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Theologischer Kommentar
zum Neuen Testament (ThKNT)

Herausgegeben von:

Stefan Schreiber
Angela Standhartinger
Ekkehard W. Stegemann
Angelika Strotmann
Peter Wick

 

 

Band 7

Luise Schottroff

Der erste Brief an die Gemeinde in Korinth

Zweite, überarbeitete Auflage verantwortet und mit einem Vorwort von Claudia Janssen

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Umschlagbild entnommen aus

„Nestle-Aland – Novum Testamentum Graece“, S. 462

27. revidierte Auflage

© 1898, 1993 Deutsche Bibelgesellschaft Stuttgart

 

 

2. Auflage 2021

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-037677-9

 

E-Book-Formate:

pdf: 978-3-17-037678-6

epub: 978-3-17-037679-3

mobi: 978-3-17-037680-9

 

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Inhalt

Vorwort zur zweiten Auflage

1.  Sozialgeschichte

2.  Christlich-Jüdischer Dialog

3.  Feministische Exegese

Vorwort

Einleitung: Wer war Paulus?

1.  Paulus, der Jude

2.  Paulus und der Messias

3.  Paulus unter seinen Geschwistern

4.  Der Alltag in den Städten des römischen Reiches

5.  Paulus, der Mystiker

Kommentar

Basisinformation: Die Abfassungszeit des Briefes und der Ort Korinth

Die Abfassungszeit des Briefes

Der Ort der Gemeinde: Korinth

1,1–9

1,1–2

1,4–9

Basisinformation: Zeitvorstellungen und Eschatologie

1,10–18

1,14–17

Basisinformation: Die Weisheit dieser Welt

Basisinformation: Verleugnung der Kreuzigung

1,19–25

1,19.20

Basisinformation: Messiasgläubige aus den Völkern und ihre Identität

1,26–31

2,1–16

2,1–5

Basisinformation: Das „Wir“ der Gemeinde

2,6–16

3,1–23

3,1–4

3,5–11

3,12–17

3,18–23

4,1–13

4,1–5

4,6–13

4,14–21

5,1–13

5,1–5

5,6–8

5,9–13

6,1–11

6,9–11

6,12–20

Basisinformation: Bilder aus der Sklaverei für die Befreiung durch Gott

7,1–40

7,1–7

Basisinformation: Menschenverachtende Sexualität als gesellschaftliche Praxis

7,3–5

7,8–11

Basisinformation: Scheidungen

7,12–16

7,17–24

Basisinformation: Sklaverei

Basisinformation: Die Tora im 1 Kor

7,25–38

7,39.40

8,1–11,1

8,1–13

8,1

Basisinformation: Opferfleisch – Fleischkonsum

9,1–27

9,1–3

9,4–6

Basisinformation: Lohn für das Lehren der Tora

9,7–11

9,12–14

9,15–18

9,19–23

Basisinformation: Sünde und Tora in 1 Kor

9,24–27

Basisinformation: Sportwettkämpfe

Gedanken einer Nachgeborenen

10,1–11,1

10,1–13

10,14–22

Basisinformation: Die Körpertheologie des Paulus

10,23–11,1

11,2–16

11,2–6

11,7–15

11,16

11,17–34

11,17–22

Basisinformation: Gemeindeversammlung

11,23–26

Basisinformation: „Für euch“. Martyrium oder Opfer?

„Das tut zur Erinnerung an mich“

11,27–34

12,1–31

12,1–3

12,4–11

12,4–7

12,8–10

12,12–27

Basisinformation: Leib Christi: Ihr seid der Körper des Messias (12,27)

12,28–31

13,1–13

13,1–3

13,4–7

13,8–13

14,1–40

14,1–5

Basisinformation: Mit Gott in der Muttersprache reden ( / in Sprachen reden)

14,6–19

14,20–25

14,21–25

14,26–33

14,34–38

14,39–40

Basisinformation: 15,1–19: Auferstehungshoffnung im Kontext des römischen Reiches

Der Ausgangspunkt

Die Perspektive auf das gegenwärtige Leben und das Ziel des Textes 1 Kor 15

Sozialgeschichtliche Verortung

Jesu Antwort auf die Bestreitung der Auferstehung in Mt 22,23–33 und die Antwort des Paulus in 1 Kor 15

15,1–2

15,3–11

Basisinformation: Erscheinungen des Auferstandenen 1 Kor 15,5–8

15,12–19

15,20–22

15,23–28

15,29–34

15,30–32

15,35–38

15,39–41

15,42–44

15,45–50

15,51–53

15,54–58

16,1–24

16,1–4

Basisinformation: Die Gaben der Völker für Jerusalem

16,5–9

16,10–14

16,15–18

16,19–24

Abkürzungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Register (in Auswahl)

