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Titel

SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört,
einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher,
Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7515-9 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-6010-0 (lieferbare Buchausgabe)

© 2021 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: info@scm-haenssler.de

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:
Elberfelder Bibel 2006, © 2006 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

Umschlaggestaltung: Jan Henkel
Titelbild: shutterstock (Felsen, Haus, Baum, Ast), trevillion (Frau)
Satz: Satz & Medien Wieser, Aachen

Inhalt

Über die Autorin

Widmung

Prolog

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Leseempfehlungen

Über die Autorin

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NICOLA VOLLKOMMER ist gebürtige Engländerin und lebt seit 1982 in Reutlingen. Sie gehört zum Leitungsteam der Christlichen Gemeinde Reutlingen, unterrichtet an der Freien Evangelischen Schule und ist eine gefragte Referentin. Nicola Vollkommer ist mit Helmut verheiratet, das Paar hat vier erwachsene Kinder.

www.nicola-vollkommer-buecher.de

Widmung

Diese Geschichte ist meiner Schwester Andrea gewidmet. Ihr Mann leitet eine Gemeindearbeit in einer Stadt in Nordengland, die heute noch genauso ein sozialer Brennpunkt ist wie schon zur Zeit der Handlung des Romans. Durch meine Schwester und ihre Familie ist der kleine Überrest einer sterbenden Kirche zu einer gedeihenden und fröhlichen Gemeinschaft geworden. Dort erleben Menschen auch heute – wie die Charaktere dieses Romans –, dass Gott gerade in den Widrigkeiten des Lebens seine Geschichte mit denen schreibt, die auch angesichts von Schicksalsschlägen und Tod nach seinem Beistand suchen und auf seine Gnade setzen.

Prolog

»Hier sind die Kleider. Schlüpfe ganz schnell hinein. Ohrringe, Halskette, Ringe und Armband bleiben bei mir. Auch die Uhr samt Goldkette.«

Er redete laut, um den Regen zu übertönen, der auf das Dach donnerte und gegen die Fensterscheiben peitschte. Seine offene Handfläche hielt er ausgestreckt der jungen Frau hin, die zaghaft die Perlenkette betastete, die ihren zierlichen Hals schmückte.

»Was, diese auch?«

»Keine Zeit für Erklärungen. Die Gefahr ist näher, als wir gedacht haben. Ein Mann ist tot. Das muss als Erklärung reichen.«

Mit zitternden Händen zog die junge Frau ihre Perlen vom Hals und streifte anschließend ein Armband und einen Diamantring ab. Der Mann nahm die Schmuckstücke aus ihrer Hand – behutsam, aber entschlossen.

»Nicht weinen, mein Kind«, sagte er plötzlich in einem sanfteren Ton. »Dieser Schmuck hat dir schlecht gedient. Er ist bei mir in sicheren Händen. Irgendwann müssen wieder bessere Zeiten kommen. Selbst dieses Gewitter kann nicht für immer dauern.«

Er zog einen grauen Rock, eine Schürze, zusammengefaltet und mit Wäschestärke gesteift, und eine dunkelblaue Haube aus einem schäbigen Lederkoffer heraus, den er aufgeklappt hatte.

»Ich schaue, ob die Kutsche zur Abfahrt bereitsteht. Bis ich zurückkehre, möchte ich eine gepflegte Zofe vor mir sehen, fertig zum Dienst.«

Als er wenig später wieder an der Tür erschien, war die junge Frau im Begriff, die Haube unter ihrem Kinn festzubinden. Sie richtete sich auf, stellte sich stramm und blickte ihn ängstlich an. Er begutachtete sie von Kopf bis Fuß, presste seine Lippen zusammen und nickte. Danach legte er einen Umhang um ihre Schultern und zog dessen Kapuze über ihre Haube, fast bis zu ihren Augen herunter. In eine Hand nahm er eine große Ledertasche, die neben der Tür stand, mit der anderen Hand hakte er sich bei ihr unter und führte sie aus dem Zimmer. Schnellen Schrittes gingen sie eine Steintreppe hinunter, einen gefliesten Gang entlang und zu einer kleinen Tür hinaus, die in einen Hof führte. Eine Kutsche wartete. Pferde stampften. Im Licht einer einzigen Laterne war der Dampf aus ihren Nüstern sichtbar, der durch die Regenströme in die kalte Nachtluft emporstieg.

»Brrr, noch nicht losspringen!«, rief der Kutscher und zog die Zügel an.

Das laute Bellen eines Hundes war am anderen Ende des Hofes zu hören.

»Wir müssen uns beeilen, bevor das Tier die ganze Nachbarschaft alarmiert«, rief der Mann zum Kutscher. Er wandte sich noch mal der jungen Frau zu.

»Deine Hauptaufgabe, mein Kind, ist es ab jetzt, unauffällig zu bleiben und dich im Hintergrund zu halten, wo auch immer du dich befindest. Ich weiß, das bist du nicht gewohnt, aber jetzt hast du keine andere Wahl.«

Er blickte kurz um sich, schob die Tasche mit beiden Händen durch die Tür der Kutsche und trat zur Seite, damit die junge Frau einsteigen konnte. Sie zögerte, drehte sich um, warf ihre Arme um seinen Hals, klammerte sich an ihn und grub ihr Gesicht in seinen inzwischen nass gewordenen Gehrock.

»Ich habe solche Angst, schreckliche Angst«, platzte es aus ihr heraus. Ihre Stimme war tränenerstickt. »Warum durfte ich mich nicht einmal verabschieden? Ein letztes Mal.«

Er hielt sie einen Augenblick lang fest.

»Ruhig, meine Liebe«, flüsterte er. »Es hätte dich nur in weitere Gefahr gebracht. Ich schaue nach ihm. Er schläft. Diese zerrissene Welt schwebt inzwischen an ihm vorbei. Bald ist sie für ihn nur noch ein ferner Schatten. Ich bin jetzt für dich verantwortlich, warst du doch immer wie eine Tochter für mich. Du musst jetzt tapfer sein. Richte deine Aufmerksamkeit auf die Aufgaben, die auf dich warten. Sag mir noch einmal: Auf was musst du achten?«

»Nützlich sein, damit meine Gebieterin nicht mehr ohne mich auskommt. Bescheiden, damit die anderen Bediensteten nicht neidisch werden. In einfachen Sätzen sprechen, damit mich niemand durchschaut. Immer auf der Hut sein. Das Haus niemals verlassen, ohne zu jeder Zeit zu wissen, wer hinter mir, neben mir, vor mir läuft. Nicht einmal die Vögel auf dem Dach dürfen ahnen, woher ich komme und wer ich bin.«

»Das reicht«, unterbrach er sie. »Gut gelernt. Wenn wir den Gerüchten Glauben schenken dürfen, dann ist deine neue Herrin so irrsinnig, dass ihr nicht auffällt, dass deine Hände für eine Dame im Dienst zu weich sind und deine Rede zu vornehm ist. Aber die anderen Bediensteten sind leider nicht irrsinnig. Vor ihnen musst du dich in Acht nehmen. Doch jetzt ab in die Kutsche. Ich übergebe dich der Obhut der schnellsten Pferde, der wendigsten Kutsche und des geschicktesten Fahrers in ganz England! Einen Korb mit Proviant findest du neben dem Fenster.«

Ein letztes Mal drückte er ihren Kopf an seine Brust, küsste sie auf ihre Kapuze und half ihr die kleine Treppe zur Tür der Kutsche hinauf. Er wartete, bis sie sich hingesetzt hatte, dann drückte er die Tür zu und rief dem Kutscher zu: »Los!«

Lange noch nachdem die Kutsche in die dunkle Nacht verschwunden war und das Rattern der Räder und das Spritzen der Pfützen nicht mehr zu hören waren, blieb er in Gedanken versunken auf der Straße stehen.

