Mein Dank gilt all denen, die mir mit ihrer Tatkraft und Geduld bei der Erstellung dieser Geschichte geholfen haben.
Helmut Brüggemann: Als das Eis den Himmel berührte
Alle Rechte liegen beim Autor
Satz und Layout: Helmut Brüggemann
Umschlaggestaltung: Helmut Brüggemann
Titelbild: Ralf Krämer
Homepage: www.jeth-kinderbuch.de
Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH Norderstedt, 2017
ISBN: 9783743171794
Zur Zeit der Dinosaurier, als noch keine Menschen lebten, bemerkte kein Lebewesen wie sich eine riesige Landfläche von Afrika löste. Den Meeresboden aufscheuernd trieb sie unaufhaltsam nach Osten dem Kontinent Asien entgegen.
Für die Lebewesen und Pflanzen auf unserem Planeten begann damit eine bisher nie dagewesene Katastrophe.
Das Land schob auf seiner Reise nach Norden ein Meer warmen Wassers vor sich her. Als die treibende Erdkruste eine auf der Hälfte seiner Wegstrecke liegende, vom inneren Erdmantel aus gegen den Meeresboden drückende gewaltige Lavasäule erreichte, brach die Hölle auf.
Der vom treibenden Land aufgerissene Meeresboden konnte die aus dem Inneren der Erde aufsteigende Lavasäule nicht mehr zurückhalten.
So explodierte das Gas der Lavasäule bei seiner Berührung mit dem Wasser des Meeres.
Die Kraft der Explosion riss ein Loch in Mutter Erde, dessen Ende selbst die Augen der Dinosaurier mit ihren aufgerichteten langen Hälsen nicht erkennen konnten.
Gewaltige Mengen flüssigen Gesteins und Asche wurden von der Explosion bis in die Atmosphäre der Erde geschleudert.
Felsen manche so groß wie Schulbusse flogen durch die Luft und stürzten schon bald zurück auf den Boden und ins Meer. Dabei erschlugen sie viele auf dem treibenden Land lebende Dinosaurier, jegliche Arten von Echsen und Säugetiere.
Als wenn die zu Boden stürzenden großen Steine nicht bereits schlimm genug waren, fielen nun auch noch die bis in das All geschleuderten und bei ihrem Eintritt in die Erdatmosphäre erhitzten kleinen Steine als Feuerbälle auf die gesamte Erde zurück.
Dabei entzündeten sie das Gras und die Bäume in ihrer Nähe. Es dauerte nur zwei Tage und Nächte bis große Teile des Planeten Erde brannten.
Ein großer Teil der in die Atmosphäre hochgeschleuderten Asche bildete eine zusammenhängende dicke Wolke, die die Erde von Nord nach Süd und von Ost nach West umspannte.
Sie ließ keinen noch so kleinen Sonnenstrahl mehr zu den Pflanzen und Tieren der Erde durch.
Auf der Erde gab es nun keinen Wechsel zwischen Tag und Nacht.
So sah kein Lebewesen ein Morgengrauen oder eine Abenddämmerung.
Die Erde war in völlige Dunkelheit getaucht und kannte nur noch die Nacht.
Pflanzenfresser die nicht von den Steinen erschlagen, vom Feuer verbrannt oder von der vom Himmel fallenden Asche erstickt wurden, fanden schon bald keine Nahrung mehr und mussten verhungern.
Die überlebenden Fleischfresser konnten sich noch einige Zeit von den toten Pflanzenfressern ernähren. Aber dann fanden auch sie keine Nahrung mehr um ihren Hunger zu stillen.
Als dann auch noch ein Komet auf die Erde stürzte und dabei noch mehr Staub, Asche und Feuer auf die Erde niederging, war das Ende der Dinosaurier endgültig besiegelt.
Viele der gegenüber den Sauriern in geringer Anzahl lebenden kleinen Säugetiere schafften das Wunder und überlebten.
Sie retteten sich in kleine Erdhöhlen und warteten in ihnen das Ende der Katastrophe ab. Ihren Hunger stillten sie dabei hauptsächlich von den Wurzeln, die Mutter Erde für sie bereithielt.
Jetzt waren sie die Herren der Erde.
Viele Sommer und Winter vergingen, als das letzte Aschenkörnchen aus der Atmosphäre hinunter auf die Erde fiel.
Nun sahen die überlebenden Tiere der gewaltigen Zerstörung nach langer Zeit endlich wieder die Sonne.
Langsam erwärmten die Sonnenstrahlen die Erde und ihre wenigen Bewohner.
Aus der den Boden der Erde bedeckenden Asche wuchsen bald wieder die ersten Gräser, Blumen, und Sträucher.
An den Sträuchern wachsende bunte Beeren lockten so manches Tier zu einem fruchtigen Mahl.
So dauerte es nicht lange, bis die ersten Bäume ihre Kronen und Äste in den Himmel streckten.
Das sich von Afrika abgelöste Land trieb währenddessen langsam weiter und stieß fünf Millionen Jahre später gegen Asien. Dabei hob es den Meeresboden in die Höhe und schuf so das riesige Himalaja Gebirge.
Durch den Zusammenstoß änderten sich die Meeresströmungen und das vom treibenden Land vor sich hergeschobene warme Tethysmeer verschwand.
Diese Veränderungen schufen ein neues Klima.
Es wurde kälter!
Niederschläge die bisher als Regen auf die Erde fielen, fielen nun als Schnee vom Himmel.
Eine neue Eiszeit begann.
Bald bedeckte eine riesige Eiskappe die nördliche Erdhälfte.
Die durch den Vulkanausbruch und Einschlag des Kometen zu Herren der Erde gewordenen Säugetiere kamen mit der Eiszeit gut zurecht.
Sie blieben die Mächtigen der Erde.