I.  Altes Testament (einschließlich Apokryphen)

Genesis

Exodus

Levitikus

Numeri

Deuteronomium

1 Samuel

2 Samuel

Nehemia

2 Makkabäer

Hiob

Psalmen

Sprichwörter

Weisheit

Sirach

Jesaja

Jeremia

Ezechiel

Daniel

Hosea

Amos

Zefanja

II.  Neues Testament (ohne 1 Kor)

Matthäus

Markus

Lukas

Johannes

Apostelgeschichte

Römer

2 Korinther

Galater

Epheser

Philipper

Kolosser

1 Thessalonicher

1 Timotheus

Philemon

Hebräer

Jakobus

1 Petrus

Judas

Offenbarung

III.  Zwischentestamentliches und nachbiblisches Judentum

IV.  Alte Kirche

V.  Nichtjüdische und nichtchristliche antike Autoren

VI.  Gnosis

Vorwort zur zweiten Auflage

Der Kommentar von Luise Schottroff zum Ersten Brief an die Gemeinde in Korinth ist 2013 erschienen. Darin bietet sie eine gut verständliche, lebensnahe Interpretation dieser Schrift, die den Blick auf die Lebensbedingungen der korinthischen Gemeinde richtet, eine politische Analyse der Gewaltstrukturen im Imperium Romanum zugrunde legt und das alltägliche Ringen der Menschen um ihre Würde in den messianischen Gemeinschaften sichtbar macht. Die vorliegende zweite Auflage bietet in weiten Teilen den unveränderten Text der ersten. Die Literaturliste wurde durch aktuelle Veröffentlichungen ergänzt – im Sinne Luise Schottroffs, der es nie um Vollständigkeit ging, sondern um die Relevanz für eine sozialgeschichtliche, imperiumskritische und geschlechterbewusste Neulektüre der Schriften des Paulus im Kontext des antiken Judentums. Im Manuskript wurden kleinere Fehler korrigiert und wenige Ergänzungen vorgenommen. Ihre Auslegung ist bleibend aktuell und repräsentiert den gegenwärtigen Stand der internationalen Paulusforschung. Auch nach ihrem Tod ist Luise Schottroff eine wichtige Lehrerin für diejenigen, die einen eigenen, kritischen und lebensdienlichen Zugang zu Theologie und Exegese suchen.

Im Jahr 2013 erhielt Luise Schottroff anlässlich der Veröffentlichung des Kommentars den Leonore Siegele-Wenschkewitz-Preis der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) für ihr Lebenswerk. Denn, das wird deutlich: Den Ertrag ihrer sich über vier Jahrzehnte erstreckenden Forschungen zu Paulus hat sie in ihrer Auslegung des Ersten Briefs an die Gemeinde in Korinth verarbeitet. Die Leitlinien der Reihe Theologischer Kommentar zum Neuen Testament (ThKNT), deren Mitherausgeberin sie war, sind auch die zentralen Themen ihrer eigenen exegetischen Arbeit seit den späten 1970er Jahren: Sozialgeschichte, christlich-jüdischer Dialog und Feministische Theologie. Ihre Arbeiten waren und sind bleibend wegweisend für eine umfassende Neulektüre der Briefe des Paulus im deutschsprachigen Bereich und auch international. Das Erscheinen der zweiten Auflage ihres Kommentars soll deshalb zum Anlass genommen werden, ihre exegetische Arbeit in diesem Forschungsfeld umfassend zu würdigen.

1.  Sozialgeschichte

In der Einleitung schreibt Luise Schottroff 2013, dass sie den ersten Brief des Paulus an die Gemeinde in Korinth aus sozialgeschichtlich-theologischer Perspektive darstellen wird. Sie geht davon aus, dass das Schreiben an konkrete Menschen gerichtet ist, die Paulus so beschreibt: „nicht viele Weise, Mächtige und durch Geburt Privilegierte“, stattdessen „Ungebildete …, Schwache, von Geburt Benachteiligte, Verachtete, ‚Nichtse‘“ (1 Kor 1,26-28). Diese Perspektive bestimmt das weitere Vorgehen: So legt sie ihrer Auslegung eine detaillierte Untersuchung der Lebenssituation der korinthischen Gemeinde im Kontext der römisch-hellenistischen Gesellschaft des 1. Jahrhunderts zugrunde, die aus Menschen unterschiedlicher Völker und Sprachen zusammengesetzt war, aus Versklavten und Freien, Frauen und Männern. Diese gehörten nach ihrer Analyse mehrheitlich zu den Unterschichten. Die im Brief angesprochenen Probleme versteht sie nicht als Konflikte mit „Gegnern“, sondern als Auseinandersetzungen um Fragen der Lebenspraxis, deren Hintergründe sie in Form von „Basisinformationen“ entfaltet, zu Themen wie Sklaverei, Scheidung, Opfer/Fleischkonsum, Sexualität/Prostitution, Körpertheologie, Eschatologie. Dabei bezieht sie die offene und subtile Gestalt der Gewalt im römischen Reich durchgehend in ihre Auslegung ein: Kreuzigungen als Mittel politischer Abschreckung, „Spiele“ als Massenveranstaltungen, in denen Menschen gefoltert und getötet wurden, Sklaverei als Struktur der Bemächtigung über Menschen und ihre Körper. Dem setze Paulus das Bild der Gemeinde als „Körper des Messias“ entgegen, die Vorstellung eines kollektiven Körpers, mit dem Gott befreiend in der Welt handelt (1 Kor 12,12-27) und der nicht rein metaphorisch zu denken sei. Die Gemeinde verkörpert den Auferstandenen. Die vielfältigen sozialgeschichtlichen Informationen des Kommentars, die sich auf aktuelle historische, religionsgeschichtliche und archäologische Forschungen stützen, richten zum einen den Blick auf die harten Lebensbedingungen einer Gemeinde in den Strukturen der römisch-hellenistischen Welt, auf die bedrängte Lage von Frauen, Kindern, der Armen und Versklavten und eröffnen zugleich ein Verständnis für die Attraktivität der Botschaft des Evangeliums. Die Menschen erfahren sich in ihrer Gemeinschaft als messianischer Körper, der ihnen die Würde als Gottes Geschöpfe zuspricht und eschatologische Visionen von der gerechten Welt Gottes entwickeln lässt.

