Vorwort


Eine der zentralen Haltungen Jesu ist: den Menschen zu verstehen, statt ihn zu verurteilen. Jesus lässt sich auf die Menschen ein, auf ihre Verletzungen und Wunden, auf ihre Leidenschaften und Sehnsüchte. Und er zeigt ihnen Wege auf, wie sie sich selbst verstehen können. Während seines Wirkens trifft er viele, die sich selbst verurteilen. Jesus urteilt nicht. Er nimmt den anderen an, wie er ist. Aber er zeigt auch Wege der Heilung und Verwandlung auf. Seine Wege der Heilung beziehen sich zunächst auf den Einzelnen, sie zielen aber letztlich immer auf ein neues Miteinander.

So haben in diesem Buch Bernd Deininger als evangelischer Arzt und Psychoanalytiker und Anselm Grün als katholischer Mönch und Seelsorger Texte aus den vier Evangelien ausgelegt, jeweils von ihrem spirituellen Hintergrund und von ihrer therapeutischen oder seelsorglichen Arbeit her. Sie haben dabei einen Dialog geführt zwischen den Texten und ihren Erfahrungen aus der Begleitung und so die Geschichten der Bibel neu verstanden. Umgekehrt haben die Texte ihnen geholfen zu verstehen, was in der Begleitung von Menschen geschieht. Sie haben ein neues Licht auf das geworfen, was geschieht, wenn Menschen sich in der Begleitung und in den Therapien der eigenen Wahrheit stellen und bereit sind, sich selbst und andere zu verstehen.

Verstehen ist der erste Schritt in der Begleitung, aber auch bei der Menschwerdung. Der zweite Schritt aber ist Verwandlung. Es geht darum, das, was ist, in die einmalige Gestalt zu verwandeln, die Gott jedem von uns zugedacht hat. Jesus lässt den Menschen nicht einfach dort stehen, wo er ist. Er bietet ihm einen Weg der Verwandlung und Heilung an. Die Voraussetzung dafür ist, genau hinzuschauen, was im Menschen ist. Schon die Kirchenväter kannten den theologischen Grundsatz: »Nur, was Jesus angenommen hat, kann erlöst werden«. Weil Jesus ganz Mensch geworden ist, hat er den Menschen so, wie er ist, erlöst. Diesen Grundsatz haben dann die christliche Spiritualität und auch die humanistische Psychologie übernommen: Nur das, was wir anschauen und verstehen, lässt sich verwandeln.

Das Verstehen richtet sich zunächst auf uns selbst. Wir sollen uns nicht verurteilen, wenn wir in uns masochistische oder sadistische Gedanken vorfinden, wenn wir voller Ängste und Zwänge sind, wenn Aggressionen uns beherrschen. Wir sollen verstehen, woher sie kommen und was sie uns sagen wollen. Wer sich selbst versteht, der kann zu sich stehen. Wer zu sich selbst steht, ist auch bereit, weiter zu wachsen. Jesus zeigt ihm den Weg, wie er durch die Wirklichkeit hindurch, die er in sich erlebt, zu dem einmaligen Menschen werden kann, als den Gott ihn gewollt hat.

Verstehen, statt zu verurteilen bezieht sich aber nicht nur auf unsere Schattenseiten. Es geht auch darum, sich selbst in seiner Würde zu verstehen. Jesus hat uns immer wieder auf unsere unantastbare Würde verwiesen. Er hat uns aufgezeigt, dass wir Söhne und Töchter Gottes sind. Gerade in den Worten des Johannesevangeliums hören wir, dass wir nicht nur von der Erde, sondern auch von Gott sind. Diese Worte klingen manchmal sehr spirituell. Aber wir werden unserem Wesen nicht gerecht, wenn wir nicht zugleich verstehen, dass wir durch Jesus eine göttliche Würde erhalten haben.

Wer sich selbst versteht, statt sich zu verurteilen, wird auch andere versuchen zu verstehen, ohne sie zu bewerten. Wir sind häufig schnell damit, andere zu bewerten, uns über sie zu entrüsten, sie zu verurteilen. Doch damit stellen wir uns über sie. Und wir projizieren oft genug unsere eigenen Schattenseiten auf die anderen. Anstatt uns der eigenen Wahrheit zu stellen, schauen wir voller Schadenfreude auf die Fehler anderer. Das spaltet die Gesellschaft. Wir machen den anderen zum Sündenbock, auf den wir allen Dreck werfen. Solange wir aber den Schmutz im eigenen Herzen nicht anschauen und verwandeln lassen, werden wir immer neue Sündenböcke brauchen, auf die wir das Verdrängte in uns projizieren. Gegen diese spaltende Tendenz hat Jesus das berühmte Wort vom Splitter im Auge des Bruders und vom Balken im eigenen Auge gesetzt (vgl. Mt 7,3f). Jesus weist uns dagegen darauf hin, dass wir den anderen immer als Spiegel für uns selbst sehen sollen. Alles Negative, das wir im anderen entdecken, wirft ein Licht auf das Dunkle in uns selbst. Jesus fasst das in dem Wort, das Bernd Deininger ausgelegt hat: »Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie« (Joh 8,7). Wenn wir aufhören, einander zu verurteilen, wird ein neues Miteinander möglich.