Aber ihre Herrschaft endete, als vor 200.000 Jahren der heutige Mensch die Erde betrat.
Als der Mensch anfing über die Erde und ihre Tiere zu gebieten, hatte sich der Planet von den beiden Katastrophen, die den Dinosauriern den Tod brachten und die Säugetiere zu den Herrschern des Planeten gemacht hatten, erholt.
Aber auch nach weiteren 175.000 Jahren, als eine kleine Gruppe Menschen auf einer Lichtung im Wald lebte, gab es noch die Eiszeit. In kurzen Abständen bebte noch immer die Erde und aus ihrer Tiefe floss Feuer auf das Land.
Ruckartig und voller Unruhe fuhr der junge Jäger Jeth von seinem Felllager hoch.
Was hatte ihn mitten in der Nacht nur so plötzlich geweckt?
Mit bangem und klopfendem Herzen schaute der Junge sich im Langhaus, das er mit seinem Clan bewohnte, um. Die niedrig in Bodensenken eingelassenen, brennenden Herdfeuer erleuchteten das Innere des Langhauses nur spärlich. Seine Augen benötigten eine ganze Weile um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen.
Plötzlich hörte Jeth Geräusche aus der Ecke des Langhauses, in der die Tiere sich zum Schlafen niedergelegt hatten.
Von seinem plötzlichen Erwachen immer noch benommen, erkannte der Junge dennoch wie sein noch junger Berglöwe Flumi, dicht gefolgt von dem Wolf Flocke der Zauberin Airam und dem Falken Geher seines Bruders Taje das Langhaus verließen.
Selbst jetzt, als die Tiere ins Freie liefen, sah er den Vogel gehen und nicht fliegen.
Der junge Jäger musste lächeln als er daran dachte wie mühsam es für seinen Bruder und seine Oma Ule gewesen war, den aus einem Nest gefallenen Vogel das Fliegen zu lehren. Da sich der Greif zu Anfang ihrer Bekanntschaft nur auf seinen Füssen fortbewegte und keinerlei Anstalten machte das Fliegen zu lernen, hatte Jeth schon befürchtet, dass der kleine Vogel unter Höhenangst litt.
Jeth lauschte jetzt wieder sehr konzentriert, aber es waren keine ungewöhnlichen Geräusche mehr zu hören. Der Junge vernahm wie immer, wenn er nicht einschlafen konnte, nur die ihm vertrauten Geräusche seiner schlafenden Mitbewohner.
Langsam beruhigte Jeth sich wieder.
Es war wohl nur ein Traum gewesen, der ihn geweckt hatte.
Über die Tiere, die das Langhaus mittlerweile verlassen hatten, machte er sich nur noch kurz Gedanken, sie waren sicher zur Jagd aufgebrochen.
Gähnend legte er sich wieder zurück auf seine mit dicken Fellen ausgepolsterte Schlafstätte aus Mammutknochen.
Zum Schutz gegen die Kälte, die trotz der Feuer im Langhaus herrschte, zog er seine Felldecken bis zum Kinn hoch.
Er hatte es sich eben zum Schlafen gemütlich gemacht, als ein lauter Knall ihn hochschrecken und ein starkes Beben des Bodens sein Bett unter ihm zusammenbrechen ließ.
Das ist jetzt aber kein Traum mehr, ging es dem Jungen durch den Kopf.
Der Schreck saß tief in ihm, als er sich so schnell er konnte aus seinen Decken wühlte und aus den Trümmern seines am Boden liegenden Bettes aufsprang.
Entsetzt sah Jeth wie die Herdfeuer aus ihren Erdlöchern herausgeschleudert wurden. Dabei verteilte sich das brennende Holz mit der glühenden Asche im gesamten Langhaus.
Der Lärm hatte alle Bewohner aufgeschreckt und ließ sie wie gebannt auf das Chaos starren.
Noch immer bebte der Boden und unter lautem Getöse stürzten im Langhaus die aus Mammutknochen und jungen Baumstämmen gefertigten Gestelle um. Dabei fielen auf ihnen abgelegte Töpfe aus Ton, von seinem Bruder Taje hergestellte Figuren aus Holz und Mammutknochen, Kleidung und Waffen zu Boden. Viele der irdenen Behälter zerbrachen und waren für alle Zeit verloren.
Als wenn nicht schon genug zerstört wäre, sah der Junge mit vor Angst weit aufgerissenen Augen, wie die ersten dünnen Baumstämme die das Dach trugen, ins Innere des Langhauses fielen. So seiner Stützen beraubt stürzte das Dach, das die Bewohner aus dem Schilf des nahen Sees hergestellt hatten, in die Tiefe.
Die dabei entstandene gewaltige Staubschicht nahm Jeth die Sicht auf seine Umgebung und ließ seine Augen tränen.
Als der Staub sich legte, starrte der Junge mit seinen noch immer tränenden Augen auf das Durcheinander, das sich im Langhaus abspielte. Obwohl er sah, wie das vom Erdbeben aus den Erdlöchern herausgeschleuderte Feuer die Wände und das herabgestürzte Schilf in Brand setzten und die Flammen sich rasend schnell im Langhaus ausbreiteten, war er nicht imstande sich zu bewegen. Schlimmer noch, er erfasste auch nicht, wo er sich befand und was um ihn geschah.
Dann endlich drang der Ruf ihres Anführers Helu zu seinen Ohren durch: „Raus hier, alle sofort raus oder wir werden in dem Feuer sterben.“
Dieser Ruf brachte Jeth wieder zurück in die Gegenwart.
Jeth wusste, wollte er nicht in dem Feuer sterben, dass er das brennende Haus schnell verlassen musste. Aber immer noch vom Anblick des Brandes benommen, ging der Junge nur langsam zum Ausgang.
