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EDITION TICHYS EINBLICK

2., komplett überarbeitete und erweiterte Neuausgabe 2021

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Umschlagabbildung: shutterstock.com/CRVL

Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern




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ISBN Print 978-3-95972-379-4

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-790-7

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96092-791-4


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Gewidmet den bislang mehr als 3200 Soldaten und zivilen Mitarbeitern,
die seit Gründung der Bundeswehr im 
Dienst ums Leben gekommen sind.

Inhalt

Geleitwort von Rupert Scholz

Warum dieses Buch?

Warum nach knapp zwei Jahren eine Neuausgabe?

Kapitel I
Gesellschaftliche und politische Umstände: Armee in einer postpatriotischen Gesellschaft

Die »verspätete« Nation auf dem Weg in die NATO

Patriotismus und Wiedervereinigung: Fehlanzeige?

Naiv-militanter Pazifismus als ideologische Basis

Wiederkehrende Attacken gegen die Bundeswehr

Rechtsextremismus in der Bundeswehr?

Politik, Parteien und Bundeswehr

Der Gipfel: die De-facto-Abschaffung der Wehrpflicht

Bundeswehr und »Krieg«

Bestenfalls »freundliches Desinteresse«?

Plädoyer für einen aufgeklärten Patriotismus

Kapitel II
Strategische Lage

Zeitenwende

Vereinte Nationen

Die NATO in der Krise

USA

Neue US-Außen- und Sicherheitspolitik

Rüstungskontrolle

Deutschland – ein neuralgischer Punkt

NATO-Mitglied Türkei

Sicherheit mit oder vor Russland?

Russlands Rüstung

China auf dem Weg zur Weltmacht

Globale Wirtschaftsmacht

Globale Militärmacht

Russland und China: Partner oder Kontrahenten?

Nordafrikanisch-asiatischer Krisenbogen

Hybride Kriege

Migration und Erderwärmung

Der globalisierte Terrorismus

Neue Bedrohungsformen

Der elektronische Krieg – Cyber

Chemische und biologische Bedrohungsformen

Bevölkerungsschutz als Teil der öffentlichen Sicherheit und der Gefahrenabwehr

Kapitel III
Defizite und Konsequenzen

Personal

Flexibel atmender Personalkörper«

Kopflastige Personalstruktur

Einführung einer Bundeswehr-spezifischen Besoldungsstruktur

Stechuhrmentalität

Bürokratiemonster

Vom Beteiligungswesen zum Soldatenrat?

Jedem Soldaten seine individuelle Beschwerdemöglichkeit

Diffusion von Verantwortung

Gleichstellung von Mann und Frau oder doch Zwangsegalisierung?

Gendermurks

Weibliche Dienstgrade

Reservisten als Ersatzarmee

Veteranen im Abseits

Organisation – eine Reform jagt die nächste

Zu Tode organisiert

Streitkräftereform 2010 ff.

Refokussierung auf Landes- und Bündnisverteidigung

Mehr Organisationsbereiche als Panzerbataillone

Zauberwort Cyber

Allheilmittel Privatisierung

Rückbau der Armee zu brauchbaren Strukturen

Rüstung – Quell steter Freude

Handelsüblich oder spezifisch militärisch?

Brauchen wir eine eigene Rüstungsindustrie?