»Der liebe Gott bewahre dich, mein Kind!«, murmelte er. »Hoffen wir, dass wir dich nicht erst recht in dein Verderben geschickt haben.«

Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel und ging, bis auf die Haut durchnässt, langsam und mit gebeugtem Kopf zurück ins Haus.

1

»Sieh mal einer an.«

Ein gut gebauter Herr stieß mit seinem Zeigefinger auf die Zeitung, die ausgebreitet auf dem Tisch lag, daneben eine Kerze. Er schob das Blatt mitsamt der Kerze zu dem Herrn hinüber, der ihm gegenübersaß. Dieser beugte sich über das Papier und schob seine Brille, die ihm immer wieder von der Nase rutschte, wieder hoch. Mit zusammengepressten Augen versuchte er, in dem trüben Licht der Kerze die Worte zu entziffern.

Es herrschte Feierabendstimmung in dem beliebten Londoner Wirtshaus »Kingston Arms«. Männer aus allen Gesellschaftsschichten hatten in der warmen Stube Zuflucht vor dem frostigen Januarwind gesucht, der heftige Schwalle von Eisregen durch die kalten Straßen trieb. Ein dichter Zigarrenqualm-Nebel hing unter den dicken Balken einer tief hängenden Decke, sodass das Licht der Öllampen nur schwer durchdringen konnte. Der Geruch von Zigarren, vermischt mit dem Gestank von abgestandenem Bier und verbrauchter Luft, durchzog den muffigen Raum. Die Besucher des Gasthauses schienen sich aber nicht daran zu stören. Jeder Tisch war besetzt, lautes Gelächter ertönte aus den hinteren Winkeln des Raums, wo einfache Büromitarbeiter und Schriftführer Karten spielten und gelegentlich einen neidischen Blick zu den Tischen warfen, an denen die vornehmeren Herren ihre Zigarrenschachteln herumreichten.

»Seit wann lesen Sie die Hofnachrichten, Mr Beechwood?«, fragte der Herr mit der Brille, der das Blatt immer noch von unten nach oben mit suchendem Blick betrachtete. »Haben Sie Langeweile, seitdem Monsieur Bonaparte auf Sankt Helena verbannt ist und auf den Schlachtfeldern Europas wieder Weizen und Gerste angepflanzt werden?«

»Ach, warten wir mal ab, das kann sich schnell ändern. Als er nach Elba verbannt wurde, währte unser Glück auch nur kurz. Es würde mich nicht wundern, wenn er plötzlich wieder in voller militärischer Montur vor uns stehen und erneut den Krieg erklären würde.«

Anstatt zu antworten, holte Mr Sandford ein Vergrößerungsglas aus seiner Hosentasche, schob seine Brille wieder hoch und überprüfte das Blatt noch einmal.

»Zum Glück sitzt König Louis wieder fest im Sattel. Vive le roi! Aber Sie haben mir immer noch nicht verraten, warum Sie die Hofnachrichten lesen.«

Mr Beechwood zog langsam an seiner Zigarre und verfolgte mit seinen Augen die Rauchsäule, die zur Decke hochstieg, bis sie sich schließlich in dem gelblichen Dunst auflöste, der unter den Lampen hing.

»Ich lese sie nur, wenn ein Name, der Ihnen und mir mehr als bekannt ist, aus den Meldungen heraussticht, Sandford.«

Mr Sandford richtete sich auf, blickte seinen Freund mit großen Augen an und stieß einen langsamen Pfiff aus.

»Mich trifft der Schlag. Der Fang des Jahrhunderts. Da fällt mir nichts mehr ein.«

Mr Beechwood lachte laut.

»Na, ein Skandal, bei dem es sogar Ihnen die Sprache verschlägt, das will was heißen«, bemerkte er trocken. »Hier, eine Zigarre, damit Sie die Nachricht besser verkraften. Lesen Sie den ganzen Abschnitt.«

Das Gelächter um die Kartentische wurde lauter, die Schritte der Kellner hektischer, das Bier floss schneller, und die beiden Herren bliesen Rauchwolken in die Luft. Mr Sandford legte das Blatt schließlich weg und lehnte sich in seinem Sessel zurück.

»Ich frage mich nur, wie die beiden sich begegnet sind.«

»Sind Sie der Einzige, dem nicht aufgefallen ist, dass die Zeiten sich ändern, Mr Sandford? Adel trifft auf Neureich. Und einem Neureichen, der das Glück und das Geschick eines Mr Hubertus Argyle besitzt, stehen alle Türen offen, blaues Blut hin oder her. Seit eh und je ist er ein Charmeur, der so tut, als gehöre er dem Adel an. Ein Gentleman des Mittelstandes, der nur auf seinen Titel wartet. Falls rotes Blut sich irgendwo in blaues Blut verwandeln kann, dann in seinen Adern.«

Mr Sandford nickte.

»In der Tat. Ich sah ihn gestern in der Fleet Street aus der Kutsche steigen und dachte so bei mir: Unter den dunklen Locken schaut eine ernsthafte Miene hervor, die nach Respekt verlangt. Offensichtlich hat er nicht nur dieses strahlende Lächeln, mit dem er sein ganzes Umfeld erobert und alle Damenherzen schmelzen lässt. Wie macht er das bloß? Er hat Anstand und Manieren, läuft aufrecht wie ein Baumstamm. In ihm wird sich bald das Beste aus beiden Welten verbinden, wenn Sie mich fragen. Ganz der Bourgeois wie auch ganz der Fürst.«

»Solche Lobeshymnen aus Ihrem Mund, Sandford?«

Mr Beechwood winkte den Kellner herbei.

»Ein Whisky, um den Abend ausklingen zu lassen?«

»Um diese Nachricht zu verdauen, braucht ein Mann zwei Whiskys, Beechwood!«.

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Die Nachricht sorgte reichlich für Gespräche. Lady Jasmin Devreux, einzige Tochter und alleinige Erbin von Lord Medway Devreux, Herr von Kebworth Place in Yorkshire, hatte sich verlobt mit Mr Hubertus Argyle, Erbe des verstorbenen Gründers des schnell wachsenden Londoner Tageblattes Argyle & Johnson. Ob Lord Medway noch bei Sinnen sei, fragten sich die vornehmen Damen, die sich nachmittags zum Afternoon Tea im Claridge-Hotel trafen. Was dem alten Adligen nur einfalle, seine Linie so zu verseuchen, wunderten sich kopfschüttelnd die Barone, die einen ausgedehnten Winterurlaub in London verbrachten, bevor die nächste Jagdsaison in den herrschaftlichen Landhäusern eingeläutet wurde. Allerdings, so rein sei das Blut der Familie Devreux doch nicht, bemerkten andere. Immerhin stamme die Familie ursprünglich aus dem französischen Adel und man wisse ja nur zu gut, wozu Franzosen in der Lage seien. Ob blaues Blut sich überhaupt mit dem gemeinen Blut eines ehrgeizigen Aufsteigers vermischen ließe, murmelten die Dienstmädchen in den Küchen der Stadtvillen von Mayfair. Ob der Nachwuchs aus so einer Verbindung adelig oder bäuerlich aussehen würde, fragte ein Lampenanzünder einen anderen, als die beiden Männer sich am frühen Abend aufmachten, um die Park Lane und die Oxford Street für die lange Winternacht zu beleuchten. Der zweite fügte hinzu, es sei doch eine erfreuliche Abwechslung, endlich über interessantere Dinge zu plaudern als die Schlacht von Waterloo und die neuesten Eskapaden jener dämlichen Franzosen. Die Frauen auf dem Markt von Croydon seufzten, dass die dunklen Locken und die betörenden Augen eines Mr Hubertus Argyle – gesellschaftlicher Stand hin oder her – sogar das Herz einer Prinzessin zum Schmelzen brächten.