Die theologischen Grundlagen für diese sozialgeschichtliche Arbeit hat Luise Schottroff bereits 1979 in einem programmatischen Aufsatz dargelegt: „Die Schreckensherrschaft der Sünde und die Befreiung durch Christus nach dem Römerbrief des Paulus“.1 Darin zeigt sie, dass den Aussagen des Paulus zur Sünde, zur Bedeutung der Tora und dem befreienden Handeln Christi eine politische Analyse des Imperium Romanum zugrunde liegt. Die Kraft der Texte entfalte sich dann in besonderer Weise, wenn sie in diesem Kontext gelesen werden und nach der Bedeutung für den Alltag der Menschen in den Städten des Imperiums gefragt wird. Ihre Analyse zeigt, dass der für Paulus leitende Gedanke sei, dass die Sünde über alle Menschen wie über Sklav:innen herrsche und Christus die Befreiung aus dieser Herrschaft bringe. Der Herrschaftsraum der hamartia ist der kosmos, ihr Herrschaftsinstrument der Tod. Für die Ausübung ihrer Herrschaft bediene sie sich des nomos. Nach Schottroff ist damit nicht die Tora gemeint, sondern der Zwang, der es unmöglich mache, den Willen Gottes zu tun. Paulus denke die Weltherrschaft der Sünde in den Dimensionen des Imperium Romanum, die erst von den Glaubenden durchschaut werde. Sie erkennen, dass sich die Weltherrscherin sogar der Tora bedient. Luise Schottroff fragt weiter danach, was die Befreiung aus der Macht der Sünde konkret für die Menschen bedeutet habe. Paulus gehe es nicht in erster Linie um eine Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen, er denke apokalyptisch: Seine Hoffnung richte sich auf Gottes endgültiges Eingreifen, das mit der Auferstehung Jesu bereits begonnen habe. Diese Hoffnung auf einen endgültigen Herrschaftswechsel habe tiefgreifende politische Konsequenzen gehabt. Die Menschen fühlen sich nicht zuerst dem römischen Kaiser als dem Kyrios und seinen Institutionen gegenüber loyal, sondern dem Gott Israels und dem von ihm gesandten Messias.

Mit diesem Deutungsrahmen, in dem sie auch die anderen Briefe des Paulus liest, bereitete Luise Schottroff den Weg für weiterführende Studien sozialgeschichtlicher Exegese im deutschen Kontext und international im Kontext der Studien zur imperiumskritischen Paulusforschung, die aktuell unter dem Stichwort „Paul and Empire“ geführt werden. Von ihr selbst liegen eine Vielzahl von Veröffentlichungen im Bereich sozialgeschichtlicher Bibelauslegung vor.2 2009 hat sie zusammen mit alt- und neutestamentlichen Fachkolleg:innen das „Sozialgeschichtliche Wörterbuch zur Bibel“ herausgegeben.

2.  Christlich-Jüdischer Dialog

Auf die grundlegende Frage, die Luise Schottroff 2013 in der Einleitung stellt: „Wer war Paulus?“ folgt als erstes die Überschrift: „Paulus der Jude“. In ihren Veröffentlichungen wird deutlich, dass der christlich-jüdische Dialog maßgeblich ihr Denken bestimmt. Im Kommentar zum Brief an die korinthische Gemeinde liest sie Paulus konsequent als jüdischen Autor, der seinen theologischen Traditionen treu geblieben ist, als er zum Glauben an Jesus als den Messias Israels kam. Damit positioniert sie sich innerhalb einer international geführten Debatte, die unter dem Stichwort „Paul within Judaism“ jüdisch- und christlich-theologische Forschungen zu Paulus bündelt.3 Ein zentrales Anliegen ihrer gesamten exegetischen Arbeit ist die Überwindung des christlichen Antijudaismus. Im Rahmen einer Theologie nach Auschwitz sieht sie es als wichtige Aufgabe an, antijüdische Stereotype und Denkschemata zu erkennen und Alternativen zu entwickeln – in dem Bewusstsein, dass es im deutschen Kontext bisher keine vollständig nicht-antijudaistische christliche Theologie gibt.

Seit Mitte der 1960er Jahre entstanden in der neutestamentlichen Wissenschaft erste Ansätze, die Schriften des Paulus im Kontext des antiken Judentums zu deuten, die aktuell unter der Überschrift „New Perspective on Paul“ bzw. „Post-New Perspective on Paul“ oder „Paul within Judaism“ diskutiert werden. Für die Debatte im deutschsprachigen Raum war das Buch von Krister Stendahl „Paul among Jews and Gentiles“ (1976) grundlegend, das 1978 unter dem Titel „Der Jude Paulus und wir Heiden“ übersetzt erschien. Dieses Verständnis des jüdischen Paulus nahm Luise Schottroff schon sehr früh auf und entwickelte es in ihrer eigenen Arbeit konsequent weiter.

Ende der 1980er Jahre wurde im Kontext deutschsprachiger Feministischer Theologie die Frage nach dem Antijudaimus in der christlichen Theologie in einer breiten Öffentlichkeit geführt, angestoßen vor allem von jüdischen Theologinnen. Sie kritisierten, dass auch Feministische Theologien unreflektiert antijüdische Stereotype christlicher Theologien fortschrieben, wie z.B. die Darstellung Jesu als dem „neuen Mann“, der Frauen aus einem patriarchalen, frauenunterdrückenden Judentum befreie. Der Band „Von der Wurzel getragen. Christlich-feministische Exegese in Auseinandersetzung mit Antijudaismus“, der 1996 von Luise Schottroff und Marie-Theres Wacker herausgegeben wurde, bildet die daraufhin entstandenen exegetischen Diskussionen und deren Ergebnisse ab. Der von ihr in diesem Buch veröffentlichte Aufsatz stellt Alternativen zum (oft antijüdisch konnotierten) Konstrukt „gesetzesfreies Heidenchristentum“ dar.4 Programmatisch fasst sie diese 2013 in der Einleitung des Kommentars zum ersten Brief an die Gemeinde in Korinth zusammen: „Paulus ist durch seine Berufung nicht Christ geworden, sondern ein göttlicher Bote, der die befreiende Botschaft von der Erweckung Jesus verbreitet. Paulus hat Befreiung vom Tun der Ungerechtigkeit unter der Herrschaft der Sünde verkündet, nicht Befreiung von der Tora und der Erfüllung ihrer Weisungen. Es geht also um die Befreiung zur Tora und nicht von der Tora.“

Luise Schottroff liest nicht nur die Briefe des Paulus, sondern auch die Evangelien im theologischen Kontext des Judentums. In ihrem Buch über die Gleichnisse Jesu, das 2005 erschienen ist und mittlerweile in 3. Auflage 2010 vorliegt, werden die neutestamentlichen Gleichnisse im Vergleich mit rabbinischen Gleichnissen konsequent von ihrem jüdischen Hintergrund her gedeutet.5 Posthum veröffentlicht wurden 2019 ihre Auslegungen zum Matthäus-Evangelium.6