Rüstungsprojekte: zu komplex, zu viele Partner

Zu viele Köche verderben den Brei – Eurofighter und Leopard im Vergleich

Beispiel: Kampfflugzeug für Deutschland und Frankreich

Beispiel: Milliarden für eine veraltete Zwischenlösung

Beispiel: Hickhack um das Sturmgewehr G36

Übertechnisierung von Panzern, Schiffen und Flugzeugen

Verkehrte Technik: UH Tiger

Bewaffnete Drohnen

Wartung und Instandsetzung

Kanzler und Minister auf Reisen

Träge Planungs- und Beschaffungsorganisation

Rüstungswirtschaft

Vertrauen schaffen und investieren

Ohne Material kein Einsatz und keine Übung

Der Geist der Truppe geht verloren

Investitionen sind notwendig

Kapitel IV
Sieben Jahrzehnte Bundeswehr – ihr Auftrag im Wandel

Gründung und Aufbau

Geburtsurkunde der Bundeswehr

Prinzipielle Weichenstellungen

Eine Armee entsteht

Der Aufbau von Heer, Luftwaffe und Marine

Rechtliche Grundlagen

Staatsbürger in Uniform und Wehrpflicht

Strategische Rahmenbedingungen

Die Nordatlantische Verteidigungsallianz NATO

Ende der Aufbauphase und Spiegel-Affäre

Starfighter – ein Kampfflugzeug als »Witwenmacher«

Konsolidierung der Bundeswehr in den 1970/80er-Jahren

NATO-Doppelbeschluss 1979 – Neuauflage 2021/2022?

Armee der Einheit

Kapitel V
Armee im Auslandseinsatz: Bedarf, Grenzen, Risiken, Belastungen

Afghanistan-Einsatz scheitert

Bundeswehr in Afrika und Nahost

Zwei-Welten-Problematik im Auslandseinsatz

Unterstützung zu Hause und Fürsorgepflicht

Posttraumatische Belastungsstörung

Kapitel VI
Europäische Armee – reales Ziel oder Fata Morgana?

Erste Ansätze

Und nach dem Brexit?

Frankreichs Interessen

Frankreich nicht verhungern lassen

Eine Hinhaltetaktik namens PESCO

Synergien sinnvoll nutzen

Kapitel VII
Deutsche Sonderwege

»Parlamentsarmee«

Innere Führung – einmalig oder überholt?

Kritik an der Inneren Führung

Innere Führung beim Umgang mit Regelabweichungen

Es geht um Anerkennung

Tradition – politisch und historisch korrekt

Tradition selbstreferenziell schaffen

Widerstand als Traditionspfeiler im Umgang mit der Wehrmacht

»Säuberungen« in der Bundeswehr?

Eisernes Kreuz

Patriotismus und Vaterlandsliebe

Einsatz der Bundeswehr im Innern

Innerer Notstand

Bundeswehr und Corona

Den Ernstfall üben


Ausblick

Bildnachweise

Über die Autoren

Geleitwort von Rupert Scholz

Der katastrophale Zustand der Bundeswehr hält an. Ausreichend Personal und eine funktionstüchtige Ausrüstung fehlen nach wie vor. Trotz eines steigenden Verteidigungsetats mangelt es weiterhin an einsatzklaren Panzern, Hubschraubern und Fregatten, nicht zuletzt an genügend Munition und Ausrüstung der Soldaten. Unter diesen elementaren Defiziten leidet die Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland. Dieser wahrhaft unverantwortliche Befund wiegt umso schwerer, als die Landes- und Bündnisverteidigung endlich wieder als Kernauftrag deutscher Streitkräfte erkannt worden ist. Zudem hat die Pandemie gezeigt, dass auch der Zivilschutz in unserem Land vernachlässigt wurde. Die Bundeswehr wird auch dafür gebraucht.

Jedes souveräne Land ist für seine Verteidigungsfähigkeit verantwortlich, will es die eigene Souveränität und die Sicherheit seiner Bürger gewährleisten. Eine Feststellung, die ebenso selbstverständlich wie verbindlicher Verfassungsauftrag ist, zeitweise aber anscheinend in Vergessenheit geraten war. Die Aussetzung der Wehrpflicht erfolgte in Deutschland 2011 überstürzt und ohne jene Übergangsregelungen, derer der Schritt zur Berufsarmee eigentlich bedurft hätte. Den Soldatenberuf ließ man im öffentlichen Ansehen so verfallen, dass viele unserer Soldaten mit Recht nach der Identifizierung des Gemeinwesens mit ihnen und ihrem Auftrag fragen und an sich und ihrem Amtseid zweifeln. Wiederum ein verheerender Befund, für den auch die politische Führung der Bundeswehr in hohem Maße verantwortlich ist. Wann in den letzten Jahren hätte sich zum Beispiel einmal der Deutsche Bundestag so grundlegend, wie es notwendig gewesen wäre, mit der Situation der Bundeswehr und dem Befinden unserer Soldaten auseinandergesetzt? Die These von der »Parlamentsarmee« ist längst verkommen. Selbst kritische und kompetent vorgetragene Berichte des Wehrbeauftragten haben an diesem Säumnis wenig geändert.

