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DR. MED. GERD REUTHER

HEILUNG NEBENSACHE

DR. MED. GERD REUTHER

HEILUNG NEBENSACHE

Eine kritische Geschichte der europäischen Medizin von Hippokrates bis Corona

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2. Auflage 2021

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eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978–3–7423–1776–6

ISBN E-Book (PDF) 978–3–7453–1478–6

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978–3–7453–1479–3

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»Heilen hat zwei Gesichter: Empathie und soziale Kompetenz. Geschäft mit Angst und Leiden.«

DR. MED. HELMUT JÄGER FACHARZT FÜR GYNÄKOLOGIE UND GEBURTSHILFE GANZHEITLICHER HEILER UND COACH

»(…) scheint es gut zu sein (…), sich auf neuen Wegen und in neuen Systemen zu bewegen (...) weder der Stimme des Verleumders noch dem Gewicht der alten Kultur oder dem Gewicht der Autoritäten zu gestatten, jene zu hindern, die ihre eigenen Ansichten zum Ausdruck bringen.«

JEAN FRANçOIS FERNEL (1497–1558)
De naturali parte medicinae
, PARIS 1542

Inhalt

Prolog: Ein Kampf gegen Krankheiten oder gegen die Kranken?

2500 Jahre Medizin auf 100 Seiten

Zeittafel wichtiger Ereignisse in der europäischen Medizin

Wer oder was wird behandelt – der Kranke oder die Krankheit?

Begegnung von Arzt und Patient – Geschichte eines Missverständnisses

Wo wurde behandelt? – Von der privaten Konsultation zur Klinik

Wo Behandler Krankheitsursachen lokalisierten

Diagnosen? Prognosen? Therapien? – Worauf es Ärzten ankam

Nur die Dosis? – Eine kurze Geschichte der Arzneibehandlung

Kann Nahrung heilen? – Eine kurze Geschichte ärztlicher Ernährungstipps

Wie viel Anatomie und Physiologie braucht die Medizin?

Wie viel Blut muss fließen? – Eine kurze Geschichte der invasiven Medizin

Wie viel Schmerz ist zumutbar? – Eine kurze Geschichte der Anästhesie

Mehr als ein Blick – Eine kurze Geschichte von Bildern aus dem Körper

Die Medizin in ihrem Lauf halten schon die Ärzte auf

Hippokrates verachtet Zahlen – eine kurze Geschichte medizinischer Evidenz

Mythos Placebo – kurze Geschichte einer heilsamen Täuschung

Und raus bist du! – Eine kurze Geschichte ärztlicher Stigmatisierung

Vorbeugen oder behandeln? – Eine kurze Geschichte der Prävention

Wer oder was heilt? – Eine kurze Geschichte ärztlicher Selbstkritik

Reine Männersache? – Eine kurze Geschichte der Frauen in der Medizin

Krank durch Behandlungen? – Eine kurze Schadensgeschichte der Medizin

Epilog: … und die Moral von dieser Geschichte?

Danksagung

Anmerkungen

Prolog: Ein Kampf gegen Krankheiten oder gegen die Kranken?

Lohnt es heute noch, sich mit der Medizin vergangener Jahrhunderte zu beschäftigen? Haben doch hochwirksame Pharmaka den Aderlass und minimalinvasive Hightech-Chirurgie unsterile Verstümmelungen ohne Betäubung abgelöst. Allerdings fällt auf, dass noch immer zahlreiche Ärzte aus den Zeiten der Säftelehre Säulenheilige des Berufsstandes sind. Ist es lediglich Nachsicht mit Kollegen, die zu früh geboren wurden und es nicht besser wissen konnten? Oder besteht doch eine Kontinuität darin, dass in der Medizin vorrangig die Kranken statt deren Krankheiten »bekämpft« werden?

Es änderte sich längst nicht alles, als das ärztliche Denken umschlug. Wissenschaftlich orientierte Ärzte bedienen sich weiterhin eines griechisch-lateinischen Kauderwelsches: »Diabetes mellitus« = »süßer Durchfluss« oder »Infarkt« statt grammatisch korrekt »Infrakt«. Blutdruck und Blutgase werden noch immer in »mmHg« angegeben, obwohl Quecksilbersäulen bereits seit 1978 nicht mehr zulässig sind. Eine renommierte Fachzeitschrift trägt bis heute den Namen des Instruments, mit dem Patienten zur Ader gelassen wurden: The Lancet – die Lanzette. Eine Spurensuche in der Vergangenheit lässt die heutige Medizin in einem anderen Licht erscheinen.

Abwarten oder schaden?

Heilungsversuche mit Pflanzen, tierischen und mineralischen Stoffen, Ritualen und helfenden Händen waren der Anfang. Dann beherrschte die Lehre von vier Säften für mehr als 2000 Jahre die Bühne, bevor Krankheiten lokalisiert wurden. Ärzte und Quacksalber entzogen Patienten Körperflüssigkeiten – ohne Rücksicht auf Verluste – mit Aderlässen und Mitteln, die abführten, den Schleimfluss exzessiv steigerten und Erbrechen herbeiführten. Überdies kamen auch noch Schwitz- und Trinkkuren hinzu. Alle Krankheiten sollten damit ausgetrieben werden.

Erschwerend war, dass viele Arzneien zum Flüssigkeitsentzug Gifte wie Quecksilber und Antimon enthielten und ab dem 17. Jahrhundert sogar intravenös verabreicht wurden. Es käme allenfalls auf die Dosierung an. Transfusionen von Tierblut galten als vergleichsweise sichere Behandlungen, obwohl in Unkenntnis der Blutgruppen mindestens jeder Dritte daran verstarb.1 Bei Operationen ohne Schmerzausschaltung hatte Tempo Vorrang vor Präzision. 25 Sekunden reichten dem schnellsten Chirurgen im viktorianischen London, um ein Bein zu amputieren.2 Verstümmelnde Operationen gegen Hysterie und psychische Auffälligkeiten gesellten sich ab dem 19. Jahrhundert noch hinzu. Kein Wunder, dass die Homöopathie in den ersten 150 Jahren ihrer Existenz erfolgreicher als die Schulmedizin war – sie schadete wenigstens nicht.

Die Pharmaka des Industriezeitalters entstammten immer seltener der Welt der Heilkräuter, sondern der technischen Chemie. Ab 1818 stand sogar die hochgiftige verdünnte Blausäure als Heilmittel gegen Atemwegserkrankungen in Arzneibüchern.3 Ausgangssubstanzen und Abfallstoffe industrieller Synthesen von Farben und Kunstharzen waren bis spät ins 20. Jahrhundert die Basis symptomunterdrückender Medikamente. Noch der erste Cholesterinsenker Clofibrat fiel bei der Produktion von Phenolen an und gehört chemisch zu einer Gruppe, zu der zahlreiche Unkrautvernichter zählen!4 Viele Antibiotika und Immunsuppressiva sind ebenfalls chemisch eng mit Pestiziden verwandt und durchaus als zeitgenössische Gegenstücke zu Quecksilber und Antimon aufzufassen.