3.  Feministische Exegese

Auch in diesem Forschungsbereich ist Luise Schottroff eine der Pionierinnen. Bereits 1985 stellt sie in einem Aufsatz die Frage: „Wie berechtigt ist die feministische Kritik an Paulus?“7 und analysiert darin eine Reihe von Stellen aus seinen Briefen, in denen explizit von Frauen die Rede ist. Sie plädiert dafür, diese Aussagen im konkreten Kontext der jeweiligen Gemeindesituation auszulegen und die Auslegungsgeschichte (beginnend mit den Pastoralbriefen, über die Alte Kirche bis in die Gegenwart) gesondert zu betrachten. Das war für die Paulus-Rezeption in der Frühphase der Feministischen Theologie nicht selbstverständlich. Denn die Geschichte der Frauendiskriminierung und -unterdrückung im Christentum ist eng verbunden mit der Auslegung der Paulusbriefe, so Schottroff. Viele Frauen haben es deshalb abgelehnt, sich überhaupt mit Paulus, dem „Frauenfeind“ zu befassen, denn das seien „Rettungsversuche unrettbar unterdrückerischer Texte“8. Diese Haltung findet in vielen populären Paulusdeutungen auch weiterhin Nahrung, denn das Klischee des frauen- und körperfeindlichen autoritären Apostels, der gegen das jüdische Gesetz kämpft, hält sich beharrlich im Allgemeinwissen bis in die Gegenwart. Das Resümee von Luise Schottroff im Jahr 1985 war: „Gemessen am Selbstverständnis der Männerkirche und Männertheologie heute war Paulus ein feministischer Vorkämpfer.“ (246) Seitdem hat sich vieles grundlegend verändert, nicht zuletzt dank feministischer Forschungen und ihrer Rezeption in weiteren theologischen und kirchlichen Kontexten. Wissenschaftliche Feministische Exegese ist in der Folgezeit zu einer differenzierten Sichtweise paulinischer Theologie gelangt. In ihrem Überblick über die feministische Paulusforschung resümiert Luzia Sutter Rehmann, dass sich das Interesse verlagert habe: So ginge es nicht länger darum, die verdrängte Geschichte von Frauen in den paulinischen Gemeinden darzustellen, sondern um eine kritische Dekonstruktion androzentrischer Schriften und einen neuen Entwurf des Paulus und seiner Briefe.9

Feministische Theologie war ein wesentlicher Schwerpunkt von Luise Schottroff im Bereich der Forschung und in der universitär-politischen Arbeit, in der sie sich sehr für die Förderung und Vernetzung feministischer Theolog:innen engagiert hat. So war sie 1986 an der Gründung der European Society of Women in Theological Research (ESWTR) beteiligt, einem interreligiösen Netzwerk für Theologinnen aller Fachrichtungen. 1991 hat sie das „Wörterbuch der Feministischen Theologie“ mit herausgegeben, das 2002 eine vollständig überarbeitete und grundlegend erweiterte Auflage erfahren hat. Zu den Standardwerken im deutschsprachigen Bereich gehört auch das 1998 von ihr und Marie-Theres Wacker herausgegebene „Kompendium Feministische Bibelauslegung“, das einen Kurzkommentar mit dem Fokus auf Fragen des Geschlechterverhältnisses zu allen biblischen Büchern, einschließlich Apokryphen und ausgewählten außerkanonischen Schriften bietet. 2012 wurde es in englischer Übersetzung unter dem Titel „Feminist Biblical Interpretation. A Compendium of Critical Commentary on the Books of the Bible and Related Literature” erneut publiziert.

Feministische Theologie war für Luise Schottroff untrennbar mit befreiungstheologisch ausgerichteter Sozialgeschichte und Fragen des christlich-jüdischen Dialogs verbunden, wie exemplarisch ihr 1994 erschienenes Buch „Lydias ungeduldige Schwestern. Feministische Sozialgeschichte des frühen Christentums“ zeigt.10 Im vorliegenden Kommentar greift Luise Schottroff eigene Auslegungen aus früheren Zeiten auf und verändert sie zum Teil grundlegend, wie z.B. die Interpretationen von 1 Kor 11,2-16 oder 1 Kor 14,34-38. An diesen Beispielen zeigt sich, dass sie stets theologisch weitergearbeitet, aktuelle Literatur rezipiert und sich durchaus selbstkritisch mit eigenen Auffassungen auseinandergesetzt hat.

Die drei das Werk von Luise Schottroff prägenden Perspektiven: Sozialgeschichte, christlich-jüdischer Dialog und Feministische Theologie bestimmen auch das Konzept der Bibel in gerechter Sprache (2006.2011), zu deren Mitherausgeber:innen Luise Schottroff gehört. Hier ist sie für die Übersetzung des Matthäusevangeliums und auch des Ersten Briefs an die Gemeinde in Korinth verantwortlich, welche sie in dem vorliegenden Kommentar weiterentwickelt und deren Hintergründe sie ausführlich entfaltet.

Ich selbst habe viele Jahre mit Luise Schottroff zusammengearbeitet und aktuelle Projekte diskutiert. So konnte ich das Entstehen dieses Kommentars kontinuierlich mitbegleiten und freue mich deshalb besonders, dass er jetzt in einer zweiten Auflage erscheint. Eine Übersetzung des Kommentars ins Englische ist zurzeit in Planung, die dessen Rezeption auch international ermöglichen wird. Ich hoffe sehr, dass er auf lange Sicht Leser:innen findet, die sich mit den sorgfältigen, inspirierenden, manchmal überraschenden und immer von tiefer Spiritualität getragenen Auslegungen Luise Schottroffs auseinandersetzen und sich von ihrer Interpretation der Theologie des Paulus begeistern lassen.

