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© Copyright: Reinhard Schmoeckel, Bonn 2016

Graphik: Andrea Egler; www.das-auge-denkt.com, Düsseldorf

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ISBN: 9 783743 169470

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Inhaltsverzeichnis

  1. Teil
    1. Kapitel
    2. Kapitel
    3. Kapitel
    4. Kapitel
    5. Kapitel
    6. Kapitel
    7. Kapitel
    8. Kapitel
  2. Teil
    1. Kapitel
    2. Kapitel
    3. Kapitel
    4. Kapitel
    5. Kapitel
  3. Teil
    1. Kapitel
    2. Kapitel
    3. Kapitel
    4. Kapitel
    5. Kapitel
  4. Teil
    1. Kapitel
    2. Kapitel
    3. Kapitel
    4. Kapitel
    5. Kapitel
    6. Kapitel
  5. Teil
    1. Kapitel
    2. Kapitel
    3. Kapitel
    4. Kapitel
    5. Kapitel
  6. Teil
    1. Kapitel
    2. Kapitel

Vorwort

Für einen populärwissenschaftlichen Schriftsteller, der schon mehrere historische „Sachromane“ über Vorgänge in Deutschland zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert verfasst hat, erhob sich irgendwann die Frage, ob sich in dieser Zeit nicht auch „Kriminalgeschichten“ ereignet haben könnten.

Ganz sicher, denn die Motive – etwa für einen Mord, genannt seien nur Gier, Eifersucht, Hass – waren damals gewiss nicht weniger vorhanden als heutzutage. Der entscheidende Unterschied lag in der Möglichkeit der Aufklärung solcher Taten und damit des „In-Erscheinung-Tretens“ des Kriminalfalles.

Ein Diebstahl oder ein Mord in einem Dorf unter Bauern – damals fast 90 Prozent der Bevölkerung in Deutschland! – konnte möglicherweise durch Verwandte oder den Gutsherren ganz schnell aufgeklärt werden, ohne die Arbeit von Organen der Staatsmacht, genannt „Polizei“, denn die gab es damals einfach noch nicht – oder höchstens in „Großstädten“. Der ertappte oder überführte Täter wurde dann sehr schnell seiner Strafe zugeführt, dem Gefängnis oder dem Galgen.

Eine Justiz existierte damals in Deutschland durchaus schon; ein königliches oder herzogliches Gericht mit studierten Juristen urteilte dann auf Grund der von einem Ankläger vorgetragenen Fakten und eventuell einem Geständnis des Täters. Alle nicht ganz schnell aufgeklärten Verbrechen aber waren nach wenigen Wochen vergessen, wenigstens außerhalb der Familie des Bestohlenen oder Ermordeten. Schriftliche Akten dazu wurden nie geführt.

Etwas anders konnte es vielleicht zugehen in den wenigen größeren Städten in Deutschland und hier in Kreisen des gehobenen Bürgertums oder des Adels. Nur dort gab es gebildete und schriftkundige Menschen, die bestimmte Vorgänge auch einmal schriftlich festhalten konnten und die auch in ihrer Lebensführung unabhängig waren und Zeit hatten, einem unaufgeklärten Verbrechen persönlich nachzuspüren. Einen Berufsstand der „Polizei“, erst recht eine „Kriminalpolizei“ mit gezielt ausgebildeten Beamten, kannte man damals noch nicht, natürlich erst recht nicht die zahlreichen technischen Möglichkeiten von heute zur Identifizierung eines Täters wie ein Fingerabdruck oder seine DNA.

In diese Zeit vor der „berufsmäßigen Polizei“ führt der Kriminalroman, den der Leser in der Hand hält.

Abgesehen vom eigentlichen Verbrechen, dem Mord auf der Plattenburg, der dann später zum „Rüben-Mord“ wurde, stimmt aber so ziemlich alles, was in diesem Buch beschrieben ist, von der Landschaft über die Menschen verschiedener Stände bis zu den Lebensumständen im ländlichen Preußen im ausgehenden 18. Jahrhundert. Selbst die Verknüpfung mit der „Erfindung“ der Zucker-Herstellung passt genau zur Zeit und Gegend.

Der Autor hatte den Vorzug, bereits kurz vor der „Wende“ im Jahr 1989 und auch noch später persönlich die Plattenburg kennenlernen zu können und auch einige heutige sehr sympathische Vertreter des alten brandenburgischen Adelsgeschlechts der von Saldern.