Substanzen wurden nicht unbedingt wegen bestimmter Eigenschaften gesucht. Oft war es umgekehrt: Vorhandene Stoffe klopfte man auf ihren möglichen Einsatz beim Menschen ab. Die Chemotherapeutika gingen aus dem berüchtigten Senfgas des Ersten Weltkriegs hervor. Pharmaka werden bis heute als Waffen missverstanden und degradieren Kranke damit zu Kriegsschauplätzen. Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht jeder dritte Todesfall in Zusammenhang mit ärztlichen Behandlungen.5 Man kann nicht sagen, dass der Berufsstand zimperlich war und ist. Das Prinzip, es sei »besser, ein gefährliches Hilfsmittel anzuwenden, als gar keines«6 besteht fort.

Die akademische Medizin gilt heute als »systemrelevant«. Die Geschichte belehrt uns aber eines Besseren. Menschliche Zivilisationen vertrauten ganz unterschiedlichen Heilungskonzepten. Auf die Art der Heilkunde oder gar auf eine »ärztliche Kunst« kam es nicht an. Zu keiner Zeit verringerten Behandlungen die Krankheitslast oder erhöhten die Lebenserwartung.7 Selbst wenn heute Ärzte streiken, haben Bestattungsunternehmen nirgendwo mehr zu tun.8 Ärzte beeinflussten immer nur Einzelschicksale positiv oder negativ. Kriege, Not und Umweltbedingungen bestimmten das Wohlergehen von Gesellschaften.

Die Medizin leidet bis heute unter einem blinden Fleck für Heilungsvorgänge. Seit man Tote seziert hat, weiß man zwar viel mehr über Krankheiten, aber nur wenig mehr über die Heilungsstrategien unserer Biologie. Wie Heilung funktioniert, ist nun einmal keine Botschaft der Toten an die Lebenden, sonst wären sie schließlich nicht verstorben … Um herauszufinden, warum Menschen trotz widriger Umstände gesund bleiben oder wieder gesund werden (sogenannte Salutogenese), sollten wir besser von Genesenen und Hochbetagten lernen.

Alternativen zur Schulmedizin gab es immer

Naturheilkundige haben in den vergangenen 2500 Jahren mehr zu Linderung und Heilung beigetragen und weniger geschadet als Ärzte, schon weil sich ihre Anwendungen generationenübergreifend auf praktische Erfahrungen stützten. Als der französische Chirurg Ambroise Paré (1510 –90) bei einer schweren Gesichtsverletzung eine Gesichtshälfte schulmedizinisch mit kochend heißer Paste aus Holunderbeeröl und opiumhaltigem Theriak, die andere gemäß einer Kräuterfrau mit einer Zwiebelsalbe behandelte, blieben nur unter der Zwiebelsalbe entstellende Narbenbildungen aus.9 Paré schaffte es in die Ahnengalerie. Die Kräuterfrau kennt heute niemand mehr. In keiner Geschichte der Medizin dürfen daher Naturheilmittel und Pflegende fehlen.

Therapeutisches Wissen war in der Bevölkerung verbreitet. Der vor etwa 7000 Jahren verstorbene »Ötzi« hatte den Birkenporling, einen Pilz mit antibiotischen Eigenschaften, im Reisegepäck. Die Schienung von Knochenbrüchen, das Einrenken luxierter Glieder, die Reinigung von Wunden und kaltes Wasser bei Entzündungen gehörten immer zur Selbsthilfe. Abführ- und Brechmittel waren wie Pflanzenzubereitungen für Wunden, Frauenleiden, Harnwegssteine, Magen-Darm-Entzündungen oder Herzschwäche aus der Naturapotheke verfügbar. Opium, Alkohol und Klistiere hatten Apotheker im Angebot.

Bei Fortbestehen der Symptome und stärkerem Leidensdruck suchte man Kräuterkundige, Handwerkschirurgen, Schäfer oder Scharfrichter auf. Handgreifliche Therapien wurden von akademischen Ärzten nur verordnet – ausgeführt haben sie Gesundheitshandwerker. Da konnte man sich gleich von der Baderin zur Ader lassen und das ärztliche Honorar sparen. Für Ärzte verblieb lange wenig mehr als giftige Chemie, die durch kostensenkende Verfälschungen von Apothekern noch verheerender wirken konnte.10 Bis ins 18. Jahrhundert waren Ärzte »Gäste im Raum der Selbstbehandlung«.11

Dies änderte sich mit den europaweiten »Hexen«-Verfolgungen, da vorrangig heilkundige Frauen und Hebammen sowie Querdenker denunziert und verbrannt wurden. Mit dieser Ermordungswelle wollten sich nicht nur die Kirchen unliebsamer Kritiker entledigen. Es ging auch um Einkünfte. In der Wirtschaftskrise nach Abriegelung des Orients und als Folge der Kleinen Eiszeit wurde der Kuchen im Heilgewerbe kleiner. Die Ausschaltung der Konkurrenz sollte die Einnahmen für Klerus und Ärzte sichern. Damit verschwanden narkotisierende Mischgetränke aus den Hausapotheken, die so manchen Arztbesuch erspart hatten. Die Rolle von Ärzten als »Gutachter« bei Folterungen ist dabei noch weit schlechter aufgearbeitet als ihre Mitwirkung in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten.

Braucht die Medizin Helden?

Die Geschichte der Medizin ist keine Heldensaga. Die wenigsten heute noch bekannten Ärzte haben mehr genützt als geschadet. Ob Opium oder Aderlässe, Quecksilber oder abenteuerliche Operationen – alles verursachte Gesundheitsschäden und Tote. Paracelsus (1493–1541) verwarf zwar die Säftelehre, seine eigenen Krankheitstheorien waren allerdings nicht minder hanebüchen. Vermeintliche Kultfiguren der Bakteriologie wie Louis Pasteur (1822–95) und Robert Koch (1843–1910) waren keine »Retter der Menschheit«. Weder hat Pasteur die »Pasteurisierung« erfunden, noch verdanken wir Koch die Entdeckung der Erreger von Cholera, Milzbrand und Tuberkulose.