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Die glückliche Auserwählte selber schwebte zu sehr im Liebesrausch, um wahrzunehmen, was für ein fieberhaftes Aufheben um ihre Person auf den Straßen und in den Gasthäusern der Londoner Innenstadt gemacht wurde.

»Kannst du nicht einen Augenblick still sitzen, Kind?«

Die Bedienstete zog an einer silbernen Spange, die in einem Meer von dunkelblonden Locken festhing.

»Autsch! Kannst du nicht aufpassen?«, kam eine scharfe Stimme unter dem widerspenstigen Haarschopf hervor.

Die Angesprochene zuckte kurz zusammen und machte sich noch einmal, diesmal mit sanfteren Bewegungen, an die festgeklemmte Spange heran.

»Weißt du, was Vater uns an unserem Verlobungstag verkündete, Ellen?«, redete die Besitzerin der stolzen Haarpracht weiter. Sie wartete nicht auf eine Antwort. »Irgendwann in der Zukunft wird mein lieber Hubertus nicht mehr Mr Argyle, sondern Lord Devreux heißen. Zum Glück gibt es keine Cousins, Neffen, Onkel oder sonstige lästigen Anwärter, die uns das Erbe streitig machen könnten. Nach unserer Hochzeit bist du meine Zofe.«

Als Antwort fuhr Ellen mit einer Hand schweigend über die gezähmten Locken und legte die nun befreite Spange auf die Schminkkommode, vor der Lady Jasmin saß.

»Und spätestens dann bin ich für dich nicht mehr ›Kind‹, sondern ›Ma’am‹«, sagte diese, während sie ihren Kopf von einer Seite zur anderen drehte und das Ergebnis von Ellens Mühe im Spiegel begutachtete.

»Oder ›Mylady‹. Und ich möchte dann mit ›Sie‹ angeredet werden, nicht mehr mit ›du‹. Bis dahin – spätestens – musst du aufgehört haben, mich so respektlos zu behandeln.«

Ellen, eine zierliche kleine Dame, die wohl einige Jahre älter als ihre junge Herrin war, zog Lady Jasmins Haare sanft nach hinten und machte sie mit einem seidenen Band fest.

»Deine Haare sind im Regen feucht geworden, sie verheddern sich mehr als sonst.«

»Tja, da hast du es leichter, Ellen, mit deinen glatten Haaren, immer streng nach hinten gekämmt und unter deiner weißen Haube zusammengeknotet. Manchmal bin ich auf dich neidisch. Du brauchst bestimmt nur zwei Minuten, um dich für den Tag fertig zu machen, nicht wahr?«

»Weniger.« Ellen wechselte das Thema:

»Mr Argyle nimmt also euren Namen an?«

»Ja klar, Devreux klingt viel edler als Argyle. Sobald mein Vater stirbt – möge der Fall aber noch lange nicht eintreffen –, heißt er Lord Hubertus Devreux. So eine Ehrerweisung. Mein Vater ist die Großzügigkeit in Person, nicht wahr? Mein geliebter Hubertus wird geadelt und erbt nicht nur den Familiensitz, sondern auch den Titel. Ist das nicht aufregend?«

Ellen war inzwischen dabei, Kämme, Spangen und Schminktöpfe in die Schubladen der Kommode zu räumen.

»Ich denke schon«, war ihre knappe Antwort.

Lady Jasmin schüttelte den Kopf und schlug mit einer Hand auf den Schminktisch.

»Ach, kannst du dich über gar nichts freuen, Ellen? Aber ich hatte vergessen: Was weißt du schon von Titeln und Adelsständen?«

»Alles, was ich wissen muss, ist, dass du glücklich bist.«

Ellen blieb kurz hinter Lady Jasmin stehen. Einen Augenblick lang musterten die beiden Frauen im Spiegel die Gesichtszüge der Jüngeren, deren feine Konturen durch die nach hinten gebunden Haare auffälliger als sonst waren, und die glänzenden blauen Augen, die im flackernden Licht zweier Kerzen zurückstrahlten. Plötzlich drehte sich Lady Jasmin um und schaute hoch in Ellens Gesicht.

»Ich habe so viele glückliche Gefühle, liebe Ellen, dass ein einziges Herz nicht ausreicht, um sie alle zu halten!« Ihre Stimme zitterte. »Ich könnte mir keinen besseren Ehemann vorstellen als Hubertus. Er ist genau so, wie ein Gentleman sein soll!«

Sie drehte sich wieder zum Spiegel, neigte ihren Kopf zur Seite und entfernte einen goldenen Ohrring aus einem Ohr.

»Das mache ich lieber selber, Ellen. Wenn du es versuchst, dann verheddern sie sich wieder in meinen Haaren.«

»Du vergisst, mein Kind, dass ich etliche Jahre Erfahrung mit deinen wilden Locken habe und sie gerade eben nach hinten gebunden habe.«

»Ich wünschte, ich könnte meine glücklichen Gefühle mit dir teilen«, fuhr Jasmin unbeirrt fort. »Die übrigen, meine ich, die keinen Platz mehr haben. Bist du nicht ein bisschen neidisch auf mich?«

»Nein.« Ellen legte schmunzelnd die winzigen Perlenohrringe auf das Samtkissen in einem kleinen Silberdöschen. »Aber wenn es dich glücklicher macht, mich neidisch zu sehen, dann bin ich gerne neidisch!«

»Ach, jetzt neckst du mich wieder, Ellen! Ich muss schlafen gehen, auch wenn ich die ganze Nacht hätte durchtanzen können. Nie in meinem Leben habe ich solch ein rauschendes Fest erlebt. Wie die jungen Esmy-Damen gelb vor Neid waren! Und Mathilde Ransom erst recht. Ich glaube, sie alle hatten auf Hubertus gehofft. Hier, meine Halskette.«

»Du darfst aufgeregt sein, mein Kind. Eine Verlobung feiert man nicht jeden Tag«, sagte Ellen, während sie eine Reihe schimmernder Perlen in eine zweite Schachtel legte. »Vor allem nicht eine Verlobung, die so viel Klatsch und Tratsch ausgelöst hat.«

»Das stört mich nicht im Geringsten, Ellen. Stell dir vor … aber ich weiß nicht, ob ich dir das erzählen soll.«

»Offensichtlich willst du es mir erzählen, ob du sollst oder nicht.«

Lady Jasmin erhob sich von ihrem Stuhl, beugte sich zu Ellen hinüber und flüsterte in ihr Ohr:

»Er hat mich geküsst, als wir uns verabschiedeten.«

»Warum flüsterst du? Wir sind alleine im Zimmer.«

»Ich meine, richtig geküsst, Ellen. Lange, schmachtend, leidenschaftlich. Er hat seinen Mund überall in meine Haare gegraben und hat sich dann in mein Gesicht vorgearbeitet, bis sein Mund auf meinem Mund gelandet ist. Und dann ……«

»Ach hör doch auf, Kind, ich werde ganz rot. Kein Wunder, dass die Spange stecken geblieben ist.«

»Riechst du nicht seine Pomade in meinen Haaren? Edelstes Bienenwachs. Er reibt Pomade auch in seine Koteletten ein. Ich werde meine Haare ganz lange nicht waschen, damit der Duft bleibt.«

Ellen schüttelte den Kopf und zupfte die Falten in dem Ballkleid zurecht, das Jasmin am Abend zuvor getragen hatte und das nun an einem Kleiderbügel an der Wand hing. Jasmin ließ nicht locker.