Für die Unterstützung bei der Aktualisierung des Kommentars danke ich Dr. Marlene Crüsemann und Prof. Dr. Carsten Jochum-Bortfeld, für die sorgfältige Korrekturarbeit Christine Kötz.

 

Wuppertal, im August 2020
Claudia Janssen

Vorwort

Die Arbeit an diesem Buch hat mich auf eine Entdeckungsreise in die Lebenswelten einer großen römisch-hellenistischen Stadt, Korinth, geführt. Paulus war Reiseführer in die Geschichte der frühen römischen Kaiserzeit. In seinem ersten Brief nach Korinth wird die Härte des Alltagslebens dieser Stadt spürbar, auch die seines eigenen Lebens. Mitten in dieser Stadt hat sich eine widerständige Gemeinschaft von Menschen aus dem jüdischen Volk und den anderen Völkern zusammengefunden, die eine große Vision haben und aus ihr leben. Dies haben sie aus der Tora gelernt: Israels Gott will die Fülle des Lebens für alle Menschen und die ganze Erde. Paulus teilt den Weg dieser Gemeinschaft mit Begeisterung und Leidenschaft. Durch diesen Brief wurde Paulus für mich Quelle der Inspiration: Es ist möglich, selbst unter solchen Bedingungen ein gemeinsames Leben aufzubauen und sich an der Vision der Gerechtigkeit Gottes für die ganze Erde täglich zu orientieren.

Auf dieser Entdeckungsreise hatte ich treue Gefährtinnen, die mit mir die Neugier auf einen anderen Paulus und die Überraschung über unerwartete Entdeckungen teilten. Ohne den kontinuierlichen exegetischen und spirituellen Dialog mit Claudia Janssen wäre dieses Buch nicht entstanden. Marlene Crüsemann hat die Arbeit von Beginn an begleitet, neue Ideen über den zweiten Brief nach Korinth entwickelt – die für das Verständnis von 1 Kor und Paulus insgesamt grundlegend sind –, und zum Schluss hat sie die Mühe einer redaktionellen Gesamtkorrektur auf sich genommen. Ute Ochtendung hat das Manuskript durchweg kompetent betreut. Ihre Unterstützung und Umsicht hat mich immer wieder zu dieser Arbeit ermutigt. Ich habe die große Freude, mit einer Gruppe von fünf Kolleginnen regelmäßig an der Weiterentwicklung von Übersetzungen in der Bibel in gerechter Sprache arbeiten zu können. Dietlinde Jessen, Luise Metzler, Friederike Oertelt, Susanne Paul und Cathrin Szameit teilten mit mir die Überlegungen zur Übersetzung des ersten Briefes nach Korinth ins Deutsche – von den Details der Wiedergabe einzelner Wörter bis hin zu den grundlegenden Fragen der Relevanz solcher Texte für Gemeinden des 21. Jahrhunderts. Unsere gemeinsame Arbeit war und ist inspirierend, ermutigend und immer vergnüglich. Auf den Wegen der „Dönche“ erlebte ich viele Klärungsprozesse im Prozess meiner Arbeit. Ariane Garlichs stellte kreative und herausfordernde Fragen aus der Perspektive von Erziehungswissenschaft und Psychoanalyse.

Die Mitglieder des „Heidelberger Arbeitskreises für sozialgeschichtliche Bibelauslegung“ haben konstruktiv und kritisch Thesen und erste Entwürfe diskutiert. Wie notwendig und weiterführend es ist, das Neue Testament und Paulus aus der Perspektive des Alten Testaments und der Geschichte Gottes mit Israel zu begreifen, wurde für mich in diesen Diskussionen immer deutlicher.

Die Literaturbeschaffung für dieses Projekt lag weitgehend in den Händen des Teams der Landeskirchlichen Bibliothek Kassel, besonders von Herrn Thron. Er hat Berge von Neuerscheinungen, aber auch seltene und ältere Titel aufgespürt. Die Arbeit des ganzen Teams war eine große Unterstützung für mich. Benjamin Porps kam auch bei Schnee und auf vereisten Straßen mit dicken Fahrradtaschen voller Bücher zu mir. Auf seine bibliographische Kompetenz konnte ich mich verlassen. Mein herzlicher Dank gilt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Kohlhammer Verlages, besonders Herrn Florian Specker vom Lektorat, der auch die Bildnachweise erarbeitet hat.

Ich danke allen, die mich auf diesem Weg begleitet haben, von Herzen. Es war eine wunderbare Zeit.

 

Kassel, 2012
Luise Schottroff

Einleitung: Wer war Paulus?

In diesem Kommentar stelle ich den ersten Brief des Paulus an die Gemeinde in Korinth aus sozialgeschichtlich-theologischer Perspektive dar.1 Ich möchte meine Sicht auf Paulus, die sich bei der Arbeit daran entwickelt und geschärft hat, in fünf Schritten kurz darstellen. Dabei verweise ich jeweils auf die Textstellen in 1 Kor, bei denen in dem vorliegenden Kommentar weiteres Material zur Sache gefunden werden kann.

1.  Paulus, der Jude

Paulus ist als Jude geboren, hat jüdisch gelebt und gearbeitet bis zu seinem Tod. Am Beginn seiner Arbeit für das befreiende Evangelium steht seine Berufung durch Gott. Diese Berufung war Paulus so wichtig, dass er in seinen Briefen vielfach auf sie Bezug nimmt, auch in 1 Kor (1,1; 15,8–10; 9,1.16–27 u. ö.). Durch die Berufung hat er den göttlichen Auftrag bekommen, besonders unter den unterdrückten Völkern des römischen Reiches, den ethne (s. zu 1,22–24), die Botschaft bekannt zu machen, dass der Gott Israels Jesus von den Toten erweckt hat. Jesus war ein jüdischer Mensch, der von Rom weniger als zwanzig Jahre zuvor hingerichtet wurde (s. zu 1,17.18; 2,6–8). Dass Gott diesen Hingerichteten erweckt hat, bedeutet, so verkündet es Paulus, dass die Welt nicht mehr der Herrschaft lebensfeindlicher Gewalten ausgesetzt ist. Gott hat den Todesstrukturen eine Grenze gesetzt. Gott hat damit das Volk Israel und die Völker (ethne) aus der Sklaverei befreit (15,20–22). Diese Sklaverei beschreibt Paulus als Herrschaft des Todes (3,22; 15,22.26.56), als Herrschaft der Sünde (15,56) und der Welt (kosmos 3,22). Diese Mächte zwingen die Menschen, als Mittäter und Mittäterinnen an ihrer Ungerechtigkeit teilzuhaben und sie in ihrem Leben zu praktizieren, d. h. die Tora nicht zu halten (6,9–11; 5,10–11). Politische Analyse und mythische Vorstellungen von weltbeherrschenden dämonischen Mächten fließen hier ineinander.

