Für Rita, Vera, Johannes
und alle, die dabei waren

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

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© 2017 Henry-Martin Klemt

Fotos: © Henry-Martin Klemt / Henry-Martin Klemt - Archiv

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7431-7183-1

Inhaltsverzeichnis

Asassa

Das Mädchen mit rotem Stirnband

will ich noch einmal sehen

in einem brunnentiefen Moment,

aus dem wir Wasser schöpfen,

das uns durstig macht.

Abstreifen werd ich das Band,

wie der Abend die Sonne,

wie der Berg die Wolke,

wie die Frau das Kleid

abstreift. Unsere Füße

werden einander berühren

auf dem vulkanischen Stein.

1987

Am 29. September 1987 morgens um vier Uhr fliege ich von Berlin-Schönefeld mit einer IL 62 M der Interflug über Cairo und Khartoum nach Addis Abeba. Das Bordmenü ist halal.

29. September:

Der morgendliche Horizont läßt mich an die alten Saba-Schiffsbilder denken, die mein Großvater gesammelt hat und die meine Mutter in einem kleinen, handgeschnitzten Kästchen verwahrt.

Als Kind habe ich sie oft, anfangs heimlich, aus dem großen Schrank genommen und den feierlichen Geruch alten Holzes und alten Papiers geatmet. Die Bildchen vereinten in sich fremde Länder und vergangene Zeiten und diese beiden beunruhigendsten aller Geheimnisse berührten sich in einem Traum, den fast jeder Junge einmal träumt, der Seefahrt.

Dort also, auf den Abbildungen von Kreuzern und Viermastern, Luxuslinern und Zerstörern, war mir zum ersten Mal ein Himmel begegnet, der zwischen rot und blau, schwefelgelb und grün schwingt. Heute morgen erkannte ich ihn wieder. Kein Bild aber zeigt das Auflodern der vulkanischen Röte im Wolkenschnee, wie wir es auf unserem Weg über Budapest, Varna, Istanbul nach Cairo sahen.

Nach elf Stunden erreichen wir Addis Abeba. Brigadier Helmut und die anderen zur Vorhut Gehörenden nehmen uns in Empfang. Er hat Ansichtskarten gekauft, das Geld ausgelegt, damit alle nach Hause schreiben können, die Post schnell ankommt. Alles wirkt selbstverständlich - wenn man nicht wie ich ein völlig Unwissender ist. Wir übernachten im Hotel d´Afrique. Mengistu Haile Mariam ist allgegenwärtig. Am Platz der Revolution wird er flankiert von Marx, Engels und Lenin.

Helmut leitet seit dem vergangenen Jahr die Brigade. Er ist in den 40ern, kaum Bauch, sauber geschnittener Vollbart, Jeans, kariertes Hemd. Für einen waschechten Mecklenburger ist er erstaunlich aufgeschlossen und, wenn man daran stößt, für viele kleine Schönheiten, menschliche wie landschaftliche, empfänglich. Nachdem sein Berufswunsch Matrose geplatzt war, lernte er Maschinen- und Traktorenschlosser mit Abitur, dann bewarb er sich erneut bei der Reederei, ging drei Jahre auf Fahrt, studierte Schiffsbauingenieur, fuhr wieder. Als seine Frau als Lehrerin nach Mali geschickt wurde, fuhr er als Schlosser mit. Die Kinder wuchsen auf in ursprünglicher Natur. Die nächste Station war Guinea. Eine schwarze Mamba, die ihm an die Hühner wollte, liegt heute in seinem Wohnzimmerschrank. Seine Tochter ist 16. Trotz Notendurchschnitt 1,0 darf sie nicht an die EOS. Helmut hat eine Eingabe an den Zentralrat der FDJ geschrieben und wartet auf Antwort. In Rechlin ist er Betriebsteildirektor im Kreisbetrieb für Landtechnik. Er hat eine kleine Wirtschaft, Kaninchen, Hühner, sein Boot zum Angeln. Jeden Abend vor dem Einschlafen liest er. Auch hier. Über das Land, in dem er ist. Aber auch Krimis.

Das äthiopische Fernsehen hat ein Programm von 19 bis 23 Uhr. Die Ständige Brigade verfügt über drei Wohnungen in einem vierstöckigen Haus. Die Mitglieder arbeiten als Ausbilder. Das ist nicht spektakulär; so bleiben sie immer etwas im Schatten. Die DDR-Botschaft liegt im Diplomatenviertel abseits der sechsspurigen Churchill Road, der Hauptstraße von Addis Abeba. Mehrere zweigeschossige Häuser, Lagerschuppen, Garten. Wir brauchen Passbilder. Ein Fotograf in einer grün gestrichenen Wellblechhütte nimmt sie auf - mit einer Exa 1 B. Nachmittags sind wir im Zentralkomitee der REYA - dem Pendant zur FDJ - eingeladen. Das Sitzungszimmer schmuck- und bilderlos. Die Gastgeber tragen blaue und braune Partei- oder Verbandskluft. Äthiopische Kinder fahren an den Werbellinsee, Funktionäre studieren an der Jugendhochschule Wilhelm Pieck am Bogensee.

Helmut spricht frei, unpathetisch. Er hat ein Ohr für Unter- und Zwischentöne und reagiert darauf unaufgeregt und natürlich.

In Äthiopien leben 800 DDR-Bürger. Am Straßenrand Werbeschilder - auch vom Landmaschinebaukombinat Fortschritt. Unsere Fahrzeuge sind, neben dem Lada, ein alter Toyota Jeep und ein noch älterer Nissan Jeep. Keiner der Fahrer spricht englisch oder deutsch. Als erstes macht der Toyota mit festgefahrener Bremse schlapp. Die Reparatur dauert eine Stunde. In Asella stoßen die Koordinatoren der Äthiopier zu uns. Die Enterprise unterhält sechs Staatsfarmen in der Region. Im RAS Hotel gibt es uns zu Ehren einen Empfang. Das ist neu. Es drückt Erwartungen aus. Wir wissen, daß wir gegen den Hunger kämpfen sollen. Das Wetter war schlecht in diesem Jahr. Die Ernte droht es auch zu sein. Der Manager der Enterprise hält eine Rede. Helmut übersetzt. Wenn er etwas nicht versteht, übersetzt er: Das habe ich jetzt nicht verstanden… Auch er hat eine Rede vorbereitet. Zehn Sätze in sauberem Schul-Englisch. Wir werden unser Bestes geben.

2. Oktober

Vor uns liegt die Ebene von Garadella, ein Talkessel mit einer Ausdehnung von mehr als siebzig Kilometern, sanft geschwungen, grün. In drei Wochen, sagt Helmut, wird es hier anders aussehen, staubig und trocken. Schon von weitem sehen wir den Stausee und die Lichter des sowjetischen Camps. Das gestaute Wasser wird mit einer Fallhöhe von 300 Metern auf die Turbinen gelenkt, die eigentlich zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution in Betrieb gehen sollten. Aber noch ist das Wasserreservoir zu klein.

