balsam bei der ganzen Schwere…. Sie verrichtet die Vorbereitungen, dann kommt sie zum mir und hält wieder meine Hand.
Der Arzt schildert mir kurz die geplante Vorgehensweise - ich schlucke schwer, ich hab so Schiss, es klingt gruselig, aber da muss ich jetzt durch. Irgendwie muss ja das Geheimnis meiner Krebsart gelüftet werden, mir bleibt nichts anderes übrig.
Während er schildert und ich mir phantasievoll wie in einem Alien-Film das Vorgehen vorstelle, pinseln sie mich brathähnchen-orange ein, der komplette Bauch wird großflächig desinfiziert. Ich bin kurz vor Explosion vor Anspannung, höre mein Blut in den Ohren rauschen…Die örtliche Betäubung der Haut ist ein Scheiß gegen das, was kommen sollte… Ich muss die Luft anhalten, ultraschallkontrolliert piekst er mit einer wahnsinnig großen Sonde in meine Bauchdecke… Ich fasse kaum, was ich da sehe.
Er steckt mir ein Stahlrohr in den Bauch!
Da gehört zu medizinischem Wissensdurst und Tatendrang doch auch etwas Sadismus dazu, da bin ich mir vollkommen sicher. ‚Ach du Scheiße’, schießt es mir durch den Kopf, ich könnte heulen vor Angst. Das tue ich dann auch.
Er warnt mich kurz vor, dann klackt es, es gibt einen unbeschreiblichen Schmerz.
So muss sich eine Schussverletzung im wilden Westen anfühlen, 'der beißt ein Stück Wirbelsäule ab, der Sack', denke ich noch und konzentriere mich.
Kaum zu glauben, dass ich mit meiner unbeschreiblich ausufernden, peinlichen Prüfungsangst als Jugendliche Wettkämpfe bestritten hatte. Langstreckenschwimmerin war ich, mehr schlecht als recht, Kreisliga, manchmal Landesliga. Musste vor jedem Start noch zehnmal zum Klo, trockener Hals, hysterisch gelacht, nicht mehr zurechnungsfähig bis zum Startschuss. Der Start war wie eine Explosion und eine Befreiung meiner Kräfte. Unerklärlich war’s mir immer. Ich spulte immer mein Programm ab, biss die Zähne zusammen, kämpfte unnachgiebig. 10:32 min., das war meine schnellste Zeit über 800 m Freistil, 10 min. höchste Konzentration bis zum Ziel.
So erinnere ich mich an die längst vergessenen Bilder, 20 Jahre war das her. Wie auf super8, mit rasselndem Hintergrund und wackligen Bildern auf miefender Leinwand lasse ich den Film laufen.
Nervös, Startschuss, kämpfen wie ein Killer, nach dem Anschlag an der Wand durchatmen, überstanden haben, abhaken. Stolz sein.
Mit diesen Bildern vor Augen habe ich den Biss, die unbeschreiblichen Schmerzen bei der Leberbiopsie auszuhalten. Brav atme ich ein, brav spanne ich den Bauch, lausche mit geschlossenen Augen dem Gemurmel, "Achtung, nicht zucken!“, gibt er Anweisung, ich gehorche, sehe mich schwimmen um mein Leben, noch eine Bahn und noch eine. 10:32 ist die magische Zahl. Nach der zweiten Biopsie bin ich schweißgebadet. Quasi nass wie nach dem Schwimmen. Die liebe Schwester tupft mein Gesicht ab. Ich glaube, ich werde ohnmächtig vor Schmerzen.
Der medizinische Sadist gönnt mir eine kleine Pause.
Ich schnappe noch einmal Luft und spanne mich noch einmal an, noch ein letztes Stückchen zwickt er ab von meiner Wirbelsäule, so fühlt es sich zumindest an, dann werde ich verbunden, versorgt und aufs Zimmer gebracht. Dort liege ich dann den ganzen Tag flach in meinem Bett. Orange und unbeweglich wie ein Brathähnchen auf einem Teller, fehlten nur noch Pommes und Salat.
Ich kann mich vor Schmerzen noch nicht einmal einen Millimeter bewegen, habe meine erste spannende Begegnung mit der Bettpfanne, eine Herausforderung an die Körperbeherrschung. Was ist aus mir geworden. Eine Mumie.
