Norman Wolf
Wie du dich gegen
Mobbing stärkst
und Selbstvertrauen
gewinnst
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen
info@mvg-verlag.de
Einige Namen und Erfahrungsberichte wurden geändert, um die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten zu wahren.
Originalausgabe
1. Auflage 2021
© 2021 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
80799 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Redaktion: Caroline Draeger
Umschlaggestaltung: Karina Braun
Umschlagabbildung: Shutterstock.com/Xana_UKR
Layout: Ortrud Müller, Die Buchmacher – Atelier für Buchgestaltung, Köln
Satz: Ortrud Müller, Die Buchmacher – Atelier für Buchgestaltung, Köln
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-7474-0283-2
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-637-6
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-638-3
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.mvg-verlag.de
Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de
ICH BIN WÜTEND
1 MOBBING IST NICHT ÄRGERN
1.1 Wir machen das, weil du du bist
1.2 Alle gegen einen
1.3 Es hört nicht auf
1.4 Cybermobbing
2 WAS MOBBING MIT DIR MACHT
2.1 Was dich nicht umbringt, kann tiefe Narben hinterlassen
2.2 Deine Noten
2.3 Deine Gefühle
2.4 Dein Selbstwert
2.5 Deine Gesundheit
2.6 Die Spätfolgen
3 WAS DU WISSEN MUSST
3.1 Du bist nicht schuld
3.2 Du bist nicht allein
3.3 Du darfst dich wehren
3.4 Du darfst darüber reden
3.5 Es geht vorbei
4 WAS DU JETZT TUN KANNST
4.1 Darüber reden
4.2 Nicht allein sein
4.3 Dich im Netz schützen
4.4 Die Schule wechseln
5 WIE DU DICH GEGEN MOBBING STÄRKST
5.1 Dein Werkzeugkasten
5.2 Richtig entspannen
5.3 Wie das geht: richtig fühlen
5.4 Selfcare
5.5 Dein innerer Saboteur
5.6 Dein Ich von damals
DU BIST WERTVOLL
Danke
Hilfe erhalten
Quellen
Mit zwölf war ich übergewichtig, trug Schuhe mit Klettverschluss und sammelte Pokémon-Karten. Ich war das perfekte Mobbing-Opfer. Ich wurde als »Fettsack« beschimpft, als »Baby« und »Hurensohn«. Ich wurde auf dem Pausenhof ausgezogen, damit alle sehen konnten, dass ich ein Unterhemd trug. Man hat sich über meinen Vater lustig gemacht, weil er arbeitslos war, und über meine Mutter, weil sie als Putzfrau arbeitete. Mir wurden meine Sachen abgenommen, versteckt, weggeschmissen, angezündet und zerstört. Ich wurde festgehalten, geschlagen, gekratzt, geschubst und getreten. Ich habe das drei Jahre lang ausgehalten, bevor der erste Suizidgedanke kam. Ich habe um Hilfe gebeten, mehrfach, gefleht, aber nein, die »wollen dich nur ein bisschen ärgern«, sagte man mir.
Ich habe eine ganze Liste von Sätzen, die Lehrer*innen zu mir gesagt haben, wenn ich ihnen erzählte, dass ich gemobbt werde. Von »Das müsst ihr unter euch klären« über »Wenn du sie ignorierst, hören sie irgendwann damit auf« bis hin zu »Du musst dich besser integrieren« war alles dabei. Ich habe das für mich immer so übersetzt: »Das ist dein Problem und ich habe dafür wirklich keine Zeit.« Heute sage ich: Danke für nichts.
Jede*r sechste Jugendliche, die*der Mobbing erfährt, ist bereits als junge*r Erwachsene*r depressiv. Jede dritte Depression in diesem Alter ist Folge von Mobbing. Schüler*innen, die gemobbt werden, verletzen sich doppelt so häufig selbst, denken viermal so oft über Suizid nach.
Ich bin wütend. Darüber, dass mich niemand ernst genommen hat. Dass jede*r das Problem an mich zurückgeschoben hat, obwohl ich damit offensichtlich überfordert war. Dass ich noch heute – mit siebenundzwanzig Jahren – unter den Folgen des Mobbings leide. Und dass es Hunderttausenden von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in Deutschland genauso geht. Ich habe mir damals doch nur jemanden gewünscht, der mich ernst nimmt und der mir ein wenig von der Last von den Schultern hebt. Doch mir wurde immer nur das Gefühl gegeben, selbst an allem schuld zu sein und andere mit meinem Leid zu belästigen.