»Er wollte nicht aufhören, Ellen.«

Ellen warf ihr einen scharfen Blick zu.

»Noch schlimmer. Vielleicht hätte dein Vater doch länger bleiben und besser auf dich aufpassen sollen. Oder willst du mich nur schockieren?«

Lady Jasmin packte Ellen an den Schultern.

»Sag Vater ja nichts davon. Ich bin fast zerschmolzen. Ich war weich wie Butter in Hubertus’ starken Armen. Er knabberte an meinem Ohr und hätte am liebsten überall an mir geknabbert … aber was weißt du von solchen Dingen, ich will dich nicht in Verlegenheit bringen.«

»Dafür ist es schon zu spät.«

Jasmin ließ Ellen los und kühlte ihre feurigen Wangen mit beiden Händen. Sie lief zum Fenster, kniete sich auf das Sofa, das davorstand, stützte ihre Ellbogen auf der Lehne ab und blickte hinaus. Funkelnde Regentropfen, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie sich in Eis verwandeln oder Wasser bleiben sollten, schossen im Licht der Straßenlampe vorbei, bevor sie in der bodenlosen Dunkelheit der menschenleeren Straße verschwanden.

»Hoffentlich ist er nicht nass geworden, nachdem er mich zur Kutsche begleitet hat«, sagte sie mit einem verträumten Blick.

»Bei diesem Hundewetter eher gefroren, würde ich sagen«, antwortete Ellen. »Hättest dem Schurken lieber eine Ohrfeige verpassen sollen. Das meine ich ernst. Was er gemacht hat, nennt man in vornehmen Kreisen Verführung. Nur gut, dass wir morgen die Stadt verlassen und du ihn danach eine Weile nicht siehst!«

Als Antwort wandte sich Jasmin vom Fenster ab und starrte ins Licht der Kerzen, die immer noch auf der Kommode brannten.

»Du bist sicher erleichtert zu hören, dass wir vom Kutscher unterbrochen wurden«, sagte sie. »Du musst mein Kleid übrigens reinigen, die Säume sind von der Nässe auf dem Gehweg verdreckt. Wie es sich wohl anfühlen wird, wenn wir nicht mehr unterbrochen werden?«

»Ich wette, davon träumt er schon die ganze Zeit«, murmelte Ellen, während sie eine Stoffhülle über Kleid und Bügel zog, bevor sie alles in den Kleiderschrank hängte. Laut ergänzte sie:

»Aber was weiß Ellen schon von solchen Dingen? Ab ins Bett, mein Kind. Ich meine, Mylady.«

»Noch kannst du mich ›Kind‹ nennen, Ellen«, sagte Lady Jasmin in einem sanften Ton. Sie schlich sich an Ellen heran, umarmte sie von hinten und legte ihren Kopf auf ihren Rücken.

»Ich frage mich, was so ein vornehmer Mann von Welt in mir sieht, hohlköpfig und dumm, wie ich bin. Und sag jetzt bitte nicht: ›Das frage ich mich auch‹. Das wolltest du gerade sagen, nicht wahr?«

»Auch wenn ich das oder sonst was hätte sagen wollen, hätte ich bei deinen Wortergüssen nicht die geringste Chance! Wenn er nicht selber so reich wäre, würde ich sagen, er ist auf dein Vermögen aus.«

»Ach typisch Ellen, du musst immer etwas Unfreundliches sagen. Übrigens, lass Platz für mein Hochzeitskleid, es soll genau hier an dieser Stelle hängen. Und du darfst es mit mir zusammen aussuchen. Nur hoffe ich, dass es an unserem Hochzeitstag nicht so regnet wie heute.«

»Dein Kopf ist tatsächlich voll von Watte und Seifenblasen.« Ellen versuchte, sich aus Jasmins Griff zu befreien. »Hoffen wir auf einen goldenen Herbst, euch zu Ehren. Aber jetzt träume schön von deinem hübschen Prinzen und hör bitte damit auf, den Ring andauernd zu drehen. Du hast ihn schon eine ganze Woche am Finger, solltest dich inzwischen an ihn gewöhnt haben.«

Sie blies eine Kerze aus, nahm die andere in die Hand und folgte Lady Jasmin in das Schlafgemach. Nachdem die junge Lady in ihr Bett gestiegen war, bückte Ellen sich über sie.

»Einen kleinen Kuss darf dein altes Kindermädchen dir noch geben«, flüsterte sie, »auch wenn die Küsse eines anderen dein Herz betören.«

Lady Jasmin streckte ihren Mund zu Ellen hin.

»Egal, wie verheiratet und wie betört ich bin, mein altes Kindermädchen behält immer einen besonderen Platz in meinem Herzen.«.

Sie setzte einen Kuss auf Ellens Wange, zog die Bettdecke hoch bis zum Kinn, drehte sich auf den Bauch und vergrub das Gesicht im Kopfkissen.

Ellen verließ leise den Raum. Außen an der Tür blieb sie kurz stehen und schüttelte den Kopf.

»Ellen?«, kam es plötzlich vom Bett.

»Ja?«

»Meinst du, meine Mutter hätte sich gefreut?«

»Sie hat sich immer gefreut, dich glücklich zu sehen, mein Kind.«

»Und, Ellen?«

»Was ist jetzt noch?«

Jasmin stützte sich auf einen Ellbogen und schaute sie an.

»Das Einzige, was mein Glück betrübt, ist, Kebworth Place zu verlassen. Ich liebe London, aber nichts kann Kebworth ersetzen.«

»Wenn du mit Hubertus verheiratet bist, lebst du in seinem schönen Haus. Zu Hause ist immer da, wo unsere Liebsten sind, Jasmin. Gute Nacht!«

Ellen drückte die Tür zu, strich eine verirrte Haarsträhne aus ihrer Stirn und steckte sie in ihre Haube. Sie lief auf Zehenspitzen zum Fenster am Ende des langen Ganges, zog den Vorhang zur Seite und runzelte die Stirn. Der Regen prasselte mit unveränderter Kraft gegen die Fensterscheibe, und Windböen schleuderten die Äste der Linden hin und her, die die Straße draußen säumten.