Aus dem zerstörten Langhaus hinaus sah Jeth, wie die Bewohner des Hauses ins Freie stürzten und in sicherer Entfernung von dem brennenden Haus auf den Boden niedersanken.
Ein fester Griff umfasste seine Hand. Als er zur Seite blickte, sah er seinen Vater Tona, der ihn aus der brennenden Unterkunft ins Freie zu den anderen Bewohnern des Langhauses zog.
In den Gesichtern seiner auf dem Boden sitzenden Gefährten erblickte der Junge nur blankes Entsetzen.
Er bemerkte, wie seine Mutter Nao suchend umherschaute.
Was suchte sie nur?
Dann sah Jeth wie seine Mutter, die eben noch ruhig auf dem Boden gesessen hatte, plötzlich aufsprang und sich ihr Mund zum Schrei öffnete: „Taje, wo ist Taje!“
Die junge Frau lief zu Airam der Zauberin des Stammes und schüttelte diese als wolle sie von ihr die Früchte eines Baumes ernten.
Dabei rief sie: „Airam, wo ist mein Sohn Taje? Du hast mir doch gesagt er wäre aus der brennenden Hütte hinausgelaufen. Wo ist mein Sohn?“
Die Zauberin stand wie gebannt vor der jungen Frau und ließ sich von ihr ohne Gegenwehr weiter durchschütteln. Erst als Nao die Zauberin vor Erschöpfung losließ, entrang sich aus dem Hals der alten Frau ein Stöhnen.
Alle sahen, wie Airam, völlig verstört und aschfahl im Gesicht, der jungen Frau antwortete: „Oh, verzeih mir, Nao, ich war mir sicher, dass ich Taje habe hinauslaufen sehen.“
Dann schlug Airam ihre Hände vors Gesicht und sank mit einem tiefen Stöhnen auf die Knie.
Leise Worte murmelnd versank sie in ein Gebet an die Göttin Mutter Erde und erflehte ihren Schutz für den jungen Jäger Taje.
Mit einem verzweifelten Blick auf die betende Zauberin stürzte Nao, laut nach Taje rufend, zum noch immer brennenden Langhaus.
Das Rufen seiner Mutter holte Jeth nun vollständig in die Gegenwart zurück.
Was nur, überlegte der Junge, hatte ihn beim Brand nur so in Angst versetzt?
Er war doch sonst so mutig. Selbst eine Bärenjagd schreckte ihn nicht.
Nein, das Unglück konnte ihm nicht so zugesetzt haben. Es musste etwas Anderes gewesen sein.
Aber was war es gewesen?
So sehr er sich auch bemühte, er fand keine Erklärung.
Nao wäre wohl auf der Suche nach ihrem Sohn Taje trotz der Hitze in das brennende Haus gelaufen, hätte sie ihr Vater Helu nicht aufgehalten. Helu war mit den Jägern des Stammes und Naos Mann Tona auf dem Weg zur Brandstelle um nachzusehen, ob noch etwas von ihrem Hab und Gut zu retten wäre.
Voller Sorge um ihren jüngsten Sohn Taje, den sie immer noch im brennenden Haus vermutete, schlug sie mit ihren Händen wild um sich.
Ohne ein beruhigendes Wort zur Tochter sprechend, drückte Helu die junge Frau ihrem Mann Tona in die Arme.
„Du bist für sie verantwortlich, Tona. Sorge dafür, dass sich deine Frau beruhigt. Es kann doch nicht sein, dass meine Tochter sich wegen des brennenden Hauses so aufregt.“
Mittlerweile war Helus Frau Ule zu der Gruppe gestoßen.
Sie nahm ihre jetzt laut schluchzende Tochter Nao aus Tonas Armen und strich ihr sanft übers Haar.
Dann drehte sie sich zu den Männern und sprach mit zitternder Stimme: „Wir vermissen Taje. Nao vermutet ihn noch in dem brennenden Haus.“
Entsetzt drehten sich die Männer um und sahen, wie die letzten noch stehenden Holzbalken in sich zusammenfielen und ins Feuer stürzten.
Das Haus war nun nur noch eine riesige brennende Feuerstelle. Die Hitze war enorm. Niemand war jetzt noch in der Lage sich ihm zu nähern.
Jeth spürte trotz der Hitze des Feuers eine Kälte in seinem Körper hochsteigen. Wie sollte er jetzt ohne seinen Bruder weiterleben? Er durfte zwar mit seinen zwölf Sommern schon die Jäger auf ihrer Jagd begleiten, aber am liebsten waren ihm die Stunden, in denen er mit seinem Bruder durch die Wälder streifte. Sicher, ihre Mutter Nao machte sich jedes Mal gewaltige Sorgen um ihre Söhne, aber er war ja schon ein richtiger Jäger und konnte gut auf seinen neun Sommer zählenden Bruder aufpassen. Wieder schaute er voller Kummer über den Verlust seines Bruders zu dem noch immer brennenden ehemaligen Langhaus. Nein, es durfte nicht sein, dass sein kleiner Bruder dort unter den brennenden Trümmern begraben lag.
Plötzlich fielen ihm ihre Tiere ein, Hoffnung keimte in Jeth auf.
Mit neuem Mut sprang er auf und lief zu seinen Eltern.
Tona hatte sich mit Nao an den Rand der Lichtung zurückgezogen und hielt seine noch immer schluchzende Frau in den Armen.