Ich sage dir jetzt etwas, weil ich glaube, dass du es zu selten hörst: Du bist wichtig. Dein Wohlbefinden ist wichtig und daher sind es auch deine Probleme. Das, was dir geschieht, was dir angetan wird, ist nicht in Ordnung. Ich nehme dich ernst. Hier wirst du ernst genommen. Keine halbherzigen Ausreden mehr, jetzt reden wir Klartext.
An einem Sommerabend schlief ich ein und wünschte mir, dass die Welt beim Aufwachen eine andere wäre.
Als ich am Morgen die Augen aufmachte, war die Welt noch dieselbe.
BENJAMIN ALIRE SÁENZ
Ein wenig habe ich mich ja gerade schon vorgestellt. Mich und mein Aussehen. Denn so war ich nun einmal als Kind: Ich hatte Übergewicht, trug eine Brille und jeden Tag ein Unterhemd, weil ich Probleme mit den Nieren hatte. Ich mochte Pokémon (viel zu lange, meinten meine Mitschüler*innen). Ich hatte Schuhe mit Klettverschluss, weil es mir immer noch schwerfiel, eine Schleife zu binden. Ich war schüchtern (na gut, das bin ich heute noch). Ich hatte empfindliche Haut. Wann immer ich mich gekratzt habe, wurde die Stelle sofort rot. Zugegeben: Ich war vielleicht nicht der coolste Junge auf der Welt.
»Wir machen das, weil du du bist«, sagten meine Mitschüler*innen, als ich sie unter Tränen nach einer Erklärung für das Mobbing bat. Wir saßen im Kunstunterricht und sie hatten gerade dreckiges Pinselwasser über mein Bild geschüttet. Es war mal ein Sonnenuntergang gewesen, den ich zusammen mit meinem Opa angefertigt hatte. Jetzt war das Werk ruiniert. Ich weinte und schrie sie an: »Warum macht ihr das?« Ich hatte mir gewünscht, dass sie mir einen konkreten Grund geben würden. Etwas, mit dem ich was anfangen konnte. Ich hatte gehofft, dass ich etwas ändern könnte – egal was –, damit endlich Schluss war. Aber sie haben eine der wenigen Sachen genannt, die ich nicht ändern konnte: dass ich ich war.
Ich bin mir sicher, dass jedes Opfer von Mobbing sich das schon mal gefragt hat. Warum ausgerechnet ich? Was ist nicht okay mit mir? Auf Twitter, wo ich oft über Mobbing und meine Erfahrungen damit spreche, habe ich genau diese Frage gestellt: »Ich wurde gemobbt, weil ich dick und schüchtern war. Wofür wurdet ihr gemobbt?«
Das waren die Antworten:
Ob der Musikgeschmack, die großen Ohren oder der arbeitslose Vater. Es gibt keine guten Gründe für Mobbing, keine gerechtfertigten Begründungen. Über tausend Antworten habe ich auf meine Frage bekommen und jede einzelne davon war eine fadenscheinige Ausrede von Täter*innen. Was daraus klar wird:
MOBBING HAT KEIN SYSTEM.
»Egal, was ich machte, es war falsch«, oder: »Für die Mobber*innen bot ich immer eine Angriffsfläche« – so etwas berichten viele. Und das ist der Punkt. Die Frage, die Opfern von Mobbing unentwegt durch den Kopf geistert, dieses »Warum ich?«, ist ganz leicht zu beantworten: Es ist Zufall. Zumindest fast. Denn etwas ist manchmal ausschlaggebend. Eine Eigenschaft reicht aus. Wissenschaftler*innen haben nämlich herausgefunden, dass Schüler*innen mit bestimmten Eigenschaften häufiger Opfer von Mobbing werden. Zum Beispiel solche, die Übergewicht haben oder besonders klein oder groß sind. Schüler*innen sind darunter, die eine Behinderung haben oder einen Migrationshintergrund. Auch Jugendliche, die schwul, lesbisch, bisexuell oder trans* sind, werden öfter gemobbt. Man merkt schnell: Egal ob Aussehen, Behinderung, Ethnie, sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität, es geht oft darum, dass man ein bisschen anders ist als der Durchschnitt.