Über die Straße läuft ein Schakal. Der erste, den ich in Freiheit zu sehen bekomme. Auch Michael, unser Ornithologe, hat seine Freude. Und Helmut erzählt von seiner Heimkehr aus dem Libanon, wo er sich eine Ruhr geholt hatte. Na schön, sagte er sich, kann ich mir die Olympischen Spiele im Fernsehen angucken (1972). Aber statt dessen lag er in Quarantäne…

Garadella liegt fast schon im Dunkel. Ein paar Dutzend Baracken, an der Straße aber der unverzichtbare Kreisverkehr, den niemand beachtet. Bei den ersten Häusern eine Gruppe, die dort seit dem Nachmittag auf uns gewartet hat. Die Tochter des Doktors mit Blumen, seine Frau, Manager, Wachmänner, für einige von uns Bekannte, und so fällt auch die Begrüßung aus.

Unser Vorkommando, Bibi und Jan, kommt, Latexspuren verraten, womit sie den letzten Tag verbracht haben. Hinter den Häusern lugen Kinder hervor, einen Moment könnte man meinen, das Dorf sei von Kindern bewohnt. Der LKW wird abgeplant. Nun holt erst mal eine Flasche Bier raus, sagt Helmut. Eine simple Zeremonie, aber sie läßt den Eindruck entstehen, hier wären welche nach Hause gekommen.

Die Gleichförmigkeit der Hohlblockbauten stört mich nicht. Die Augen tasten nach der Ferne, die nun verhüllt wird von der afrikanischen Nacht. Es ist erst halb acht. In manchen Häusern brennt Licht. Wir entladen den LKW, tragen Koffer in unsere Räume. Die Wände sind frisch geweißt, die Betonböden mit Wofasept gescheuert. Das Dach besteht aus Wellblech, das auf einer Holzkonstruktion ruht, und aus Papier - der Decke. Drei große Klappfenster, eine Blechtür mit Vorhängeschloß.

Sieben Räume hat die Brigade, manche sind etwas kleiner, in einem ist eine Dusche, die aus einem Faß auf dem Dach gespeist wird, das an die Wasserleitung angeschlossen ist. Die aber läuft nur, wenn das Dieselaggregat eingeschaltet ist. Deshalb steht für uns gleichzeitig noch ein Wasserwagen zum Waschen bereit. Küche und Klubraum. Mit den Lebensmitteln laden wir einen Gasherd ab, Flaschen. In allen Räumen gibt es elektrisches Licht. Das Vorkommando hat Kabel neu verlegt, Schalter angeschlossen.

Das Zimmer, das ich mit Thomas und Detlef teile, mißt 25 Quadratmeter; mehr als ich angenommen hatte. Nach den Berichten von Nicaragua hatte ich härtere Bedingungen erwartet. Sicher bekommen wir noch zwei Betten, wenn die Nachhut eintrifft, aber für den Moment ist mir einfach gut. Campingbetten und -stühle, zwei Tische, aus Luftfrachtkisten gebaut, deren Platten zusammengeschoben ein Riesen-Mensch-Ärgere-Dich-Nicht bilden.

Was braucht ein Mensch wirklich zum Leben, ist der erste Satz. Der zweite: Was wissen wir, wie Menschen auf unserer Erde leben? Der Himmel ist überall heimatlich, aber hier scheint es, als hätte Gott sich einen Vorrat aller Arten von Wolken angelegt. Vier Worte lerne ich noch an diesem Tag: Kuschascha, dada, bida, bila… (Scheiße, essen, bumsen, trinken). Was braucht ein Mensch?

Mitten in der Nacht erwachte ich und stand auf, um mein Wasser abzuschlagen. Der Riegel der Tür knallte. Dann stand ich draußen. Seitdem weiß ich, was Neruda wirklich meinte, als er schrieb von seinem wütend bestirnten Himmel, unter dem er liebte. Ich pinkelte und starrte andächtig hinauf. Selbst durch die niedrig hinfliegenden Wolkenfetzen drängten sich die Sterne. Der ewige Wind war abgeflaut, ein südlicher Himmel, ein niemals geschauter, fremd und heimatlich.

3. Oktober

Am Morgen war ich noch vor den anderen, kurz nach sechs, wach. Es war frisch, Hähne krähten, Hühner scharrten umher. Einige Kinder waren schon auf den Beinen, einige Frauen. Das Dorf erwachte. Ich drehte den ausgestreckten Händchen den Rücken, das werde ich hier immer wieder tun müssen, und ging zum Wasserwagen. Das Wasser dampft auf der Haut. Immer findet der Blick ins Weite. Es mußte einfach ein guter Tag werden.

Nach dem Frühstück begannen wir uns einzurichten. Unsere Ausstattung ist luxeriös. Für jedes Zimmer gibt es noch einen Radiorekorder und einen Spiegelschrank. In der Küche entsteht aus Luftfrachtkisten ein Riesenregal für unsere Lebensmittel. Helmut steht am Kochtopf. Jan bringt Hakenleisten für Kellen und Messer an und wir nehmen uns den Klubraum vor. Die Brigadefahne wird an die Wand gehängt, ein REYA-Wimpel, zwei äthiopische Poster für das Land der 13 Monde. Zehn Sommermonate. Die Wandzeitung hängt noch vom Vorjahr. Das löst bei mir den Effekt einer Flaschenpost aus oder den des Blätterns in alten Tagebüchern:

NEUE INFORMATIONEN

4.12.86

UNO-Vollversammlung hat mit der Verabschiedung von mehr als 70 Abrüstungsvorschlägen begonnen; Dollarkurs 1,97 DM

8.12.86

Welt-Cup-Auftakt im Skispringen; Neuseeland hat Frankreich aufgefordert, die Nukleartests einzustellen

12.12.86

Moskau strebt Truppenabzug aus Afghanistan an; Libysche Truppen im Tschad eingefallen, Napalm und Giftgas eingesetzt; Atomwaffenfreie Zone im Südpazifik angestrebt, UdSSR und China schon zugesagt.

Schließlich noch die Oberliga-Ergebnisse vom 22. 11. Das ist es, was bis in diese abgelegenen Täler dringt: Waffengeklirr, Sport und der Kampf um ein bißchen mehr Sicherheit für die Welt.

Aus einigen Kisten bauten wir mit Hilfe von etwas Blechband Regale. Langsam begannen die Unterkünfte sich zu verwandeln. Fenster wurden zum großen Erstaunen der Dorfbewohner mit Fit-Wasser und Zeitungen geputzt, die Koffer wurden ausgepackt.