Leider ist unsere Mühe umsonst. Die Biopsie kann das Geheimnis nicht lüften, welcher Krebs sich da in meinem schönen Körper breit gemacht hat. So sind wir an unsere Grenzen geraten.
Mit lieben Worten und tränenüberströmt entlässt mich die junge Ärztin, ich werde in ein anderes Krankenhaus verlegt, der Primärtumor ist nicht gefunden worden. Weiterführende Untersuchungen sollen Klarheit bringen, erst dann kann mit Chemo begonnen werden, erklärt sie mir, vor mir hockend. Sie ringt mit den Worten und Tränen. Ich schlucke schwer. Chemo. Kenne ich nur aus dem Fernsehen. Ausgemergelte Körper in Betten gefesselt, blass mit tiefliegenden Augen, haarlos und schwach. Wie Nosferatu im Nachthemd. Tränen kullern.
Die werden später noch in Strömen fließen.
Erst einmal aber habe ich die Sache als Wärmflasche und Brathähnchen überstanden.
Dieses Krankenhaus ist ein riesiger Komplex. An einem Dienstag fährt Frank mit mir in eines der unzähligen Gebäude. Ich erwische wahrscheinlich das geschichtsträchtigste, düster, Rohrleitung auf dem Putz, Bad auf dem Gang, wahnsinnig hohe Decken, Linolgeruch in der Luft. Die Filmkulisse für einen Nachkriegsfilm. Ein dicker Kloß steckt in meinem Hals, ich bin in der Vorhölle gelandet… Tränen laufen und laufen. Ich bin ein Zimmerbrunnen.
Ich teile mir das Zimmer mit einer älteren Dame, und einer jungen sehr schwachen sehr dünnen Frau.
Mir geht es saumäßig beschissen. Ich muss ständig brechen durch das verabreichte Morphium, das Bad ist auf dem Gang und ich bin nicht gut zu Fuß – phantastisch!
Eine junge Ärztin tritt vor mein Bett, in dem ich mit angezogenen Beinen kauere. Der Kittel flattert, ihr Stethoskop baumelt an ihrem Hals.
Sie wirkt äußerst geschäftig und energisch, noch schöpfe ich keinerlei Verdacht.
Sie stellt sich mir kurz mit einem halbherzigen Lächeln vor und reicht mir eine kalte schlappe Fisch-Hand. Das kann ich nicht leiden, irgendwie ist für mich so ein schlapper Händedruck aussagekräftiger als tausend Worte. Die Aufnahmeuntersuchung will sie bei mir durchführen, aha. Da bin ich ja mal gespannt, jeden Tag etwas Neues. Sie faltet mich gebieterisch auseinander und lässt mich meinen Körper lang ausstrecken. Ich beiße die Zähne zusammen und warte auf das, was passiert…
Was dann folgt, hätte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt. Um meinen Bauch abzutasten, stemmt sie sich beherzt auf meinen Oberbauch! Ich stöhne laut auf und klapp mich aus Reflex zusammen, spinnt die etwa??
Mit hundertprozentiger Treffsicherheit hat sie mir genau auf die Leber gedrückt, die Irre… „Was machen Sie denn da?“, schnappe ich und lange nach ihrer Hand. Das macht sie nicht nochmal!! „Ich muss sie untersuchen!“, empört sie sich mit rotem Kopf und reißt ihre Hand los.
„Aber nicht so“, ich richte mich auf, so gut es geht, „ich hab die Leber voller Metastasen und die Hülle entzündet, wie stellen Sie sich das vor? Lesen Sie überhaupt die Akte??“. Ich niete sie um!
Mir drückt dieses unvorbereitete Geschöpf nicht mehr auf meinem Bauch rum, kaum zu fassen… Ich erdolche sie mit Blicken, sie trollt sich beleidigt, zum Glück. Mein Bauch tut weh.
Die ältere Dame ist gar keine Dame, stellt sich schnell heraus, sie erzählt uns munter, dass sie nur über Schwindel klagt, damit sie da bleiben darf. Zuhause ist man allein und es ist langweilig. Aha.