Als Jeth seine Eltern erreichte, setzte er sich zu ihnen und sagte: „Die Tiere sind nicht hier. Ich wurde kurz vor dem Brand wach und habe zwar nicht Taje, aber unsere Tiere aus dem Haus laufen sehen. Ich bin sicher sie sind in den Wald gelaufen um zu jagen. Vielleicht ist Taje mit ihnen gegangen.“
Nao schaute ihrem Sohn ins Gesicht. Der Junge sah, wie ein Hoffnungsschein das Gesicht seiner Mutter erhellte. Doch plötzlich verschwand das Lächeln. Ein trauriger Ausdruck überschattete wieder das Gesicht seiner Mutter: „Ich wollte du hättest recht, aber Taje ist noch nie alleine mit den Tieren jagen gegangen. Oh nein, wir haben ihn verloren.“
Traurig verbarg sie ihr Gesicht in den Händen.
So schnell gab Jeth die Hoffnung nicht auf und erwiderte: „Sicher, Mutter, bisher tat er das noch nie. Aber ich habe alle gefragt, nur bis auf Airam die sich aber auch nicht mehr sicher ist, hat niemand hat Taje während des Brandes im Haus gesehen.“
Sein Vater Tona lächelte ihn an: „Jeth, du machst uns wieder etwas Hoffnung. Jetzt ist es noch zu dunkel. Aber es wird bald hell, dann werden wir Taje suchen. Ich verspreche dir Nao, wenn er im Wald ist, werden wir ihn finden.“
Zufrieden erhob sich Jeth, als ein fürchterlicher Schlag ihn wieder zu Boden stürzen ließ.
Entsetzt und mit weit aufgerissenen Augen sah der Junge wie die Bäume am Waldrand mit lautem Krachen umstürzten. Es war als würde eine Herde Mammut voller Wut gegen die Bäume laufen und sie mit den Wurzeln aus Mutter Erde reißen.
Wie ein Wunder blieben die Bäume am Rande der Lichtung, unter denen er mit seinen Eltern saß, stehen.
Dennoch sprangen Jeth und seine Eltern auf und liefen zur Mitte der Lichtung. Auf der hatten sich nun auch die anderen Mitglieder ihrer Familie versammelt.
Der neuerliche Erdstoß hatte alle in Angst und Schrecken versetzt. Als Tona ihnen aber von ihrer Hoffnung erzählte, dass Taje noch lebte, huschte ein Lächeln über die Gesichter der Zuhörer.
Jeth sah allen die Erleichterung an und spürte deren Ungeduld endlich mit der Suche nach Taje zu beginnen.
Baka, ein Jäger des Stammes, ging zu Helu und beide unterhielten sich über das geschehene Unglück: „Ich hoffe Helu, Jeth hat mit seiner Vermutung recht und Taje ist tatsächlich mit den Tieren zur Jagd im Wald.“
Helu sah Baka an und lächelte: „Ich bin überzeugt davon, Baka. Es war zwar ein recht wildes Durcheinander während des Brandes im Langhaus. Aber irgendjemand hätte Taje sehen müssen. Vor allem, weil sein Lagerplatz direkt neben Jeths ist und Nao sofort nach ihren Kindern gesehen hat. Sie traf aber nur Jeth am Schlafplatz der Kinder an. Dabei wurde sie zwar von dem herabstürzenden Dach von Jeth getrennt, aber ich bin überzeugt, Nao oder Jeth hätten Taje gesehen, wenn er dort in aller Ruhe geschlafen hätte, während um ihn herum alles zusammenbrach. Habe keine Sorge um Taje. In der Regel kommen unsere Tiere im Morgengrauen von der Jagd zurück. Du wirst sehen, unser jüngster Jäger begleitet sie.“
Während der Unterhaltung waren die Jäger Mare und Rema zu Baka und Helu gestoßen.
Mare schaute zum vom Feuer zerstörten Langhaus: „Das wird eine Menge Arbeit, unsere so wundervolle Unterkunft wiederherzustellen. Ein Glück, dass unsere Vorräte und der größte Teil der Waffen dort in der Hütte lagern.“
Dabei zeigte Mare auf eine kleine Hütte, die in einiger Entfernung zum ehemaligen Langhaus stand. Wie durch ein Wunder schienen das Beben der Erde und das Feuer an ihr keinerlei Schaden angerichtet zu haben.
Remas Gesicht verdunkelte sich, als er sprach: „Ich bin der Meinung wir sollten von hier fortziehen. Die Erde hat doch heute nicht zum ersten Male gebebt. Allerdings noch nie so heftig. Auch jetzt ist immer wieder ein kleines Beben zu spüren.“
Helu legte eine Hand auf Remas Schulter und antwortete seinem jüngsten Sohn: „Mag sein Rema, aber das bestimmt die Göttin und ihr Wille wird uns von Airam und Hejo unseren Schamanen kundgetan. Aber seht, Nao winkt uns zu. Da es langsam hell wird, will sie sicher mit der Suche nach Taje beginnen.“
Gemeinsam gingen die Jäger zu Nao, Tona, Jeth und Airam.
Plötzlich zeigte Jeth zum Waldrand und rief: „Seht dort, unsere Tiere kommen zurück.“
Aus dem Dickicht des Waldes kamen Jeths Berglöwe Flumi und Airams weißer Wolf Wolke auf die Lichtung gelaufen.
Alle hielten den Atem an, wo war Taje?
Die beiden Raubtiere liefen auf das inzwischen von Tona auf der Lichtung angezündete Feuer zu und legten sich dort nieder.
Die Zerstörungen im Lager schienen sie nicht zu berühren.
Alle schauten gebannt auf den Rand des Waldes.
Schrecklich langsam verging die Zeit.
Nichts geschah.
Taje trat nicht auf die Lichtung.
Jeth vernahm ein schmerzliches Stöhnen und sah, wie seine Mutter Nao in den Armen seines Vaters Tona zusammenbrach.