Kisten dienen als Schrank und Nachttisch. Fotos von Mädchen und Frauen kleben über den Liegen. Neben unserer Behausung steht eine zentrale Toilette, aus Wellblech zusammen gezimmert, von der uns zwei Zellen zugewiesen sind. Glatter Beton mit einem Schlitz über der Sickergrube. So baue ich mit Thomas und Detlef zusammen mein erstes Klo. Man nehme eine Vasina-Kiste, löse den Deckel und säge in den Boden ein Loch. Sodann schneidet man von einem Plasteeimer den Boden aus und befestige mit Kupferkrammen eine Wachstuchschürze. Dann nagle oder schraube man den Eimer von unten, die Klobrille von oben an den Kistenboden. Die Wachstuchschürze versenke man trichterförmig in den Betonschlitz. Sodann lasse man die Hosen zum Probesitzen hinunter…

Mittags bekamen wir unsere Vergütung ausgezahlt. Fünfzig Birr gingen in die Küchenkasse. Davon wird in Addis im Victory Gemüse und Obst eingekauft, um unsere Konservenverpflegung aufzubessern. Aus seinen Vorräten grub Helmut noch einen Packen Farbfotos aus, Sport und Politik, so daß ich höchst eigenhändig zwei Bilder des Generalsekretärs anbrachte und über mich selbst lächelte. Aber Garadella ist nicht Berlin, und so kam ich mir eigentlich überhaupt nicht sonderbar vor.

Inzwischen graben Schwarze mit einem Stemmeisen und bloßen Händen Löcher für unsere Fahnenstangen. Die, leider, gerieten zu kurz und liegen noch jetzt vor der Tür. Auch Fahnen sind Stoff und können sich in der Nacht selbständig machen, wenn eine Schattenhand sie erreicht.

Später gehen wir noch einmal los. Auch Detlef kommt mit. Auf der Farm werden sie von Bekannten begrüßt. Menguso, Mechanic Junior, im grünen Overall, lacht, als Thomas ihn anspricht:

„Na, alte Ratte!“

„Alte Ratte, alte Schabracke, jaja, how are you?“

Irgendwer hatte vergangenes Jahr die Bezeichnung benutzt und sie mit friend übersetzt. Nach einigen Tagen erfuhr Menguso die Bedeutung. Er nahm nichts übel, merkte sich aber das Wort. Und er fragt Thomas mit Namen nach den anderen Brigadistas, was macht dieser, ist jener nicht mit? Hast du die Fotos mit, die du machen wolltest? Dazu gesellen sich dann noch ein Hydraulikspezialist und der Chefschweißer, die beide aussehen, als wären sie jüngst aus einem Guerilla-Camp heimgekehrt.

Gutes Geld wird auf der Staatsfarm verdient, aber das Gefälle ist groß. Ein ungelernter Arbeiter bekommt 58 Birr im Monat, ein Mechanic Junior (Jungfacharbeiter) 250 Birr, ein Mechanic One 400 und ein Mechanic Two 500 Birr. Der Manager der Farm lebt mit seiner Familie und einigen anderen Funktionären in einem separaten umzäunten Gelände. Er verdient monatlich 1600 Birr. Außerdem gibt es Wachleute für die Farm und alle wichtigen Objekte. Frauen werden zum Sieben und für andere Arbeiten angestellt, die sie dann in großen bunten Gruppen auf uralte Weise ausführen.

Auf dem Farmgelände stehen neben den Mähdreschern reihenweise Traktoren, ZT und jugoslawische, zum Teil Freundschaftsgeschenke der DDR. Manche davon dienen nur noch als Ersatzteilspender, andere sehen nach drei oder auch zwei Erntekampagnen auch für meinen Laienblick schon ziemlich mitgenommen aus. Unebene Felder, schlechte Roughroads und eine durchschnittliche Leistung bei Mähdreschern von 500 Betriebsstunden tragen das ihre bei, manchmal auch die unzureichende Qualifikation von Fahrern und Schlossern.

Ein paar hundert Meter vom Farmgelände stoßen wir auf das Flüßchen, das dem See entspringt, von dem auch wir unser Trinkwasser beziehen. Ein paar Halbwüchsige sind dort, ein Alter auf seinem Maultier kommt dazu. Für zwei Zigaretten läßt er sich fotografieren. Die meisten wissen, daß sie damit, im Wortsinne, verewigt werden. Mütter nehmen für diesen Moment ihre Säuglinge auf den Arm. Väter rufen ihre Familie zusammen. Ein Hirt greift seinen Prachtochsen bei den Hörnern. Der Greis zwirbelt den Bart und mein Alter sitzt stolz auf. All das tun sie mit solcher Ernsthaftigkeit, daß niemand es wagen sollte, von einem armseligen Stolz zu sprechen.

Auf dem Rückweg regnen wir ein. Der Wind weht schärfer. Trotzdem ist es nicht kalt. Anderswo in solchen Höhen liegt ewiger Schnee. Im Camp verteilt Helmut FDJ-Abzeichen, die wir auf unsere Monturen nähen. Es ist Abend geworden. Die Sonne geht unter, nicht mit rotem, sondern mit gelbem Schweif. Darüber türmen sich tiefblaue Wolken.

Nach dem Essen findet unsere zweite Brigadeversammlung statt. Sie dauert nicht lange. Präambeln und Vorreden spart Helmut sich. Er beruft die Küchenkommission, mich als KuS-Funktionär, benennt die Küchendienste und erläutert dann die Sicherheitskonzeption, An- und Abmeldepflichten und auch die Ernstfälle: Ausbleiben des Brigadeleiters oder einer Arbeitsgruppe zum Beispiel.

Die Karenzzeit, nach deren Ablauf Suchaktionen eingeleitet werden können, beträgt 30 Minuten. Ein Punkt benennt besondere Ereignisse, also Naturkatastrophen, Unruhen und Staatsstreiche. Jeder in der Mannschaft muß sich ein Notgepäck anlegen, der Koch eine Zwei-Tage-Reserve für Lebensmittel und Trinkwasser bereitstellen. Für den Fall, daß die Mannschaft sich verbarrikadieren muß, ist in der Küche ein Vorschlaghammer bereitzuhalten, mit dem - nachdem jemand durch die Decke über die Mauer gestiegen ist - ein Wanddurchbruch gemacht werden kann. Einige von uns grinsen. Der Brigadeleiter muß dann entscheiden, ob und wie eine Evakuierung nach Addis Abeba in die Botschaft erfolgen muß. Einige lächeln, weil dieser Fall absurd erscheint. So absurd, daß er in anderen Ländern bereits eingetreten ist.