Die gleiche Kritik gilt für die deutsche Bündnispolitik. Seit Jahren besteht die Zusage an die NATO, 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für die Verteidigung von eigenem Land und Bündnis aufzuwenden. In der Realität wurde und wird jedoch nur etwas über 1,3 Prozent für die Bundeswehr eingesetzt. Die entsprechende Kritik unserer Bündnispartner ist noch immer berechtigt. Das stets bemühte Gegenargument von den hohen Aufwendungen Deutschlands für die Entwicklungspolitik geht fehl. Denn selbst wenn die Entwicklungspolitik sicherheitspolitische Relevanz besitzt, kann sie niemals die Fähigkeit zur militärischen Landes- und Bündnisverteidigung ersetzen. Es ist ob des Aufstiegs Chinas zudem höchste Zeit, die USA zu entlasten und mehr Aufgaben zu übernehmen. Der lauter werdende Ruf nach einer Europäischen Armee beziehungsweise einer integrierten Verteidigungsfähigkeit Europas ist mehr denn je begründet. Aber auch dies enthebt nicht von der nationalen Eigenverantwortung. Im Gegenteil, zumal die Bundeswehr in ihrem gegenwärtigen Zustand nicht europafähig ist!

Im Weiteren: Zu einer verantwortlichen Landes- und Bündnisverteidigung gehört auch eine funktionstüchtige Rüstungsindustrie. Sie repräsentierte im internationalen Vergleich einen außerordentlich hohen Leistungsstand in Qualität wie Technologie. Aber auch hier schlagen die vorgenannten Defizite und Beschränkungen in unverantwortlichem Maße durch.

Alles in allem: Ein grundlegender Wandel in der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist überfällig. In die Bundeswehr muss daher weiterhin massiv investiert werden. Der Beruf des Soldaten muss wieder mit der Achtung und der Anerkennung gepflegt und gewürdigt werden, die unsere Soldaten wahrhaft verdienen. Ist der Beruf des Soldaten doch der einzige, der kraft Selbstverständnisses und Amtseid bedeutet, sich Tag für Tag mit Leib und Leben für die Sicherheit der Bürger einzusetzen.

All dies wird mit dem hier vorgelegten Buch in eindrucksvoller Weise belegt. Gesellschaftliche Verwerfungen und Defizite in Politik und Bundeswehr werden mit klarer Analyse aufgezeigt. Die notwendigen Reformschritte werden beim Namen genannt und in ebenso klarer wie hoffentlich unüberhörbarer Weise an Staat und Gesellschaft adressiert.

Prof. Dr. Rupert Scholz

Bundesminister a. D.1


1 Prof. Dr. Rupert Scholz (em.) für Öffentliches Recht an der Universität München, Senator für Justiz und Bundesangelegenheiten des Landes Berlin 1981/1988. Bundesminister der Verteidigung 1988/1989.

Warum dieses Buch?

Die Bundeswehr pfeift beinahe aus dem letzten Loch. Seit der Wiedervereinigung wurde sie kaputtgespart, »Friedensdividende« war angesagt. Jetzt steht sie personell ausgedünnt da, die Motivation der Truppe ist teilweise im Keller, das Material kaum einsatzfähig, die Organisation in einem desaströsen Zustand. Eine Reform jagt die nächste, die Armee ist zeitgeistigen Strömungen und den Eitelkeiten der Verantwortlichen ausgesetzt. Besser ist dadurch kaum etwas geworden, außer dass der Reformeifer die Illusion des Fortschritts aufkeimen ließ. Tatsächlich ist die Bundeswehr, allerdings mit Ausnahme einzelner Verbände, zu einer Reformruine geworden.

Aber nicht nur Deutschland hat es schwer mit seiner Armee, auch die Bundeswehr hat es mit Deutschland nicht leicht. Denn es ist noch weniger als »freundliches Desinteresse«, das die Bundeswehr in Politik und Gesellschaft vorfindet. Deren Haltung oszilliert zwischen Gleichgültigkeit und Aversion.