Dann hörte er sie sprechen: „Oh, Tona, er ist nicht mit den Tieren zurückgekommen. Wir haben ihn verloren.“
Die Schamanin Airam ging zu Nao legte ihre Hand auf die Schulter der jungen Frau und tröstete sie: „Sieh doch, es sind nicht alle Tiere zurück. Tajes Falke fehlt noch. Es ist doch möglich das sich Taje mit seinem Falken von Wolke und Flumi getrennt hat. Es hat sich nichts verändert. Wir werden Taje jetzt suchen.“
Die Worte der Schamanin taten nicht nur Nao gut. Nein, alle atmeten erleichtert auf.
Helu rief alle Stammesangehörigen zusammen und sprach: „Beginnen wir mit der Suche. Wir stellen uns am Waldrand in Sichtweite voneinander in einer Reihe auf. Dann gehen wir bis zum Schilfrand des Sees. Sollte jemand eine Spur von Taje oder seinem Falken gefunden haben, ruft er und wir treffen uns bei ihm.
In kurzer Zeit hatten sich alle am Waldrand aufgestellt, sahen sich nochmals an und gingen in den Wald, um mit der Suche nach Taje zu beginnen.
Auch Jeth drang schnell in den Wald ein. Am Anfang waren der Wald und das Unterholz noch nicht sehr dicht. Das lag auch daran, dass sie mittlerweile sehr viel Holz für ihre Hütten und für Feuer aus dem Wald geschlagen hatten. Aber schon nach kurzer Zeit verdichtete sich der Wald und Jeth kam nur langsam voran. Es kam immer häufiger vor, dass er sich mit seinem Steinmesser mühsam den Weg freischneiden musste. Er begann zu schwitzen und die Arme schmerzten ihm vom Schneiden der Äste. Wie sollte er in diesem Dickicht jemals Taje finden? Selbst wenn sein Bruder dicht neben ihm wäre, würde Jeth ihn nicht sehen.
Plötzlich stand das Unterholz nicht mehr so eng zusammen. Nun kam der Junge besser voran und er konnte auch mehr erkennen. In einiger Entfernung vor sich sah der junge Jäger eine Anzahl umgestürzter Bäume. Als er an den ersten Baum kam, bemerkte er, dass die Bruchstelle noch ganz frisch war. Auch die in seiner Nähe liegenden Bäume hatten frische Bruchstellen. Die Bäume mussten beim Beben, das auch ihr Langhaus zerstört hatte, umgestürzt sein.
Jeth entschloss sich, alle umgestürzten Bäume abzusuchen. Er bat Mutter Erde, dass sein Bruder zu diesem Zeitpunkt nicht hier gewesen war. Wie leicht hätte ihn ein Baum treffen können. Er wollte eben mit der Suche unter dem vor ihm liegenden Baum beginnen, als er den Ruf „kikiki“ eines Falken vernahm.
Sofort richtete Jeth sich auf und lauschte.
Von wo war der Ruf gekommen?
Jeth schaute sich um, aber er konnte keinen Falken erblicken.
„Geher, Geher wo bist du?“, rief der Junge.
Wieder ertönte das „kikiki“ eines Falken.
Immer wieder rief Jeth den Namen von Tajes Falken und immer wieder antwortete ihm dieser.
Endlich sah Jeth den Greif.
Der Vogel saß auf einem Baumstamm am äußersten Rand der niedergestürzten Bäume.
Alle Müdigkeit und Erschöpfung vom Freischneiden des Weges waren von dem jungen Jäger gewichen, als er auf dem Weg zu Geher über die vor ihm liegenden Baumstämme sprang. Endlich hatte er den Vogel erreicht. Ein Blick zum Greif nahm ihm alle Ungewissheit, ja es war Geher, Tajes Freund, der ihn gerufen hatte.
Nur Taje sah der junge Jäger nicht.
Wo war sein Bruder? Jeth war sich sicher, dass Taje ganz in der Nähe war. Warum sonst sollte Geher hier im Wald auf einem umgestürzten Baum sitzen und ihn rufen statt bei seinen Freunden Wolke und Flumi zu sein.
Der Junge war sich sicher, Geher bewachte Taje.
Der Greif legte seinen Kopf schief und schaute Jeth an. Der Junge spürte, dass der Vogel seine Aufmerksamkeit erregen wollte.
Plötzlich flog Geher auf und landete zwei Speerwürfe weiter auf den Stamm eines ebenfalls umgestürzten Baumes. Jeth beeilte sich dem Greif zu folgen. Vom Baumstamm flog Geher auf den Boden und der Junge sah noch wie der Greif im Dickicht der Baumkrone verschwand.
Schnell hatte Jeth die Baumkrone erreicht und versuchte die Zweige auseinanderzubiegen, aber sie waren zu dick und zu eng aneinandergerückt. Er konnte es nicht alleine schaffen.
Verzweifelt sprang er auf und rief nach seinen Gefährten.
Es dauerte nicht lange bis alle Suchenden bei Jeth waren und voller Anspannung den Worten des Jungen lauschten. Aufgeregt mit den Händen immer wieder auf die Baumkrone zeigend, erzählte er ihnen von Geher und dass der Vogel im Laub der Krone verschwunden war.
Hastig versuchten die Gefährten alle Äste beiseite zu schieben, um Taje oder Geher im Gewirr der Äste und Zweige zu finden.
Tona schüttelte den Kopf: “So finden wir ihn nicht. Ich versuche in die Krone hineinzukriechen.“
Noch während er sprach legte der Jäger sich auf den Boden und kroch hastig, alle Zweige, die ihm noch im Weg waren zur Seite schiebend, in die Krone hinein.
Das Gewirr von Ästen und Zweigen zerkratzte ihm immer wieder das Gesicht und die Hände.
Die Sorge um seinen Sohn war größer als der dadurch verursachte Schmerz und so spürte der Jäger die Schmerzen nicht.
Dann endlich sah er seinen Sohn.