Bei genauer Betrachtung ist meist mehr Schatten als Licht. Kein Mensch taugt zum Säulenheiligen. Der Bekanntheitsgrad hat wenig mit den tatsächlichen Verdiensten zu tun. Die wichtigsten Neuerungen kamen oft genug nicht aus den »Hochburgen der Großsiegelbewahrer der Wissenschaft«,12 sondern aus dem Off und verhallten für Jahrzehnte oder Jahrhunderte. Einem Feldherrn im antiken Griechenland13 und Laien in Rom waren Ansteckungswege von Infektionskrankheiten längst bekannt, als die gelehrte Medizin noch irreführende Spekulationen anstellte.14 Laien hatten bereits 200 Jahre vor den Bakterienjägern des 19. Jahrhunderts Mikroben unter dem Mikroskop gesehen.

Die vermeintlich erste Herztransplantation, die 1967 medienwirksam inszeniert in weitgehender Unkenntnis immunologischer Vorgänge erfolgte, war keine verantwortungsbewusste ärztliche Handlung. Verpflanzungen anderer Organe hatten lange belegt, dass die medikamentöse Balance zwischen Abstoßung und Infektionsrisiko nicht beherrscht wurde. Die Installateursleistung des chirurgischen Hazardeurs war ein Himmelfahrtskommando für den Patienten. Er überlebte ganze 18 Tage. Bereits drei Jahre vor diesem Menschenversuch hatte ein amerikanischer Chirurg die Weltpremiere ohne mediale Begleitmusik gewagt und war kläglich gescheitert.15 Alles übrigens noch ohne das fragwürdige Konzept vom »Hirntod« der Organspender, das erst 1968 ganz schamlos mit kommerziellen Interessen begründet und Hals über Kopf präsentiert wurde!16

Dennoch wird die bisherige Geschichte der Medizin von Einzelaktivitäten dominiert. Vernebelt wird dadurch die katastrophale Bilanz der akademischen Ärzte. Neue Erkenntnisse in Anatomie, Physiologie und Biochemie hatten selten praktische Auswirkungen. Die Analyse von William Harvey (1587–1657), dass in uns eine begrenzte Menge Blut stetig im Kreislauf zirkuliert, hätte die Praxis des Aderlasses mindestens verändern müssen. Die Identifizierung von Krankheitserregern verhinderte oder beseitigte jahrzehntelang keine Infektion. Warum genießen Draufgänger bei Transfusionen und Infusionen noch immer Ansehen als Pioniere der Notfallmedizin, obwohl Leichen ihre Wege pflasterten? Warum nicht die Ärzte, die sich wie der Frankfurter Endoskopie-Visionär Philipp Bozzini (1773–1809) aufopferungsvoll um hochansteckende Patienten kümmerten und sich selbst dabei tödlich infizierten?

In den seltensten Fällen lassen sich maßgebliche Neuerungen und Paradigmenwechsel auf eine Person und ein Datum festlegen. Meist kamen verschiedene Menschen an verschiedenen Orten zu gleichartigen Lösungen. Auch hat nicht jeder sein Denken und Tun für die Nachwelt aufgeschrieben. Und allzu oft zeigen Recherchen, dass die vermeintlichen Pioniere es mit dem geistigen Eigentum anderer nicht so genau nahmen. Wichtiger als die Erstmaßnahme ist ohnehin die erste erfolgreiche Anwendung. So manches war anders, als es Geschichtsbücher glauben machen.17 Nur selten brachten Lehrstuhlinhaber oder Großkonzerne die Medizin weiter. Aber es waren immer Ordinarien, Institutsleiter oder Industrielobbyisten, die Entwicklungen verhinderten.

Medizin auch ein Geschäft

Gesundheit und Heilungen waren die meiste Zeit eine Bedrohung für ärztliche Einkommen. Entwaffnend ehrlich bekannte ein deutscher Professor, der durch rassenhygienische Veröffentlichungen in den 1930er Jahren zu unrühmlicher Bekanntheit gelangte, dass »der Gesundung schwerwiegende wirtschaftliche Interessen entgegenstehen«.18 Bemüht sich die akademische Medizin daher vorrangig, Krankheiten anstatt Heilungsvorgänge zu verstehen?

Hing der Verdienst von Ärzten davon ab, ob und wie viele Leistungen sie erbrachten, war es um Indikationen und Evidenz der Therapien immer schlecht bestellt. Die »Wundermaschine der Selbstheilung«19 bescherte Erfolge und Einkünfte, egal, wie untauglich die Therapien waren. Grund für ärztliche Zurückhaltung gab es allenfalls, wenn der Tod eines Patienten unter einer Behandlung als Makel oder gar als Straftat galt und Honorareinbußen nach sich zog. Der Arzt und Politiker Joseph Dietl (1804–78) formulierte: »So lange es erfolgreiche Ärzte gibt, wird es keine wissenschaftlichen Ärzte geben.«

Inszenierte »Pandemien« bestätigen im 21. Jahrhundert, dass wissenschaftliche Methoden nichts an der kommerziellen Dominanz in der Medizin geändert haben. Messwerte, Studien und Tests wurden missbraucht, um Diagnosen in die Welt zu setzen und Menschen zu unnützen wie gefährlichen Behandlungen zu verpflichten. Das Recht auf Dienstleistungen bei Krankheit – in Deutschland seit 1883 – scheint zu einer Pflicht umfunktioniert zu werden, fragwürdige Maßnahmen über sich ergehen zu lassen.

2500 Jahre Medizin auf 100 Seiten

Wir kennen alle die Urangst, wenn sich eine Krankheit zunächst unmerklich und dann spürbar in unserem Körper einnistet. Die Erfahrung mag uns versichern – zumindest im jüngeren Lebensalter und bei bekannten Symptomen –, dass wir wieder gesund werden. Ein Unbehagen stellt sich trotzdem jedes Mal ein. Werden die Selbstheilungskräfte ausreichen? Ganz sicher können wir nie sein, ob es vielleicht der Anfang vom Ende ist. Unsere Vorfahren haben diese Bedrohung wohl ungleich intensiver empfunden. Schon immer wird es das Bedürfnis nach Linderung und Heilung gegeben haben. Konnten irgendwelche Substanzen, Gegenstände oder Handlungen die Krankheit abkürzen oder vertreiben?

Frühe Menschen haben als Heilmittel Pflanzen, Minerale, Zuwendung und mechanische Hilfen, aber auch Magie genutzt.1 Eine der frühesten Maßnahmen war die Stillung von Blutungen durch Druck mit der Hand und Kompressionsverbänden sowie adstringierendem Material. Noch heute werden von Naturvölkern Hölzer in Form von Dämonenfiguren bereitgehalten, die pulverisiert neben einer Beschleunigung der Blutgerinnung einen Placeboeffekt entfalten können.2 Auch Tiere tun dies, allerdings suchen sie bei Krankheit eher selten die Nähe zu Artgenossen.