Wer sich als Sohn oder Tochter Gottes versteht, der sieht auch den anderen mit neuen Augen. Er wird auch in ihm den Himmel entdecken, so wie Jesus im Sünder Zachäus den Himmel sieht. So führt das Verstehen des eigenen Menschseins und des anderen mit seinen Schattenseiten, aber auch mit seiner göttlichen Würde, zu einem neuen Miteinander, bei dem wir uns annehmen, in dem wir einander einen Raum ermöglichen, weiter zu wachsen, uns zu verwandeln und dem Bild immer ähnlicher zu werden, das Gott sich von jedem von uns gemacht hat.

Anselm Grün, Bernd Deininger

Anselm Grün

»Keiner kann dich verletzen, außer du selbst« • Matthäus 7,24–27 und Lukas 6,47–49

Jesus schließt die Bergpredigt mit einem Gleichnis ab. Er will damit eindrücklich zeigen, dass es nicht genügt, seine Worte nur zu hören. Es geht darum, sie auch zu tun. Er verwendet hier das griechische Wort poiein, es bedeutet: die Worte in Handeln übersetzen. Aber poiein heißt auch: kreativ mit diesen Worten umgehen, sich von den Worten zu neuen Verhaltensweisen anregen lassen, die ganz neue Wege eröffnen gegenüber dem, was alle tun. Der östliche Kirchenlehrer Johannes Chrysostomos schätzt gerade diese Methode Jesu, nicht einfach Forderungen aufzustellen, sondern durch eine bildhafte Rede uns das, was er sagen möchte, eindrücklicher vor Augen zu stellen. Chrysostomos schreibt: »Hätte er (Jesus) nur gesagt, der Tugendhafte werde unüberwindlich sein, der Böse dagegen leicht zu besiegen, so hätte dies doch nicht den gleichen Eindruck gemacht wie jetzt, da er von einem Felsen redet und einem Haus, von Flüssen, Regen und Sturmwinden und anderen derartigen Dingen« (Matthäus-Kommentar, 24. Homilie, 103).

Das Symbol Haus steht immer auch für das Lebenshaus des Menschen. Im Traum beschreibt das Haus den Bewusstseinszustand des Menschen. Der Keller steht für das Unbewusste, das Wohnzimmer für die bewussten Bereiche, in denen wir leben. Die Frage ist dann, ob wir unser Lebenshaus auf Felsen oder auf Sand bauen. Auf Sand bauen wir es, wenn die Grundlagen Illusionen sind, etwa die, dass wir alles im Griff haben, dass uns nichts passieren kann. Illusionen sind auch zu große Bilder von uns, beispielsweise, dass wir immer perfekt und erfolgreich und cool sein müssen. Ein solches »Haus« wird bald zusammenbrechen. Es sollte also besser auf Felsen stehen. In der Bibel wird Gott oft als Fels beschrieben. Das meint nicht nur, dass wir unser Haus auf Gott aufbauen sollten, sondern zudem auf feste Grundsätze, die unserem Wesen entsprechen.

Wir können es auch als gemeinsames Haus bauen: das Haus unserer Ehe und Familie. Auch dann stürzt das Haus schnell zusammen, wenn die Grundlage Illusionen sind. Der Eheberater Hans Jellouschek nennt einige solcher Illusionen, die das Haus einer gemeinsamen Ehe leicht zum Einsturz bringen. Da ist etwa die Illusion, in der Ehe würden wir immer Nähe erfahren. Eine Beziehung braucht dagegen Nähe und Distanz. Wer nur die eine Seite erleben will, wird bald erfahren, dass zu große Nähe Aggressionen erzeugt und so das Haus der Ehe zum Einsturz bringt. Eine andere Illusion ist, dass wir in der Ehe immer glücklich sind. Jellouschek meint, die Ehe sei keine Glücksveranstaltung, sondern ein Übungsweg, auf dem wir immer wieder Glück erfahren dürfen. Sowohl das Haus unserer Ehe als auch das Haus unseres Unternehmens oder unserer Institution sollen wir auf felsigen Grund bauen, das sind kluge Maßstäbe. Und letztlich ist Gott selbst beziehungsweise Christus der Fels, auf den wir unser Haus bauen. Jesus versteht seine Worte selbst als den Felsen. Wenn wir uns nach ihnen richten, wird unser Haus alle Stürme und Regengüsse aushalten.