Detlef ist zum Getränkeverantwortlichen avanciert. In unserer Bude lagern Bier, Cola und Ambo, ein Mineralwasser mit natürlicher Kohlensäure, das in Äthiopien gewonnen wird. Außerdem haben wir relativ viel Platz. Was Wunder also, wenn wir schon heute eine Art zweiten Klubraum zur Verfügung stellen, in dem sich fast die ganze Brigade trifft. Thomas hat, ich weiß nicht, wie er das Wunder vollbrachte, noch zwei Flaschen Goldbrand gerettet, die er auf den Tisch stellt. Außer Hartmut und Matthias, ein Servicemann, der sonst viel in Ungarn unterwegs ist, sitzen alle auf Campingstühlen und Getränkekisten und führen zwei bis drei Gespräche zugleich. Auffällt mir Andreas, der aufmerksam und intensiv mitnimmt, was ihm hier begegnet. Wir unterhalten uns schwärmend über Jugoslawien beziehungsweise Algerien. Andreas erzählt von Dutzenden kleiner Galerien, Malern unterschiedlicher Stile. Er malt selbst, zeichnet, liebt die Feder mit ihrem unzurücknehmbaren Strich, die Glasdrucke. Aber er zeichnet nicht nur, was er auch hier schon getan hat, sondern fotografiert auch, am liebsten Vögel, da er organisierter Ornithologe ist.

Wir vier Neuen aber setzen uns mit Detlef in den Toyota und fahren Richtung Tamella. Auch dort befindet sich eine Farm, dem Augenschein nach größer als die hiesige, in der nur wenige Leute dieses Jahr arbeiten werden und dies vor allem, weil wir nicht nur hier leben und Forderungen stellen wollen.

Doch nicht die Staatsfarm war unser Ziel, sondern die etwas weiter gelegenen Höhlen. Sie sind bewohnt. Hinter einem Wall aus Steinen und Kuhmist hausen in den Felsen Familien zusammen mit Schafen, Katzen, Hunden. Draußen weiden die Rinder. Gern wüßte ich, was für ein Verhältnis zwischen Mensch und Tier aus solchen, niemals sehr langen Leben entsteht. Wir aber sind Fremdlinge, verstehen kaum ein Wort. Vor der Behausung werden wir begrüßt, und Detlef kramt aus seiner Tasche eine Zeitung und ein Stück Seife. Ich fingere nach einer Zigarette. Die übliche Geste. Geduldig wartet die ganze Familie, bis jeder seine Aufnahmen gemacht hat. Der Familienvater greift nach der Hand seiner Frau und streckt sie uns entgegen. Wir beide sind es, die hier zusammengehören. Auch die Höhle dürfen wir fotografieren. Nehmen, die hier leben, ihren Geruch nach Mist, Tier und Mensch noch wahr? Mit der Seife wird die Frau an den Fluß gehen und die Wäsche waschen, die es, auch für hiesige Verhältnisse, nötig hat. Ein Mann bittet uns um Streichhölzer, aber wir haben keine mit. Ein anderer folgt uns, als wir auf dem höher gelegenen Weg weiter gehen. Unten begleitet uns eine Gruppe von Kindern. Das ist überall so. Sie strecken die Hand aus nach einem Abzeichen, wenn sie uns für Russen halten, wegen des sowjetischen Camps am Staudamm, nach einem Bonbon. Sie lassen sich nicht abhängen. Der unbekannte Inhalt unserer Taschen ist stärker als jedes: Jelem! Hit!

Während wir die Savanne fotografieren und seltene Vögel, Andreas´ Leidenschaft steckt mich rasch an, kommt von unten ein Alter mit löchrigem, ausgeblichenem Sonnenschirm. Auch für ihn haben wir noch ein Journal. Der andere folgt uns geduldig und am Toyota erwartet uns ein dritter. Beide bekommen ihre Zigarette und danken auf ihre Weise. Die Hand an die Stirn gelegt, verabschiedet sich der eine mit einem preußischen Paradeschritt auf der Stelle. Der andere läuft uns hunderte Meter nach. Ich selbst, wenn ich schnell oder bergauf laufe, pumpe wie ein Maikäfer.

Zurück in Garadella, treffen wir ein Mädchen mit langen dünnen Zöpfen und blauem Arbeitsanzug, das gekommen ist, um starke Glühbirnen und Leuchtstoffröhren gegen schwächere Lampen zu tauschen, sei es, weil die anderen irgendwo gebraucht werden, oder um die Belastung des öfters ausfallenden Aggregates zu verringern. Daß eine Leuchtstoffröhre nur 15 Watt hat, scheint sie nicht zu wissen. Die Maße in Äthiopien sind manchmal eigenwillig. Auch Benzintalons werden nicht nach Hubraum oder PS, sondern nach der Anzahl der Sitze vergeben.

Einige der Jungs haben inzwischen die Werkzeugkisten für unsere Arbeitsgruppen gepackt. Jan rührt eine Riesenportion Kartoffelbrei und ich säge eine Türschwelle zurecht, die Mäusen den Weg versperren soll. Vieles, was der Erfahrung nach notwendig oder wenigstens nützlich ist, würde mir gar nicht auffallen. In solchen Momenten komme ich mir ausgesprochen blöde vor.

Für uns stand wieder der Toyota bereit. Diesmal ging es zu den Canyons, der Schluchtenkette, die oft hunderte Meter abfällt und sich bis ins Flachland hinunterzieht. Hier brüten die Adler, sonnen sich auf den Wiesen tief unter uns Paviane, lassen sich Krummschnabelkrähen und Störche vom Wind über den Abgrund tragen, Kreise ziehend unter dem tiefblauen Zelt. Im Hintergrund steigen Wolken von Staub. Noch wird am Staudamm gebaut. Fast alle verknipsen wir einen ganzen Film. Detlef im Übermut setzt sich auf die Kühlerhaube des Jeeps, als wir über die steinigen und löchrigen Wiesen fahren. Mir blutet plötzlich heftig die Nase; als ich den Kopf zurücklege, läuft mir der Mund voll Blut, das ich aus dem Fenster spucke. Nach zwanzig Minuten ist das vergessen. Die Jungs haben mir für diese Zeit den Platz neben dem Fahrer überlassen, damit ich nicht über die Lehne steigen muß. Hartmut jubelt. Er hatte Probleme mit seinem Fotoapparat, der den Film nicht transportierte, und nur dreißig Bilder machen können. Nun meint er, alles zu haben, was hier zu holen ist. Tatsächlich ist das Panorama wunderschön.

Im Camp macht Hartmut zum ersten Mal ein bißchen Druck. Warum ist die Tür nicht verschlossen? Warum ist hier noch nicht sauber gemacht? Er will, daß sich in den ersten Tagen nichts einschleift, was später Probleme heraufbeschwören kann. Später setzt er sich ein Stündchen hin und liest. Unruhig wird er erst bei der Suche nach dem Fieberthermometer. Matthias liegt flach. Fieber, Husten, Kopfschmerzen. Auch ich brauche eine Tablette (die ersten Seiten heute zu schreiben, hat mir keinen Spaß gemacht!). Beim Abendbrot weist er Jan zurecht, daß die äthiopischen Fahrer das Gleiche zu bekommen haben, wie wir. Der mümmelt ein bißchen, erhält aber lediglich die gleiche Antwort noch einmal. Auch über das Geld hat man sich geeinigt. Da sie im letzten Jahr 45 Birr bezahlten, auf 50 statt 60. Die Fahrer zählen ihre Scheine und zählen genau. Sie wissen, unser Argument der Verteuerung stimmt, aber gerade darunter leiden sie ja auch und wollen sich also Erleichterung verschaffen.