Taje lag bewegungslos mit dem Gesicht zu Tona in einer Bodenmulde. Kein Ast oder Zweig hatte ihn eingeklemmt. Aber voller Sorge sah Tona die geschlossenen Augen seines Sohnes. Tajes Freund, der Greif Geher, hatte sich neben das Gesicht des Jungen gesetzt und schaute Tona in die Augen.
Es war, als würde der Vogel Taje beschützen wollen.
Als Geher sah wie Tona sich näher an seinen Freund heranschob, trottete er ein wenig zur Seite und machte Platz. Bald hatte Tona seinen Sohn erreicht. Erleichtert hörte der Jäger wie Taje leicht stöhnte.
Aus dem Dickicht der Baumkrone heraus rief er Nao zu: „Nao, ich habe ihn, unser Sohn lebt!“
Mit einem Schrei, der die Erleichterung der jungen Frau ausdrückte, fiel Nao ihrer Mutter Ule in die Arme und weinte vor Glück.
Von Rema und Mare unterstützt, gelang es Tona, seinen Sohn aus der Krone des Baumes zu ziehen.
Die Männer hatten Taje vorsichtig außerhalb der Baumkrone niedergelegt. Sofort kniete Airam sich nieder und untersuchte den Jungen.
Auch Nao kniete sich neben Taje, dabei sah sie der Zauberin sorgenvoll ins Gesicht: „Airam, wie geht es meinem Sohn?“
Die Schamanin legte eine Hand auf die rechte Schulter der Frau und lächelte: „Dein Sohn hat eine dicke Beule, und wenn er wach wird, wird es ihm in seinem Kopf vorkommen, als ob er von vergorener Elchmilch getrunken hätte. Aber sonst geht es ihm gut.“
Mit einem Aufschrei der Erleichterung zog Nao ihren Sohn in die Arme.
Sanft streichelte die junge Frau das Gesicht ihres Jungen und sah voller Freude, wie Taje die Augen öffnete.
Lange schaute Taje die umher Stehenden an. Dann begriff er, wo er sich befand und fragte seine Mutter: „Was ist geschehen?“
Da Nao vor lauter Glück, ihren Sohn gesund wieder gefunden zu haben, die Stimme versagte, hockte Jeth sich neben seine Mutter und seinen Bruder und erzählte Taje, was seit seinem Aufbruch mit den Tieren zur Jagd geschehen war.
Nachdem der junge Jäger seinem Bruder alles berichtet hatte, trat Airam zu Taje: „Kannst du aufstehen, Taje?“
Taje löste sich sanft aus den Armen seiner Mutter und stand, wenn auch noch mit zitternden Beinen, langsam auf.
Plötzlich verspürte er einen stechenden Schmerz in seinem Kopf, der aber recht schnell schwächer wurde. Mit den Fingern rieb er über die schmerzende Stelle an der Stirn und der Schmerz verschwand ganz.
Das hätte die Schamanin auch nicht schneller gekonnt, ging es ihm durch den Kopf.
Er lächelte bei dem Gedanken, sich bei Airam als Schamanenlehrling zu bewerben.
Helu trat zu Taje und mit sorgenvollem Blick fragte er seinen Enkel: “Fühlst du dich stark genug mit uns zurück zum Lager zu gehen?“
Der Junge fühlte sich zwar immer noch etwas schwach, aber bis zu ihrem Lager würde er es schon schaffen.
Daher antwortete er seinem Großvater: „Aber sicher, Opa.“
Helu lächelte: „Das ist schön, dann lasst uns zurückgehen.“
Da sie den auf ihrem Hinweg durch den Wald von ihnen freigeschnittenen Weg benutzten, kamen sie nun schneller voran und erreichten bald die Lichtung mit ihrem zerstörten Langhaus.
Als Taje die Zerstörungen sah, stöhnte er: „Da bin ich aber froh, dass ich mit unseren Raubtieren jagen war.“
Jeth lächelte seinen Bruder an: „Ich glaube Bruder, du kannst froh sein, dass unsere Mutter überglücklich ist, dich heil und gesund wieder in ihre Arme schließen zu können. Sonst hättest du sicher eine gewaltige Strafpredigt über dich ergehen lassen müssen. Wie kann man auch ohne jemandem etwas zu sagen, mitten in der Nacht auf die Jagd gehen?“
Mit einem Blick zum Lagerfeuer sah Jeth ihre Oma Ule auf sie zukommen. Er schaute besorgt seinen Bruder an: „Oh, oh da kommt Oma Ule und nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, bekommst du doch noch einige zornige Worte zu hören. Ich an deiner Stelle würde mich schleunigst davonmachen.“
Den Ratschlag seines älteren Bruders wollte Taje nicht missachten. Schnell wie ein Blitz verschwand er zu seinem Falken, der am anderem Ende der Lichtung auf einem Ast saß. Dennoch hörte er, wie seine Oma hinter ihm herrief: „Warte Bursche, dich bekomme ich schon noch zu fassen. Einfach mitten in der Nacht heimlich zu verschwinden und das ganze Lager in Aufregung zu versetzen. Ja und dann auch noch so dumm sein, den Kopf unter einen fallenden Baum zu halten. Warte nur, bis ich dich kriege!“
Jeth nahm seine Oma Ule, die nun mittlerweile schimpfend bei ihm angekommen war, an die Hand und versuchte sie zu beruhigen: „Ach Oma, nun komm wieder vom Baum herunter. Bis auf eine kleine Beule an Tajes Kopf ist ja nichts passiert.“
Der von Jeth so gut gemeinte Versuch Ule mit Taje zu versöhnen ging völlig daneben.