Johannes Chrysostomos deutet die Regengüsse als »die menschlichen Schicksale und Leiden, wie zum Beispiel Verleumdungen, Nachstellungen, Trauer- und Sterbefälle, Verlust des Eigentums, Kränkungen durch andere, überhaupt alles, was man die Unbilden des Lebens nennen kann« (Matthäus-Kommentar, 100f). Als Felsen sieht der Kirchenlehrer die Lehre Jesu: »Seine Satzungen sind ja fester als Gestein und machen, dass man über alle menschlichen Schicksalsschläge erhaben wird« (Matthäus-Kommentar, 101). Er ist der Ansicht, dass Menschen uns nicht wirklich schaden können, denn Jesus hat uns gelehrt, das Eigentum loszulassen. Wir sind also sozusagen schon in der Welt gekreuzigt. So kann uns niemand, der uns etwas Weltliches raubt, schaden. Er meint: »Wer auf einen Diamanten schlägt, verletzt sich eben nur selbst; und wer gegen den Stachel ausschlägt, wird selbst gestochen und schwer verwundet. Ebenso bringt sich selbst in Gefahr, wer den Tugendhaften Nachstellungen bereitet« (Matthäus-Kommentar, 105).

Interessant ist, dass Johannes Chrysostomos im vierten Jahrhundert nach Christus dieses Gleichnis im Dialog mit der stoischen Philosophie deutet. Er interpretiert es von einem Grundsatz aus, den der Philosoph Epiktet etwa 100 nach Christus aufgestellt hat. Die stoische Philosophie könnte man vergleichen mit dem, was heute die Psychologie ist. Ihr geht es darum, wie das Leben gelingen kann. Sie stellt dazu letztlich psychologische Grundsätze auf. Einer lautet: »Keiner kann dich verletzen, außer du selbst«. Zu diesem Grundsatz gehört noch ein weiterer: »Nicht die Menschen verletzen dich, sondern die Dogmata, die Vorstellungen, die du dir vom Menschen machst«. Beide Grundsätze klingen sehr rational. Man darf sie sicher auch nicht verabsolutieren. Aber Chrysostomos scheut sich nicht, diesen Grundsatz christlich zu deuten. Er hat darüber eine ganze Abhandlung geschrieben: »Dass niemand verletzt wird, außer durch sich selbst« (PG 52,459–480). Er möchte in seiner Rede zeigen, »dass kein Opfer Opfer eines anderen ist, sondern sein von ihm selbst verhängtes Geschick erleidet« (PG 52,461). Für ihn liegt die eigentliche Kraft des Menschen in der richtigen Vorstellung, die er sich vom Leben macht, und in der Geradheit und Stimmigkeit seines Lebens. Der Mensch, der die rechte Vorstellung von der Wirklichkeit hat, kann durch äußere Dinge keinen Schaden erleiden. Das zeigt der Kirchenvater am Beispiel Hiobs: Das äußere Unheil konnte ihm nicht schaden, weil er im Glauben an Gott die richtige Vorstellung von der Wahrheit hatte, weil er die richtigen Maßstäbe an die Beurteilung der äußeren Dinge anlegte. An biblischen Geschichten wie der von Joseph, den drei Jünglingen im Feuerofen und von Paulus versucht er zu beweisen, »dass der, der sich selbst nicht verletzt, von keinem anderen verletzt werden kann, auch wenn die ganze Welt einen heftigen Krieg gegen ihn führt« (PG 52,473).

Die Richtigkeit dieser These zeigt er dann am Beispiel der Rede Jesu vom Haus auf dem Felsen. Weder die Regengüsse noch die Fluten können ihm schaden. Wer auf Christus, den Felsen, sein inneres Haus gebaut hat, der kann durch keine Verletzung von außen erschüttert werden. Wer auf Christus sein Haus baut, der baut es auch auf die richtigen Vorstellungen von der Wirklichkeit. Er sieht die Wirklichkeit mit den Augen Jesu. Wer aber aus Unwissenheit, Leichtsinn oder Verdorbenheit sein Haus auf Sand baut, der schadet sich selbst. Nicht der Sturm ist schuld am Einsturz des Hauses, sondern seine eigene Nachlässigkeit und seine falschen Vorstellungen vom Leben und von der Wirklichkeit der menschlichen Seele. Chrysostomos schließt dann seine Betrachtung: »Wer sich selbst nicht verletzt, der geht auch dann, wenn er unendlich viel zu erleiden hat, gestärkt daraus hervor. Wer sich aber selbst verrät, der leidet von selbst (automatoi), er fällt in sich zusammen und geht zugrunde, auch wenn keiner gegen ihn ist« (PG 52,473).