Auch Schüler*innen, die besonders ängstlich sind, die ein geringes Selbstwertgefühl haben und sich selbst (das heißt ihre Fähigkeiten, Vorlieben und Eigenschaften) negativ wahrnehmen, sind beliebte Opfer. Das ist vor allem deshalb problematisch, weil Mobbing die Betroffenen noch ängstlicher macht, ihr Selbstwertgefühl weiter mindert und dafür sorgt, dass sie sich selbst noch negativer wahrnehmen. Wer gemobbt wird, wird gleichzeitig zum perfekten Mobbing-Opfer gemacht.
Freund*innen und Familie spielen eine ergänzende Rolle. Kinder, die nur wenig familiären Zusammenhalt erleben, die eine schlechte Beziehung zu ihren Eltern haben oder misshandelt worden sind, werden besonders häufig als Opfer ausgesucht. Man könnte sagen: Denen, die es sowieso schon schwer haben, wird es noch schwerer gemacht. Leichte Opfer sind auch Schüler*innen, die keinen Anschluss finden und daher nur wenige oder keine Freund*innen haben. Weil sie ganz unten in der sozialen Rangordnung stehen und niemand sie verteidigt.
WARUM? Am Ende wirst du nicht gemobbt, weil du irgendwie aussiehst, irgendwie bist oder irgendwas magst. Du wirst gemobbt, weil sie irgendwen mobben müssen. Weil sie die Anerkennung brauchen, um sich selbst besser zu fühlen.
WARUM DU? Sie haben herausgefunden, dass es etwas gibt, das dich vom Durchschnitt unterscheidet. Der Rest ist Zufall. Nein, wirklich. Es hätte jede*n treffen können.
»Wir mobben dich, weil du du bist.«
Was macht es mit einer Person, zu erfahren, dass sie selbst das Problem sein soll? Wie kann man etwas verändern, wenn man denkt, die ganze eigene Existenz ist falsch?
Wenn auch du diesen Satz schon mal gehört hast, dann möchte ich dir eins sagen: Du bist nicht das Problem. Sie mobben dich nicht, weil du du bist. Sie mobben dich, weil du nicht (wie) sie bist.
Und eins ist ganz klar: Es ist gut, nicht (wie) sie zu sein. Es ist gut, nicht dem Durchschnitt zu entsprechen.
Menschen sind wertvoll, weil sie unterschiedlich sind, unterschiedlich aussehen, denken und fühlen. Menschen sind spannend, weil sie verschiedene Sachen gut können, sich für verschiedene Themen interessieren. Denn das macht Menschen erst interessant. Wie langweilig wäre das Leben, wenn jede*r wie der*die andere wäre? Es ist gut, besonders zu sein. Alle Menschen, die jemals etwas in der Welt verändert haben, waren besonders: besonders mutig, besonders erfinderisch, besonders einfühlsam. Schämt euch nie dafür, anders zu sein. Das, was euch heute als Außenseiter brandmarkt, macht euch einzigartig. Feiert euch! Es gibt Menschen, die euch dafür lieben werden. Ihr kennt sie nur noch nicht.
Gemobbt werden oft die, die irgendwie anders sind. Die nicht aussehen oder sich verhalten wie alle anderen.
Aber ganz ehrlich: Ich will gar nicht wie alle anderen sein. Ich will ich sein – mit all meinen Ecken und Kanten.
Wir sind einzigartig. Und genau das macht uns wertvoll.
Ist es trotzdem scheiße, dass du gemobbt wirst? Dass der Zufall ausgerechnet dich ausgesucht hat? Ja, klar, ganz ohne Zweifel ist das so. Aber du weißt jetzt zumindest eins: Dich trifft keine Schuld. Du hättest es nicht aktiv verhindern können. Und es würde nicht helfen, dich zu verstellen. Also bleib so, wie du bist. Du bist gut so, wie du bist.
MOBBING IST ZUFALL.
DASS DU GEMOBBT WIRST, HEIßT NICHT, DASS DU WENIGER WERTVOLL BIST. ES HEIßT NUR, DASS DU EIN BISSCHEN ANDERS BIST ALS DER DURCHSCHNITT.
DAS IST GUT!