Noch einmal setzt sich die Brigade zusammen. Helmut liest das Kampfprogramm vor. Friedensschicht. Zwei Solidaritätsbasare zugunsten der REYA-Kasse, Erfahrungsaustausche, Feierlichkeiten, Sport und Freizeitgestaltung. 10 Birr Solidarität aufs Zentralratskonto (das verstehe, wer will, denn von dort kommt´s ja - und nicht überreichlich. Braucht es die Geste und wäre der REYA nicht besser geholfen; aber ich habe zugestimmt).

Danach lerne ich die Kneipe von Garadella kennen, die leicht zu finden ist, brennt über ihr doch die einzige Außenbeleuchtung des Ortes. Das Lokal liegt in einer Wellblechhalle, in die man, vorbei an grasenden Schafen, über einen kleinen Hof gelangt. Die Wände sind mit Preßpappe verkleidet. Drei Poster hängen daran. Tresen, Bänke und Tische sind aus grob bearbeiteten Holz gezimmert, gestrichen oder mit Wachstuch bezogen. In einem Eimer steht Bier, im Regal ein Rekorder (drei äthiopische und eine englische Kassette, die ein Weilchen nach unserem Kommen eingelegt wird). Einige Stangen Zigaretten. Bedient werden wir von einer jungen Frau, die keine Miene verzieht, aber, sobald man ihr in die Augen sieht, zu lächeln beginnt, und von ihrem Mann. Außer uns sitzen da ein Pärchen und am anderen Tisch unsere Fahrer. Wir bleiben ein Stündchen, schwatzen.

4. Oktober

Dieser Sonntag erinnert mich in manchem an die freien Tage bei der Armee mit ihrem begrenzten Spielraum und den sich erschöpfenden Möglichkeiten, Zeit totzuschlagen. Jeder wird auf seine Weise damit fertig. Jeder muß ohne Radio und Rekorder, ohne Bälle, Tischtennisplatte und anderen Luxus auskommen. Auch vor die Tür kann man sich nicht setzen, schon der Morgen war wolkenverhangen. Nur von Zeit zu Zeit ließ die Sonne sich sehen. Nach dem Frühstück fuhren Detlef, Thomas, Andreas und Michael nach Asassa, um Bier zu holen. Ich legte mich noch einmal hin und las. Draußen spielten Kinder. So oft jemand von uns auftauchte, erscholl das: You! You! der Kinder, die versuchen, Stachelschweinborsten gegen Abzeichen oder Zeitungen einzutauschen. Sie haben beachtliche Mengen davon und die Abzeichen sind begehrte Ware für ihre Kaupelei. Auch dabei gibt es eine Hierarchie, wagemutige und feige Jungs und die Kleinen, die nur ein Hemdchen anhaben und manchmal geschwollene Bäuche; sie tun es einfach den Größeren nach, wenn sie die Hand ausstrecken. Manchmal fährt einer der Erwachsenen dazwischen, aber lange hält das nicht vor. Auch die struppigen Hunde umstreichen das Haus und machen sich erst aus dem Staub, wenn ein Stein geflogen kommt. Der Wind versetzt die papierne Decke in Schwingungen. Im Zimmer Zwielicht. Lesen.

Seit dem 4. Jahrhundert gibt es in Äthiopien Denkmäler des Schrifttums, in die gleiche Zeit fällt die Annahme des Christentums, der monotheistischen Lehre, die den Zentralisationsbestrebungen der Feudalherren entgegenkam…

Erithrea ist ein Name für jene Territorien am Roten Meer, die 1889 von Italien kolonialisiert wurden und vorher als einzelne Landschaften des öfteren eine politische oder Verwaltungseinheit darstellten. 1936 wurde das Gebiet zusammen mit Somalia und dem unterworfenen Äthiopien dem italienisch-ostafrikanischen Imperio eingegliedert. 1941 fiel es auf Beschluß der UNO unter britische Verwaltung und bildete 1952 eine mit Äthiopien föderierte Provinz, die als 14. Provinz dem Staat unmittelbar angegliedert wurde… Die Hauptstadt Addis Abeba (Neue Blume) wurde 1885 gegründet… 1974 Revolution, 1975 Überführung von 90 Prozent des Wirtschaftspotentials in staatliches Eigentum. Bemühungen um den Aufbau einer Industrie, die Kupfer, Eisenerz, Zink, Blei, Molybdän, Wolfram, Uran, Stein- und Braunkohle, Mangan, Gold, Platin, Salz und Pottasche nutzen soll. Aufbau einer Energiewirtschaft und Entwicklung der Erdölverarbeitung… Alphabetisierungskampagnen bei einem Stand von 90 Prozent Lese- und Schreibunkundigen nach einheitlichem Bildungsprogramm in den Hauptsprachen des Landes… Führende Rolle der Amharen mit Unterbrechungen von 1270 bis ins 20. Jahrhundert… Artikel 2 der Verfassung von 1955: Die Würde des Kaisers bleibt für immer mit der Dynastie des Kaisers Haile Silassi I. verbunden …, der aus der ununterbrochenen Linie der Dynastie Memliks I, des Sohnes der äthiopischen Königin Saba und des Königs Salomon aus Jerusalem, stammt.

An den südöstlichen Grenzen Äthiopiens entwickelten sich im 11. Jahrhundert die islamischen Sultanate. Da das christliche Reich danach strebte, sein Territorium auszudehnen, sahen die im Süden und Osten angrenzenden Völker in den Sultanaten eine Stütze gegen den gefährlichen Nachbarn und traten dem Islam bei. Dazu gehörte die heutige Provinz Bale. (Geschichte Äthiopiens in zwei Bänden) Auch wir hatten sowohl die schmucklosen steinernen Gräber, als auch die kleinen islamischen, weiß gestrichenen Kuppelgräber mit dem Halbmond auf unserer Herfahrt gesehen.

Kurz vor dem Mittagessen kommt der Toyota zurück. Der Niva aber fährt noch einmal zur Farm, so daß wir schon mit unserem Sonntagsessen fertig sind, als die beiden Fahrer kommen. Der Rest reicht nicht aus. Helmut sagt, Jan soll irgendwas machen. Er fügt sich fluchend. Hat nicht einer ein paar Pepperoni? Die Abwehr bei ihm ist deutlich. Er ist ohnehin ein flapsiger Typ, aber die Dinge haben immer eine Geschichte.

Ein Kapital davon sind die jungen kubanischen Arbeiter, die in seinem Betrieb ausgebildet werden. Bei einer Schlägerei im Tanzsaal, mitten in den Ferien, haben einige von ihnen eine Reihe Vierzehnjähriger zusammengeschlagen, zum Teil mit Stühlen und anderem. Drei wurden werden verurteilt und eingesperrt. Jans Schuldzuweisung ist eindeutig: Diese Schweine. Wenn wir uns hier so aufführen würden, die Watchmen würden uns an die Wand stellen und fertig.