Chrysostomos deutet den Fall des Hauses nicht wie manche Exegeten auf das Schicksal nach dem Tod. Er beschreibt vielmehr, dass die, die ihr Haus auf Sand bauen, schon im Jetzt immer wieder erleben müssen, was Jesus von diesem Haus sagt: »Sein Fall war groß« (Mt 7,27). Denn der, der sich vom Bösen leiten lässt und nicht von den Worten Jesu, muss »ein ganz elendes Leben führen in steter Begleitung von Furcht, Mutlosigkeit, Sorgen und Kämpfen. Das hat auch ein weiser Mann angedeutet mit den Worten: ›Der Gottlose flieht, ohne dass ihn jemand verfolgt‹ (Spr 18,1). Solche Leute zittern vor Schatten, sind voll Argwohn gegen Freunde, Feinde, Diener, Bekannte und Unbekannte, und leiden schon hienieden die schwersten Strafen, noch bevor sie von denen im Jenseits betroffen werden« (Matthäus-Kommentar, 107). Interessant ist, dass er die Menschen, die ihr Haus auf Sand bauen, beinahe aus psychologischer Sicht beschreibt: Sie haben hier schon ein angstbesetztes und unruhiges Leben. Sie spüren, dass es auf keinem guten Fundament steht, und leben ständig in der Angst, dass ihr Haus zusammenfallen könnte.

Mit dieser Deutung des Gleichnisses vom Haus auf dem Felsen interpretiert Chrysostomos zugleich die ganze Bergpredigt. Diese besteht für ihn nicht in erster Linie aus moralischen Folgerungen. Vielmehr beschreibt Jesus in der Bergpredigt die richtigen Vorstellungen, die wir uns vom Leben und von unserem Miteinander machen sollen. Jesus ist der Weisheitslehrer, der uns zeigen möchte, wie Leben gelingt. Für den Kirchenlehrer Chrysostomos besteht kein großer Unterschied zwischen der psychologisch geprägten stoischen Lehre des Epiktet und der Bergpredigt Jesu. Doch die wahre Weisheit liegt in seinen Augen bei Jesus. Jesus stellt nicht nur Forderungen auf. Er beschreibt in vielen Bildern und Beispielen, wie Leben gelingt. Und ein wichtiger Weg, den Jesus in der Bergpredigt aufzeigt, ist, dass wir uns nicht als Opfer von Feinden fühlen sollen, sondern dass wir die Feinde lieben sollen. Dann können sie uns nicht verletzen. Denn nicht der Feind selbst verletzt uns, sondern die Vorstellung, die wir von ihm haben und die er von uns hat. Feindschaft hat immer mit Projektion zu tun: Wir projizieren das auf den anderen, was wir an uns selbst ablehnen. Wenn wir die Projektion auflösen, ist eine gute Beziehung zum vermeintlichen Feind möglich.

Bernd Deininger

Aufruf und Mut zum Leben • Matthäus 12,22–23

An vielen Stellen in der Bibel finden sich Texte, die unmittelbar in die Gegenwart hineinführen. So wird zum Beispiel die Frage erörtert: Wie menschlich und frei darf der Glaube an Gott sein? Ist Gott in der inneren Vorstellung eines Menschen nicht einfach das strafende eigene Über-Ich oder gar eine verinnerlichte Traumatisierung, die viele Menschen in ihrer psychischen Entwicklung erlitten haben? Oder die Angst vor Elterngestalten, die die Möglichkeit zur Entwicklung eines selbstbewussten Menschen behindert haben?

Der Text bedarf einer Auslegung, um die Heilung der Besessenheit, von Blindheit und Stummheit auf dem Hintergrund seelischer Veränderungen sichtbar zu machen. Exemplarisch möchte ich das anhand der Biografie einer Frau zeigen, die nach zwei Suizidversuchen zu mir in Behandlung kam. Sie lebte völlig von der Welt abgeschlossen, pflegte keine sozialen Kontakte und war von tiefem Misstrauen gegenüber anderen Menschen geprägt. Sie erzählte aus ihrer Kindheit und schilderte mir eine Mutter, die häufig Jähzorn­attacken hatte, was zu körperlicher Gewalt ihr gegenüber führte. Der Frau war es nicht möglich, Zusammenhänge zwischen ihrem eigenen Verhalten und den Ausbrüchen ihrer Mutter herzustellen. Die Mutter duldete keine Widerrede, sodass sie zunehmend den Kontakt mit der Mutter aufgab, gleichsam das Reden verlernte. Ganz präsent war ihr die Zeit zwischen ihrem vierten Lebensjahr und der Einschulung: Wenn sie spielte oder etwas tat, was der Mutter nicht gefiel, hatte das Schimpftiraden und Drohungen zur Folge. Sie hatte das Gefühl, dass sie eigentlich nichts mehr tun kann, und verlor das Vertrauen in ihr eigenes Handeln. In der Folge versuchte sie sich immer klein und unsichtbar zu machen, ihr Verhalten zu verändern und herauszufinden, was der Mutter Freude bereiten könnte. Daher tat sie viele Dinge gegen ihren eigenen Willen und entwickelte zunehmend das Gefühl, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung war, dass sie einen Fehler hatte, den sie nicht erkennen konnte, und dass dies der Grund war, warum die Mutter so mit ihr umging. Dahinter stand Einsicht, die sich zunehmend in ihrem Inneren breitmachte, dass sie selbst schuld daran trug, dass die Mutter so mit ihr umging.