Sie schreckt auch vor Benutzung des Toilettenstuhls im Zimmer nicht zurück, um dem Ganzen Nachdruck zu verleihen. Das ist zu viel für mich, ich streite mich mit ihr. Es sei keine Schwester rechtzeitig gekommen, schnappt sie mich an und schaut triumphierend – sie hat überhaupt nicht geklingelt!!
Im Minutentakt muss ich ins Bad. Das Morphium verursacht bei mir nichts als Brechreiz. Das Morphium, die Umstände, die Umgebung.
Wie soll man denn hier, bitte sehr, gesund werden??
Die düstere Atmosphäre der Klinik hat mich fest im Griff.
Nachdem ich als Vorbereitung für eine Untersuchung den ganzen Tag nichts zu essen bekommen habe, stellt sich gegen fünf Uhr abends endlich etwas heraus. Leider, dass keine Untersuchung mehr stattfinden solle. Alles schon in den Feierabend entfleucht.
Mein Mann führt einen wohl sehr beeindruckenden Tanz im Arztzimmer auf, man hört ihn über den ganzen Flur. Das liegt sicher auch an der ausgeklügelten Akustik der Räumlichkeiten, in hohen Räumen entwickelt sich wohl ein imponierender Schall!
Ich bekomme endlich etwas zu essen, lange bleibt es allerdings nicht bei mir, ich torkele über den Gang ins Bad. Danke, Morphium.
Chrissi erfährt von meiner Odyssee und lässt sofort die Muskeln spielen. Von Ihrem Urlaub aus informiert sie aufgeregt einen Arzt ihrer Station und bittet ihn eindringlich, nach mir zu schauen. Das tut er auch. Obwohl ich nicht zu seiner Station gehöre, sucht er uns auf und macht sich ein Bild von meinem Zustand. Ich bin nicht der erste schwerkranke Patient, den er sieht, er arbeitet auf der Onkologie, in seinem Verhalten kann ich aber Bestürzung und Mitgefühl spüren. Vielleicht bin ich bei ihm besser unter. Ich weiß es nicht, bin vollkommen betäubt wie ein Kaninchen nach dem Fangschlag. Schlapp und müde. Kann das Geschehen nicht bewerten und beeinflussen, bloß geschehen lassen.
Am dritten Tag meines Aufenthaltes wird endlich die längst herbeigesehnte PET-Untersuchung durchgeführt. Da Entzündungen, Tumore und Metastasen einen höheren Wert an Zucker verstoffwechseln, wird mir radioaktive Zuckerlösung gespritzt. Bei der Darstellung später werden die Bündelungen des Traubenzuckers, Entzündungen und Krebszellen, leuchten.
An die Kanülen und Nadeln bin ich inzwischen gewöhnt, ich bekomme ja Flüssigkeit intravenös, dazu das ein oder andere Mittelchen, um meinen ausgemergelten Körper ein bisschen bei Laune zu halten. Mich schockieren die Spritzen längst nicht mehr.
In einem Bett dick eingepackt werde ich in ein Séparée geschoben, hier soll ich eine halbe Ewigkeit warten, damit alles verstoffwechselt werden kann. Meine Kräfte schwinden, gehen eine rauchen oder so was, auf jeden Fall, da es nichts Spannendes zu verpassen gibt, schlafe ich ein.
Die Untersuchung selbst ist unspektakulär, ich bin vollkommen zugedröhnt mit Beruhigungsmitteln und Morphium. Ich komme mit dem klinikinternen Krankentransport zurück aufs Zimmer und erwarte das Ergebnis.
Frank und ich dürfen zusammen dem jungen, enthusiastischen Arzt über die Schulter schauen. Auf dem Bildschirm sieht man die Schattenumrisse meines Körpers, bis zum Kinn. Der Schädel ist auf der Abbildung ausgelassen, in der Hirnmasse funktioniert diese Art der Abbildung nicht, sie wäre komplett leuchtend.
Strahlend sieht man meine Leber, klar abgegrenzt! Hell und blendend. Lückenlos. Außerdem einen hellen Punkt in meiner Achsel. „Nur ne Entzündung“, erklärt er knapp und tippt auf den Punkt. Er wischt alle Bedenken weg, der Punkt ist unwichtig.
„Ihre Frau hat’s schwer erwischt“, erklärt er meinem Mann, „richten Sie sich schon mal auf einen Single-Haushalt ein, Ihre Frau wird nicht mehr alt, vielleicht noch drei Monate“.
