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Heinrich Mann

Zwischen den Rassen

Roman

Heinrich Mann

Zwischen den Rassen

Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2021
EV: Albert Langen, München, 1907
1. Auflage, ISBN 978-3-962818-39-5

null-papier.de/711

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Inhaltsverzeichnis

An­mer­kun­gen zur Be­ar­bei­tung

Ers­ter Teil

I

II

III

Zwei­ter Teil

I

II

III

IV

V

Drit­ter Teil

I

II

III

IV

V

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

 

Ihr
Jür­gen Schul­ze

Anmerkungen zur Bearbeitung

Schreib­wei­se und In­ter­punk­ti­on des Ori­gi­nal­tex­tes wur­den über­nom­men; of­fen­sicht­li­che Druck­feh­ler wur­den kor­ri­giert.

Die Or­tho­gra­fie wur­de der heu­ti­gen Schreib­wei­se be­hut­sam an­ge­gli­chen.

Grund­la­ge die­ser Ver­öf­fent­li­chun­gen bil­den fol­gen­de Aus­ga­ben:

Erster Teil

I

Die Schwar­zen, die das Pferd am Zaum ge­führt hat­ten, muss­ten ihre Her­rin auf­fan­gen: ihr ward schwach – und dann lag sie in Far­ren1 ver­steckt; ein Pal­men­blatt ward be­wegt über ih­rem dun­keln Schei­tel; der große, hell­haa­ri­ge Mann beug­te sich zu sei­ner blei­chen Ge­fähr­tin, und das Kind kam zur Welt. Die Bäu­me des Ur­wal­des stan­den starr und über­mäch­tig da­ne­ben. Dor­ther, wo er sich lich­te­te, kam das Schla­gen des Ozeans, und von drü­ben, aus der Fins­ter­nis das wil­de Ge­schrei der Pa­pa­gei­en und der Brüll­af­fen.

Das Kind lern­te spre­chen von sei­ner schwar­zen Amme und lau­fen auf dem Sand zwi­schen Wald und Meer. Vom Ran­de des Mee­res hol­te es Mu­scheln, die es von großen Stei­nen lös­te; und am Wald­saum ern­te­te es ab­ge­fal­le­ne Ko­kos­nüs­se: dar­aus zo­gen ihm die Die­ner mit glü­hen­den Spie­ßen die süße Milch. Gro­ße, zucke­ri­ge Früch­te hin­gen über­all bei sei­nen Händ­chen; im Gar­ten er­trank es in Blu­men, und als gol­de­ne Fun­ken schos­sen Ko­li­bris um sei­nen Kopf.

Dann ward Brü­der­chen Nene groß ge­nug, dass sich mit ihm spie­len ließ. Man such­te zwi­schen Mau­er­rit­zen nach den win­zi­gen run­den Ei­dech­se­nei­ern und den Nat­ter­nei­ern, rund und weich. Vom Schwanz des Gür­tel­tie­res brach­ten ei­nem die Ne­ger die kleins­ten Rin­ge: da­mit schmück­te Nene der Schwes­ter und sich selbst alle Fin­ger; und dann fuhr man in ei­nem Zu­ber den Bach hin­ab, und die schwar­zen Ku­ru­bus auf ih­ren Bü­schen sa­hen ei­nem, über ihre feu­er­ro­ten Krumm­schnä­bel hin­weg, ho­heits­voll nach.

Und man er­leb­te in der Haupt­stadt den Tro­pen­re­gen: in den Stra­ßen fuh­ren Ka­nus, und un­abläs­sig muss­ten die Schwar­zen mit Schau­feln das Was­ser aus den Zim­mern sto­ßen – und den Kar­ne­val! An der Ja­lou­sie­tür saß man auf ei­nem Stühl­chen, über dem Ge­wim­mel der Mas­ken, und die schö­ne Mama warf Wachs­bäl­le hin­ab: die platz­ten und tränk­ten die bun­ten Trach­ten mit flüs­si­gem Duft. Aber aus ei­ner Mu­schel, die ein ganz ro­ter Mann an den Mund setz­te, fuhr ein so schreck­li­cher Ton, dass man ihn nicht er­tra­gen konn­te, son­dern sich mit sei­nem Stuhl zu­rück­warf und auch Nene mit um­riss.

Und auf der Gro­ßen In­sel – das Haus der Gro­ß­el­tern schwamm im Duft der Oran­gen­blü­ten – sog man in­mit­ten ei­nes Hee­res ern­ten­der Ne­ger an ei­nem Stück­chen Zucker­rohr. Und zit­tern­den, schrei­en­den Lau­fes kam man von ei­ner Be­geg­nung mit der Boa heim! Und schau­te, mit al­len schwar­zen, gel­ben und wei­ßen Kin­dern der Pflan­zung, er­reg­ten Au­ges und ju­belnd zu, wie der Groß­va­ter vie­le Pa­pi­er­röll­chen an­zün­de­te und sie in wei­ten, leuch­ten­den und zi­schen­den Bö­gen über das Meer schoss. Das Meer schob ei­nem lan­ge, laue Schlan­gen über die blo­ßen Füß­chen; im Hemd­chen, das ein Gür­tel en­ger schloss, fing sich ein Stoß war­men Nacht­win­des; und hob man den Blick, schwin­del­te es ei­nem, so voll war er auf ein­mal von Ster­nen!