Mit diesem Grundgefühl, dass in ihr ein verborgener, entsetzlicher Fehler ist, den sie eigentlich selbst finden müsste, wuchs sie heran, und dieses Gefühl begleitete sie bis in ihr Erwachsenenleben hinein. Es entstand bei ihr der Eindruck, dass sie nicht nur alles falsch gemacht hatte, sondern dass sie unberechtigterweise auf der Welt war und dass eigentlich jeder, der etwas an ihr auszusetzen hatte und sie kritisierte, im Recht war. Eigentlich war sie auf der Welt nur störend und nutzlos.

Jeder Wille, sich zur Wehr zu setzen und sich selbst zu behaupten, verschwand, und an seine Stelle trat der Wille, sich durch ständiges Entgegenkommen, durch Gefügigkeit und Anpassung das Wohlwollen der anderen zu spüren, um die Angst vor Verurteilung zu vermeiden. Eigenes Wünschen und Wollen gingen völlig verloren. Innerlich entwickelte sich eine immer größere Leere, gepaart mit dem Gefühl von Scham, ohne dass sie benennen konnte, warum dies auftrat. Am Ende stand ein inneres und äußeres Verstummen. Diese Stummheit aus Schuldgefühl und schweren Selbstzweifeln, aus Selbstverachtung und Ohnmacht waren ihre ständigen Begleiter.

Während der Behandlung hörte ich oft Sätze wie: »Ich schäme mich so, dass ich hier bin; ich falle ihnen doch ständig zur Last; ich weiß nicht, worüber ich mit ihnen reden soll; ich habe den Eindruck, dass ich nicht von mir reden kann, weil ich es nicht wert bin, dass sich jemand für mich interessiert«. Mit dieser Stummheit sich selbst gegenüber, begleitet von der eigenen inneren Entwertung, gab es auch eine voranschreitende chronische Blindheit für sich selbst: Das Gefühl, sich selbst nicht mehr sehen zu können und sehen zu wollen, sondern nur so zu leben, dass die Außenwelt zufriedengestellt wird. Die Verschmelzung von Scham und Schuldgefühlen, gepaart mit der inneren Zurückgezogenheit, verdichtete sich zu einem kompletten Unvermögen für eigene Interessen und Wünsche einzutreten. Doch dann kam sie an den Punkt, an dem die psychische Energie erschöpft war, sich der Außenwelt anzupassen. Es machte sich das Empfinden breit, auch die anderen nicht mehr sehen zu können, überhaupt nichts mehr sehen zu wollen, was zu den Suizidversuchen führte. Es ist gut vorstellbar, wie ein Mensch, der das Sprechen von sich selbst verlernt hat, der nicht weiß, welche eigenen Wünsche er hat, dazu gedrängt wird, nicht mehr hinzusehen und sich nur noch auf sich selbst zurückzuziehen oder sich auszulöschen. In dem biblischen Text wird ganz modern dargestellt, dass das Stummsein und die Blindheit nur die Symptome einer Krankheit sind, bei welcher der Mensch sich selbst nicht mehr gehört und den fremden, zerstörenden, dämonischen Mächten ausgeliefert ist, die von ihm Besitz ergriffen haben.

Im weiteren Verlauf der Therapie erzählte mir die Frau, dass ihre Mutter einen Abtreibungsversuch unternommen hatte, der aber misslang. Mit dem Vater lebte sie nur auf Druck ihrer Familie zusammen. So hat die Mutter all ihre Enttäuschungen über ihr eigenes Leben, ihren Hass auf ihre Familie, die sie in die Ehe zwang, und ihren Hass auf ihren Mann, der ihr das Leben, das sie hätte leben wollen, versperrt hatte, auf ihre Tochter übertragen und ihr damit jede Möglichkeit der eigenen Selbstwerdung genommen.