Im Kriminalroman sind sowohl Opfer wie Täter Angehörige dieser Familie, aber auch der „Held“, der „Detektiv“.

Genau in der gleichen Zeit, in der der Roman spielt, nämlich um das Jahr 1799, experimentierte ein naturwissenschaftlich gebildeter Preuße, der Hugenotte François Charles Achard, in der Nähe von Berlin mit speziell gezüchteten Runkelrüben und der Extraktion von Zucker aus der Ackerfrucht. Nur seine Erfindungen haben den Weg in die Geschichte gefunden, allerdings erst einige Jahre später.

Aber vielleicht haben auch die Experimente gewisser Herren von Saldern im Ruppiner Ländchen etwas damit zu tun gehabt?

Bonn, Herbst 2016

Reinhard Schmoeckel

I.

1.

Gleich am Morgen nach dem großen Fest begannen die ersten Gäste wieder abzureisen. Der 50. Geburtstag des hochwohlgeborenen Georg Wilhelm von Saldern, Majoratsherr auf der Plattenburg, am 20. September des Jahres 1799 war ein denkwürdiges Ereignis gewesen.

Die vielen Gäste aus dem brandenburgischen Adel, vor allem aber aus den inzwischen zahlreichen Zweigen derer von Saldern, waren gekommen, um das Ehrenfest des Jubilars mit ihm zu feiern. Nicht nur sein Ansehen im Kreis der Standesgenossen hatte diese veranlasst, sehr zahlreich der Einladung Folge zu leisten, sondern auch, weil man wusste, dass die Küche auf der Plattenburg immer etwas Besonderes zu bieten hatte.

Die Plattenburg war viel mehr als ein altes Gutshaus in der Prignitz. Sie war eigentlich ein Überbleibsel aus dem dunklen Mittelalter. Ursprünglich war sie schon vor sechshundert Jahren erbaut worden, gleich als die ersten deutschen Ritter und Bauern in das Gebiet der Wenden östlich der Elbe strömten, um sich dort Land und Güter und billige Untertanen zu sichern.

Völlig abweichend von der hier in der Prignitz und auch sonst in der Kurmark Brandenburg üblichen Anlage von Gutshöfen war die Plattenburg von vornherein als Wasserburg erbaut worden, auf einer künstlichen Insel in einem künstlichen See, der besseren Verteidigung gegen die damals immer noch gefährlichen Wenden wegen.

Starke Steinmauern und ein darauf gesetztes festes Gebäude mit mehreren Stockwerken, sowie Scheunen und Ställe auf der von einem Wassergraben umgebenen Insel hatten die Plattenburg zu einem einst sehr sicheren Adelssitz gemacht.

So war die Burg auch bald im den Besitz der Bischöfe von Havelberg gekommen und von diesen mehrere Jahrhunderte als Landsitz benutzt worden. Jenseits des Wassergrabens, der Graefte, lagen die kleinen Häuser des Dorfes, in denen die erbuntertänigen Bauern der Herren der Plattenburg lebten.

Doch dann kam die Zeit, da das Kurfürstentum Brandenburg die verderbte Religion Roms ablegte und sich zum Glauben an das wahre Evangelium Jesu Christi bekannte, den der selige Herr Martin Luther einst verkündet hatte.

Damals war auch die Plattenburg als Zubehör des frei gewordenen Bischofssitzes in Havelberg in die Hände des Kurfürsten von Brandenburg gekommen. Und der, Joachim II., hatte dieses wertvolle Gut an den Herrn Matthias von Saldern zu Lehen gegeben. Denn der hatte damals dem Kurfürsten, als der noch jung war, viel mit geliehenem Geld unter die Arme gegriffen.

Seitdem waren die Plattenburg und vor allem das benachbarte Städtchen Wilsnack in der Hand der alten Adelsfamilie derer von Saldern geblieben, die eigentlich aus dem Braunschweigischen stammten. Leider war in Wilsnack seit der Reformation der Geldsegen versiegt, der einst von den vielen Pilgern mitgebracht worden war. Früher, in papistischen Zeiten, waren sie zur Verehrung eines angeblichen Wunderbluts in Scharen aus ganz Europa zur Kirche in Wilsnack gepilgert. Doch das hatte nun längst aufgehört, zur Freude der evangelisch-lutherischen Geistlichen und zum heimlichen Leidwesen der von Salderns und der zahlreichen Wirte und Kaufleute in Wilsnack, die einst in papistischen Zeiten an den Pilgern gut verdient hatten.