Ich gefriere.
Wie jetzt?? Ich sollte nur noch einmal Pilze sammeln gehen und noch einmal Weihnachtskekse backen?? Hat der sie noch alle?
Fassungslos starren wir ihn an. Mein Hals ist plötzlich innen wie paniert – ich würge, mein Mann würgt. Drei Monate?
Das kann jawohl alles nicht sein. Dem werd ich‘s zeigen! Ich dreh mich rum und geh.
Zurück im trostlosen Zimmer, in der trostlosen Klinik schaue ich trostlos aus dem Fenster. Ich weine, mein Mann weint. Meine Zimmernachbarin geht eine rauchen.
Wie kann das sein, dass mein stinknormales Leben jetzt plötzlich ohne Vorwarnung in drei Monaten vorbei sein soll?
Ich soll nun in Siechtum und Elend enden?
Eine frisch von der Uni gestolperte Ökotrophologin kommt mich etwas später nervös besuchen. Ich wiege nur noch 47kg und da ich kein Topmodel bin, sondern in Schwierigkeiten stecke, ist das keine gute Ausgangsposition für die angedachte Behandlung. Mit Mappe und Kuli bewaffnet, versucht sie, ein Gespräch zu führen. Sie klammert sich an Mappe und Kuli fest, wie an Mamas Hand vor dem Löwengehege. Wie ein Kind beim Laufen lernen, dem der Kochlöffel Halt gibt…
Wunderbare Produkte gibt es, Joghurt, besonders bekömmlich und gut verträglich, und hier eine Broschüre, schön bunt und ansprechend. „Wie stellen Sie sich das vor?“, keift mein Mann. „Das nutzt doch alles nichts mit der Esserei, meine Frau behält doch nichts bei sich! Sie verkotzt doch hier die ganze Bude!!“, und zeigt mit ausgestrecktem Finger auf mich. Er schmeißt sie raus. Sie trollt sich.
Unsere Beliebtheit sinkt so langsam in den bedenklichen Bereich.
Aber wer hat es jetzt wohl schlimmer?
Ich bin ja wohl hier das arme Opfer in der Kammer des Schreckens und ich will hier nur noch weg. Der Arzt organisiert einen OP-Termin für den Port, schon für den nächsten Tag.es hilft alles nichts, ich will hier weg!
Der liebe Onkologe arbeitet übrigens heute nicht mehr in der Klinik. Das herzlose Getue dort war wohl auch nichts für ihn!
Meine ersten Ohrringe bekam ich mit fünf. Meine Mutter war vehement dagegen, sie selbst hatte noch nie Ohrlöcher gehabt und trug nur Clips. Dahinter war mein Vater auch nie gekommen, er schenkte ihr einmal wunderhübsche Perlen-Stecker. Mangels Mut meiner Mutter gingen sie an meine Schwester weiter, meine Mutter blieb bei Clips.
Als ich fünf war, ging ich einmal mit unserer Tante durch die Stadt, ich weiß nicht mehr, wie es sich genau zutrug, in jedem Fall bekam ich an diesem sonnigen Tag meine ersten Ohrlöcher geschossen mit golden aussehenden Steckern.
Das verursachte zwar einen riesigen Streit zwischen meiner Tante und meiner Mutter, aber was ich hatte, hatte ich und fertig. Ich war stolz.
Mit zwölf bekam ich zwei weitere Ohrlöcher dazu, mit größter Hingabe suchte ich immer neuen Schmuck, bastelte ihn zum Teil selbst aus Silberdraht und fand mich phantastisch mit dieser Extravaganz.
Als Teenager stach ich mir im Erdkunde-Unterricht noch weitere, das ging ganz gut, mit ein bisschen Konzentration und gutem Willen. Ich piekste einfach mit dem Stech-Ohrring aus Kindertagen die Position an, dass er wenigstens von selbst stecken blieb. Das war immer nur ein winziges, harmloses Loch. Dann drehte ich die Hand, so dass Zeige- und Mittelfinger hinter dem Ohrloch Halt gaben, mit dem Daumen drückte ich von vorn dann zu, dass der Dorn zwischen meinen beiden Fingern durchploppte. Flügelchen hintendrauf – fertig.