SIE MOBBEN DICH NICHT, WEIL DU DU BIST.
SIE MOBBEN DICH, WEIL DU NICHT (WIE) SIE BIST.
DU BIST GUT SO, WIE DU BIST.
Es ist kurz vor acht, gleich beginnt der Unterricht. Ich zähle die Sekunden, starre die Tür an und hoffe, dass unser Lehrer Herr Frühwirt hereinkommt. Erst dann bin ich sicher. Daniel kommt an meinen Tisch und grinst. Eben hat er sich noch mit Richard unterhalten, der ihm jetzt grinsend hinterhersieht. Mein Herz setzt für eine Sekunde aus. Was passiert jetzt? Ich will das nicht. Wo bleibt Herr Frühwirt?
Daniel lehnt sich an meinen Tisch und schaut auf mich herab. »Du bist da rot am Hals«, zeigt er mit dem Finger. »Ist das ein Knutschfleck?«
Ich fasse mir an die Stelle, auf die er gezeigt hat. Sie ist warm. »Nein«, sage ich kurz.
»Das sieht aber aus wie ein Knutschfleck«, antwortet Daniel. »Hast du eine Freundin?«
»Nein«, sage ich wieder und erkläre: »Meine Haut ist ein bisschen empfindlich. Wenn ich mich kratze, wird sie rot.«
Sofort packt er mich. »Das muss ich ausprobieren!«
Bevor ich realisiere, was passiert, hat er einmal quer über meinen Unterarm gekratzt. Ich will meinen Arm wegziehen, doch er hat ihn fest im Griff. Nach einigen Sekunden färbt die Spur sich langsam rot.
Er lacht laut. »Ey, Richard«, ruft er quer durchs Klassenzimmer. »Komm mal her und guck dir das an. Der Typ ist ein lebendes Malbuch!«
Dann steht auch Richard vor mir. »Was meinst du?«
Daniel erklärt: »Wenn du ihn kratzt, wird er rot. Also wirklich sofort.« Er zeigt ihm die rote Spur, die er auf meinen Unterarm gekratzt hat. »Probier’s mal aus.«
Während Daniel mich weiter festhält, kratzt Richard kurze, feste Linien auf meinen Unterarm. Es tut weh. Doch ich schlucke meine Schmerzen runter, um ihnen diese Genugtuung nicht zu geben. Sie sollen denken, dass es mir egal ist. Damit sie das Interesse daran verlieren.
»Krass«, staunt Richard, als mein Arm sich verfärbt.
»Kann man richtige Kunstwerke drauf malen!«
»Ich probier’s mal«, lacht Richard und geht um den Tisch herum.
Meine Atmung beschleunigt sich. Ich will mich losreißen und weglaufen, doch Daniels Griff um meinen Arm ist zu fest. Mein Blick wandert durch die Klasse, sucht Kontakt. Die meisten Schüler*innen sind in Gespräche verwickelt. Einige kramen in ihren Taschen nach Stiften und Heften, andere schauen uns zu. Doch niemand tut etwas.
»Ein Kunstwerk muss richtig ausgestellt werden!«, sagt Richard und führt seine Hand an meine Stirn.
Irritiert ziehe ich meinen Kopf weg. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich zerre wie wild an meinem Arm, kriege ihn aber nicht los. »Hör auf!«
»Hilf mir mal«, sagt Richard, und dann halten sie mich zu zweit fest. Ich kann meine Arme und meinen Kopf nicht mehr bewegen. Ich kann mich nicht mehr wehren.
»Hört auf!«, schreie ich noch einmal, während Richard mich fest an der Stirn kratzt. Ich trete mit den Füßen wild um mich, treffe aber nur den Tisch. »Lasst mich los!« Mir steigen Tränen in die Augen, ich bin hilflos.
Irgendwann lassen beide von mir ab. Ich vergrabe den Kopf zwischen den Armen. Meine Stirn pocht. Ich weine leise. Erst als die Tür sich öffnet und Herr Frühwirt den Raum betritt, sehe ich auf.
Sofort zeigen Daniel und Richard auf mich und lachen laut.
Auf meiner Stirn prangt ein rotes Hakenkreuz.