Das Besprechen von Wunden und das Wünschen überhaupt sind uralte Rituale (zum Beispiel der zweite Merseburger Zauberspruch). Ob Menschen ihr Ende schon immer möglichst lange hinausschieben wollten, wissen wir dagegen nicht. Die existenzielle Bedrohung weckte jedenfalls das Bedürfnis nach wirkmächtigeren Kräften, wie sie Naturerscheinungen entfalteten. Diese frühzeitig personifizierten Mächte wurden wahrscheinlich überall angerufen. Bald dürften sich andere Menschen als Vermittler angeboten haben. Diese Heiler wollten die halluzinierten Götter und Geister veranlassen, ein gutes Schicksal zu bestimmen.

Die psychologisch und körperlich wirksamen Handlungen konnten dabei auf verschiedene Personen verteilt werden, die im Verbund wirkten. So gab es in der ägyptischen Hochkultur das Triumvirat aus Priester, Schamane und Heilkundigem. Priester und Schamanen waren auf die psychologische Aktivierung der Selbstheilungskräfte spezialisiert, die Heilkundigen besorgten die konkreten Maßnahmen mit Arzneien und Salben sowie manuelle Medizin. Frauen waren dabei als Heilerinnen hoch angesehen.

Ägyptische Papyri aus der Zeit um 1500 v. u. Z. enthalten die ältesten Beschreibungen zahlreicher chirurgischer Behandlungen: Versorgung von Wunden, Einrichten von Gliedern, Nasenrekonstruktionen und Operationen von Tumoren oder Abszessen. Abgesehen von Gewalttaten und vielleicht Unfällen oder Nahrungsmittelvergiftungen wurden in der frühen Menschheitsgeschichte Krankheitszustände auf übernatürliche Ursachen zurückgeführt. Kausalzusammenhänge waren bei inneren Krankheiten nicht offenkundig.

War am Anfang Hippokrates?

Die europäische Medizin beginnt nicht im antiken Griechenland. Heilkräuter und manuelle Therapien sind weit älter. Aber es scheint, dass im 5. Jahrhundert v. u. Z. in den kleinteiligen Gesellschaften im heutigen Kleinasien auf den vorgelagerten Inseln sowie im damals westgriechischen Süditalien und Sizilien ein Paradigmenwechsel stattfand. Galt Krankheit bis dahin als göttliche Strafe, gerieten jetzt Versäumnisse der Lebensführung in das Blickfeld. Krankheiten fielen nicht vom Himmel, sondern konnten auf die Natur und Lebensweise zurückgeführt werden. Wahrscheinlich hatten grassierende Seuchen den Glauben in die magische Tempelmedizin erschüttert.

Dieses Denken wurde zunächst von Naturphilosophen wie Alkmaion von Kroton (um 500 v. u. Z.) und Empedokles von Agrigent (ca. 495 bis um 435 v. u. Z) vorangetrieben. Sie versuchten, Vorgänge logisch zu erklären. Alkmaion erkannte, dass das Gehirn das Zentralorgan für alle höheren Fähigkeiten ist. Auf Empedokles geht die Theorie von vier Urstoffen (Feuer, Wasser, Erde, Luft) zurück, aus der der westgriechische Arzt Philistion von Lokroi (um 427 bis um 347 v. u. Z.) seine Lehre von der Mischung dieser vier Elemente im menschlichen Körper entwickelte. Er formulierte wohl als Erster, dass Krankheit aus einem Ungleichgewicht dieser vier Elemente resultieren würde. Den vier Elementen ordnete er ein Quartett von vier Grundeigenschaften (heiß – kalt; nass – trocken) zu. Dies war die Basis für die Säftelehre »hippokratischer Ärzte«.

Die unter dieser Bezeichnung zusammengefassten Heilkundigen wollten bei Kranken Gesetzmäßigkeiten der zugrunde liegenden Vorgänge erkennen. Die bekanntesten Heilerdynastien bestanden auf der Halbinsel Knidos, der unmittelbar benachbarten Insel Kos und in Kroton auf Sizilien. Der legendäre Hippokrates von Kos (etwa 460 bis etwa 370 v. u. Z.) wurde zwar zum Namenspatron einer dieser Familien, war aber nicht der einzige Heiler seiner Sippe. Es gab mindestens schon einen heilgewerblich tätigen Großvater und spätere Generationen mit wahrscheinlich sieben gleichnamigen Familienmitgliedern.

Die sogenannten hippokratischen Schriften stammen jedenfalls nicht aus einer einzigen Feder. Es handelt sich um ein nachträgliches Konstrukt aus mehr als 89 Schriftrollen, die zwischen dem 5. und 2. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung entstanden sind. 72 Texte sind erhalten.3 Entsprechend heterogen sind Stil und Überzeugungen. Allerdings lassen sich die Lehren einer Denkschule zuordnen, die mit den Traditionen religiöser Heilungsrituale brach und sich an zahlungskräftige Kunden richtete. Die religiöse Tempelmedizin, für die der Heilschlaf ein zentrales Element war, bestand ungeachtet dessen fort – jedoch nur für die Armen und Unheilbaren.

Die drei großen Themengebiete der hippokratischen Texte sind Innere Medizin, Chirurgie und Gynäkologie. Das Wissen, das man sich über viele Jahre angeeignet hatte, wurde dabei in geschlossenen Männergesellschaften weitergegeben. Der legendäre Hippokrates, seines Zeichens der Zweite, war vielleicht der Erste im Clan, der auch nichtverwandte Schüler unterwies, um den Wirkungsbereich zu vergrößern. Bruchstückhafte Überlieferungen einer Eidesformel lassen darauf schließen, dass diese Schüler Wissen nur gegen Loyalität und Unterhaltsverpflichtung für ihre Lehrer vermittelt bekamen.

Worauf beruhte die hippokratische Medizin?

Entstammten Krankheiten nicht länger dem Ratschluss der Götter, dann waren sie auf natürliche oder zivilisatorische (nichtnatürliche) Ursachen zurückzuführen, die Ärzte identifizieren konnten. »Wer die ärztliche Kunst richtig betreiben will, hat folgendes zu beachten: die Jahreszeiten und ihren Wechsel, die Luftströmungen, die allgemeinen wie die lokalen und drittens die Beschaffenheit des Wassers.«4 Daneben spielte aber auch die Lebensführung eine Rolle. Um gesund zu bleiben, kam es auf die richtige Art und Menge der Nahrung, der Getränke, des Schlafs und der körperlichen Bewegung an. Hierzu mussten hippokratische Ärzte ihre Klienten sorgfältig beobachten.