»Armes, mutterloses Kind«, sagte sie zu sich selber. »Ich wünsche, hoffe, bete, dass du glücklich wirst. Saudummes Wetter für die Reise. Die Räder werden im Schlamm stecken, noch bevor wir die Stadt verlassen haben.«

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Das zusammengekrümmte Wesen zuckte ein letztes Mal. Danach lag es still auf dem Rücken. Ein Arm hing quer über dem Gesicht, ein Bein war über das andere gekreuzt, der Fuß des unteren Beins hing über die Kante des Bürgersteigs. Eine schattige Gestalt kroch an der Hecke entlang, danach folgten hektische Schritte, die immer leiser wurden und schließlich vom lauten Prasseln des Regens auf dem Pflasterstein übertönt wurden. Nachdem keine Schritte mehr zu hören waren, schlich ein Mann aus seinem Versteck in der Hecke. Er trug einen langen Regenmantel und eine Melone auf dem Kopf und sah aus, als ob er den Tag am Zahlschalter in der Bank verbracht und nicht eine Stunde lang im triefenden Eisregen in einer Hecke gehockt hätte. Er schaute nach rechts und nach links, huschte schnell über die Straße, beugte sich über das leblose Wesen und kritzelte etwas in ein Notizheft, das er unter seinem Regenmantel gehalten hatte. Immer wieder blickte er auf den stillen Körper, schrieb etwas nieder, blickte wieder auf, schrieb weiter. Schließlich steckte er das Heft in seinen Mantel, schaute sich noch einmal um und verschwand in die Nacht. Erst Stunden später schlenderte ein einzelner Wachtmeister die Straße entlang und richtete den Schein seiner Lampe auf den Haufen patschnasser Lumpen, der auf dem Gehweg lag. Er trat näher, nicht ohne mehrmals die Umgebung mit nervösen Augen durchschweift zu haben, stocherte mit seinem Stock in den Lumpen herum, erschrak kurz und stieß einen schrillen Pfiff mit der Pfeife aus, die er aus seiner Tasche geholt hatte. Schritte waren zu hören. Ein weiterer Wachtmeister eilte herbei.

»Was gibt es, Parsons?«

»Leiche, schon kalt, Herr Oberwachtmeister. Täter geflüchtet. Junger Mann, um die zwanzig. Messerwunde schräg übers Gesicht, Augen zertrümmert. Brustkorb wie immer. Todesursache vermutlich der Stich durchs Herz. Fellhams Handwerk, eindeutig.«

Er versetzte der Leiche einen leichten Stoß mit seinem Fuß und warf einen Blick auf den blutdurchtränkten Rücken.

»Stichausgang mitten im Kreuz. Klare Sache«, sagte der Oberwachtmeister. »Wir erledigen es sofort. Dieses Mal war Fellham offensichtlich nicht nach Abweichungen zumute, Kopf abschlagen, Füße abhacken oder so.«

Der Wachtmeister schüttelte mit dem Kopf.

»Erledigen ist gut. Besser wäre es, wenn wir dieses Scheusal endlich am Galgen verrotten sehen könnten, anstatt immer einen Schritt hinter ihm her zu sein. Aber bis die Themse-Wache endlich aufhört, Bier zu trinken, anstatt für Zucht und Ordnung zu sorgen …«

»Wir bringen den armen Hund weg und benachrichtigen die für den Mord zuständigen Beamten«, antwortete der Oberwachtmeister. »Selber nichts gesehen, Parsons?«

Parsons schüttelte den Kopf.

»Nein, muss vor Stunden gewesen sein. Weit und breit keine Spuren. Erst recht nicht bei diesem Sauwetter. Lohnt sich kaum, den Mord zu untersuchen. Das Ergebnis wird das übliche sein.«

Die zwei Männer berieten noch eine Weile miteinander, verschwanden kurz und kehrten mit einem Schubkarren und einem Sack zurück. Dann wickelten sie die Leiche in den Sack, hievten sie in den Karren, und Parsons schob ihn davon.

Der Oberwachtmeister nahm seinen Helm ab, schüttelte ihn und gähnte, bevor er ihn wieder auf den Kopf setzte. Ein Mord. Immerhin eine Abwechslung. Das Aufregendste, was eine Streife in einem Vorort von London bei Nacht sonst zu sehen bekam, war eine Schlägerei von ein paar Besoffenen. Zu einer großen Fahndung würde es nicht kommen. Der tote Mann war ein Niemand, das war an seiner abgetragenen Kleidung ersichtlich. Ein paar Tageblätter informieren, am nächsten Tag Fragen beantworten, mit einem Kopfschütteln betroffene Sprüche von sich geben, nüchtern, seriös wirken und die Bevölkerung beruhigen, damit war es getan. Es würde nicht lange dauern, bis neue Schlagzeilen diese verdrängten und das arme Opfer nichts mehr als eine kleine Notiz in einer Polizeiakte wäre.

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»Gute Laune, was, Mr Argyle? Federleicht in den neuen Tag trotz der Feuerwerke gestern? Liegt wohl nicht nur daran, dass die Sonne nach dem Schneeregen ihr Gesicht wieder zeigt! Und wann dürfen wir Sie als Lord Devreux begrüßen?«

Ein junger, hochgewachsener Mann in Gehrock und Zylinder war gerade frohen Mutes die lange Steintreppe herabgesprungen, die den Haupteingang eines hohen Gebäudes mit der Straße verband. Er wirbelte seinen Spazierstock durch die Luft, summte vor sich hin und tippte an seinen Zylinder vor dem Passanten, der ihn gerade begrüßt hatte.

»Nicht zu voreilig mit dem Lord Devreux, Mr Barnsby«, sagte er. »Ich habe mich gerade erst verlobt. Aber Grund zur Freude habe ich allemal. Sonne draußen und Sonne drinnen. Sie haben Ihre Zeitung schon geholt, wie ich sehe. Argyle & Johnson weiß eben immer als Erstes Bescheid!«

»Unglaublich, Sir! Sie machen Ihrem Leitspruch alle Ehre! Und füllen die Seiten mit pikanten Nachrichten, obwohl die Franzosen uns keine Metzeleien mehr liefern, über die Sie berichten können.«

Mr Barnsby stieß mit einem Finger auf das vordere Blatt der Zeitung, die er in die Höhe hielt.

»Marvin Fellham schlägt wieder zu«, las er vor. »Es geschieht ein Mord, und zack, Sie bringen alle Einzelheiten, noch bevor die Leiche kalt ist. Mit Kupferstich. Wenn ein Bild dabei ist, schauen wir einfacheren Leute gleich schneller hin. Alle Zeitungen sind unten am Markt schon weggekauft. Ich hatte Glück, noch eine zu bekommen!«

Mr Argyles Augen leuchteten kurz auf, dann blickte er zu Boden und schüttelte den Kopf.

»Wenn die Berichterstattung eines Mords Erfolg bringt, dann bleibt die Freude gedämpft, Mr Barnsby. Trotzdem beklagen wir uns nicht, wenn wir die Auflagen schon wieder aufstocken müssen. Aber nun darf ich mich erfreulicheren Themen zuwenden und wünsche Ihnen einen guten Tag.«

Er tippte noch mal an seinen Zylinder. Der Hauptsitz von Argyle & Johnson, den er gerade verlassen hatte, verbarg sich hinter einer unscheinbaren Fassade, die eher einer Fabrikhalle glich als der Zentrale einer jener führenden Zeitungen, die in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts aus dem Boden Londons gesprossen waren. Unter dem Schatten der eindrucksvollen gewölbten Kuppel der Kathedrale von Sankt Paul wetteiferten namhafte Blätter wie die Times, der London Star, die Mayfair Gazette und der Courier um die Gunst der Leser. Sie alle warfen neidische Seitenblicke auf die üppigen Umsätze von Argyle & Johnson, eine Zeitung, die sich auf dem besten Weg befand, jedes andere Blatt in den Schatten zu stellen.