Sowohl mit der Vorstellung von Berufung als auch mit der von der Herrschaft der Sünde bewegt sich Paulus innerhalb der Traditionen des Judentums. Die Verzweiflung über die Weltmacht Sünde, die jeden und jede versklavt, ist z. B. Thema im 4. Esrabuch (zu Sünde s. Basisinformation bei 9,20). Für die Tradition, in der seine Berufung steht, verweist Paulus auf die prophetischen Bücher (s. zu 1,1). Erst unter dem Einfluss der Abgrenzung des Christentums vom Judentum ab dem zweiten Jahrhundert wurde diese Berufung als Beginn eines vom jüdischen Gesetz befreiten christlichen Lebens verstanden, also als „Bekehrung“. Dieser Begriff ist jedoch dem gegenüber, was Paulus selbst sagt, unangemessen. Paulus ist durch seine Berufung nicht Christ geworden, sondern ein göttlicher Bote, der die befreiende Botschaft von der Erweckung Jesu verbreitet.

Paulus hat Befreiung vom Tun der Ungerechtigkeit unter der Herrschaft der Sünde verkündet, nicht Befreiung von der Tora und der Erfüllung ihrer Weisungen. Es geht also um Befreiung zur Tora, nicht von der Tora (s. zu 7,19.20).

Der erste Brief des Paulus nach Korinth ist insgesamt als Auslegung der Tora primär für Menschen aus den Völkern zu verstehen, die sich dem Gott Israels und seinem Messias zu eigen gegeben haben. Sie verstehen sich selbst nicht als jüdisch. Von jüdischer Seite werden sie als Menschen aus den Völkern (ethne) gesehen und in das breite Spektrum nichtjüdischer Menschen, die jüdisch leben, eingeordnet. In der römisch-hellenistischen Gesellschaft hingegen und vonseiten römischer Behörden wurden sie wohl meist wie Juden und Jüdinnen behandelt. Der Brief gehört in die Geschichte jüdischer Schriftauslegung für die Gegenwart (Halacha; s. z. B. zu 10,1–13; 5,1–11) im ersten Jahrhundert.

Es wurde oft gefragt, ob Paulus mit seiner Vorstellung von der Bedeutung des Messias Jesus nicht bereits den Rahmen des Judentums gesprengt habe. Obwohl dies verbreitet angenommen wird, bleibt Paulus auch in seiner „Christologie“ im Rahmen jüdischer Vorstellungen seiner Zeit. Entscheidend ist für ihn das Sch’ma Israel / Höre Israel, Israels Gott ist einzig (s. 8,5–6). Für ihn verkörpert Gottes Messias mit seinem Leib und mit seinem ganzen Leben göttliches Handeln in der Welt des Volkes Israel und der Völker. Es gibt in seinen Schriften keine Ansätze, den Messias in irgendeiner Weise zu vergöttlichen (s. zu 8,5–6). „Messias“ ist als ein verkörpertes Handeln Gottes vorgestellt, weniger als eine einzelne Person, die von anderen Menschen abgegrenzt wird (s. zu 10,4). Die Annahme, dass das Wort „Messias“ in der ins Griechische übersetzten Form Christos / Gesalbter bei Paulus schon auf dem Wege sei, ein Eigenname zu werden, entspricht nicht seinem Umgang mit dem Wort. Für ihn ist es kein Name; wenn Paulus Christus / Messias sagt, spricht er von Gottes Gegenwart, die die Menschen aus der Sklaverei der Todesstrukturen befreit.

2.  Paulus und der Messias

Der Messias ist von Gott erweckt worden, als die Weltmacht Rom ihn gekreuzigt hatte. Als Paulus von Gott für das Evangelium der Völker berufen wurde, begann er seinen Weg als Beauftragter Gottes, als Apostel (s. zu 1,1). Er versteht seinen Auftrag als Teil eines weltweiten Geschehens (s. 16,5–9), als Teil der Arbeit in einem Netzwerk, zu dem immer mehr Menschen gehören. Es geht ihm nicht darum, eine Kirche oder Religion zu stiften, sondern darum, die Befreiung von der Sklaverei des Todes und der Sünde in der damaligen Welt ausbreiten zu helfen. Für ihn geschieht diese Ausbreitung, wo Menschen sich zusammentun und gemeinsam in der Tora forschen, wie ihr Weg zur Gerechtigkeit Gottes aussehen kann. Der Begriff „Mission“ ist nur verwendbar, wenn er von dem Anspruch, einer Institution oder einer Lehre zur Macht zu verhelfen, freigehalten wird.