Ich habe versucht, mich zu wehren. Mich zu befreien, doch er war stärker als ich. Ich habe versucht wegzulaufen, doch sie waren zu zweit und ich war allein. Das damals, das war kein »Streit« oder »Konflikt« zwischen Kindern. Da hat sich niemand auf gleicher Augenhöhe gestritten. Das war auch kein »Ärgern«. Das war weder spielerisch noch Scherz oder Stichelei. Das war Mobbing.
Mobbing ist nicht »Ärgern«.
Mobbing ist nicht »Streiten«.
Mobbing ist als aggressives Verhalten definiert, bei dem ein Opfer den schädigenden Handlungen eines*einer oder mehrerer Täter*innen ausgesetzt ist. Dabei muss Mobbing nicht unbedingt körperlich sein. Es kann auch verbal (zum Beispiel Beleidigungen), online oder indirekt stattfinden.
Was indirektes Mobbing sein soll? Hier ein Beispiel: Michelle verbreitet das Gerücht, dass Karla sich nicht wäscht. Wann immer Karla nicht da ist, lästert Michelle über sie. Karla und Michelle stehen in einer Gruppe. Michelle nimmt die anderen Mädchen an der Hand und sagt: »Hier stinkt es, oder? Lasst uns woanders reden.«
Indirektes Mobbing heißt so, weil es nicht direkt, sondern hinter dem Rücken des Opfers geschieht. Wer Gerüchte über jemanden verbreitet, über ihn lästert oder ihn ausschließt, schadet ihm nicht direkt, sondern schädigt den Ruf der Person und gefährdet damit ihre sozialen Beziehungen (zum Beispiel Freundschaften, Partnerschaft).
Mobbing ist nicht auf die Schule begrenzt (auch wenn es dort am häufigsten vorkommt). Auch in der Uni oder am Arbeitsplatz kann es zu Mobbing kommen.
Ihr merkt schon: Mobbing hat tausend Formen. Doch drei Aspekte sind immer gleich:
»Alle gegen einen und einer gegen alle«, lautet die Devise. Die Täter*innen befinden sich in der Machtposition. Das Opfer kann sich nicht wehren, weil es in der Unterzahl oder physisch unterlegen ist. Täter*innen sind meist älter als die Opfer und körperlich überlegen. Viele Opfer sind auch psychisch unterlegen. Durch das Mobbing erleben sie massiven Stress, mit dem sie oft nicht umzugehen wissen. Häufig gipfelt das darin, dass Opfer in einer Mobbing-Situation schreien, weinen oder um sich schlagen, weil sie sich physisch und psychisch nicht mehr zu helfen wissen.
Fest steht: Mobbing ist kein Streit zwischen zwei Personen auf Augenhöhe, der durch eine konstruktive Diskussion gelöst werden kann. Im Klartext bedeutet das: Das Opfer kann sich nicht mehr selbst helfen. Es muss Hilfe von außen erfolgen, um die Situation zu beenden.
Liebe Lehrer*innen,
bitte weist die Hilfsgesuche eurer Schüler*innen nicht mit Sätzen wie »Das müsst ihr unter euch klären« ab. Das ist unsinnig, wenig einfühlsam und ignorant.
Mobbing ist kein kleiner Streit unter Freund*innen, den man einfach so beilegen kann. Beim Mobbing ist das Kräftegleichgewicht verschoben: Alle gegen einen. Mobbing definiert sich ja gerade durch dieses Ungleichgewicht der Kräfte. Die betroffenen Schüler*innen können es nicht unter sich klären. Sie können es nicht allein schaffen.
Deswegen suchen sie Hilfe bei euch oder einem*einer anderen Erwachsenen, weil sie nicht mehr allein mit der Situation klarkommen. Sie überwinden sich, euch von dieser massiv belastenden Situation zu erzählen. Also schickt sie nicht weg und sagt: »Ich kann dir dabei nicht helfen.« Wo soll ein Kind denn hin, wenn ihr es wegschickt? Woher soll die Hilfe kommen?
Ganz ernsthaft: Das Klassenzimmer ist nicht die Wildnis, wo das Recht des Stärkeren gilt. Wenn ein Kind sich nicht wehren kann, weil es physisch schwach ist oder niemand zu ihm hält, darf man es nicht sich selbst überlassen. Diese Schüler*innen sind eure Schutzbefohlenen, also beschützt sie auch!