Schädliche Umwelteinflüsse, insbesondere des Klimas (Dürre, Hitze, Kälte, Nässe), mangelnde Sauberkeit oder schlechte Nahrung sollten durch Verhaltensänderungen wie Mäßigung, Ernährungsumstellung und Bewegung begrenzt werden. Die Erkenntnisse wurden programmatisch zusammengefasst und von Lehrern an Schüler weitergegeben. Allerdings konnten diese neuen Ärzte offenbar bei ihren Wahrnehmungen nicht zwischen wesentlichen und unwesentlichen Phänomenen unterscheiden: Haarfarbe und Sprechweise erschienen ihnen genauso bedeutsam wie Ernährung, Schwitzen oder Durchfall …

Zwei voneinander getrennte Zweige der Medizin lassen sich unterscheiden:

Eröffnungen der Körperoberfläche mit einem Messer gehörten nicht zum Kerngeschäft hippokratischer Ärzte. Aus der Schriftensammlung lässt sich rückschließen, dass es – wie später im Mittelalter – eine Trennung zwischen Ärzten und Gesundheitshandwerkern gab: »Niemals werde ich bei Blasensteinkranken den Schnitt machen, sondern sie zu den werkenden Männern schicken, die mit diesem Geschäft vertraut sind.«5 Operative Behandlungen umfassten bereits in der Antike ein breites Spektrum: Schädelfensterungen (sogenannte Trepanationen), Amputationen von Extremitäten, Leistenbruchoperationen, Blasensteinentfernungen, Luftröhrenschnitte und die Ausräumung von Gefäßaussackungen (Aneurysmen) nach Aderlässen.

Ein generelles Skalpellverbot für hippokratische Heiler wie in den späteren christlichen Versionen des »Berufseids« gab es jedoch nicht.6 Ärzte dürften bei naheliegenden Notwendigkeiten wie zum Beispiel bei Geburtskomplikationen sehr wohl zum Skalpell gegriffen haben. Die hippokratischen Schriften enthalten mehrere Rollen, in denen ausführlich Verwundungen durch Kriegsgerät und Unfälle abgehandelt werden. Äußere Schienen, zirkuläre Leinwandbinden, das Kürzen hervorstehender Knochenstücke, das Einrenken von Gliedern und eine Art externer Fixateur zum Auseinanderziehen und Einrichten offener Frakturen sind dort bereits beschrieben.

Der Paradigmenwechsel besteht in der für Europa so fatalen Irrlehre von einer Störung der Säfte als Ursache aller inneren Krankheiten. Waren es nicht immer verschiedene Flüssigkeiten, die Menschen absonderten, wenn sie krank waren? Ein kranker Körper versucht, die jeweils überschüssige Flüssigkeit loszuwerden: Erbrochenes mit und ohne Galle, Durchfall, Schleim oder Blut. Das Konzept unterstellte, dass die Körperflüssigkeiten in einer Art Schalen im Körperinneren des Menschen lagerten – eine gänzlich unanatomische Theorie. Aus Tierschlachtungen, Kampfverletzungen und Leichenöffnungen mussten anatomische Kenntnisse vorhanden gewesen sein. Das Bild der Schalen darf daher nicht allzu gegenständlich, sondern eher philosophisch aufgefasst werden. Damalige Ärzte sahen Menschen immer als integrale Person und nicht als Summe von Einzelteilen. Die heute um sich greifende Separierung eines Menschen in seine Organe und Zellstrukturen war den hippokratischen Ärzten fremd.

Obwohl Blut bei Verletzungen und der Tötung von Tieren augenfällig war, hatten hippokratische Ärzte zunächst zwei andere Körpersäfte im Blick: »Alle Krankheiten bei den Menschen entstehen durch Galle und Schleim (…), wenn sie im Körper übermäßig ausgetrocknet, verwässert, erhitzt oder abgekühlt werden.«7 Je nach Zustand des Kranken mussten Ärzte »in Entziehung des Überschüssigen, andererseits in Zufuhr des Fehlenden«8 wieder Ausgewogenheit herstellen. Blut wurde später als dritte Flüssigkeit hinzugefügt.

Die Ausweitung des Konzeptes auf schließlich vier Flüssigkeiten formulierte vermutlich ein Schwiegersohn des Hippokrates namens Polybos (um 410 v. u. Z.): »Der Körper des Menschen hat in sich Blut, Schleim und zweierlei Galle, die gelbe und die schwarze. Diese Qualitäten sind die Natur seines Körper, und durch sie wird er krank und gesund.«9 Zwar handelt es sich bei schwarz erscheinender Galle um keine eigene Flüssigkeit, sondern lediglich um eine Farbänderung der eigentlich hellgelben Galle in der Gallenblase oder bei einem gestörten Galleabfluss, aber Menschen zeigten sporadisch schwarze Absonderungen: Blut wurde schwarz, wenn es länger an der Luft stand; Stuhlgang konnte schwarz sein.

Die vierte Flüssigkeit sollte der Säftelehre eine zwingende Stellung im kosmischen Ganzen verleihen; denn nach der geltenden Weltsicht gab es vier Elemente (Feuer, Wasser, Luft und Erde) und vier Primärqualitäten (warm und kalt, trocken und feucht). Jede Flüssigkeit konnte einem Element und einer Qualität zugeordnet werden: so etwa der Schleim dem Wasser und feucht, Blut dem Feuer und warm. Ein Überwiegen eines dieser Säfte wäre für jede Jahreszeit und Lebensphase charakteristisch und würde die psychische Verfassung eines Menschen reflektieren.

Bis heute halten sich diese Bezeichnungen in unserer Sprache: Choleriker (gelbe Galle), Phlegmatiker (Schleim), Melancholiker (schwarze Galle), Sanguiniker (Blut). Und passte dies nicht zu den vier Typen der äußeren Hauterscheinung: gelb, blass, dunkel, rot? Die Schlussfolgerung schien nahezuliegen, dass man aus dem Äußeren eines Menschen auf seine Körpersäfte und Psyche und damit seine Disposition für bestimmte Krankheiten schließen könnte. In den hippokratischen Schriften sind etwa 60 verschiedene Formen eines Ungleichgewichts der Säfte beschrieben.10 Im Vergleich zu den Listen von Krankheiten anderer Völker besteht keine wesentliche Zahlendifferenz, sodass die Säftelehre keine diagnostische Verfeinerung gegenüber der undogmatischen Volksmedizin brachte.

Dieser scheinbar empirisch-rationale Zugang zum Menschen hatte eine gravierende Folge, die die Schulmedizin bis heute befangen macht. Die Menschen begannen mit einer Krankheitstheorie den Glauben an ihre eigenen Selbstheilungskräfte zu verlieren.11 Genesungen aus eigener Kraft wurden zu »Wunderheilungen« oder konnten scheinbar nur durch Heiler, Schamanen, Geistliche und Könige bewerkstelligt werden. Vor allem die späteren Wallfahrtsorte vereinnahmten Spontangenesungen als Leistungen der Obrigkeit.

Und was folgte für die Therapie?