Manche legen sich hin und schlafen. Helmut, nehme ich an, liest. Detlef malt Phantasietiere und bastelt mit seiner ungarischen Pyramide. Andreas kommt mit den Skizzen herüber, Landschaften, Tiere. Sauber gearbeitet, mit viel Gefühl für Perspektiven und Schraffuren. Naturstudien. Aber vielleicht ein bißchen statisch. Er hat auch Karikaturen gemalt, die zum Teil in der Armeerundschau und im Magazin veröffentlicht wurden. Einiges, was er kurzerhand aufzeichnet, kannte ich. Also habe ich ihn angesprochen, bei der Bergfestzeitung mitzumachen. Eigentlich wollten wir noch einmal an den Teich auf Fotopirsch gehen, Aber Licht und Wetter blieben unfreundlich. Ab und zu werde ich so etwas brauchen, relative Einsamkeit. Zeit zum Denken, der Okkupation des Kopfes zu entgehen. Und wenn ich nicht die Möglichkeit finde, Kontakt zu Äthiopiern zu finden, wird das vielleicht Wichtigste fehlen.

Aber statt dessen hole ich das Skatblatt und sitze drei Stunden mit Andreas und Thomas zusammen beim Bierlachs. Binnen zehn Minuten ist Detlef mit seiner Pyramide fertig. Das werde ich nie können. Seine Zeichnung klebt er neben das Paßbild seiner Freundin an die Wand. Gegen achtzehn Uhr wird der Strom angeschaltet. Der Küchendienst, Michael, Andreas und Jan, stürzen sich aufs Abendbrot.

Neben unserem Zimmer befindet sich auch die Gemeindebibliothek. Dort hielten am Nachmittag Dorfbewohner, Farmarbeiter, eine Versammlung ab. Von anderswoher hörten wir Trommeln, auch Singen. Feiertag in Garadella.

Diesmal stehen für die Fahrer die gleichen Büchsen bereit, wie für uns. Zwiebeln, harte Wurst. Die Fahrer registrieren das. Einige sind stolz verschlossen, nur einer, der italienisch spricht, sucht den Kontakt. Am ehesten kommt er über Frotzeleien zustande. Viel dada, viel fuckyfucky… Der Italiener zieht ein speckiges Kartenspiel aus der Tasche, nimmt zwei Luschen und einen Buben. Wo liegt er? Die Technik beherrscht er und legt Michael ein paar Mal herein.

Um neunzehn Uhr füllt sich unser Zimmer wieder mit denen, die nicht in die Kneipe gehen wollen. Sieben von zehn Jungs plündern das Spielemagazin zur Dame und Mensch, ärgere dich nicht. Frauen, habe ich gelesen, bringen Kinder zur Welt; Männer können das nicht. Ihr Kind bleibt immer in ihnen und das ist gut so.

5. Oktober

Den ganzen Tag spielen die Kinder im Freien. Zerlumpte Hosen, schmutzige, löchrige Kleidchen. Dreijährige Knirpse mit schwarzem Wuschelkopf und traurigweisen Augen, die nichts anhaben als einen Pullover, der Hintern und halben Bauch frei läßt. Die Größeren, die uns Kunststücke vorführen, Brücke, Rad und Handstand, und niemand weiß, wen sie mehr fürchten, die Erwachsenen aus dem Dorf oder uns. Auf eine Geste hin, einen hastigen Schritt, stieben sie davon und die Kleinsten tappeln hinterdrein. Nimmt ihnen ein anderes Kind etwas weg, helfen die Geschwister einander. Das Schöne ist, sie hungern nicht. Sie streiten sich, balgen, halten zusammen und sind glücklich. Sie lachen, und von weitem sehen ihre Mütter uns zu.

Was mich bewegt: diese Kinder - unsere Leute, die sich - wie ich - eingerichtet haben, normal leben, dieses überall zu Hause sein und doch nichts greifen können, weil eine Sprache fehlt, das macht auch mich sprach-los.

Mit Bibi haben sich die Kinder schon befreundet, allerdings haben sie vor ihm auch am meisten Respekt. Er hat die meisten Geschäfte mit ihnen gemacht. Seine Freundin ist Freundschaftspionierleiterin und gab ihm auf die Reise einen ganzen Karton voller Abzeichen mit. Dafür hat er ein Bündel Stachelschweinborsten bekommen, aus denen er sich eine Lampe bauen will. Seltsam sieht es aus, wenn er zur einen und der Schwarm Kinder zur anderen Seite des Stacheldrahtzauns stehen, der das Hospitalgelände umgibt.

Dort, beim Doktor, herrschte wieder Hochbetrieb. Bibi meint, das allgemeine Wundermittel sei Penicillin. Hinter dem Haus, wo sich der Eingang befindet, warteten zum größten Teil Frauen, die in Grüppchen auf dem Rasen saßen. Manche trugen ihre Kleinkinder auf dem Rücken. Um sie vor der starken Sonne zu schützen, wurden sie tief im Tragetuch versteckt, so daß man nicht einmal das Köpfchen sehen kann.

Auch ich grüße nicht jeden, der vorüber kommt. Macht man es aber und dazu auf Amharisch, kann es passieren, der Angesprochene dreht sich um und kommt auf dich zu, um dir die Hand zu schütteln und, wenn er englisch kann, zwei, drei Worte mit dir zu wechseln. Die Fahrer sind sich schon so weit sicher, daß auch sie versuchen, Tauschgeschäfte anzubahnen, worauf allerdings niemand von uns reagiert. Wenn solch ein Geschäft Ärger einbringt und sich der Partner beschwert, hat das harte Konsequenzen für den Betreffenden: Er fliegt zurück.

Nachmittags gingen Thomas, Andreas und ich am Flüßchen entlang zu dem von übermannshohen Kaktusmauern umgebenen Trinkwassersee, um Vögel zu fotografieren, den kleinen rotschnäbligen mit den langen, wie Matrosenbänder flatternden Schwanzfedern, den Ibis, den Reiher, die Blauracke, den Kaktusfresser mit seinem langen spitzen Schnabel.

Wir gingen querfeldein, um dem Schweif kleiner barfüßiger Kerlchen zu entgehen, aber nach und nach folgte uns doch ein halbes Dutzend von ihnen. Andreas hatte ein paar Bonbons bei sich, und so etwas scheint sich wie ein Lauffeuer zu verbreiten. Auch Mütter, kaum älter als ich (wie schön könnten sie sein, wenn jemand sie schmückte) baten für ihre Kleinsten: Karamella… Einige hatten halb geschorenes Haar, Zöpfe mit eingeflochtenen Muscheln oder Perlen. Auch sie stellen sich schon in Positur, wenn wir fotografieren.