Stellt euch vor, ihr beobachtet einen Überfall. Würdet ihr dann auch sagen: »Das müsst ihr unter euch klären?« Nein! Ihr würdet die Polizei rufen. Auch Mobbing ist Unrecht, das genauso ernst genommen werden muss und euer Eingreifen verlangt.
Wenn also das nächste Mal ein*e Schüler*in mit ihrem*seinem Anliegen zu euch kommt, probiert stattdessen einen der folgenden Sätze aus:
Danke!
Das Schlimmste am Mobbing ist, dass die Gemobbten keine Ahnung haben, wann es wieder aufhört. Dass sie nicht wissen, ob es Tage, Wochen oder Jahre andauern wird. Sie sehen keine Zielgerade vor sich, bis zu der sie durchhalten müssen. Sie können sich keine Kreuze in den Kalender machen, um die verbleibenden Tage zu zählen.
»Warum hört es nicht auf?« ist die nächste quälende Frage. Um sie zu verstehen, müssen wir uns jedoch zuerst mit einer anderen Frage beschäftigen: »Warum fängt es überhaupt an?«
Die typischen Täter*innen sind selbstsicher und kaum ängstlich. Sie streben nach Macht und Kontrolle und schrecken nicht vor Gewalt zurück. Und am wichtigsten: Sie empfinden nur wenig Empathie für andere. Sie können oder wollen sich nicht in andere Personen, deren Gedanken und Gefühle hineinversetzen. Das heißt, sie bemerken nicht einmal, was sie dir antun. Was sie mit dir und deinen Gefühlen anrichten.
WARUM SIND MENSCHEN SO? Menschen verhalten sich oft unverantwortlich, weil sie es nicht anders gelernt haben. Täter*innen stammen vielfach aus Familien ohne Wärme, Zusammenhalt und Unterstützung. Meist wurden sie autoritär erzogen, vernachlässigt oder haben selbst Gewalt erlebt. Manchmal sind die Eltern alleinerziehend oder überfordert, auch tolerieren sie das aggressive Verhalten ihrer Kinder eher als andere. Entsprechend umgeben sich ihre Kinder wiederum mit Freund*innen, die wie sie ticken, Gewalt anwenden, die Regeln brechen – und sich im Freundeskreis in ihren Methoden bestätigt finden.
Täter*innen lernen oft am Modell ihrer Eltern, dass Gewalt eine Lösung oder ein legitimes Mittel ist.
DIE OPFER-TÄTER*INNEN. Dann gibt es noch die Opfer-Täter*innen. Damit sind Schüler*innen gemeint, die selbst einmal Opfer waren und sich nur daraus befreien konnten, indem sie selbst zu Täter*innen wurden. Sie haben also aktiv damit angefangen, ein anderes Kind zu mobben und zum Opfer zu machen, um sich aus dem Fokus der ursprünglichen Täter*innen zu nehmen. Sie handeln getreu dem Motto »Die werden mir nichts tun, wenn ich zu ihnen gehöre«. Wenn ihr mich fragt, muss man ganz schön verzweifelt sein, um so etwas zu tun.
Vor Kurzem hat eine*r dieser ehemaligen Täter*innen sich auf Twitter an mich gewandt:
Mal ein Bericht von der anderen Seite: Ich gehörte früher zu den Mobbern. Heute schäme ich mich dafür in Grund und Boden. Ich hatte früher wenig Selbstbewusstsein und panische Angst, auf der anderen Seite zu stehen – deshalb habe ich mitgemacht. Es tut mir leid.
Wer sich als Opfer mit der Psychologie von Täter*innen beschäftigt, entwickelt meist Verständnis für sie, denn viele der Opfer sind per se empathische Menschen – und vielleicht deshalb sogar in die Opferrolle geraten. Doch die Täter*innen zu verstehen, heißt nicht, dass du ihnen verzeihen musst. Du musst kein Mitleid mit ihnen haben. Im Gegenteil: Du darfst richtig wütend auf sie sein.
Doch vielleicht hilft es dir, zu verstehen, woher ein solches Verhalten kommt. Jetzt, da du die möglichen Gründe kennst, musst du dich nicht mehr fragen: Warum machen die das? Nur deshalb findet sich das hier im Text – und keinesfalls, um Verständnis einzufordern.