Ule schaute ihren Enkel nicht eben freundlich an und tadelte ihn: „Was soll ich? Vom Baum herunterkommen, weil nichts passiert ist! Ja, bin ich denn ein Vogel?“
Um einer weiteren Strafpredigt seiner Oma zu entgehen, entzog Jeth ihr schnell die Hand und lief schleunigst seinem Bruder nach.
Völlig außer Atem kam er bei Taje und den Raubtieren an. Neben seinem Berglöwen Flumi kniete Jeth sich nieder und streichelte seinem Freund das kurze Fell.
Dann sah Jeth seinen Bruder an und keuchte: „Ich bin völlig außer Form. Wird Zeit, dass ich wieder mit unseren Tieren jagen gehe. Mit ihnen zu laufen und etwas weniger von Ules gutem Essen sollte mich wieder fit machen. Auf Ules Essen sollten wir heute aber verzichten. Ich habe keine Lust, mir dabei eine ihrer Strafpredigten anzuhören.“
Taje schaute seinen Bruder mit gerunzelter Stirn an und antwortete: „Wieso du? Ich dachte sie wäre nur auf mich sauer.“
So erzählte Jeth seinem Bruder von seinem völlig danebengegangenen Versuch, ihre Oma Ule zu beruhigen.
Lachend klopfte Taje seinem Bruder auf die Schulter: „Bruderherz das hast du gut gemacht. Jetzt dürfte ihre Wut dich treffen. Wenn ich ihr jetzt noch meinen treuesten Blick zuwerfe, kann ich heute Mittag sorglos zum Feuer gehen und ihr Essen genießen. Du Bruder solltest deine Mahlzeit aber wirklich lieber mit unseren Freunden“, dabei zeigte Taje auf ihre Raubtiere, „im Wald suchen. Sei sicher, deine Portion verfällt nicht. Ich werde sie genießen.“
Dann sprang Taje auf und meinte zu Jeth: „Jetzt gehe ich zum See, schaue ins klare Wasser und übe den Blick, mit dem ich Ule besänftigen werde.“
Da Jeth seinen Bruder kannte und wusste das der ihn nur neckte, war er ihm nicht böse. Sich bückend streichelte er seinen Berglöwen erneut: „Komm, Flumi, lass uns jagen gehen. Wenn wir einen Hasen fangen und ihn Ule bringen, wird sie mir alles verzeihen.“
Dann nahm er drei seiner kurzen Jagdspeere aus der vom Feuer verschonten Hütte und ging zu seinem Vater Tona um ihm zu sagen, dass er nun mit Flumi jagen gehe.
Sein Berglöwe Flumi war ihm mittlerweile zu einem treuen Freund geworden. Jeth war sehr froh, dass er Flumi damals bei der Jagd nach einem seinem Stamm gefährlich gewordenen Berglöwen vor dem tödlichen Speerstoß seines Großvaters Helu gerettet hatte. Als sie nach dem Tod des Berglöwen den jungen Flumi in einer Höhle entdeckten, benötigte er lange, seine Mutter Nao und seinen Großvater Helu, davon zu überzeugen, dass er es schaffen würde, den jungen Berglöwen zu zähmen und großzuziehen. Schließlich hatten sie nachgegeben und es war ihm gelungen.
Mittlerweile war ihm Flumi nicht nur ein treuer Freund, sondern auch ein schlauer Gefährte bei seinen Jagdausflügen geworden.
Im Wald kannte der junge Jäger eine kleine Lichtung, deren Boden mit saftigem Gras überzogen war. Als er dort das letzte Mal mit seinem Bruder Taje gewesen war, hatten sie auf ihr eine Menge Hasen gesehen. Mit etwas Glück waren heute wieder Hasen oder gar Rehe auf ihr zu finden.
Um von den Tieren nicht bemerkt zu werden, schlich der Junge leise und sich gegen den Wind haltend auf die Lichtung zu.
Nachdem er den Rand der Lichtung erreichte, sah er, dass der Herr der Tiere ihm wohlgesonnen war. Der junge Jäger erblickte mindestens so viel Hasen, wie seine Hände Finger hatten.
Nun wollte Jeth sehen, ob sich das Üben der Jagd mit Flumi gelohnt hatte.
Er deutete seinem Jagdgefährten, liegen zu bleiben. Leise schlich Jeth weiter zur anderen Seite der Lichtung. Dabei sah er ständig zu den Hasen hinüber. Da er die Richtung gewechselt hatte, ließ es sich nicht vermeiden, dass die Tiere ihn hörten und jetzt auch mit dem Wind witterten.
Aber genau das wollte Jeth nun auch.
Auf der anderen Seite der Lichtung angekommen, trat er auf die freie Fläche und zeigte sich rufend den Hasen. Vom Ruf des Jungen erschreckt flüchteten die Hasen von ihm fort in den Wald.
Genau dort wartete der Berglöwe Flumi auf sie. Für zwei Hasen war die Flucht vor Jeth hier beendet.
Mit einem seiner kurzen Jagdspeere gelang es auch dem jungen Jäger, einen Hasen zu erlegen.
Das „kikiki“ eines Falken ließ ihn aufhorchen und in den Himmel blicken. Dort sah er einen Greif aus der Sonne kommend sich auf den letzten Hasen, der den sicheren Waldrand noch nicht erreicht hatte, stürzen.
Der Vogel blieb ebenso wie der Berglöwe neben seiner geschlagenen Beute stehen, ohne sie anzurühren.
Jeth hatte sofort erkannt, dass es sich bei dem Falken um Tajes Vogel Geher handelte.
Er lief zu den Tieren und sammelte die Beute auf. Als Belohnung überließ er einen Hasen den beiden Helfern.
Mit den restlichen drei Hasen ging Jeth zurück ins Lager. Dort übergab er sie stolz seiner Oma Ule.
Genau wie der Junge es vorausgeahnt hatte, verzieh ihm Ule beim Anblick der Hasen seine zuvor gemachten Bemerkungen.