Neben der Erfahrung der eigenen Nichtigkeit und Wertlosigkeit, die aus tiefenpsychologischer Sicht für das Erblinden und Verstummen verantwortlich sind, gibt es aber auch noch eine andere Sichtweise, die uns der biblische Text nahebringt. Vielen Menschen sind der Ansicht, dass das Dasein als Ganzes sinnlos und ohne Ziel ist, was nicht nur das eigene Dasein, sondern auch das Dasein aller Dinge infrage stellt. Für diese Menschen gibt es keine Begründung, warum es etwas gibt und nicht nichts, und sie glauben, dass es auf diese Frage keine Antwort gibt. Einige verlieren dann jede Lebensenergie und verstummen. Nun kann es durchaus sein, dass wir als Individuen denken: Ich bin überflüssig und es müsste mich auch nicht geben. Ob es mich gibt oder nicht, ändert am Weltenlauf nichts. Das bedeutet aber nicht, dass ich mich deshalb selbst abschaffen sollte, sondern vielmehr, dass ich mein Dasein, das Dasein aller Dinge, entgegennehmen darf als ein überraschendes Geschenk. Kann ich dann nicht dieses Geschenk annehmen und damit die Dunkelheit und die Finsternis, die mich umgeben, erleuchten und ihnen einen Sinn geben? Es ist sicher so, dass wir als Menschen nichts Eigenes besitzen – das macht schon, dass wir in diese Welt hineingeworfen sind –, aber wir könnten daraus den Schluss ziehen, dass wir dem, der uns in diese Welt geworfen hat, alles verdanken und er uns alles geben will, weil er uns akzeptiert.

Selbsthass oder Dankbarkeit, Angst oder Vertrauen, das ist eine Wahl, die ich treffen kann. Zerfällt die Welt in Sinnloses oder Sinnvolles, in ein Schweigen des Nichts oder in ein Schweigen des Seins. Ich kann eine Entscheidung treffen, ob ich das Geschenk Gottes annehme oder erblinde im Schatten der Leere und der Nichtigkeit aller Dinge.

Im biblischen Text werden uns hierzu die Augen ein Stück weit geöffnet. Er ermutigt uns zu einer bedingungslosen Bejahung im Sinn von Dankbarkeit und Vertrauen, hinter der das sichtbar und ansprechbar wird, was in der Sprache der Religion Gott heißt. Um nicht in die Sinnlosigkeit des Daseins hineinzufallen, spricht die Bibel von Gott als unserer letzten endgültigen großen Bejahung. Die Möglichkeit, sich dem anzuvertrauen, besteht für uns alle, unabhängig, ob wir mit schweren psychischen Defiziten aufgrund unserer fehlgeleiteten frühkindlichen Entwicklung beladen sind oder nicht. Eine tiefenpsychologische Auseinandersetzung mit unserem eigenen Lebensschicksal, die auch das Geschenk unserer eigenen Existenz beinhaltet, kann sich als machtvoll über Blindheit und Stummheit erweisen.

Bernd Deininger

Schwer zu verstehen • Matthäus 13,1–23

Kann man Menschen, die in ihren Ängsten gefangen sind, erreichen? Wie viele Menschen gibt es, die die Augen vor ihrer eigenen Lebensgeschichte verschließen, weil sie Angst haben, dort mit Wahrheiten und Tatsachen konfrontiert zu werden, mit denen sie glauben, nicht umgehen zu können? Das wären zwei wichtige Fragen, auf die das Gleichnis vom Sämann, das Jesus erzählt, zu antworten versucht.

In dem Gleichnis vom Sämann soll dargestellt werden, wie Menschen in Verzweiflung und Resignation hineingeraten und dann dazu neigen, ihr Leben völlig infrage zu stellen und aufzugeben. Gerade jene, die an einer depressiven Erkrankung leiden, sind mit den oben genannten Symptomen konfrontiert. Für viele Menschen genügt es allerdings schon, wenn sie in eine Krisensituation hineingeraten, dass sich daraus eine depressive Episode entwickelt, die das Leben über lange Zeit begleitet und zu einer melancholischen und lebensverneinenden Haltung führt. Das Beeindruckende ist, dass in den Bildern des Gleichnisses vom Sämann diese depressiven Symptome zur Sprache kommen, die sich sonst nur schwer beschreiben lassen.

Wenn wir mit Menschen zu tun haben, die unter einer Depression oder einer depressiven Entwicklung leiden, versuchen wir häufig, sie zu trösten. Allerdings besteht der Trost oft darin, den anderen aufzufordern, sich zusammenzureißen und den Kopf nicht hängen zu lassen. Auch neigen wir dazu, an frühere Zeiten zu erinnern, in denen die Depression noch nicht spürbar war, an schöne Dinge, die der andere erlebt hat, an Fähigkeiten und positive Charaktereigenschaften, die bei dem betreffenden Menschen vorhanden, doch jetzt scheinbar verloren sind. Die Erfahrung zeigt aber, dass gerade diese Art des Trostes wenig ausrichtet, im Gegenteil: der betreffende Mensch fühlt sich unter Druck und eigentlich wird dadurch alles nur schlimmer: Der Verzweifelte fühlt sich zudem noch unverstanden.