So hatte ich einmal im Schuljahr ein knallrotes Ohr, dafür immer mehr Ohrlöcher.
Die letzten Ohrlöcher hießen dann irgendwann Piercings, ich hatte dann insgesamt vierzehn, später allesamt mit Piercing-Schmuck, den verlor man nicht so schnell, er war schließlich zum Schrauben.
In meiner Schwimm-Laufbahn hatte ich sicher eine Hand voll Ohrringe schon verloren, dass sollte mir nicht mehr passieren, es saß alles bombenfest.
Zu guter Letzt ließ ich mir noch am Brustbein einen Dermal Anchor setzen, mein ganzer Stolz. Es glitzerte eine Handbreit unter meinem Hals, ich wurde ständig darauf angesprochen.
Wiederbestellt ins Krankenhaus soll ich endlich den für die Chemo notwendigen Port gesetzt bekommen. Wieder dreht sich in meinem Kopf wilde Bilder aus Alien-Filmen, gab es nicht einen Schweizer Künstler, dessen Bilder ähnlich thematisiert waren? Ich sehe Bilder von Androiden, halb Mensch, halb Maschine, versteckte Drähten und Kabel, Titangelenke, Computersteuerungen. Mich plagen die gruseligsten Vorstellungen, meine Phantasie lässt nichts aus, ich will dieses Dings einfach nicht haben! Mir wird der Sinn des Ports schlüssig erklärt. Da die Chemogaben ätzend sind und damit meine Venen beschädigt werden, wird der Port empfohlen, er ist ein Titangehäuse mit Silikonmembran zum Einstechen und mit Schlauch bis einen Finger breit vors Herz. Dort kann die Chemo dann gleich verdünnt und in den ganzen Körper gepumpt werden, ohne die Venen zu schädigen. Praktisch, aber eklig!
Ich werde in den Vorbereitungsraum der Chirurgie geschoben, dort warte ich nervös auf meine Operation.
Eine junge Schwester kommt zu mir, sie trägt eine wirklich hübsche und bunte OP-Mütze, ‚So was werde ich später auch tragen, wenn meine Haare weg sind’, denke ich und sinniere, wo man so was wohl bekommt… Sie aber reißt mich aus meinen Haar-Gedanken und lenkt forsch meine Aufmerksamkeit auf meine Piercings.
An die hätte ich als letztes gedacht, sie waren über dreißig Jahre mit mir zusammen gewachsen, waren ein Teil von mir und zwar der eindeutig glitzerndste! Ich denke nicht viel über sie nach. Jetzt aber stehen sie im Mittelpunkt, denn sie sollen raus!
„Äh, das dauert aber, die sind alle zum Schrauben.“. Ich liege auf dem Rücken und schaue quer in ihr Gesicht. Sie nickt stumm und schüttelt vor meiner Nase mit einem Gebiss-Tütchen. „Alle hier rein, Sie bekommen sie später mit aufs Zimmer.“, sie schaut mich von oben an und wartet. Also fange ich grummelnd an, den Schmuck nach und nach auszuziehen und in das Tütchen zu stecken. Als ich fertig bin und ich wieder im Bett zusammensacke, fällt mir siedend heiß mein Dermal Anchor ein. Mit dem braucht sie mir nicht zu kommen, es kann nicht einfach ausgezogen werden, muss mit einem Skalpell entfernt werden!!! Das wäre ja wohl die Höhe, es kann ja jetzt nicht die Welt untergehen wegen einer beknackten Titanschraube?!
Ich schlucke und richte mich seelisch auf eine kleine Diskussion ein.
„Das hier“, ich ziehe die Decke runter, „kann ich aber nicht ausziehen!“. Sie schaut erst mich kurz an und dann die Brauen hoch. Neugierig senkt sie den Kopf auf mein Brustbein, um das Korpus Delikti genauer zu betrachten. Ihr Erstaunen ist nicht zu übersehen, hält aber nur kurz an.
„Achso, nee, dann operieren wir anders, dann hätten Sie die andren auch anbehalten können.“, bemerkt sie lapidar. Ich bekomme eine Krise! Kaum zu glauben, hätte ich das Glitzersteinchen doch bloß vorher gezeigt!