Im Alltag ist die Bundeswehr kaum noch sichtbar. Die Wehrpflicht ist seit 2011 ausgesetzt, die verbliebenen Soldaten scheuen sich immer mehr, außerhalb ihrer Dienststellen in Uniform aufzutreten. Die Maßnahmen der Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, wieder stärker auf öffentliche Gelöbnisse von Rekruten zu setzen und Soldaten in Uniform die kostenlose Nutzung der Bahn zu ermöglichen, gehen in die richtige Richtung. Am Ausgangsbefund werden sie aber nur wenig ändern können. Zugleich befindet sich die Bundeswehr seit einem Vierteljahrhundert im »Einsatz«. Nicht THW-ähnlich, sondern im kriegerischen Einsatz, Deutschland konnte sich nach der Wiedervereinigung nicht länger verweigern. Der mit der NS-Vergangenheit begründete pazifistische Sonderweg genügte nicht mehr, denn mittlerweile wird solche Argumentation, angesichts der kriegerischen Konflikte mitten in Europa und vor dessen Haustür, eher als Ausrede verstanden. Mit deutscher Sonder- und Hypermoral ist es nicht mehr getan. Wir sind mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Ende der Sowjetunion nicht am Ende der Geschichte angelangt. Eine allumfassend friedliche und liberale Weltordnung wird es aber wohl nie geben. Von solcher Illusion ließ sich deutsche Politik paralysieren – nach dem Motto: Milliarden sparen und sozialpolitisch segensreich wirken.

Mit Sparvorgaben kann eine ganze Armee aus dem Tritt gebracht werden. Jede Armee besteht aus Einzelverbänden, die eine durchsetzungsfähige Streitmacht bilden können, wenn alle Teile von der Kompanie bis zur Division zusammenwirken. Spätestens seit den Strukturreformen aus der Amtszeit von Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) in den Jahren 2011 bis 2013 ist kein größerer Kampfverband mehr einsatzbereit. An Brigaden, der kleinsten Großformation mit rund 5000 Soldaten, hält die Bundeswehr keine einzige mit Vollausstattung bereit, also allem Personal, Fahrzeugen und Waffen. Zum Vergleich: Das amerikanische Heer unterhält etwa zehn aktive Divisionen mit jeweils etwa vier Brigaden und acht Reservedivisionen. Auch Frankreich und Großbritannien verfügen über mehrere Heeresdivisionen, darunter kampferprobte Verbände. Außerdem existieren daneben Truppen, die in Deutschland gar nicht erwünscht wären: etwa die französische Fremdenlegion mit rund 8500 ausländischen Soldaten oder die nepalesischen Gurkhas der britischen Armee.

Die materielle Einsatzbereitschaft aller 69 Hauptwaffensysteme der Bundeswehr ist sehr unterschiedlich, zum Teil schlichtweg defizitär. Sie liegt im Durchschnitt Ende 2020 zwar bei (nur) 74 Prozent. Bei fabrikneuen ungeschützten LKW sind über 90 Prozent einsatzbereit (warum nur 90 Prozent?), bei Hubschraubern nur knapp 40 Prozent. Beim Eurofighter sind es 66 Prozent, beim A400M 43 Prozent. Die angestrebte Zielmarke von 70 Prozent übertrafen 41 Hauptwaffensysteme, zwölf indes waren schlechter als 50 Prozent. Hauptwaffensysteme mit nach wie vor stark verbesserungswürdiger Einsatzbereitschaft sind der Kampfhubschrauber Tiger, die »Modularen Sanitätseinrichtungen« sowie Altsysteme wie Tornado, Transporthubschrauber CH-53 oder die Marinehubschrauber Sea King und Sea Lynx. Zwischen 33 und 86 Prozent einsetzbar sind unter anderem CH-53, P-3C ORION und Betriebsstofftransporter.1 Die Ursachen dieser aktuellen Probleme liegen allerdings schon Jahre und zum Teil Jahrzehnte zurück.2

Neue Waffensysteme wurden aus Ersparnisgründen ohne ausreichend Ersatzteile und Rahmenverträge für ihre Instandsetzung eingeführt. Es galt die Überzeugung, von lauter Freunden umgeben und keinerlei Zeitdruck ausgesetzt zu sein. Auf die damit verbundenen Gefahren haben die militärisch Verantwortlichen seinerzeit hingewiesen. Parlament und Regierung ignorierten die Einwände, bis 2014 das Erwachen mit der Ukraine-Krise einsetzte. Die Bundeswehr leistete den Offenbarungseid, sie war zur Bündnisverteidigung nicht mehr in der Lage.