Mr Argyles Summen ging in ein fröhliches Pfeifen über. Er hätte eine Kutsche herwinken können, zog es aber heute vor zu laufen.

»Zu viel aufgestaute Freude«, hatte er lachend zu seinem Sekretär gesagt, bevor er das Haus verlassen hatte. »Ich brauche Bewegung!«

Als er die Kirche von St. Bride’s passierte, murmelte er ein »zu klein für uns« vor sich hin. »Mindestens die St.-Pauls-Kathedrale. Für eine so bekannte Adelsfamilie gerade gut genug. Vielleicht sogar Westminster Abbey.«

Er überkreuzte die Farrington Street und lief auf den Ludgate Hill zu. Mit Genugtuung nahm er wahr, wie viele Passanten aufgeregt miteinander redeten und mit dem Finger auf ihn zeigten, als sie seine hochgewachsene Statur erblickten. Viele drehten ihren Kopf zu ihm um, um ihm nachzusehen.

Er blieb am Eingang eines unscheinbaren Gasthauses stehen und warf einen Blick auf die Uhr an dem Kirchturm auf der anderen Straßenseite, bevor er das Haus betrat.

»›Der Pflug und der Karren‹, lustiger Name für eine Schenke mitten in einem brodelnden Handelsviertel. Wie die Zeiten sich ändern«, dachte er beiläufig. »Vermutlich ein Überbleibsel aus der Zeit, in der von Schlamm und Kuhfladen verkrustete Bauernstiefel hier ein und aus gingen und nicht die feinen, auf Hochglanz polierten Lederstiefel der Gentlemen von den Börsen und den Kolonialverwaltungen Londons.«

Noch bevor sich seine Augen an den dämmerigen Raum gewöhnt hatten, trat ein älterer Mann mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. Er trug einen Gehrock aus feiner Wolle, darunter eine Samtweste, aus deren Tasche eine Uhr an einer edlen Goldkette hing. Er war groß genug, um Mr Argyle auf Augenhöhe zu begegnen. Silberne Strähnen in seinem ergrauenden dunklen Haar verrieten jedoch, dass er seine besten Jahre schon hinter sich hatte.

»Mr Hubertus Argyle! Pünktlich wie die Uhr! Ich danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Sie haben hoffentlich dafür Verständnis, dass ich Sie in dieses bescheidene Gasthaus gebeten habe, ohne Prunk und Dienerschaft, anstatt im angemessenen Stil in den ›Gentleman’s Club‹ in Mayfair? Ich wollte für diese Unterhaltung die Öffentlichkeit vermeiden.«

Mr Argyle nahm seinen Zylinder ab und verbeugte sich, bevor er die ausgestreckte Hand des älteren Mannes in seine beiden Hände nahm und sie herzlich drückte.

»Die Ehre ist ganz auf meiner Seite, Lord Medway. Sie sind viel zu gütig. Sie vergessen, dass ich in den bürgerlichen Gaststätten Londons sehr zu Hause bin.«

»Wer Sie kennt, würde nie auf den Gedanken kommen, dass Sie nicht in den vornehmsten Häusern Londons groß geworden wären, Mr Argyle. Ein makelloses Auftreten in jeder Hinsicht. Meine Komplimente.«

Lord Devreux führte den jüngeren Herrn zu zwei Ledersesseln, die sich an einem niedrigen Tisch in der Ecke des Raumes befanden, und bedeutete ihm, Platz zu nehmen. Er setzte sich ihm gegenüber. Nachdem er eine Kanne Kaffee bestellt hatte, beugte er sich nach vorne und starrte auf den Tisch. Einige Augenblicke lang fuhr er mit dem Zeigefinger über die Ritzen des alten Eichenholzes und schien in Gedanken versunken zu sein. Schließlich legte er die Fingerspitzen beider Hände aneinander und seufzte.

»Sie sind nachdenklich, Mylord«, sagte Mr Argyle. »Sind die Festlichkeiten gestern nicht zu Ihrer Zufriedenheit verlaufen? Sie haben sich früh zurückgezogen. Sie haben das Feuerwerk verpasst.«

»Das Fest hat mich vollkommen zufriedengestellt, Sir. Ich war nur etwas müde«, antwortete der ältere Mann. Er hob seinen Kopf und blickte Mr Argyle an. »Im Gegenteil. Das hervorragende Niveau der Feierlichkeiten, die Sie uns zu Ehren veranstaltet haben, überzeugen mich ein für alle Mal, dass meine Tochter sich hier in London in Kreisen bewegen wird, die ihrem Stand und ihren Lebensgewohnheiten entsprechen.«

Mr Argyle setzte an, um ihn zu unterbrechen, aber Lord Medway hielt eine Hand hoch, um ihn zu bremsen.

»Ich bin noch nicht fertig, Sir. Ihre Eltern, mögen sie in Frieden ruhen, wären stolz auf Sie, Mr Argyle. Die Adligen jammern, dass meine Tochter unter ihrem Stand heiraten will, aber ich sehe das anders. Wir, die wir in den Adel hineingeboren wurden, haben Reichtum durch Glück und Zufall geerbt. Sie haben sich Ihren Reichtum erarbeitet und verdient. Ich gratuliere Ihnen.«

Mr Argyle lehnte sich mit einem Lächeln in seinen Sessel zurück und verschränkte seine Arme. Er blickte Lord Medway mit seinen durchdringenden dunklen Augen an.

»Sie sind zu freundlich, Mylord. Ich habe vom Vermächtnis eines hart arbeitenden Vaters profitiert. Nichtsdestotrotz: Nichts könnte mir in so einem Moment wie diesem mehr Freude machen, als zu wissen, dass ich Ihr Vertrauen gewinnen konnte. Schon bei meiner ersten Begegnung mit Ihrer Tochter wusste ich, dass ich nie für eine andere Frau Augen haben würde. Dieses Gefühl ist in den Monaten seit jener Begegnung stetig gewachsen. Bis zu dem Zeitpunkt, als ich Ihre Tochter kennenlernte, hielt ich mich für einen besonnenen Menschen. Aber für die Gefühle, die jetzt in meinem Herzen toben, fehlen mir, dem erfahrenen Berichterstatter, jegliche Worte!«

Seine Sprache war leidenschaftlich. Er schüttelte den Kopf und suchte ratlos nach Begriffen, die seine Empfindungen gebührend beschreiben konnten.

»Sie brauchen mich von Ihrer Liebe für meine Tochter nicht zu überzeugen, Mr Argyle. Aber Sie sollten wissen … es ist Ihnen gewiss schon aufgefallen …, dass Lady Jasmin nicht allzu weltgewandt ist. Sie ist liebenswürdig, aber nicht tiefschürfend in ihrer Denkweise. Gefühlvoll, manchmal fahrlässig. Die Sorgen, die uns, ihren Eltern, der Verlust unseres Säuglings und die darauffolgende lange Krankheit meiner Frau aufgebürdet haben, haben wenig Zeit gelassen für die gründliche Erziehung, die wir für unsere Tochter vorgesehen hatten. Sie besitzt keine der Fertigkeiten, derer sich die Damen Londons rühmen: Klavierspielen, Malen, Sticken, Grundkenntnisse in Geschichte, Politik, Kunst, Sprachen und Literatur. Das Einzige, was sie als Kind interessiert hat, war der Garten.«

Er schmunzelte und schüttelte den Kopf.