Der Rückweg führte uns an einigen runden Hütten vorbei, die wir vorher nicht gesehen hatten, weil sie in einem Kakteenhalbrund verborgen sind. Ein Stück weiter befindet sich die Schule, von einem halbhohen Wall umgeben, erkennbar an der Fahne auf dem Hof. Noch weiter sehen wir die fensterlosen Wellblechhütten der Dorfarmen. Selbst die dünnen Wellblechplatten sind geflickt und durchlässig. Hier schicken auch Erwachsene manchmal ihre Kinder zu uns. Aber sie trauen sich nicht und wir sind eigentlich ganz froh, nur noch um die Haltestelle - der Bus ist ein Traktor mit Hänger, auf dem Schulkinder und Arbeiter gefahren werden - herum zu müssen, um zu Hause angekommen zu sein.

6. Oktober

Heute stand ich gegen sechs auf, wusch mich am Wagen und sah den Garadellaberg aus einem schneeweißen Nebelband aufsteigen. Eine Stunde später ist die Sicht frei und klar. Jede Entfernung scheint geringer, als sie in Wirklichkeit ist, auch jene von einer Seite des Kessels zur anderen, die vielleicht 120 Kilometer mißt und nicht, wie ich glaubte, siebzig.

Fünfundvierzig Kilometer sind es allein bis zu unserem Arbeitsplatz in zweitausenddreihundert Metern Höhe auf der Staatsfarm Sirofta. Während wir unsere blauen Arbeitsanzüge überstreiften, liefen die Jeeps warm. Allzu genau sollte man sich die nicht ansehen, sonst stellt man fest, daß der Toyota rechts vorn auf der blanken Leinwanddecke fährt und es um den Nissan nicht besser bestellt ist. Die Wagen sehen zwar häufig einen Putzlappen, aber selten ein Werkzeug und noch seltener einen Schlosser.

Von uns schien das keinen zu stören. Alle waren mehr oder weniger aufgekratzt, daß Vorbereitungen und Warterei vorbei sind. Mir jedenfalls ging es so. Der Morgen machte mich fröhlich. Wir luden Werkzeug- und Schraubenkiste, Teekanister und Fototasche auf, drückten uns in unseren Toyota. Auch der Fahrer war gut gelaunt, und wenn er das ist, versucht er unermüdlich, mit Bibi ins Gespräch zu kommen, sei es über Begriffsbrücken wie: Asassa, fuckyfucky.

Bibi reagierte darauf, wie ein gewöhnlicher Deutscher frühmorgens auf dem Weg zur Arbeit: Er wollte seine Ruhe haben. Das machte auch nichts, da sang sich unser Fahrer halt eins seiner kehligen afrikanischen Lieder, die keinen genauen Anfang und schon gar kein sicheres Ende zu haben scheinen. Hinter uns auf der Piste blieben zwei Staubfahnen zurück. Wir fuhren zwischen Raps- und Weizenfeldern, wo das Getreide zu niedrig steht, um Mähdrescher einzusetzen, überholten Reiter auf Pferden und Eseln, nicht sehr selten zu zweit auf einem Tier, und kleine Viehherden. Manchmal bleibt ein Tier unbewegt auf der Piste stehen, bis der Wagen auf zwei, drei Meter herangekommen ist und hupend angehalten hat. Es kommt auch vor, daß Hirten große Steine auf die Piste legen, wie es hier üblich ist, wenn ein Wagen Panne hat. Für unsere Bereifung ist das nicht ungefährlich.

Wir fuhren an Dörfern vorbei, einem, das aus mehr als hundert sich gleichenden, runden Holzhütten mit einem Durchmesser von vielleicht fünf Metern besteht. In jeder wohnt eine Familie.

Auch das legendenumsponnene Asassa bekam ich an diesem Morgen zu sehen. Hier befindet sich die Oberschule, die mit der fünften Klasse beginnt. Kinder und Halbwüchsige kamen uns entgegen, ihre Schulsachen unter dem Arm, meistens in größeren Gruppen, die Mädchen zu dritt, zu viert, drehten sich um und lachten, seltener grüßten die größeren Jungs.

Um acht ist ein Teil der Kneipen schon geöffnet und wartet auf Kundschaft, zufällige zu dieser Tageszeit. Ihre Namen sind bezeichnender für ihren Zweck, als ihr Aussehen: Blaue Wolke, Grüne Hölle, Sportlerheim… Wenn man dem Erzählen der älteren Garadellafahrer glauben darf, und man darf wohl, fehlt es keiner dieser Stampen an Hinterzimmern mit Bett, wo die drallen jungen Frauen oder auch minderjährigen Mädchen den Gästen zu Willen sind.

Ein Kamas stand am Straßenrand, Kinder, viel mehr als Erwachsene, schien es mir. Und immer, auch hinter den niedrigen, verwohnten und lange nicht gestrichenen Häusern mit ausgetretenen Schwellen und wetterrissigem Gebälk, sahen wir das Panorama der Dreitausender. Einmal sprang vor uns eine Hyäne ins Feld, ein anderes Mal stieg von der Straße ein ganzer Schwarm Schwalben auf. Falken flogen uns zur Seite, Ibisse querten die Straße, Reiher. Und dieses Land erwacht in Freundlichkeit. Es ist schwer vorstellbar, daß es hier einen Tag ohne Lachen gibt.

Für unsere Strecke brauchten wir siebzig Minuten. Daß ein PKW diese Strecke ohne Panne übersteht, ist zweifelhaft. Unser Toyota fuhr zwischen zwanzig und achtzig Stundenkilometern manchmal nur auf einem Spur-Grat.

Die Farm in Sirofta könnte etwas wie eine Musterfarm sein. Dafür spricht die Ordnung auf dem Gelände, die Ausstattung mit Mähdreschern, der einzige E514, der in Äthiopien ist, wird dort getestet, und Traktoren. Anderswo sind Schrottmaschinen keine Seltenheit. In Sirofta sahen wir nicht viel davon. Der Anblick eines zerbeulten und geplünderten ZT 303, auf dem noch Gift from GDR zu lesen ist, stimmt traurig genug. Es soll allerdings westliche Korrespondenten gegeben haben, die ihn verständlicherweise genossen. Empfangen wurden wir vom englisch sprechenden Technik-Manager der Farm, einem bärtigen, leicht angegrauten Vierziger im braunen Kittel. Viel zu erklären gab es nicht. Auf uns wartete eine Reihe Maschinen, die vor der Ernte noch einer Null-Durchsicht bedürfen, und ein E512, dessen Antriebswelle und rechtes Vorderrad abmontiert waren.