Es passiert, was passieren musste: Wenn Inspektionen fällig werden und ein Kollisionsschaden hinzukommt, steht etwa die ganze U-Boot-Flotte still, weil ohne Ersatzteile eine Instandsetzung kurzfristig nicht möglich ist.3 Die hierfür ursächlichen Entscheidungen wurden von früheren Parlamenten und Regierungen getroffen, die verantwortungslos vom immerwährenden Frieden ausgingen. Die strategische Zäsur erfolgte unter Verteidigungsminister Peter Struck. »Die herkömmliche Landesverteidigung gegen einen konventionellen Angriff als allein strukturbestimmende Aufgabe der Bundeswehr entspricht nicht mehr den aktuellen sicherheitspolitischen Erfordernissen. Die nur für diesen Zweck bereitgehaltenen Fähigkeiten werden nicht länger benötigt«, hieß es in den Verteidigungspolitischen Richtlinien vom 20. Mai 2003.4 Die noch verfügbaren Haushaltsmittel wurden auf die weltweite Konfliktverhütung, Krisenbewältigung und Terrorismusbekämpfung konzentriert. »Bundeswehr im Auslandseinsatz« lautete die Devise. Das übrige Gerät wurde nicht mehr betriebsbereit gehalten, stillgelegt oder gar verschenkt. So wird eine Armee zum Gespött von Karikaturisten, und die Motivation der Soldaten leidet. Spätestens Verteidigungsminister zu Guttenberg beseitigte letzte Grundlagen einer verantwortbaren Streitkräfteplanung mit seinem Diktum: »Der Haushalt bestimmt die Struktur.« Er hatte sich bereit erklärt, nach der Finanzkrise 2009 weitere 8 Milliarden Euro aus dem Verteidigungsetat einzusparen.

Auch die Personalprobleme der Bundeswehr sind gewaltig. Vor allem ist der Übergang von der Wehrpflicht- zur Freiwilligenarmee nicht gelungen. Es gibt weit »mehr Häuptlinge als Indianer«, jeder vierte Soldat ist heutzutage Offizier. In der Truppe ist zugleich das Personal knapp, die Verwaltung wurde extrem aufgebläht, jeder Vorgang bedarf mittlerweile der Dokumentation. Der »Bürokratiewahnsinn« (Bericht des Wehrbeauftragten vom 29. Januar 2019) lähmt die Initiative und trägt zur Diffusion von Verantwortung bei. Alles und jedes muss gemeldet werden, gefördert von einer misstrauischen, zentralistisch geprägten höheren Führung.

Die Nachwuchsschwierigkeiten dürften bald überhandnehmen. Nicht nur schlägt der gravierende demografische Wandel durch (im Jahr 2025 wird es rund 11 Prozent weniger Schulabgänger geben als 2015), auch die zwiespältige Einstellung der Bevölkerung zur Bundeswehr und ihren Einsätzen zeigt Wirkung. Seit Aussetzung der Wehrpflicht muss sich niemand mehr mit der Armee befassen. Eine empfehlenswerte allgemeine Dienstpflicht wird nur halbherzig diskutiert, wiewohl dadurch für ausreichend Nachwuchs gesorgt werden könnte. So aber grassiert ein eklatanter Personalmangel. Mit Stand 14. Juli 2020 waren 21 218 Dienstposten (13,2 Prozent der Gesamtzahl) frei. So die Antwort des Verteidigungsministeriums auf eine Anfrage des FDP-Abgeordneten Marcus Faber.5 Zudem soll die Bundeswehr von 183 000 Soldaten bis 2027 auf 203 000 anwachsen. Mit dem Fachkräftemangel wird das doppelt schwierig.