Die Lebensführung war die wichtigste Stellschraube, um die Säfte wieder in Balance zu bringen. Wer sich zu wenig bewegte, dem wurde Bewegung verschrieben; wer zu viel aß, wurde auf Diät gesetzt; wer zu viel schlief, musste länger aktiv bleiben. Heilmittel waren für hippokratische Ärzte gegenüber Lebensstiländerungen immer nachrangig. Es blieb auch keine Wahl. Spezifische Medikamente gab es nicht. Arzneimittel wurden ohnehin nur auf die Haut aufgebracht. Und wie hätten sie sich anders im Körper verteilen sollen, da man davon ausging, dass das Blut hin und her schwappte, aber nicht zirkulierte?

Als Eskalationsstufe in diesem Konzept ist der aktive Entzug von Flüssigkeiten aus dem Körper aufzufassen: das Auslösen von Erbrechen (zum Beispiel durch Antimon), Niesen (zum Beispiel durch Nießwurz), Durchfall (zum Beispiel durch Sennesblätter oder Einläufe) sowie der Entzug von Blut durch Eröffnung einer Vene/Arterie (Aderlass) oder nach Aufkratzen der Haut, auf die mit Unterdruck ein Gefäß aufgesetzt wurde (Schröpfen). Körperflüssigkeiten zu vermindern war allerdings keine Erfindung hippokratischer Ärzte. Auch in Ägypten und anderen Kulturen wurde Blut abgezapft oder Erbrechen und Durchfall provoziert. Die hippokratische Medizin scheint nur das erste theoretische Konzept geliefert zu haben.

Daneben gab es noch eine weitere Behandlungsmethode, die im Aufsetzen erhitzter Eisen auf Körperteile (Kauterisierung) bestand und ebenfalls alles andere als neu war. Es ist eine Fortsetzung ritueller Heilpraktiken ohne Bezug zur Säftetheorie. Zahlreiche frühe Kulturen glaubten, dadurch eine Krankheit aus dem Inneren an die Oberfläche verlagern zu können. Hippokratische Ärzte bedienten sich ungeachtet ihrer Philosophie dieser Methode, wenn sie mit ihrem Griechisch am Ende waren: »Was Arznei nicht heilt, heilt das Messer; was das Messer nicht heilt, heilt das Feuer; was das Feuer nicht heilt, muss als unheilbar gelten.«12 Hitze galt schon länger als Verstärkung der Selbstheilungskräfte. »Gebt mir die Macht, Fieber zu erzeugen, und ich heile jede Krankheit«, soll der naturphilosophische Vordenker Parmenides von Elea (5. Jh. v. u. Z.) erklärt haben. Die heutigen Überwärmungen in der Krebstherapie lassen grüßen …

Ob Kopfschmerzen, schlecht heilende Wunden oder Geisteskrankheiten – die Theorie konnte Theorie bleiben, wenn es um einen Therapieerfolg ging. Hippokratische Ärzte waren weniger dogmatisch, als die Säftelehre vermuten lässt. Das psychische Befinden der Kranken war ebenso wichtig wie die Beseitigung von Symptomen. Wer Durchfall hatte, bekam Opium verordnet, um den Darm zur Ruhe zu bringen. Es gab immer Anwendungen von Heilpflanzen, die nur mit Kunstgriffen in die Theorie der Säfte eingepasst werden konnten.

Dies gilt gleichermaßen für die Heilbehandlungen griechischer Ärzte in Rom, die dort allmählich die traditionelle Volksmedizin verdrängten. Empirische Erkenntnisse wurden unabhängig vom theoretischen Konstrukt genutzt. Eine Weiterentwicklung naturheilkundlicher Mittel stand jedoch nicht auf ihrem Programm. Heiler, die aufgrund ausschließlich praktischer Erfahrungen behandelten, wurden schon damals als »Empiriker«, denen theoretisches Wissen abging, verunglimpft.

Die Eröffnung und Erkundung der Innenwelt

Im Konzept der hippokratischen Ärzte spielten menschliche Anatomie und Physiologie keine Rolle. Der Körper des Kranken war eine »black box«, über die man nur aus der Zufuhr von Substanzen (Atemluft, Speisen und Getränke) und den Körperausscheidungen (Exkremente, Blutungen, Schweiß, Schleim) spekulieren konnte. Man hatte nicht einmal ein Wort für die Muskeln oder den Magen. Aristoteles (etwa 385 bis etwa 323 v. u. Z.) scheint der Erste gewesen zu sein, der Tiere sezierte, um zu erkennen, wie deren Innenleben funktionierte. Auf ihn geht der Begriff »Organe« zurück. Diokles von Karystos (4. Jh. v. u. Z.), ein mutmaßlicher Schüler von Aristoteles, soll das erste Buch über Anatomie verfasst haben. Es ist allerdings nicht erhalten.

Die ältesten Dokumente über die menschliche Anatomie und Physiologie stammen aus Alexandria, wo zu dieser Zeit die Griechen herrschten. Dort wurde erstmals chirurgischen Eingriffen ein höherer Stellenwert eingeräumt und das Operationsspektrum erweitert. Vermutlich spielte hierbei die lange Tradition der ägyptischen Mumifizierung eine Rolle, die das Tabu körperlicher Zergliederungen nicht kannte. In der alexandrinischen Chirurgie taucht auch erstmals die Narkose auf, die vorzugsweise mit dem Saft der Alraune, der den betäubenden Stoff Scopolamin enthält, vorgenommen worden zu sein scheint.13

Der von der Insel Kos stammende Praxagoras, dessen Schüler Herophilos von Chalkedon sowie sein Zeitgenosse Erasistratos von Keos (etwa 330–255 v. u. Z.) führten um 300 vor unserer Zeitrechnung in Alexandria sowohl Sektionen an Leichen als auch an lebenden Tieren und Menschen (verurteilten Kriminellen) durch. Die ersten Fakten über die Anatomie von Gehirn, Nerven und Sehnen, der Reproduktionsorgane sowie des Herzens gehen darauf zurück. Praxagoras unterschied Arterien und Venen, Herophilos Nerven und Sehnen. Allerdings glaubte Praxagoras, dass in den Arterien Luft wie in der Luftröhre bewegt würde, da bei der Sektion von Leichen linke Herzkammer und Arterien im Gegensatz zu den Venen blutleer erscheinen. Erasistratos vermutete bereits kapillare Verbindungen zwischen Arterien und Venen.