»Sie konnte beim besten Willen nicht verstehen, warum sie nicht Gärtnerin werden darf. Aber sie ist formbar und willig, und ich bin sicher, dass sie durch die Begleitung eines fürsorglichen Ehemannes zu einer belastbaren Persönlichkeit heranreifen wird. Außerdem ist sie außerordentlich feinfühlig. Sie ist mit ihren zwanzig Jahren noch ein Kind. Aber sie ist das Kostbarste, was ich habe.«

»Ich werde dafür sorgen, Mylord, dass die Schönheit Ihrer Tochter binnen kurzer Zeit durch Charakterstärke bereichert wird. Fertigkeiten kann man lernen, Wissen kann man sich aneignen. Ich trat in ihr Leben als Beschützer und Tröster hinein, und ich werde ihr Beschützer und Tröster bleiben. Ihr Leben lang, Mylord.«

»Ein Schuss Milch in Ihren Kaffee, meine Herren?«

»Danke, Herr Wirt«, antwortete Lord Medway, der seine Tasse noch nicht angerührt hatte. Offensichtlich hatte er etwas auf dem Herzen, was er loswerden wollte. Er zog das Taschentuch hervor, dessen Zipfel aus seiner Westentasche herauslugte, und tupfte ein Auge ab, das feucht geworden war.

»Ich habe meine Gründe, Sie zu diesem Zeitpunkt aufzusuchen, Mr Argyle«, sagte er schließlich und steckte das Tuch wieder in die Tasche.

Der jüngere Mann schaute ihn mit einem fragenden Blick an.

»Hat es wieder Unruhen in den Fabriken in Yorkshire gegeben, Mylord?«

Lord Medway winkte ab.

»Und wenn, das würde uns in Kebworth keineswegs in Sorge bringen«, antwortete er.

Er hob seine Kaffeetasse an den Mund und nahm einen langen Schluck. Erst als er die Tasse wieder auf die Untertasse gestellt hatte, redete er weiter.

»Vorgestern, als die Vorbereitungen auf das Verlobungsfest in vollem Gange waren, hatte ich eine Unterredung mit meinem Arzt.«

Er zögerte. Mr Argyle zog die Augenbrauen zusammen.

»Ein Verdacht, der mich seit Längerem plagt, wurde bestätigt«, fuhr der ältere Herr fort. Er holte tief Luft, hob seinen Kopf und blickte Mr Argyle in die Augen.

»Kurz gesagt, es kann gut sein, dass ich bis zu Ihrer Hochzeit im Herbst nicht mehr am Leben bin.«

Hubertus Argyle lehnte sich nach vorne, stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte seine Schläfen in beide Hände. Das Stimmengewirr an den anderen Tischen klang plötzlich gedämpft, wie das ferne Geflüster aus einer anderen Welt. Er war es schließlich, der das Schweigen brach.

»Was soll ich nur sagen, Mylord? Ihre Tochter? Weiß sie …?«

»Nein«, unterbrach ihn Lord Medway. »Und sie soll es zunächst auch nicht erfahren.«

Die Stimme des alten Herrn war plötzlich scharf.

»Auf gar keinen Fall darf sie es erfahren.«

Er presste seine Fingerspitzen wieder aneinander, dieses Mal energischer als davor, und starrte konzentriert auf seine straffen Fingergelenke, während er mit dem Oberkörper leicht vor und zurück schaukelte.

»Darf ich fragen, um welche Krankheit es sich handelt?« fragte Mr Argyle. »Vielleicht will Ihr Arzt sich nur gegen eine Fehldiagnose absichern. Oder vom schlimmsten Fall ausgehen, um Sie hoffnungsvoll zu stimmen. Das haben die Ärzte in der Harley Street so an sich. Holen Sie sich doch ein zweites Urteil.«

»Der Arzt hat nur das bestätigt, was ich schon geahnt hatte. Der Körper erzählt seine Geschichte lautstark genug. Jeden Tag mehr. Ich konnte mir schon lange nicht mehr vormachen, dass es nur ein gewöhnlicher Husten ist und die ständige Atemnot nur eine Erkältung. Ich habe gefühlt, dass in der Lunge ein Tumor ist.«

»Wenn ich irgendwas für Sie tun kann?«

Lord Medway schluckte und trommelte mit den Fingern der rechten Hand auf den Tisch.

»Sie erweisen mir schon einen unbezahlbaren Dienst dadurch, dass Sie meine Tochter und ihr Vermögen unter Ihre Obhut nehmen, Sir. Wenn bald meine Stunde schlagen sollte, dann soll es wohl so sein. Gott weiß, dieses Leben hat mir schon genug Kummer beschert. Der Tod meiner Frau jährt sich diese Woche, und es ist, als ob es gestern gewesen wäre. Ich bin ein gebrochener Mann. Es gibt für mich kein Aufstehen mehr, und ich werde in diesem Leben nie darüber hinwegkommen. Man hat nur eine Seele, und irgendwann hat sie genug getragen. Meine ist verbraucht. Bei jedem von uns ist die Lebensuhr irgendwann abgelaufen, bei dem einen früher, beim anderen später. Versprechen Sie mir nur, meiner Tochter nichts davon zu verraten.«

»Das verspreche ich Ihnen, Mylord«, antwortete Mr Argyle leise.

Sie tranken eine Weile ihren Kaffee, ohne zu reden. Als beide Tassen leer waren, legte Lord Medway seine Hände auf den Tisch, nahm eine aufrechte Stellung ein, presste seine Lippen zusammen und erhob sich.

»Und noch eine Sache, Lord Medway.« Mr Argyle räusperte sich und suchte nach Worten.

»Als ich um die Hand Ihrer Tochter gebeten habe, haben Sie mir auf gewinnende Weise erzählt, welche Rolle der Glaube im Leben Ihrer Familie spielt. Im Licht der traurigen Nachricht, die ich von Ihnen gehört habe, bekräftige ich hiermit mein Vorhaben, mein Leben mit Ihrer Tochter auch diesbezüglich in Ihrem Sinne ehrbar zu gestalten, wie auch bei allen Aufgaben, die mir durch die Verwaltung von Kebworth Place zufallen werden.«

»Das, was Sie gerade gesagt haben, bedeutet mir mehr als alles andere«, antwortete Lord Medway mit bewegter Stimme.

Ein weiterer fester Handschlag versiegelte die stärker gewordene Vertrautheit zwischen den beiden Herren, und gemeinsam gingen sie zur Tür.

»Es hat wieder einen Mord gegeben. Das Monster hat wieder zugeschlagen«, sagte Lord Medway beiläufig, als ob er mit aller Macht das Thema wechseln wollte, während Mr Argyle ihm in seinen Mantel half.