Mit der Erweckung des gekreuzigten Jesus hat Gott dem Tod und der Gewalt ein Ende gesetzt. Diese Botschaft ist Grundlage des Evangeliums, wie Paulus es in die Mittelmeerwelt trägt. Das römische Reich setzte seine Herrschaft durch offene und subtile Gewalt durch. Zu dieser Gewalt gehörten Kreuzigungen als Mittel der politischen Abschreckung, aber auch „Spiele“, d. h. Massenveranstaltungen in vielen Städten, in denen Menschen gefoltert und getötet wurden (s. 4,9). Die Massen sollten eine scheinbare Mitwirkung an großen Entscheidungen über Tod und Leben erleben und der Gewalt in den Arenen zujubeln. Wer diese Zustimmung zur Gewalt nicht mitmachte, war gefährdet, von Rom verfolgt zu werden. Die Angst vor Verfolgung hatte deshalb auch Menschen, die bereits zu den Gemeinschaften des Gottes Israels (ekklesiai theou) gehörten, dazu gebracht, die Kreuzigung ihres Befreiers zu verleugnen, also das Wort vom Kreuz zu verschweigen (s. 1,17.18), und ebenso auch die Auferweckung des Messias. Rom hatte bereits vor dem Auftreten des Juden Jesus, der von vielen Menschen als Gottes Befreier / Messias angesehen wurde, messianische Bewegungen verfolgt (s. Basisinformation vor 15,1). Paulus kämpft dafür, dass die Gemeinden Gottes in der Frage ihrer Zugehörigkeit zu einem Gekreuzigten, der von Gott zum Messias gemacht wurde, eindeutig blieben. Denn die Versammlung oder Gemeinde Gottes versteht er als Körper des Messias in dieser Welt. Die Vorstellung vom kollektiven Körper, mit dem Gott in der Welt handelt, ist nicht metaphorisch zu verstehen (s. zu 12,12.27). Die Gemeinde verkörpert mit allen ihren Gliedern den Messias und handelt messianisch, nach innen und nach außen. Sie nennt die Gewalt öffentlich beim Namen und baut eine Gemeinschaft auf, die Gottes Gerechtigkeit verwirklicht. Die Gerechtigkeit befreit die Sexualität aus ihrer Gewaltförmigkeit (s. 6,12–20; 7,1–40), sie gibt den Armen gleiche Rechte und unterbindet Privilegien der Reichen auf Kosten anderer Menschen (1,26–31; 11,17–34). Auch Frauen erhalten gleichrangige Würde mit Männern (s. 11,2–16). Die ethnische Vielfalt, die vielen Muttersprachen der Gemeindeglieder sollen nicht zugunsten der Verkehrssprache verschwiegen werden. Es wird um eine Form gerungen, wie sie öffentlich neben der Prophetie (in der Verkehrssprache) in der Gemeinde gehört werden können (Basisinformation bei 14,1).

Der Körper des Messias, Jesu Körper, und die einzelnen Körper der Menschen sind Ort der Gegenwart Gottes (11,23; 12,12.27; 6,19). Im Abendmahl sind diese unterschiedlichen Dimensionen des Begriffs „Leib Christi“ (soma Christou) untrennbar miteinander verbunden. Das Abendmahl ist der Ort der immer wieder erneuerten Vergegenwärtigung der körperlichen Gegenwart Gottes und des Messias.

3.  Paulus unter seinen Geschwistern

Paulus versteht sich als ein Ausleger der Tora in Gemeinschaft. Auch die Menschen aus den Völkern haben schnell große Kompetenz erworben, die Tora zu kennen und für ihr Leben in der Gemeinschaft des Leibes Christi auszulegen. Paulus hatte Anteil an diesen Auslegungsgemeinschaften. Er bekommt keine Sonderrechte (s. 5,3–5), wenn die Versammlung auf der Grundlage der Tora Entscheidungen fällt.

Paulus war nicht der einzige von Gott gesandte Bote des befreienden Evangeliums. Seine Briefe sind meist mit anderen Menschen gemeinsam geschrieben (s. 1,1) und enthalten vieles von der Sprache der Gemeinden, ihren Gebeten und Diskussionen. Paulus „hatte“ nicht „Mitarbeiter“, die er dirigierte, sondern arbeitete mit anderen Geschwistern gemeinsam für das Evangelium (16,1–24). Im Leib Christi sollte es keine Beziehungen von oben nach unten geben. In der Auslegungsgeschichte ist Paulus vielfach als Gestalt, die Macht über andere hat, die Lehrdifferenzen mit Autorität entscheidet und die Gemeinde „ermahnt“ (s. 1,10), verstanden worden. Diese Paulusdeutung hat sein Bild nachhaltig geprägt – gerade auch durch entsprechende Wortwahl in Bibelübersetzungen. So wurde er zur Identifikationsfigur für Leitungsleute, die Herrschaft in der Kirche beanspruchten. Zugleich aber verbreitete dieser Paulus auch Furcht und Abwehr bei denen, die unter Hierarchien litten und an gerechten Beziehungen in der Kirche arbeiteten.

Frauen in den Gemeinden waren für Paulus gleichwertige Arbeiterinnen für das Evangelium. Aber wenn es um Frauen und ihre Sexualität und Beziehungen zum anderen Geschlecht geht, wird seine Ambivalenz ihnen gegenüber sichtbar. Er will zwar nicht, dass messianische Männer zu Prostituierten gehen. Die Prostituierten selbst bleiben dabei für ihn aber nahezu unsichtbar. Und es bleibt unsichtbar, dass ein relevanter Teil der Gemeinden aus Frauen besteht, die ihren Lebensunterhalt ganz oder teilweise durch Prostitution verdienen mussten. Für die Paulusrezeption im 21. Jahrhundert sollte eine Wiederentdeckung des Bruders Paulus begleitet sein von der offenen Aussprache über seine Ambivalenz in bestimmten Fragen. Paulus verbreitete auch Vorstellungen, die in der Geschichte der Kirche und der von ihr beeinflussten Gesellschaften Frauen und Männer unterdrückt und gequält haben. Das gilt besonders für Menschen, die gleichgeschlechtlich leben (6,9), und für Frauen in patriarchalen Ehen (7,10.36). Die unterdrückerische Seite des Paulus ist durch die Auslegungstradition noch zusätzlich verstärkt worden. Die Kritik an Paulus sollte in den Gemeinden des 21. Jahrhunderts, auch in Gottesdiensten, besprochen werden.