Praxagoras ordnete die Organe erstmals zwei Systemen zu: Gehirn, Nerven, Sehnen und Muskeln bildeten das willkürliche, von uns kontrollierbare System; Herz und Blutgefäße ein unwillkürliches System. Der arterielle Puls wurde seither zur Hauptinformationsquelle für die vegetativen Vorgänge. Herophilos erkannte, dass die Herzfrequenz mit der Körpertemperatur steigt, und nutzte bereits die Pulsfrequenz mittels transportabler Wasseruhr zur Fieberbestimmung. Konsequenzen für die Therapie blieben jedoch aus. Lediglich Erasistratos lehnte im Gegensatz zu Herophilos den Aderlass als Therapie ab. Bereits dessen Lehrer namens Chrysippos von Knidos hatte Aderlässe als gefährlich verworfen. Nach diesen anatomischen und physiologischen Forschungen scheint es über Jahrhunderte keine Aktivitäten zur weiteren Aufklärung innerer Vorgänge gegeben zu haben.

Alles Galen? – Medizin zur Zeit des Römischen Reichs

Es hat keinen anderen Arzt in der Geschichte der Medizin gegeben, dessen Einfluss auf die Heilkunde so lange und so nachhaltig war wie der des in Rom tätigen griechischen Arztes Claudius Galenos aus Pergamon (etwa 130 bis etwa 200). Kein anderer Arzt wurde mehr als 1500 Jahre so maßlos überschätzt. Bis zum heutigen Tag sprechen Apotheker noch von »Galenik«, wenn sie Wirkstoffe zu verträglichen Medikamenten verarbeiten. Dabei vertrat er lediglich die hippokratische Irrlehre der vier Säfte. Galen behauptete nur von sich, dass er den von Hippokrates vorgezeichneten Weg erst begehbar gemacht hätte …14

Ein griechischer Arzt in Rom war keine Besonderheit, denn in den ersten Jahrhunderten des römischen Imperiums gab es dort keine Ärzte. Heilungsbemühungen basierten auf der traditionellen Volksmedizin mit Heilkräutern, Diäten und Badekuren. Ausgeführt wurden sie vor allem von Heilerinnen, die ihr Wissen in Familien weitergaben: Kräuterkundige (herbaria), Giftmischerin (venefica), Hebamme (obstetrix). Viel Aufhebens wurde um Heiltränke und Arzneien nicht gemacht. Das Schicksal lag in den Händen der Götter, Einflussmöglichkeiten galten als sehr begrenzt und oblagen den Familienoberhäuptern.

Eine Zuwanderung griechischer Ärzte ist ab dem 2. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung nachweisbar. Julius Cäsar verlieh einer Gruppe griechischer Äskulapjünger erstmals 46 v. u. Z. das Bürgerrecht.15 Sie fungierten als Behandler der gesellschaftlichen Eliten. Die griechische Heilkunde etablierte sich wegen dieser Nähe zur Macht und keineswegs aufgrund ihrer Behandlungserfolge. Noch im Jahr 20 v. u. Z. plädierte der römische Leibarzt von Kaiser Augustus für eine Rückkehr zur traditionellen Volksmedizin.16 Auch die Ausführungen eines Marcus Terentius Varro (116–27 v. u. Z.) über Infektionen zeigten, dass Behandler ohne die griechische Irrlehre der Natur von Krankheiten näher gekommen wären: »In sumpfigen Gegenden vermehren sich winzig kleine Tiere, so winzig, dass das Auge sie nicht wahrnehmen kann, aber sie dringen mit der Atmung durch Mund und Nase in den Körper ein und verursachen schwere Krankheiten.«17 Für die Apostel der Säftelehre kamen Infektionen dagegen mit den Winden.

Die hippokratische Medizin verbreitete sich ab dem 1. Jahrhundert innerhalb zahlreicher sektenartiger Ärztegruppierungen. Aus dieser Zeit stammt die bedeutsamste Überlieferung der Frauenheilkunde von Soranos von Ephesos (etwa 98–138), die noch bis in die frühe Neuzeit als theoretische Grundlage der Geburtshilfe diente. Galen war nicht der einzige Arzt, der die Säftelehre vertrat. In lateinischen Texten wird er kaum erwähnt. Es gelang ihm offenbar nicht, eine eigene Schule zu begründen, obwohl er Oberschicht und Kaiser behandelte. Aber keiner hat diese irrigen Vorstellungen so vehement vertreten wie er. Galen unterschied zwischen »natürlichen« und »unnatürlichen« Faktoren, die Krankheiten verursachen. Die natürlichen Faktoren wie Klima, Jahreszeit, Alter und Geschlecht wären weniger bedeutsam, als seine griechischen Vorläufer angenommen hätten, und entzögen sich ohnehin menschlicher Kontrolle. Es käme daher vornehmlich auf die Lebensweise an. Jeder Mensch könne und müsse selbst für Gesundheit sorgen.

Vorschriften für eine Änderung der Ernährung und Lebensführung sollten bis ins 20. Jahrhundert feste Bestandteile des ärztlichen Repertoires bleiben. Krankheit bekam ein Schuldstigma, und eiserne Selbstdisziplin war nötig, um wieder gesund zu werden. Beides passte später der katholischen Kirche ideal in ihr Konzept autoritärer Bevormundung. Es ist keine zufällige Laune der Zeitläufte, dass gerade Galens Schriften erhalten blieben und die konkurrierender Kollegen verloren gingen.

Galen ließ nur zwei Gründe für innere Krankheiten gelten: Dyspepsie (Verdauungsstörung) und Plethora (Blutüberfülle). Die Dyspepsie entstünde durch falsche Nahrung, die Plethora durch einen Nahrungsüberschuss. Der Entzug von Blut wäre die spezifische Kur der Blutüberfülle und könnte indirekt das Ungleichgewicht der Körpersäfte als Folge der Dyspepsie wiederherstellen. Auch psychische Erkrankungen sollten damit behandelt werden. Denn das rote Blut würde die anderen drei Säfte enthalten: in stehendem Blut bilden die sedimentierten roten Blutkörperchen am Boden eine schwarze Schicht (»schwarze Galle«), darüber ist die Flüssigkeit teils gelblich (»gelbe Galle«) oder klar (»Schleim«). Der Harn wurde spätestens von Galen als Abbild des Leberblutes angesehen, aus dessen Farbe, Konsistenz und Geruch die Säftemischung eines Menschen erkennbar sei.

Tatsächlich genützt haben konnte der Entzug von Blut allenfalls bei einer Episode von Bluthochdruck und sehr seltenen Erkrankungen mit zu vielen Zellen im Blut oder bei einer Eisenüberladung. Dennoch wurde der Aderlass neben Änderungen des Speiseplans für die nächsten 1700 Jahre zum Universalheilmittel, der sogar nach Unfällen mit Blutverlust nicht fehlen durfte! Wenig verwunderlich, dass als zweites Buch nach der Bibel 1457 ein Aderlasskalender gedruckt wurde, aus dem man die beste Zeit und den geeigneten Ort für den Blutzoll auch bei einer Selbstbehandlung ablesen konnte.18

Galen unterschied drei Bereiche der Heilkunde: Ernährungstherapie, Arzneimitteltherapie und manuelle Medizin. Auf den ersten Blick erscheint dies modern. Allerdings muss man wissen, dass Aderlass, Brech- und Abführmittel zur Beeinflussung der Ernährung zählten. Nahrungsmittel waren – wie bei hippokratischen Ärzten – Behandlung und Kalorienzufuhr zugleich. Als Arznei galten nur äußerlich anzuwendende Öle, Salben und Lotionen. Dies blieb so bis in das Mittelalter.