Die organisatorischen Schwierigkeiten passen ins Bild. Privatisierungen wurden mit großem Aplomb und Milliardenaufwand betrieben, um am Ende wieder rückabgewickelt zu werden. Die zahllosen Standortschließungen seit der Wiedervereinigung haben die Infrastrukturverantwortlichen, auch Ämter und Stäbe, insbesondere aber die Soldaten und Zivilbediensteten, massiv belastet.

Eine Anmerkung der Autoren in eigener Sache: Die in diesem Buch vorgetragene Kritik geht ans Eingemachte. Über die bestehenden Schwierigkeiten hinwegzusehen, ist jedoch keine Lösung, eine Verteufelung der Armee aus Prinzip aber gleich gar nicht. Wir verbinden unsere Kritik mit zahlreichen Lösungsvorschlägen. Die Bundeswehr ist unseres Erachtens eine zutiefst wichtige Einrichtung für unser Land und für Europa. Sie wieder zum Laufen zu bringen, ist daher jeden Schweißtropfen wert.

Über die beschriebenen Probleme hinaus verfügt unsere Armee auch heute noch über Tausende hoch motivierter Soldaten und ziviler Mitarbeiter, die ihre Treuepflichten gewissenhaft erfüllen. Ganz gewiss soll treues Dienen mit diesem Werk nicht schlechtgeredet werden. Im Gegenteil: Der Blick soll geschärft und verstärkt darauf gerichtet werden, wo es kneift: sowohl politisch und gesellschaftlich als auch im Innenverhältnis der Streitkräfte. Und das Ziel dabei ist, den Dienst für das Vaterland künftig zu erleichtern.

Ein Hinweis zur Quellenlage: Wir haben uns intensiv und wiederholt bemüht, über das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) und über das Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw) in Koblenz amtliche Daten über Personalfragen und Ausrüstungsstände zu erhalten. Die Bereitschaft, entsprechende Informationen zur Verfügung zu stellen, beschränkte sich auf vage Hinweise, manches sei im Netz verfügbar. Ansonsten wurde systematisch gemauert. Neben den Nachweisen im Anmerkungsapparat waren die Autoren als Informationsbasis daher auf folgende Quellen angewiesen: den Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages, insbesondere die Antworten der Bundesregierung auf Parlamentarische Anfragen, ferner folgende Periodika: Internationale Politik, Innere Führung, Y – Das Magazin der Bundeswehr, treue Kameraden, Mittler-Brief, Newsletter Verteidigung, Die Bundeswehr, Das Parlament.


1 www.bmvg.de/resource/blob/4911272/a9a54e0829c31814fa3ce3c7d2c375d9/20201208-download-bericht-materielle-einsatzbereitschaft-data.pdf

2 Die Mängel werden regelmäßig in den Jahresberichten des Wehrbeauftragten des Bundestages aufgelistet. Quelle: https://www.bundestag.de/resource/blob/823790/eb1b7c6a0366af347d6c047ba2414958/jahresbericht_2020_pdf-data.pdf

3 Siehe Anmerkung 2.

4 http://www.imi-online.de/2003/05/20/die-neuen-verteidigu/

5 https://dipbt.bundestag.de/doc/btd/19/211/1921117.pdf S. 59.

Warum nach knapp zwei Jahren eine Neuausgabe?

Die erste Auflage dieses Buches ist im Juni 2019 erschienen. In Fachkreisen hat das Werk hohe Beachtung und Zustimmung erfahren, und die Autoren wurden zu zahlreichen Vorträgen eingeladen. Die großen Medien sind jedoch nicht darauf eingegangen. Sicherheitspolitische und militärische Themen gelten dort aufgrund eines oft dogmatischen Pazifismus anscheinend als eher unangenehme Randbereiche der Gesellschaft. Und wer dazu noch Kritik an Kanzlerin Merkel übt, hat es offenbar zusätzlich schwer in der deutschen Medienlandschaft.