4.  Der Alltag in den Städten des römischen Reiches

Paulus redet relativ häufig von seinen eigenen Lebensbedingungen. Er muss hart arbeiten, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er ist vor allem auf seinen endlosen Fußmärschen durch die Weiten der nördlichen Mittelmeerländer Gefahren ausgesetzt (4,12; 16,5–9). Er ist zudem andauernd in politischer Gefahr. Als Fremder braucht er Schutz in den Städten. Römische Behörden in den Städten und z.T. auch die Bevölkerung sind schnell bereit, Verkünder eines Gottesfriedens, der sich von dem Frieden der pax romana grundlegend unterscheidet, zu verfolgen, verprügeln, zu verhaften und mit dem Tod zu bedrohen (4,11–13).

Die Lebensbedingungen der Mehrheitsbevölkerung in den Städten werden in vielen Einzelheiten dieses Briefes erstaunlich deutlich. Paulus redet von Armut und von mangelnder Bildung (1,26–31). Er kritisiert die Rhetorik der öffentlichen Veranstaltungen (2,1–5) und wohl auch die Prügel für Kinder in den Schulen (4,21). Er spricht sachkundig über Architektur (3,9–17), über Gerichtsbarkeit und über die Vielsprachigkeit der Städte und ihre Probleme (14). Viele Aspekte des antiken Stadtlebens lassen sich in diesem Brief entdecken. Erschütternd ist dabei die Präsenz der Gewalt im Alltag, vor allem der Gewalt in den Massenveranstaltungen (4,9–13) und im Umgang mit Sklavinnen und Sklaven (7,21–24).

Dieser Brief ist geschrieben, um Geschwistern Mut zu machen – durch Toraauslegung, die auf diesen Alltag bezogen ist, und durch den Lobpreis des Gottes Israels. Die ersten Kapitel des Briefes zeigen, wie mühselig es für die Gemeinde ist, sich aus den eigenen Mittäterschaften und Verwicklungen herauszuarbeiten, aus Konkurrenzverhalten, gewohnter Unterordnung unter vielfältige Herrschaften und der Normalität von Gewalt in den sexuellen Beziehungen. Selbst beim Abendmahl versuchen noch einige ihre gewohnten Privilegien auszuleben. Die Gratwanderung zwischen den öffentlichen Kulten der Stadt, die Kapitel 8 und 10 deutlich machen, ist beeindruckend. Ab Kapitel 12 redet Paulus dann weniger von den Schwierigkeiten im Alltag, sondern vor allem von den Reichtümern, mit denen Israels Gott die unterdrückten Völker in dieser Situation beschenkt hat. Sie sollen gewiss sein, dass Gott den Todesstrukturen ein Ende gesetzt hat, als er Jesus von den Toten erweckte. Sie können sich freuen an neuen Begabungen, an der Kompetenz, Tora auszulegen, der Fähigkeit Kranke zu heilen und öffentlich zu sprechen. Alles dieses sind Gaben, die Gottes Geist erweckt und wachsen lässt.

5.  Paulus, der Mystiker

Gottes Geist, die heilige Geistkraft, wohnt in den Körpern der Menschen, die Gott angehören (6,19). Paulus spricht im Plural, wenn er von den Erfahrungen mit Gottes Geistkraft spricht: „Wir“ alle, die ganze Gemeinde, sind in der Lage Weisheit, die Gott offenbart, in Worte zu fassen, ja sogar öffentlich darüber zu reden (2,6–10). Aber „wir“, die Gemeinde, sprechen auch die Sprache der Engel (13,1; 2,6–16) und erforschen die verborgenen Tiefen Gottes. Die Sprache, mit der Paulus über den göttlichen Geist spricht, ist maßlos („alles“ z. B. 13,7) und begeistert. Paulus erzählt ähnlich von seinen eigenen Gotteserfahrungen (15,8–10; 2 Kor 12,2–5). Aber er beschränkt diese ekstatische Gotteserfahrung, die das ganze Leben verändert, nicht auf sich oder einen kleinen Personenkreis. Die paulinische Mystik ist eine demokratisierte Mystik (13,1–13).

Die messianische Gemeinschaft in Korinth besteht mehrheitlich aus wenig gebildeten, aus schwer arbeitenden und von Gewalterfahrungen verletzten Menschen. Welcher Kontrast zwischen diesem überbordenden Gottvertrauen und ihrer Lebenswirklichkeit! Die Gotteserfahrung, die Sicherheit, dass Gottes Geist in ihnen wohnt, war ihre Kraftquelle. Paulus hat ihnen nicht eine neue „Lehre“ gebracht. Er und andere Männer und Frauen haben Menschen gelehrt, in der Tora und in ihrem Leben nach Gott zu forschen und aus dieser Quelle Kraft zu schöpfen.

 

Der erste Brief nach Korinth liest sich mühselig, wenn er auf der Suche nach Gegnern, Streit und Lehrauseinandersetzungen gelesen wird. Der Brief verwandelt sein Gesicht, wenn man vom Beginn an die Sprache der Begeisterung und des Glücks über den großen Reichtum hört und ernst nimmt. 1,4–9 ist nicht eine in Briefen stereotype Danksagung, sondern ein in Anrede an die Geschwister verwandeltes Gebet des Lobpreises. Keine Begabung fehlt euch! (1,7) Ist das höfliche Übertreibung, taktisches Gerede? Es wäre schade um den Reichtum, der bei solcher Lektüre unentdeckt bliebe. Bereits dieser erste Abschnitt des Briefes ist geprägt von Wörtern, die Fülle, ja sogar Maßlosigkeit ausdrücken: Ihr seid reich – in jeder Hinsicht (1,5), an allem. Diese Sprache durchzieht den Brief; es lohnt, sich auf eine eigene Spurensuche nach dem Mystiker Paulus zu begeben, nach den Mystikerinnen und Mystikern in Korinth, einer messianischen Gruppe dieser Hafenstadt Griechenlands Mitte des 1. Jahrhunderts.