In diesem Moment aber habe ich Größeres vor, als mich darüber aufzuregen, die Angst vor der Operation erstickt meine Wut im Keim.
Ich darf sie gleich nach der OP wieder anziehen, leider klappt das bei einem nicht mehr, er war schon immer mein Problemfall gewesen, ihn trage ich seit dem nie mehr.
Die Operation ist eine spannende Sache. Vor meinem Gesicht wird eine grüne Stoffwand gezogen, ich soll so von der OP selbst nichts sehen können. Leider ist der Stoff für meine Begriffe etwas nahe an meinem Gesicht, wollen die mich etwa ersticken? Wollen sie nicht.
Jemand zupft ein wenig an der Stoffwand herum, es ergibt zwar keine nennenswerte Verbesserung, aber der gute Wille zählt.
Sie werden mich schon nicht ersticken lassen.
Über Kopf sehe ich nur vermummtes OP-Personal geschäftig um mich herum agieren. Da ist schon ein Haufen Personal nötig, um mir diesen doofen Androiden—Anschluss zu verpassen. Irgendwann geht’s endlich los, die beiden Chirurgen moderieren ihr Tun in einer für mich zum Teil unverständlichen Sprache. Zum Glück brauchte ich mich bisher nicht großartig mit medizinischem Jargon auseinandersetzen. Das soll nun anders werden, mein medizinisches Wissen steckt allerdings noch in den Kinderschuhen, so verstehe ich nur Bahnhof, das ist wohl auch nicht so tragisch.
Ich komme aufs Zimmer, mein Androiden-Anschluss wurde gesetzt, ich habe ein dickes Pflaster unterm Schlüsselbein.
Der nächste Tag ist ein Samstag. Ich will nach Hause. Als Nächstes sollte eine Ultraschall-Untersuchung über die „Entzündung“ in der Achselhöhle Klarheit bringen, das aber soll in der Frauenklinik abgefrühstückt werden.
Mich hält nichts mehr in der Klinik, ich will einfach nur weg. Also verabschieden wir uns von dem Propheten, der mir nur noch drei Monate zugestand. Ich lasse mich übers Wochenende entlassen, bunkere noch Morphium, Frank fährt uns nach Haus.
Ich komme nicht mehr zurück.
Als Kind war ich, was das Essen betraf, gelinde gesagt, eigen. Es gab viele Dinge, die ich nicht mochte, ich fummelte sie sezierungsgleich aus meinem Teller, sortierte aus, legte zur Seite, errichtete Türmchen aus Ungenießbarem. Fleisch-Knurpsi am Schnitzel oder in Rouladen, Oliven auf Pizza oder im Salat, gekochter Schinken auf Pizza oder im Cordon bleu. Quasi doppelt gegarter Schinken, ein Graus. Diese rausstehenden Zipfel, schon ganz glasig und zäh, grauenhaft. Und wie das schon aussah. Ich verzichtete der Einfachheit halber komplett auf Cordon bleu, ich fand’s grundsätzlich eklig!
Dann wurde ich radikaler. Mein Ekel richtete sich auf etwas pauschalere Dinge, Camembert aß ich nicht, grobe Schmierwurst. Da ich Leber, Nierchen und Sauerbraten einfach als nicht essbar deklarierte, und an jedem Fleischstückchen in irgendeiner Form Knurps zu finden war, ließ ich von Fleisch der Einfachheit halber ganz die Finger. Meine Nahrungsaufnahme wurde etwas einseitig.
Nach der Pubertät entwickelte ich meine strenge Auswahl zum Glück mächtig zurück, inzwischen liebte ich Käse aller Art, naschte gerne würzig eingelegte Oliven und war generell ein guter Fleischesser geworden. Einzig Sauerbraten, Innereien und Cordon bleu kann ich bis heute nicht leiden.
Zuhause angekommen heule ich erst einmal vor Erleichterung. Endlich wieder in unseren eigenen vier Wänden und in unserem Garten. Es ist erst Anfang September, eine herrliche Zeit, um unter unserem alten Kirschbaum zu sitzen.