Seit der ersten Auflage hat sich viel getan: in Deutschland, in Europa, in der NATO und global. Mit Annegret Kramp-Karrenbauer kam eine neue Verteidigungsministerin, die sich nun nach Abgabe des CDU-Vorsitzes voll auf ihr Amt konzentrieren kann. Ihre Vorgängerin Ursula von der Leyen hat die Bundeswehr in einem desaströsen Zustand zurückgelassen, wenig passte da noch zusammen. Trotz der ausgerufenen Trendwenden ist die materielle Einsatzbereitschaft gering. Der Klarstand der Hauptwaffensysteme verharrt auf dem schlechten Niveau der Vorjahre.1 Inzwischen klettern Panzergrenadiere bei Geländeübungen peinlicherweise sogar aus einem Kleinbus statt aus einem Schützenpanzer.2

Der INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces) zwischen den USA und der damaligen Sowjetunion aus dem Jahr 1987 ist seit dem 2. August 2019 tot, der Vertrag über den offenen Himmel nach dem Rückzug der Amerikaner und Russen wertlos. Immerhin haben sich die Präsidenten Wladimir Putin und Joe Biden bereits geeinigt, den New-Start-Vertrag zur Begrenzung der strategischen Rüstung zu verlängern. Ein weiterer Truppenabzug aus Deutschland beziehungsweise die Verlagerung in Richtung Osteuropa ist aufgeschoben, möglicherweise gar aufgehoben. US-Präsident Donald Trump bezeichnete die NATO in seiner Amtszeit als »obsolet«, Joe Biden betont dagegen wieder den Wert der Allianz. Die konkrete Ausprägung seiner Politik bleibt allerdings abzuwarten. Frankreichs Staats­präsident Emmanuel Macron attestierte der NATO 2019 den »Hirntod«. Großbritannien hat inzwischen die EU verlassen. Die Frage nach den Auswirkungen auf die europäische Sicherheitspolitik ist unbeantwortet. Russland und China rüsten gewaltig auf, Putin kündigt neue, »unbesiegbare« Waffensysteme an. Russland, China und der Iran veranstalteten 2019 ein gemeinsames Seemanöver im Indischen Ozean und im Golf von Oman.3 Polen sieht sich aus dem französisch-deutschen Panzervorhaben »Main Ground Combat System« (MGCS) ausgeschlossen und freundet sich rüstungspolitisch zeitweise mit Südkorea an, um gemeinsam bis zu 800 Panzer zu bauen. Auch dies kein gutes Zeichen für die NATO. Der Nahe Osten und die Sahelzone sind alles andere als befriedet. Syrien, Iran, Irak und Libyen kommen nicht zur Ruhe. Das NATO-Mitglied Türkei macht seine eigene Politik: Es marschiert in Syrien ein, schickt Truppen nach Libyen und beschafft sich ein russisches Flugabwehrraketensystem.

Der Bundestag verlängerte den einen oder anderen Auslandseinsatz der Bundeswehr. Als freilich Frankreich die Deutschen 2019 um Unterstützung in der Sahelzone (Mail, Niger, Tschad, Mauretanien, Burkina Faso) bat, gab es aus Berlin zweimal eine Absage. Frankreich stellt dort 4500 Soldaten, Deutschland 1100. Ebenso gab es eine Absage aus Berlin, als die USA und Großbritannien Deutschland ersuchten, einen Beitrag zur Sicherung der Schifffahrtsstraße von Hormus zu leisten. Was ist der Grund für solches Beiseitestehen? Ist es innen- oder außenpolitisches Kalkül, oder kann die Bundeswehr weitere Einsätze personell und materiell schlicht nicht stemmen? Kramp-Karrenbauer liegt richtig mit der prinzipiellen Feststellung, es gehe um die sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit Deutschlands. Diese setze immer zwei Komponenten voraus: »Dass man es will und dass man es kann. Und für beides müssen wir unseren Beitrag leisten.«4 Deutschland fehlt es an beidem.

Die deutsche Politik nähert sich dem Ziel kaum an, 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigungszwecke einzusetzen; die SPD bremst nach Kräften. Im letzten Jahr sollte Deutschland für das 37 000 Mann-Manöver Defender-Europe 20 zentrale Drehscheibe werden. Infolge des Coronavirus musste diese größte NATO-Übung seit Jahrzehnten allerdings abgebrochen werden. Allein der Transit der Truppen zu Übungsgebieten in Polen und im Baltikum wäre zur Herausforderung für unser Land geworden, denn mit großen Truppenbewegungen liegen keine Erfahrungen mehr vor.