In den vergangenen zweihundertfünfzig Jahren hatte sich die Familie von Saldern in etliche Zweige aufgeteilt, die in verschiedenen Teilen der Kurmark und der Altmark eigene Güter erworben hatten. Sie alle betrachteten aber den Majoratsherrn auf der Plattenburg als den Senior ihres Geschlechtes, weil der am direktesten vom Gründer des brandenburgischen Astes abstammte.

Ein gewisser Burchard von Saldern hatte die Plattenburg um 1600 im Stil der Spätrenaissance umgestalten lassen, von dem damals noch vorhandenen Reichtum in der Familie. Davon zeugte ein prächtiger Rittersaal mit einem kunstvoll geschmückten Kamin mit den Wappen all der Adelsfamilien, mit denen die Salderns inzwischen näher oder ferner verschwägert waren.

Seitdem allerdings waren den Herren von Saldern keine größeren Investitionen in diesen Wohnsitz mehr möglich gewesen. Man sah es nicht nur an dem veralteten Baustil, sondern auch an manchen Rissen im Gemäuer, aus denen Unkraut hervor wuchs.

Der Vater des Gutsherrn war ein General unter Friedrich dem Großen gewesen, Friedrich Christoph von Saldern, das wohl berühmteste Glied der Familie in jüngerer Zeit. Aber der hatte nie die Zeit und das Geld dafür gehabt, sein Heimatgut zu renovieren.

Georg Wilhelm, sein Sohn, hätte wohl die Zeit und vielleicht sogar die Lust zu Bauarbeiten auf der Plattenburg gehabt, denn im Gegensatz zu seinem Vater prägte ihn eine stille Abneigung gegen den Militärberuf. Aber ihm fehlte das Geld zu größeren Bauarbeiten. Umso mehr hatte er Wert auf eine großzügige Bewirtung der Gäste bei seiner Geburtstagfeier gelegt, in der richtigen Überlegung, dass ein solche Nachweis von offensichtlichem Wohlstand seinem Renommé 1 bei den Standesgenossen und seinem Kredit bei den Bankiers am besten nützen könnte.

Georg Wilhelm hatte sich betont als Zivilist von Stand gekleidet, als er nun am Morgen nach dem Geburtstagsfest am Burgtor stand, um seine abreisenden Gäste zu verabschieden. Mit seinem zivilen Frack in sattem Braun, das gut zu den weißen Stümpfen und der beigen Kniehose passte, unterschied er sich bewusst von seinem längst verstorbenen Vater, den man nur in preußischer Offiziersuniform gesehen hatte. Nur der kleine Kavaliersdegen 2, der an einem Schulterband neben seinem linken Bein hing, zeugte davon, dass er kein reicher Bürger war, sondern dem Adelsstand angehörte.

Neben ihm stand seine Frau Roswitha. Sie war eine etwas unscheinbare Frau, nicht mehr ganz schlank, deren Garderobe auch nicht der neuesten Mode in der Hauptstadt Berlin entsprochen hätte. Allerdings hier, weitab vom Glanz der Residenz, nahm man das auch nicht so genau. Frau von Saldern entstammte der Familie von Bredow, die ebenso wie die Salderns in ganz Brandenburg ihre Äste verteilt hatte.

Als treusorgende Hausfrau ging Roswitha von Saldern ganz in den Pflichten einer traditionellen Gutsherrin auf und kommandierte die Knechte und Mägde und Köche auf der Plattenburg tüchtig. Aber über den Rand der Gräfte 3 der Plattenburg ging ihr Interesse nicht hinaus.

Immer wieder musste Herr Georg Wilhelm den neumodischen Zylinder ziehen, der in vielen Kreisen selbst im Königreich Preußen immer mehr den veralteten und an das Militär erinnernden Dreispitz 4 abzulösen begann. Mit freundlichem Lächeln reichte er den Paaren in ihren Pferdekutschen oder den Reitern, die einzeln gekommen waren, die Hand. In steter Folge verließen sie das Gut, um hinter der Brücke über den Wassergraben den Fahrweg zu erreichen, der nach Norden durch dichten Forst nach einer Drittelmeile 5 die Landstraße nach Perleberg oder Kyritz zu erreichen, die praktisch einzige Verbindung der Plattenburg mit der übrigen Welt.