Im Gleichnis wird der Sämann in seinem Zorn und seiner Angst dargestellt, denn er sieht sich außerstande, den Schwarm der Vögel, die ihm seine Körner wegfressen, zu verjagen. Er weiß, dass er hilflos ist und dass die Vögel täglich wiederkommen. Zudem gibt es viele Steine im Acker, und sooft er den Boden auch umpflügt: Sie werden immer vorhanden sein.

Es gibt viele Lebenssituationen, in denen wir mit Enttäuschungen und dem Gefühl von Resignation konfrontiert sind, weil wir Dinge nicht ändern können. Zum Beispiel im Bereich unserer Beziehungen: dass wir enttäuscht werden vom anderen und wir erstaunt feststellen, dass wir Anteile am anderen, die wir als negativ empfinden, so noch nicht gesehen haben. Oder im Bereich gesellschaftlicher und politischer Entscheidungen: dass wir damit nicht einverstanden sind und nicht klarkommen. Das kann dann durchaus dazu führen, dass die Welt sich einengt und der Blick auf das, was verloren ist, was kaputtgemacht wurde und erstickt ist, überhandnimmt. Dann ist es tatsächlich zum Verzweifeln. Auch in dem Gleichnis wirkt es so, als ob diese Sicht auf die Dinge, die so ausführlich geschildert wird, durchaus ihre Berechtigung hätte. Der Grund ist aber, dass es zunächst darum geht, ein Gefühl in Gang zu bringen, es also durchaus in Ordnung ist, wenn der Einzelne Gründe findet beziehungsweise ihm seine Lebenserfahrung zeigt, dass er für Traurigkeit und Resignation durchaus Verständnis erwarten darf.

Ein Beispiel: Ein 45-jähriger Mann kam in meine Praxis, weil er unter Panikanfällen und morgendlichen depressiven Verstimmungen litt. Er erzählte mir, dass er unerwünscht gewesen war als Kind und seine Mutter eigentlich eine Abtreibung vornehmen lassen wollte, weil sein biologischer Vater sie verlassen hatte, als die Mutter ihm sagte, dass sie schwanger geworden war. Die Oma, von der er das erfahren hatte, überredete ihre Tochter, das Kind zu behalten und sagte ihr, sie würde sich schon darum kümmern. Nach seiner Geburt ging die Mutter nach einigen Wochen wieder zur Arbeit, da sie für ihn und für sich selbst ihren Lebensunterhalt verdienen musste. In der ersten Zeit wuchs er also bei der Großmutter auf. Als er zwei Jahre alt war, fand die Mutter einen neuen Partner gefunden, den sie heiratete. Die Mutter nahm den Jungen dann zu sich. Schon von Anfang an entwertete ihn der Stiefvater, er hat es ihm nie recht machen können, es gab keine Liebe und Anerkennung. Schon sehr früh spürte er viel Neid und Hass vonseiten des Stiefvaters, da er ihn wohl mit seinem Leben und seiner Existenz daran erinnerte, dass bereits ein anderer Mann seine Frau geschwängert hatte, was er nur schwer verarbeiten konnte. Die Mutter unterwarf sich dem Stiefvater völlig und schien dankbar zu sein, dass er sie mit einem Kind noch als Partnerin genommen hatte. Gegenüber ihrem Mann nahm sie ihren Sohn nie in Schutz und behandelte ihn letztendlich wie einen Fremdkörper. Sie war hilflos, arbeitete viel, um es auch ihrem Mann recht zu machen, und bekam mit ihm zwei Kinder. Seine Halbschwestern wurden ihm in allen Bereichen vorgezogen.

Er erinnerte sich daran, dass er nie altersgemäß spielen durfte. Die Halbschwestern waren vier und sechs Jahre jünger als er, und es war für ihn eine Pflicht, sich um die jüngeren Geschwister zu kümmern und auf sie aufzupassen. Das Spielen mit Gleichaltrigen wurde ihm immer wieder verwehrt. Schon im Grundschulalter musste er Tätigkeiten verrichten, die eigentlich in den Aufgabenbereich eines Erwachsenen fallen. Er ging zum Einkaufen, hielt die Wohnung in Ordnung und verzichtete völlig auf eigene Wünsche und Bedürfnisse.

Nach einer Auseinandersetzung zwischen der Oma und dem Stiefvater, bei der die Großmutter darauf hinwies, dass er vernachlässigt würde, verbot der Stiefvater den Kontakt mit der Oma, sodass für meinen Patienten eine wichtige Stütze und der einzige Mensch, der ihm etwas Liebe gegeben hatte, wegfiel.