»Seien Sie froh, dass Sie diese Woche zurück nach Yorkshire reisen, Mylord. Und meine liebe Jasmin ist Gott sei Dank schon losgefahren. Die Straßen Londons sind gerade nicht das, was sie früher waren. Dieser Mord ist leider hier in nächster Nähe geschehen. Bis Lady Jasmin zu mir nach London zieht, werden wir aber diesen Schurken gefasst haben.«

»Dass die Wachtmeister ihm nicht auf die Spur kommen, wundert mich. Er verfügt wohl über Zauberkräfte, die ihn unsichtbar machen.«

»Er ist erfinderisch, Mylord, schlüpft durch jedes Loch, kennt unzählige Methoden, ein Menschenleben zu zerstören. Wie kann ein Mann nur so werden? Aber keine Sorge. Er wird fahrlässiger. Ein kleiner Ausrutscher und die Wache hat ihn. Er ist meinen Berichterstattern immer wieder fast in die Arme gelaufen und nur um Haaresbreite davongekommen.«

»Na ja, hoffen wir, dass nicht zu viele nichts ahnende Opfer bis dahin mit dem Leben bezahlen müssen.«.

Die beiden Herren standen inzwischen draußen auf der Straße. Lord Medway hob seinen Hut zum Abschied und stieg in den Hansom ein, den er hergewunken hatte. Bevor der Fahrer die Tür zuschlug, lächelte er Mr Argyle an.

»Aus Ihrem Munde die Worte ›meine liebe Jasmin‹ zu hören, klingt wie Musik in meinen Ohren, mein lieber zukünftiger Schwiegersohn!«

Hubertus verbeugte sich und wartete, bis der Einspänner auf dem unebenen Kopfsteinpflaster davongerumpelt war, zupfte sein Halstuch zurecht und ging in Gedanken versunken zügig zurück zur Fleet Street.

Ornament

»Jasmin! Was ist mit dir? Wach auf! Schnell!«

Ellen schüttelte das schlaftrunkene Mädchen, das halb liegend neben ihr in der Kutsche saß.

»Nicht einmal ein bisschen Schlaf vergönnst du mir?«, nörgelte Lady Jasmin. Sie stieß Ellen von sich.

»Von wegen Schlaf, Kind. Du hast geschrien wie eine Irrsinnige. Das musst du dir abgewöhnen, bevor du dein Bett mit einem Mann teilst. Jeder Mann, der etwas auf sich hält, liefert dich ins Irrenhaus ein, wenn er so ein Geschrei hört!«

»Ellen, wie kannst du nur so unwirsch sein?«, schrie Lady Jasmin. Sie war plötzlich hellwach. »Ich bin nur aufgeschreckt worden, weil die Kutsche hin und her schaukelt! Wann werden diese Straßen endlich ordentlich instand gesetzt? Und dann noch der Wind! Man muss ja brüllen, um die eigene Stimme zu hören. Da tobt ein Orkan draußen, und du hast mir versprochen, dass das Wetter für die Heimreise wieder gut wird! Und warum ist Vater nicht mit uns mitgereist?«

»Du kennst die Antwort auf all deine Fragen selber, mein Kind. Nicht mal ich habe Macht über das Wetter. Als wir vor zwei Tagen in London losgefahren sind, war es sonnig. Jetzt hat uns das raue Klima des Nordens wieder eingeholt. Und dein Vater hatte in London noch zu tun. Du hast geschrien, als ob du von wilden Tieren gejagt würdest. Hast du wieder schlecht geträumt?«

Lady Jasmin wischte mit einer Hand die beschlagene Fensterscheibe ab und blickte auf die Hecken und Wiesen, die im dichten Abendnebel vorbeiglitten. Die Äste der großen Bäume wurden von dem rauen Wind hin und her geschleudert, und hin und wieder landete ein Zweig, der sich losgerissen hatte, mit einem dumpfen Schlag auf dem Dach der Kutsche. Jasmin drehte sich zu Ellen hin, packte ihren Arm und schaute sie mit weit aufgerissenen Augen an.

»Ellen, es waren wieder die Albträume. Sie stand auf der Brücke, sie wippte hin und her. Es war wieder was Neues dabei.«

»Was? Erzähl mir doch, Kind!«

Jasmins Stimme zitterte.

»Eine Stimme hinter ihr rief direkt in ihr Ohr: ›Spring, spring!‹«

Ellen legte ihren Arm um Jasmins Schulter, drückte das schluchzende Mädchen fest an sich, fuhr mit der Hand durch ihre verschwitzten Haare und strich mit einem Finger über die feuchten Wangen.

»Hier, ein Taschentuch. Dein Gesicht ist glühend heiß. Es ist sicher die Aufregung von den Festlichkeiten oder die Aussicht auf die kommenden Umbrüche, was dich plagt!«

Jasmin wischte ihr feuchtes Gesicht mit dem Tuch, das Ellen ihr gereicht hatte, und schnäuzte sich. Ihre Tränen ließen nach.

»Woher kommen die Bilder bloß? Ich war doch nicht dabei, als es geschah. Aber ich sehe meine Mutter vor mir, echter als im wahren Leben. Schwere Wolken jagen vor dem hellen Mond vorbei. Der Wind pfeift eiskalt über den Wald. Ich sehe ihren erschrockenen Gesichtsausdruck, ihre wilden Augen, ihre Haare, die zerzaust und ungekämmt um ihr Gesicht fliegen. Das weiße Nachthemd mit dem gelben Blumenmuster am Saum flattert um ihre Beine. Ich höre das Krachen der Äste, ich höre ihre Stimme. Sie schreit: ›Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben!‹ Und das Allerschlimmste, Ellen …«

»Was ist das Allerschlimmste, mein Kind?«

Ellen küsste Jasmin sanft auf die feuchte Wange.

»Das Allerschlimmste ist, dass sie jedes Mal meinen Namen ruft. Ich versuche, zu ihr zu gelangen, ich strecke meine Hand zu ihr aus. Und gerade als ich sie erreiche, ist sie fort. Ich rufe nach ihr, und sie antwortet nicht. Ich höre nur das Plätschern des Wassers auf den Felsen unten am Flussufer. Und dann sehe ich eine menschliche Gestalt, das Gesicht nach unten, sie dreht sich im Wasserstrudel, ihr Nachthemd bläht sich auf um sie herum …«

Sie erschauderte. Eine plötzliche Windstille unterbrach das Toben des Sturms.

»Pssst, ruhig, mein Kind«, flüsterte Ellen, die immer noch eifrig versuchte, lose dunkelblonde Strähnen aus Jasmins Gesicht zu streichen.

»Ellen, meine Träume sind echter als das Leben selber. Ich fühle tiefer, ich heule lauter. Die Farben sind greller, die Stimmen schärfer, die Sonne heißer, der Winter kälter. Als ob dieses Leben der Traum wäre, und meine Träume das eigentliche Leben.«

»Weiß Mr Argyle von den Albträumen, die dich plagen, meine Liebe?«

Jasmin wandte ihr Gesicht von Ellen weg und blickte auf die schwarzen Wolkenfetzen, die über den grauen Himmel huschten. Eine Windböe versetzte der Kutsche einen plötzlichen Stoß. Adam, der Kutscher, schimpfte laut, eins der Pferde sprang auf und wieherte. Ellen packte Jasmins Arm und hielt sie fest, bis die Kutsche aufgehört hatte, hin und her zu schaukeln.

»Ich habe es immer wieder versucht«, sagte Jasmin. »Aber du sollst wissen, wir waren nicht oft zusammen. Ich meine, nicht oft alleine. Einmal habe ich angefangen, von meinen Träumen zu reden.«

»Und? Was hat er dazu gesagt?«

Jasmin zögerte.