Da alle Medikamente gemäß den vier Primärqualitäten nur wärmen oder kühlen, anfeuchten oder austrocknen sollten, spiegeln die Arzneimittelverzeichnisse dieser Zeit und auch später mit bis zu 1400 Präparaten eine Vielfalt vor, die gar nicht bestand. Verordnungen waren beliebig austauschbar, Mischpräparate an der Tagesordnung. Dazu gehörten Theriaka, die mehr als 70 Substanzen und obligat Opium enthielten. Selbst ohne Opium konnten wüste Mischungen unheilsamer Pflanzen durch einen Placeboeffekt positiv wirken (vgl. Kapitel »Mythos Placebo«).

Zu Diagnose oder Therapie hat Galen nur wenig beigetragen. Seine mehr als 1000 Seiten Pulsdiagnostik in zehn Büchern, von der sich noch Überbleibsel in der heutigen Terminologie finden (»Pulsus celer et altus«), sind nichts als eine Ansammlung subjektiver Mutmaßungen, die nicht mehr Gehalt haben als die blumigen Charakterisierungen von Weintestern. Auf den übrigen etwa 10000 erhaltenen Seiten sieht es nicht besser aus. Weder für Diagnose, Prognose oder Behandlung findet sich Neues von bleibendem Wert. Das Gesamtwerk ist unsystematisch und von Selbstbeweihräucherung geprägt. Als die »Antoninische Pest« im Jahr 167 durch rückkehrende Soldaten nach Rom eingeschleppt wurde, suchte Galen Hals über Kopf das Weite. Er wusste nur allzu gut, wie wenig seine wortreiche Medizin in der Praxis bewirkte.

Galen und seine Zeitgenossen haben nur Tiere seziert. Diese aber auch bei lebendigem Leib, um physiologische Zusammenhänge zu erkennen. Durch die Ähnlichkeit von Menschen mit Affen stimmten viele Beobachtungen in Galens Über anatomische Prozeduren mit der menschlichen Anatomie überein. Er räumte mit dem Irrtum auf, dass in den Adern Luft statt Blut bewegt würde. Diskrepanzen waren jedoch unvermeidlich. Andreas Vesalius (1514–64), der 1500 Jahre später eine maßstabsetzende Anatomie nach menschlichen Obduktionen verfasste, beklagte mehr als 300 Fehler. Widersprüche der Tierbefunde zu den Beobachtungen an Kranken und Verletzten kümmerten Galen jedoch nicht.

Im Römischen Reich gab es bereits Kliniken – entgegen der allgemeinen Wahrnehmung mit einer regen Operationstätigkeit. Zur Schmerzlinderung und Beruhigung vor chirurgischen Eingriffen erwähnt der Enzyklopädist Aulus Cornelius Celsus (um 25 v. u. Z. bis um 50) Opium, das im Imperium eine Wohlstandsdroge war. In einem Kaiserpalast entdeckte man bei Ausgrabungen 17 Tonnen(!).19 Opium und Cannabis wurden verboten, als das Christentum im Jahr 380 zur Staatsreligion für das West- und Oströmische Reich ausgerufen wurde. Frühe Kirchenlehrer neigten zur Auffassung, dass Christen keinen Gebrauch von Heilmitteln machen sollten. Dies änderte sich in der Folgezeit. Buße, der Beistand von Heiligen und die Berührung von Reliquien schienen den Menschen als Heilbehandlungen nicht auszureichen.

Warum taugte gerade Galen als Galionsfigur der Medizin?

Nicht nur die Fülle von Galens 21 Bänden mit mehr als 10000 überlieferten Seiten ließ die Säftelehre über Jahrhunderte zum Dogma der europäischen Medizin werden. Die lang anhaltende Wirkung erklärt sich dadurch, dass das Christentum mit dem Aufstieg der Karolinger zur Führungsmacht im 8. Jahrhundert in weiten Teilen Europas zur Staatsdoktrin wurde. Galens Lehren, dass jedes Organ eine vorbestimmte Funktion habe und Krankheiten auf Verfehlungen beruhten, passten in das Bild einer Religion mit einem allmächtigen Schöpfer, der nichts dem Zufall überlassen hat. Außerdem harmonierte der therapeutische Entzug von Körperflüssigkeiten bestens mit dem kirchlichen Exorzismus.

Der zweite maßgebliche Grund ist die Zuordnung von Krankheitsursachen zur Lebensführung. Wer krank ist, hat auch Schuld. Und Schuld war von Beginn an der Mechanismus der christlichen Religion, um Macht auszuüben. Schuld schafft Unterwürfigkeit, und natürlich gibt es dann keine anderen Schuldigen. Krank durch natürliche Faktoren wäre immer eine Kritik an der Schöpfung und damit der kirchlichen Heilslehre. Krank durch die Umwelt würde eine Schuld der Herrschenden in den Raum stellen, da sie die Umweltbedingungen maßgeblich beeinflussen. Beides durfte nicht aus den Konzepten einer Heilkunde ableitbar sein, die vor den Augen der katholischen Kirche Gnade fand.

Die unausgesprochene schockierende Wahrheit liegt aber noch tiefer: die hippokratisch-galenischen Irrlehren stellten sicher, dass die Medizin das Heilungsmonopol und -geschäft der Kirche jetzt und in Zukunft nicht gefährdete. Erfolglose Rosskuren von Säftemedizinern brauchte man nicht zu fürchten. Heilende Operationen oder spezifisch wirksame Medikamente hätten den kirchlichen Segen für die Gesundung erübrigt. Fürsprachen, Handauflegen und Wallfahrten waren schließlich eine der Hauptquellen des kirchlichen Reichtums.

Alle Wallfahrtsorte beanspruchten für die dort verehrten Heiligen den »Arzt«-Titel.20 Mindestens jeder sechste Schutzpatron eines Gotteshauses bewahrte angeblich vor irgendeinem Leiden. Heilen konnten eben nur Heilige. Wie unerwünscht außerkirchliche Therapieversuche waren, lässt sich dem Lorscher Arzneibuch (um 800) entnehmen, das als älteste medizinisch-pharmazeutische Handschrift im deutschsprachigen Raum gilt. Im Vorwort sieht sich der anonyme Autor genötigt, Vorbehalte zu entkräften, die Behandlungen als unzulässige Eingriffe in den göttlichen Plan sehen.

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