Er erinnert sich noch an die ersten Jahre in der Grundschule, wo er häufig träumte, dass er es einmal zu etwas bringen, den Stiefvater in allen Bereichen überbieten und großes Ansehen erlangen würde. Mit diesen Träumen im Kopf und der Hilfe eines Pfarrers schaffte er es, gute Noten zu bekommen, sodass er auf Druck des Pfarrers das Gymnasium besuchte. Er war immer ehrgeizig und fleißig, hatte das Gymnasium mit guten Leistungen durchlaufen und danach ein Maschinenbaustudium aufgenommen. Er wurde tatsächlich ein erfolgreicher Ingenieur. An seinem Arbeitsplatz war er immer einer der eifrigsten und fleißigsten Mitarbeiter, ließ sich alle schwierigen Arbeiten aufladen, passte sich immer an und vermied Konflikte. Im Privatleben fand er eine Frau, die er verwöhnte und der er ein luxuriöses Leben ermöglichte, der er sich aber völlig unterordnete. Zudem hatte er viele Freunde, mit denen er luxuriöse Urlaube verbrachte und illustre Partys feierte.

Dann geriet das Unternehmen in eine wirtschaftliche Krise, er verlor seinen Arbeitsplatz, die Branche, in der er tätig war, war nicht mehr gefragt, er lebte finanziell am Limit. Nach einigen Monaten verließ ihn seine Frau, da er ihr materiell nichts mehr bieten konnte, und zog zu einem erfolgreichen Arzt. Die Freunde, mit denen er vorher viel gefeiert hatte, hatten das Interesse an ihm verloren. Vertrauensvolle Beziehungen hatte er ohnehin keine, sodass er völlig einsam und ohne Perspektive zurückblieb. In dieser Situation entwickelten sich die Depression und die Panikattacken, die ihn zu mir führten.

Seine Geschichte war wie das Bild in dem Gleichnis: »Da fiel ein Same, der an sich gut ist, auf felsigen Grund, schoss gleich auf, aber konnte nicht haften, hatte nie die Möglichkeit, Wurzeln zu schlagen, um in sich ruhig zu werden und Nahrung zu gewinnen aus dem eigenen Standort«. Er war hin- und hergerissen in seinem Leben, auf der Suche nach Anerkennung und Liebe. An Anstrengung, gutem Willen, Initiative und richtigen Entscheidungen hatte es nie gefehlt, aber am Ende scheiterte er doch. Der Mann, der vor mir saß, war ausgelaugt und ausgezehrt, müde und kraftlos. Es war sofort klar, dass es in diesem seelischen Zustand, in dem er sich befand, kein vernünftiges Argument gab, um ihn da herauszuholen. Für einen solchen Menschen ist es nicht möglich zu sehen, dass das Leben auch schön sein kann. Das Einzige, das hilft, ist, ihm zu gestatten, dass er sich krank, müde, ausgezehrt und von Ängsten überflutet fühlt. Er lebte bislang in einem Zustand, in dem er nicht wusste, was er selbst eigentlich will und wer er ist. Er wusste nur, dass er sich und den anderen (insbesondere der Mutter und dem Stiefvater) beweisen wollte, dass er erfolgreich sein kann. Das führte aber dazu, dass er nicht seinen eigenen Vorstellungen gemäß lebte, sondern sich von außen bestimmen ließ. Auch die Erwartungen, die er an sich selbst hatte, waren nicht seine eigenen, sondern die, die ihn seit seiner Kindheit begleiteten.

Er hatte den Glauben, dass er sein Leben wieder in den Griff bekommen, dass es ihm wieder gutgehen könnte, völlig verloren. Es gab für ihn keine Perspektive, das Leben hatte keinen Sinn mehr. Er hatte den Glauben an sich selbst, seine Leistungsfähigkeit und an alles, was für ihn bislang wichtig gewesen war, verloren. Wie oben gesagt, ist gerade in einer solchen Situation jeder Rat von außen, auch wenn er noch so gut gemeint ist, sinnlos und eher kontraproduktiv. Die üblichen Tröstungen haben keinerlei Aussicht auf Erfolg.

Entscheidend ist, alles, was auf das Leben dieses Mannes eingewirkt hatte, aufzugreifen, alle Demütigungen und Zurückweisungen mit ihm noch einmal durchzugehen und ihn die Trauer und Einsamkeit spüren zu lassen. Gerade indem noch einmal verdichtet wird, was dunkel und bedrohlich ist, kann sich ein Lichtstrahl zeigen. Die Umwandlung der grenzenlosen Dunkelheit und Resignation kann nur dadurch erreicht werden, dass der Mensch vertrauensvoll begleitet wird und spürt, dass ein anderer mit ihm diese Dunkelheit aushält. Letztendlich geht es darum, dass derjenige, dem alle Hoffnungen zerbrochen sind, in seinem Inneren und in der Dunkelheit spürt und weiß, was er eigentlich sein könnte und wozu er berufen ist.