Eigentlich beschäftigt sich dieses Kapitel ja mit der Frage, die unaufhörlich in den Betroffenen tobt: Warum hört es nicht endlich auf? Die Erklärung findet sich bei den anderen Beteiligten – und gar nicht in erster Linie bei Opfern und Täter*innen: Denn an einer Mobbing-Situation sind nicht nur Opfer und Täter*innen beteiligt.
Oft scharen Täter*innen auch Mitläufer*innen um sich, die sie aktiv unterstützen. Entscheidend ist aber eine andere Gruppe: die sogenannten Verstärker*innen.
Die Verstärker*innen ermutigen die Täter*innen, indem sie diesen während oder nach der Mobbing-Situation ihren Zuspruch geben. Die so gewonnene soziale Anerkennung bestärkt die Täter*innen und bewirkt, dass sie ihr Mobbing-Verhalten in Zukunft wiederholen. Jede*r fünfte Schüler*in einer Klasse tritt Untersuchungen zufolge als Verstärker*in auf.
Es ist auch ein Gefühl von Macht, das die Täter*innen antreibt. Indem sie die Mitschüler*innen runtermachen, sichern sie sich den eigenen Status und vergrößern ihre Popularität innerhalb der Klasse oder Gruppe. Denn nicht zuletzt geht es auch um das eigene Wohlbefinden: Wer andere schlechtredet, kann sich im Vergleich dazu besser fühlen. Man bezeichnet das auch als sozialen Abwärtsvergleich. Irgendwie traurig, wenn man darüber nachdenkt.
Wegen des Machtungleichgewichts können Opfer sich nicht allein gegen Mobbing wehren. Dann passiert oft Folgendes: Das Mobbing verängstigt und verunsichert sie. Die Betroffenen ziehen sich zurück, werden unsichtbar oder lassen passiv alles über sich ergehen. Doch dadurch werden sie zu noch leichteren Opfern. Das hat übrigens immense Konsequenzen für das eigene Selbstwertgefühl.
Wer schon einmal betroffen war, der*die weiß: Die notwendige Hilfe muss von außen kommen, entweder durch Mitschüler*innen, Lehrer*innen oder Eltern. Wenn diese allerdings die Situation ignorieren, sie fürchten oder nichts davon wissen (wollen), dulden sie das Mobbing und bestärken damit die Täter*innen, ihr Verhalten beizubehalten und sich auch in Zukunft des Mobbings schuldig zu machen. Das ist so fatal, weil sie, die Außenstehenden, die beste Chance haben, den Teufelskreis zu durchbrechen:
Im Januar hat sich eine frühere Mitschülerin bei mir gemeldet. Ich erinnere mich gut an sie. Sie war sehr still, meist saß sie in der ersten Reihe. Sie hat mich nie gemobbt. Aber sie hat auch nie den Mund aufgemacht, wenn andere es getan haben. Sie erzählte, dass sie gerade mein Buch Die Fische schlafen noch gelesen habe und sehr gut nachfühlen könne, wie ich das Mobbing in der Schule erlebt habe. Unsere Klasse sei »echt heftig« gewesen, und deshalb sei sie oft zu Hause geblieben. Sie schrieb noch etwas: »Wenn ich gewusst hätte, dass es dir damals so schlecht ging, wäre ich dagegen aufgestanden.«
Die meisten deiner Mitschüler*innen helfen dir allerdings nicht, weil sie unwissend sind, sondern weil sie Angst haben. Angst, selbst zur Zielscheibe zu werden. Deshalb sehen sie nur stumm zu, ignorieren das Mobbing und halten sich heraus. Fast jede*r zweite Schüler*in verhält sich so und legitimiert das Mobbing damit passiv – obwohl Umfragen zufolge fast die Hälfte von ihnen Mobbing ablehnt, dir eigentlich Hilfe anbieten und dich verteidigen möchte. Den Grund dafür nennt man auch den Bystander-Effekt. Er ernährt sich von der Verunsicherung der Schüler*innen und der sogenannten Verantwortungsdiffusion. Das bedeutet: Solange niemand konkret aufgefordert wird zu helfen, werden alle darauf warten, dass ein anderer die Verantwortung übernimmt. Man könnte sagen: Die Verantwortung verteilt sich so lange im Raum, bis das Opfer sie aktiv auf eine*n Mitschüler*in bündelt: »Du! Hilf mir! Sag jemandem Bescheid! Hol Hilfe!«
Wer in der Klasse unbeliebt ist, meist zurückgewiesen wird oder keine Freund*innen hat, erhält am wenigsten Hilfe. Das ist problematisch, weil Mobbing genau dafür sorgt: Es wertet dich ab, bis du in der sozialen Rangordnung ganz unten stehst. Das wird im Sportunterricht sehr gut deutlich, wenn du mal wieder zuletzt gewählt wirst ganz egal, wie sportlich du bist).