Kramp-Karrenbauer ist jedenfalls nicht zu beneiden. Anfängerfehler waren aus der Hüfte geschossene und unausgegorene Vorschläge zur Errichtung einer Sicherheitszone in Nordsyrien oder die Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrates. Dadurch geriet in den Hintergrund, dass sie durchaus positive Ansätze verfolgte: etwa die Absicht, die Bundeswehr wieder öffentlich sichtbarer zu machen, oder die Streichung fragwürdiger Privatisierungspläne ihrer Vorgängerin im Bereich Beschaffung und Logistik.

Das Erbe, das »AKK« übernahm, bleibt schier erdrückend. Der im Januar 2021 vorgestellte Jahresbericht5 der neuen Wehrbeauftragten Eva Högl vermeldet kaum Fortschritte. Große Beschaffungen haken nach wie vor, ein neues Sturmgewehr und ein Ersatz des Schwerlasthubschraubers ­CH-53 lassen auf sich warten. Nicht viel besser sieht es bei persönlichen Ausrüstungsgegenständen wie Kälteschutzanzügen, Gehörschutz, Helmen und sogar Rucksäcken aus.6

Sogar das Verteidigungsministerium höchstselbst hegt Zweifel, ob die Bundeswehr ihre Ausrüstungs- und Personalziele erfüllen kann. In einem vertraulichen Schreiben an den Verteidigungsausschuss von Mitte Dezember 2019 schreibt das Ministerium, die eigenen Pläne würden sich angesichts der bisherigen Finanzplanung »absehbar verzögern«.7 Das betrifft vor allem die Schnelle Eingreiftruppe der NATO, die 2023 wieder von der Bundeswehr geführt werden soll. Die ministeriellen Planer verabschieden sich insofern von der Perspektive, bis Ende 2031 drei voll ausgerüstete Heeresdivisionen mit jeweils etwa 20 000 Soldaten aufstellen zu können.8 Und diese Vorbehalte wurden formuliert zu einem Zeitpunkt, an dem die Pandemiekrise mit ihren finanziellen Auswirkungen noch gar nicht in Sicht war! Folgerungen aus der Covid-Pandemie für den Zivilschutz waren denn in der Neuauflage auch zu erörtern.

Nicht zuletzt liegt ein Augenmerk dieser Ausgabe auf den Entwicklungen der sicherheitspolitischen Weltlage und der Frage, wie sich die Einsatzfähigkeit unserer Bundeswehr allen Ankündigungen zum Trotz tatsächlich entwickelt hat.

Der Journalist Gabor Steingart hat die Probleme unserer Armee auf den Punkt gebracht: »Würde die Freiheit Europas von der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr abhängen, würden islamische Fundamentalisten schon morgen auf den Champs-Élysées und auf der Straße des 17. Juni patrouillieren.«9 Oder anders: Die Bundeswehr ist nach wie vor ein Sanierungsfall.

Wie sich all dies weiterentwickeln wird, steht nicht etwa nur in den Sternen, sondern hängt maßgeblich davon ab, welchen Bundestag und damit indirekt welche Bundesregierung die Deutschen im September 2021 wählen. Kommt es zu einem militant-pazifistischen linken Bündnis, geht die Bundeswehr – und nicht nur sie – einer höchst ungewissen Zukunft entgehen.


1 Rüstungsbericht BMVg 20-12.pdf.

2 SZ, 29. Januar 2020, S. 5.

3 https://www.spiegel.de/politik/ausland/iran-haelt-erstmals-marinemanoever-mit-russland-und-china-ab-a-1302848.html

4 www.bmvg.de/de/aktuelles/akk-kramp-karrenbauer-bundeswehr-fit-machen-fuer-zukunft-178554

5 https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/266/1926600.pdf

6 Ebd., S. 88 ff.

7 Die Autoren bekamen dieses Schreiben über Umwege vertraulich zur Kenntnis.

8 https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundeswehr-zweifelt-an-eigener-einsatzfaehigkeit-a-1302310.html

9 https://www.focus.de/politik/ausland/gastbeitrag-von-gabor-steingart-wussten-das-schon-viel-frueher-us-botschafter-grenell-verteidigt-trumps-toetungsbefehl_id_11521149.html