„Ich hoffe, Sie hatten einen schönen Tag hier auf der Plattenburg, verehrter Herr Vetter und sehr verehrte Frau Base! Ihr Teilnahme an meinem Fest hat ihm erst das Flair gegeben, das ich mir für dieses Fest erhofft hatte. Meine Frau und ich wünschen Ihnen eine gute Reise!“

Diesen höflichen Standard-Satz hatte der Jubilar nun schon mehr als ein dutzend Mal von sich gegeben und seinen Zylinder geschwenkt, und seine Frau Roswitha hatte jeweils die Andeutung eines Knickses vollzogen.

Gut anderthalb Stunden dauerte diese freundliche, wenn auch auf die Dauer etwas eintönige Zeremonie schon, nur unterbrochen durch die Pausen, bis die Pferdeknechte und Stallburschen der Plattenburg wieder einen Kutschwagen aus der Remise 6 gezerrt und die richtigen Pferde aus dem großen Stall geholt und davor eingespannt hatten.

2

Doch plötzlich erlitt die Folge der durch das Tor rollenden Kutschen eine Unterbrechung. Mit kreidebleichem Gesicht stürzte der Hausdiener Hannes auf den Gutsherren zu und flüsterte ihm aufgeregt etwas ins Ohr. Ungläubig schaute sich Georg Wilhelm von Saldern um, als könne er hier in der Toreinfahrt seiner Burg die Aufklärung eines Rätsels erfahren.

Doch dann stülpte er entschlossen seinen Zylinder auf den Kopf, den er bisher mit der linken Hand geschwenkt hatte, dirigierte seine Frau in Richtung auf das Innere des Burghofes und sagte in sehr entschiedenem Ton: „Du gehst jetzt am besten in den Salon, ehe du ohnmächtig wirst. Der Hannes hat mir gerade etwas von einem Mord berichtet.“

Unter Führung des alten Hausdieners strebte er dann schnellen Schritts zu einem Nebenbau der Burg auf dem Innenhof und kletterte die schmale Treppe in den ersten Stock empor.

Einst waren die kleinen Stuben des Nebengebäudes wohl als die Unterkünfte für die Leibwache des Burgherren gedacht gewesen. Jetzt jedoch, in friedlicheren Zeiten, dienten sie normalerweise als Aufbewahrungsorte für Äpfel, Kartoffeln und andere Erzeugnisse des Gutes. Seit ein paar Tagen allerdings waren die vielen Kammern leer geräumt, gefegt und geputzt und mit einigen Schütten frischen Strohs in provisorische Gaststuben verwandelt worden. Diese recht rustikale Unterbringung hatten die vielen Gäste der Geburtstagsfeier unbedingt einer schmutzigen und von Ungeziefer verseuchten Kammer in einem ländlichen Wirtshaus vorgezogen – ganz abgesehen davon, dass es solche Unterkünfte im Umkreis von einigen Meilen 7 rund um die Plattenburg überhaupt nicht gab.

Die meisten Kammern waren schon leer, weil ihre Bewohner inzwischen bereits abgereist waren. An ihren offenen Türen konnte man das deutlich sehen. Vor einer Tür stand allerdings ein kleines Grüppchen von Mägden und Knechten der Burg, die leise, aber eifrig miteinander schwatzten und gelegentlich durch die Tür ins Innere der Kammer lugten. Bei ihnen stand der Leibdiener des Gutsherren, der alte Wilhelm Kattke, der zugleich wie in einem hochadligen Schloss die Rolle eines Haushofmeisters spielte. Er wedelte mit einigen Papierblättern um sich, in die er immer wieder blickte.

„Hier ist es, gnädiger Herr“, zeigte der Diener Hannes aufgeregt durch die offen stehende Tür. Drinnen lag ein nur halb bekleideter Mann auf einer Strohschütte, mit einem deutlich sichtbaren Schnitt durch die Kehle, offenbar schon seit Stunden tot. Viel Blut war über seinen Körper und auf das Stroh geflossen.