Es gibt Mitschüler*innen, die dir helfen möchten. Oft sind sie aber verunsichert, haben Angst oder trauen sich nicht, die Verantwortung zu übernehmen. Willst du, dass sie sich persönlich betroffen fühlen, solltest du sie direkt um Hilfe bitten.
Auch deine Lehrer*innen haben die Möglichkeit, den Teufelskreis zu durchbrechen. Leider sind auch sie oft Bystander: Sie fühlen sich nicht zuständig, sind unentschlossen oder wissen einfach nicht, was sie unternehmen sollen. Also schweigen sie oder reden das Problem klein. Deshalb handeln sie nicht, dulden das Mobbing und bekräftigen es damit letztendlich.
Studien zeigen, dass Mobbing vor allem an solchen Schulen häufig ist, an denen Lehrer*innen die Vorfälle ignorieren oder bei Mobbing nur zögerlich eingreifen. Bestehe darauf, ernst genommen zu werden oder eine höhere innerschulische Hierarchieebene (zum Beispiel den Schulleiter) aufzusuchen.
Deine Eltern wissen oft gar nicht, was in der Schule vor sich geht, und können deshalb überhaupt nicht reagieren. Rede mit ihnen darüber – auch wenn dir das unangenehm ist. Es könnte sich lohnen!
Um den Teufelskreis zu durchbrechen, müssen deine Lehrer*innen deutlich machen, dass sie das Mobbing nicht länger dulden. Bestehe darauf, ernst genommen zu werden.
Deine Eltern können dir nur helfen, wenn du sie einweihst.
Trau dich!
Als ich noch zur Schule ging, war Cybermobbing kein großes Problem, weil es noch keine Smartphones gab. Heute hat fast jede*r eins und Cybermobbing ist allgegenwärtig. Über diese Form des Mobbings wird zurzeit viel diskutiert. Bestimmt bist du damit vertraut, auch mit der furchtbaren Zerstörungskraft, die Cybermobbing hat. Denn wirklich Ruhe davor gibt es noch weniger als vor Mobbing allgemein.
Am häufigsten sind Beleidigungen, Bedrohungen und verletzende Nachrichten, die per Messengerdienst (zum Beispiel WhatsApp, Facebook, Telegram, iMessage) oder als Direktnachricht auf sozialen Medien (zum Beispiel Twitter, Instagram oder TikTok) verschickt werden. In manchen Fällen werden solche Nachrichten auch in Gruppenchats oder direkt öffentlich gepostet. Man spricht dann von Flaming. Findet diese Art des Mobbings wiederholt und über einen längeren Zeitraum hinweg statt, ist zuweilen auch der Tatbestand der Belästigung oder sogar von Cyberstalking erfüllt.
Kennzeichnend ist, dass häufig verletzende und meist unwahre Gerüchte über das Opfer versendet oder veröffentlicht werden. Man spricht dann allgemein von Verunglimpfung. Ziel ist es, das Opfer zu demütigen und seinen Ruf zu schädigen, damit Freund*innen und Bekannte sich von ihm abwenden. Diese Folge von Mobbing haben wir ja schon kennengelernt.
Auch das Weitersenden oder Veröffentlichen privater Informationen oder sensibler Fotos und Videos, die nur für die Augen des*der Empfängers*in bestimmt waren, ist Cybermobbing. Ich habe bei der Nummer gegen Kummer schon oft Kinder und Jugendliche zum Thema Mobbing beraten. Nicht nur einmal wurde ich angerufen, weil erotische Fotos, die das Opfer dem*der Freund*in geschickt hat, nach der Trennung in Umlauf gebracht wurden. Seid vorsichtig mit so etwas. Wirklich! Das ist nicht einfach wieder aus der Welt zu schaffen. Lasst euch auch nicht unter Druck setzen, weil »alle« oder »die anderen« es tun oder schon einmal getan haben!