Ich streune also durchs Haus und sauge die ganzen Eindrücke erst einmal auf. Zuhausegeräusche, Zuhausegerüche, Zuhausewinkel und –ecken. Ich inspiziere einfach alles und vor allem mich. Ausgemergelt, über 10kg habe ich abgenommen, so stehe ich vor dem Spiegel und betrachte die Katastrophe. Wie konnte ich bloß in nur drei Wochen zu so einem Totalschaden zugerichtet werden?? Dann knibbele ich am Pflaster an meinem Schlüsselbein und zieh es vorsichtig und mit großen Augen ab – was mich erwartet ist schlimmer als befürchtet: Zu allem Überfluss sieht die Operationswunde dick und wulstig aus, noch dicker und wulstiger als ich es mir vorgestellt hatte, denn darunter lauert ja auch noch der Port – es sieht aus wie ein Cordon bleu!! Wie ein pralles, wulstiges, fieses mit ekligen Sachen vollgestopftes und zugenähtes weißes Stück Fleisch.
Und so etwas Grausiges habe ich nun unter meinem Schlüsselbein, quasi implantiert. Ich hatte mich mit Händen und Füßen gegen den Port gewehrt, die Vernunft aber hatte letztlich gesiegt. Und jetzt habe ich es, das Androiden-Cordon bleu. Jetzt wusste ich auch, wieso ich Cordon bleu schon als Kind nicht leiden konnte! Es war eine dunkle Vorahnung quasi.
Ich fühle mich wie ausgesaugt und ausgespuckt und versuche mühsam, wieder auf die Beine zu kommen. Alles in mir tut weh, außen und auch innen. Meine ganze Kraft ist verpufft. Ich schaffe kaum die Treppe, schaffe kaum das Gehen, schaffe kaum das Leben. Mein Kopf ist wie eine Kirmes, alles zu bunt, zu durcheinander, zu laut, nichts ist zu steuern, ich bin sprachloser Zuschauer in meinem eigenen Wirbelsturm.
Ein Bremsschirm reißt mich aus der Fahrt meines Lebens.
So kauere ich nun zuhause und will die Katastrophe nicht wahr haben. Drei Monate. Wann wache ich endlich auf? Kann mich bitte endlich jemand wecken?
Mein Mann füttert mich mit den paar Dingen, die ich runterbekomme. Ich verbrauche in zwei Tagen eine Schachtel Milchschnitte, trinke zwischendurch Astronauten-Nahrung, um nicht noch mehr Gewicht zu verlieren. Immer dabei habe ich einen Elefantenrüssel, eine prima Angelegenheit, wenn einen unvermittelt der Würgereiz packt. Das ist eine schlauchförmige Tüte mit festem Kunststoffring, sozusagen als Halter und Trichter in Einem. Nach erledigter Erleichterung kann man die Tüte verdrehen und mit dem Ring sehr mitmenschenfreundlich luftdicht verschließen. Kotz-Eimer und –tütchen waren einmal, heute gibt es Würgfix- deluxe. Ich habe immer welche dabei.
Der Würgreflex passiert immer ohne Vorwarnung, selbst die besten Tropfen bringen nichts, vor mir ist einfach nichts sicher.
Um Kraft zu tanken, lasse ich mir ein Plätzchen im Garten unter unserem Kirschbaum einrichten.
Unterm Kirschbaum sitze ich wahnsinnig viel, bekomme von Chrissi, der Krankenschwester, über den Tropf Flüssigkeit angehängt und sitze dort wie eine alte britische Dame mit ihrem Hofstaat. Regelmäßig bekomme ich Besuch. Ich will unter gar keinen Umständen ausgegrenzt werden, so kommt es, dass alle Menschen aus unserem Umfeld sofort über unsere Katastrophe informiert werden, dass ich wieder zuhause bin und mich über Besuch freue. Mein ausdrücklicher Wunsch.
Nicht jeder kommt mit frohem Herzen. So mancher ist hoffnungslos überfordert mit der Tatsache, dass ich an Krebs erkrankt bin und dass meine Heilungsaussichten so gering sind.
Später wird mir auch klar, dass so mancher sich verabschieden wird im Laufe der Zeit und dass so mancher auftauchten wird, von dem man es nie und nimmer vermutet hätte. Schön zu erfahren, dass in brenzligen Situationen mancher angesprungen kommt mit helfender Hand. Schlimm zu erfahren, dass in eben dieser brenzligen Situation sich so mancher sang- und klanglos aus dem Staub macht.