Ein bißchen seltsam kam ich mir schon vor. In den Reiseunterlagen stehe ich als Mechanic, in der Identitätskarte von der Botschaft gar als Engineer, und nun sah ich zum ersten Mal einen Mähdrescher aus der Nähe, bislang eine Zaubermaschine für mich, ein Vielfraß, der Spreu und Stroh und Weizen spuckt, und das alles sortiert. Nun werde ich von äthiopischen Arbeitern als einer der fremden Wissenden angesehen, von denen sie sich wohl oder übel etwas abgucken müssen. Was mitunter den Vorteil hat, daß sie selbst nur zuschauen und nicht selbst zugreifen müssen. Im Zuschauen, das merkten wir rasch, haben sie Ausdauer. Im übrigen gab es kaum Probleme.

Ungewohnt für uns war die Sonne, die schon um neun mit aller Kraft brennt, ungewohnt für mich: ein ganzer Arbeitstag im Freien. Der Vormittag war noch nicht vergangen, da hieß es schon: Thomas hier und Thomas dort und Thomas bravo, als das neue Lager auf der Welle saß und die Welle in der Maschine. Meine Hilfe beschränkte sich zunächst darauf, Schrauben passender Größe zu suchen, Werkzeug zuzureichen, etwas festzuhalten und dabei ein möglichst kluges Gesicht zu machen. Unangenehm war es, nach einer Keilriemengröße oder dem Zweck einer Kraftübertragung gefragt zu werden.

Die Farm selbst ist ein großer Fuhrhof mit zwölf bis vierzehn Blechhallen, einem Schleppdach und dem Office. Bewacht wird sie von bewaffneten Watchmen, die von Zeit zu Zeit auch den Arbeitern zusehen. Ein Zaun mag irgendwo sein, aber er schließt das Gelände nicht ab. Schwierig ist es, ein Ersatzteil zu bekommen. Wenn es dieses Jahr nur eine Unterschrift braucht und nur eine halbe Stunde dauert, hat sich viel getan. Die Vorräte sind nicht groß und Ersatzteil heißt auch: ein Simmerring, eine Schraube mit Mutter. Putzlappen gibt es nicht. Was wir darunter verstehen, damit wird hier die Alltagskleidung geflickt. Statt dessen gibt es streng bemessen eine Handvoll Putzwolle für jeden. Mittags sahen wir uns nach Wasser um und fanden nichts. Der Wasserkanister stand in Garadella. Daraufhin führte der Kombinefahrer uns in den Ort.

Sirofta unterscheidet sich in manchem von Garadella. Die meisten Häuser hier sind aus Beton. Jedes ist von Gärtchen umgeben mit Kräutern, Rizinusbäumen und Sträuchern, Zwiebelbeeten, Blumen. So ins Grün geschmiegt, wirkt die Siedlung an einem sanft abfallenden Hang fast wie eine Vorstadtkolonie. Auch hier sammeln sich sofort Kinder. Sie sind ein wenig besser gekleidet als in Garadella und die Gesten des Bettelns bleiben aus.

Der Kombinefahrer leitet unseren Jeep zu seinem Haus. Eine junge Frau kommt, seine Kinder, wie viele zu ihm gehören, war nicht zu erkennen. Auch hier war das Wasser knapp. Ein Eimer stand im Haus und aus einer kleinen Schöpfkelle goß er uns über die Hände. Später sahen wir unten im Ort den Wagen, nicht größer als unserer in Garadella, von dem die Leute ihr Wasser holen müssen. Wir bedankten uns mit einer Hand voll Linda Neutral, das wundervollste Geschenk, wie uns schien, und fuhren zurück zum Office des Managers, das er uns zum Mittag zur Verfügung gestellt hatte.

Die Pause ist relativ lang, anderthalb Stunden, aber bis zum Ort sind es ein bis zwei Kilometer und die Arbeiter essen zuhause. Das Office besteht aus einem Tisch, zwei Stühlen, einer Bank und zwei Regalen, in denen die Unterlagen der Fahrzeuge und der Materialversorgung liegen. Wir packten unsere Kühltasche aus, Wurst- und Butter-Büchsen, Semmeln, Zwiebeln, Knoblauch, Plastgeschirr. Meine täglichen Knoblauchzehen sind eine zwar nicht jedem angenehme, aber gesundheitsfreundliche Maßnahme, der ich auch zuschreibe, daß ich bislang einigermaßen von Flöhen verschont blieb.

Später legten wir uns an einer schattigen Stelle ins Gras. Auch von dort sind die Berge zu sehen, aber sie bleiben fern genug, um eher erhabene Weite auszustrahlen als das Gefühl von Begrenzung. Bevor die anderen wiederkamen, machten wir weiter. Vier oder fünf Maschinen bekamen wir auf diese Weise bis vier Uhr fertig. Unser Fahrer stromerte derweilen herum, war einmal bei diesem oder bei jenem Grüppchen, wie sie sich am Rand der Farm zusammenfanden.

Nach diesem Tag war die Stimmung merklich lebhafter. Das Schwatzen unseres Fahrers störte niemanden mehr, wir hatten selbst genug zu reden. Mit dem Nissan waren wir verabredet, wo der Farmabzweig auf die andere Piste stößt. Dort befindet sich auch eine Ortschaft.

Wir hatten kaum angehalten, als die ersten Kinder näher kamen, auch ein paar junge Männer, davon einer in auffällig neuem Jeansanzug, der mit dem Fahrer redete und das Selbstbewußtsein eines Dorfkings zu haben schien, ein in Besitz nehmendes Selbstvertrauen, das sich überschätzt. Schließlich kam noch ein Graubärtiger mit einer Art Wünschelrute, die in eine eiserne Spitze auslief, der plötzlich laut und meditativ zu singen anhub, und ein achtzehnjähriges Mädchen mit koketten und zugleich scheuen Augen, das beim Lachen seine rosige Zunge zwischen die Zähne steckte und offenbar zu einem der Männer gehörte. Uns wurde dieser Auflauf allmählich zu viel. Wir waren froh, als staubumwölkt der Nissan erschien. Dann, aus einem Seitenweg, tauchte noch der Toyota von der Staatsfarm in Garadella auf. Der kleine Konvoi war beisammen. Abwechselnd überholte einer den anderen auf dem Run nach Asassa, wo beide Jeeps vor der Blauen Wolke stoppten.

Auch hier gab es sofort einen Auflauf von Kindern, darunter kleine Schuhputzer, die sich ein Geschäft erhofften, und ein Junge, der Bibi und ein paar der Mannschaft offenbar schon kannte und zur Kneipe gehört. Unsere Fahrer verdrückten sich in eine Seitenstraße, während unser lärmender Haufen die Kneipe besetzte. Ein gezimmerter Tresen, ein Regal mit Schnapsflaschen, drei Dutzend Gläser. Eine Frau mit tiefen Ringen unter den Augen, eine jüngere, deren Profession ebenfalls unschwer zu erkennen ist. Beide strafften die Bluse über ihrer drallen Ware und setzten Kringelaugen auf, während sie Cola an die beiden Tische brachten und die Gläser mit Ouzo, einem fünfzigprozentigen Anisschnaps, füllten.