Von ihrem Fell befreit und ausgenommen, grillten in kurzer Zeit drei Hasen am Spieß über dem offenen Feuer.
Der Geruch der Braten lockte alle Angehörige des Stammes zu Ules Feuer, um das sie sich noch immer vom Verlust des Langhauses bedrückt, schweigend niederließen.
Nach einiger Zeit schaute Tona Helu an: „Helu, wann beginnen wir mit dem Aufbau eines neuen Langhauses?“
Statt Helu antwortete Ule: „Ich bin der Meinung wir sollten von hier fortziehen. Es ist ja nicht so, dass die Erde sich nur einmal bewegt hätte und seither ruhig war. Nein, sie bewegt sich schon den ganzen Tag. Ich glaube unsere Göttin Mutter Erde möchte nicht, dass wir uns hier aufhalten.“
„Ach, Ule, das kann doch nicht sein“, erwiderte ihr Tona: „Wir sind doch nun schon mehrere Monde hier und nie ist etwas passiert.“
Jeth zeigte auf die drei Hasen und sagte: „Ich glaube mein Vater Tona hat recht. Wenn die Götter uns nicht hier haben wollten, würde der Herr der Tiere mir niemals so eine reiche Beute geschenkt haben.“
Nun mischte sich die Schamanin Airam in ihr Gespräch: „Glaubt ihr wirklich, ihr könnt den Willen der Götter deuten? Sollte es stimmen, dass die Mutter Erde uns nicht hier haben möchte, so teile ich Ules Meinung. Es kann nicht gutgehen, gegen den Willen der Göttin zu handeln.“
Helu schaute nachdenklich von einem zum anderen, dann entschied er: „Ich stimme den Frauen zu. Airam hat vollkommen recht. Niemals werden wir hier glücklich leben können, wenn die Göttin gegen unser Hierbleiben ist. Lasst uns alles zum Aufbruch vorbereiten.“
Tona sah das ganz anders: „Aber das ist doch Unsinn. Nur weil die Erde mal einen Tag etwas zittert, sollen wir von hier fortziehen? Lasst uns zumindest noch ein paar Tage abwarten und sehen, was weiter geschieht.“
Zwischenzeitlich hatte Nao am Feuer sitzend vergeblich nach Taje Ausschau gehalten.
Sie konnte ihren Jüngsten nirgendwo im Lager erblicken.
Die junge Frau zog die Beine an, stützte die Unterarme auf die Knie und legte das Kinn in ihre Hände. Dann murmelte sie, aber laut genug, dass alle es hörten: „Taje, wo ist mein Sohn Taje?“
Jeth erwiderte sofort: „Keine Angst Mutter, er ist zum See und kommt sicher gleich zurück.“
Der Junge sah die Erleichterung im Gesicht seiner Mutter, als sie ihn bat: „Jeth, bitte geh und hole ihn. Den Burschen heute nochmals suchen zu müssen, würde ich nicht überstehen.“
Der junge Jäger stand auf und seine Mutter beruhigend anlächelnd antwortete er ihr: „Sorge dich nicht Mutter, ich bin gleich mit Taje zurück.“
Jeth hoffte, dass sein Bruder Taje den von ihnen mühsam durch den Wald angelegten Weg zum See benutzt hatte und sich dort am Ende des Pfades am Uferrand aufhielt. Das fehlte noch, dass er auf der Suche nach Taje den ganzen See umrunden musste.
Von ihrem Lager auf der Lichtung hatten sie zum See hin schon vor langer Zeit den Pfad durch den Wald geschlagen. So konnten sie den See immer mühelos zum Ernten des Schilfes für die Dächer ihrer Hütten oder zum Fischen und Jagen erreichen.
In unmittelbarer Nähe war der See von dichtem Unterholz und Sumpf umgeben. Aus dem Sumpf ragten abgestorbene Baumstümpfe und vereinzelte Birkenbäume. Begab man sich noch näher an den See, so erblickte man riesige Wälder aus Schilf die das Seeufer einfassten. Auch dort war der Boden sehr sumpfig und man sank immer wieder bis zu den Waden in den morastigen Grund.
Jeth hatte Glück und fand Taje tatsächlich am Ende des Weges.
„Taje, du hast wohl Spaß daran, dass ich dich ständig suchen muss? Komm bitte zurück ins Lager. Mutter sorgt sich schon sehr um dich.
Taje sah seinen Bruder an, legte den Zeigefinger auf seine Lippen und flüsterte: „Still, Jeth, hörst du nicht das Brummeln. Es ist, als ob ein Schwarm Bienen in der Nähe vorbeifliegt. Ich sehe aber nirgendwo Bienen. Was ist es dann?“
Jeth lauschte: „Jetzt höre ich es auch.“, antwortete er seinem Bruder.
Dann zeigte Taje auf die Bergreihe am anderen Ufer des Sees: „Das ist aber noch nicht alles! Schau dort zu den Bergen. Zwei von ihnen bluten.“
Jeth hob den Blick, sah hinüber zu den Bergen und bemerkte, wie eine rote Flüssigkeit vom Gipfel der Berge hinunterfloss.
„Taje, hast du es schon gesehen? Einer der Berge raucht.
Es qualmt, als ob ein riesiges Lagerfeuer aus nassem Holz dort oben brennt.“
„Ja, ich habe es auch gesehen, Jeth. Das Ganze ist mir unheimlich. Es ist ja nicht nur das Blut und der Rauch auf den Bergen oder das Zittern der Erde. Nein, da ist noch etwas. Siehst du die Blasen, die dort hinten aus dem See hochsteigen? Dann riecht es hier auch so schlecht. Ich glaube Bruder, wir sollten ganz schnell zurückgehen und es Vater und Helu sagen.“