Es war herr­lich: man war wie alle an­de­ren Kin­der – und doch nicht ganz so. Vor­neh­mer war man. Man hat­te blon­des Haar; nicht ein­mal Nene hat­te es; und die schwar­ze Anna war sehr stolz dar­auf und konn­te nicht ge­nug Lo­cken dar­aus wi­ckeln. Man hat­te auch einen blon­den Papa: wer hat­te den noch? Und kam er zu Be­such auf die In­sel der Gro­ß­el­tern, und ging man an sei­ner Hand um­her: viel grö­ßer war er als alle Men­schen und im­mer ernst – und sah man alle ihn be­wun­dern, dann durch­rann einen selbst ein Schau­er von stol­zer und ehr­fürch­ti­ger Lie­be.

Da aber – was be­deu­te­te dies? – saß ei­nes Nach­mit­tags im Saal, wo Groß­mut­ter klöp­pel­te, Mama, die schö­ne Mama, und wein­te, ja, wein­te laut. Kaum aber hat­te sie ihr klei­nes Mäd­chen er­blickt, stürz­te sie dar­auf los, riss es an sich, fiel vor ihm auf die Knie, rief und rang das Schluch­zen nie­der:

»Lola! Mei­ne Lola! Sag: bist du nicht mein?«

Mit ei­nem Fin­ger vor den Lip­pen, er­schro­cken fra­gend sah das Kind nach der Groß­mut­ter: die saß da, gra­de und streng wie im­mer, und klöp­pel­te.

»Bist du nicht mein?« fleh­te die Mut­ter.

»Ja, Mai.«

»Man will dich mir weg­neh­men. Sag’, dass du nicht willst! Hörst du? Du willst doch nicht fort von mir, von uns al­len?«

»Nein, Mai. O Gott! Wo­hin soll ich? Ich will da­blei­ben: bei Pai, bei dir, bei Anna! Die Lui­zia­na hat mir ein klei­nes Kanu ver­spro­chen; mor­gen bringt sie es!«

Aber schon am Abend war­te­te auf die klei­ne Lola ein großes Kanu. Die schö­ne Mai lag in ei­ner Ohn­macht; Nene hing schrei­end an Lo­las Kleid – aber ein Schwar­zer mach­te sie los, trug sie, und die Ärm­chen der Ge­ängs­te­ten würg­ten ihn, ans Was­ser, setz­te vor­sich­tig sei­nen nack­ten Fuß von ei­nem der großen über­flu­te­ten Stei­ne auf den nächs­ten … Das Meer bran­de­te wü­tend; zer­ris­se­ne Fins­ter­nis flat­ter­te um­her, und manch­mal warf ein Stern ein bö­ses Auge her­ein. Nun ward das Kind ins Boot ge­legt; es hat­te nicht ge­schri­en, es wein­te un­hör­bar im Fins­tern. Die Schwar­zen ru­der­ten schwei­gend, und das Kiel­was­ser leuch­te­te fahl, als sei es die Spur ei­nes Ver­bre­chens.


  1. Farn  <<<

II

An Bord des großen Dampf­schif­fes, auf das Lola ge­bracht ward, stan­den Pai und die schwar­ze Anna. Welch Wie­der­se­hen! Dann:

»Pai, ist es wahr, dass wir ganz weg­fah­ren? Und Mai? Und Nene? Und wo­hin fah­ren wir denn?«

Herr Gu­stav Ga­bri­el fuhr mit sei­ner klei­nen Toch­ter nach Hau­se, weil sie eine Deut­sche wer­den soll­te.

Mit neun­zehn Jah­ren war er her­über­ge­kom­men und hat­te sich be­geis­tert ein­ge­lebt. Bis zu sei­nem drei­ßigs­ten Jah­re be­rühr­te ihn nie­mals Sehn­sucht nach sei­nem Va­ter­land. Er dach­te sei­ner wie an et­was Klein­li­ches und Be­drück­tes, mach­te ihm auf ei­ner Eu­ro­parei­se einen spöt­ti­schen Be­such, fühl­te sich mit Stolz als Bra­si­lia­ner … Ei­nes Ta­ges be­kam er zu spü­ren, dass er’s nicht sei. Er hat­te ge­schäft­li­che Ein­bu­ßen er­lit­ten, was zu De­mü­ti­gun­gen führ­te von Sei­ten sei­ner Freun­de und der Fa­mi­lie sei­ner Frau. Er sah sich plötz­lich al­lein und ihm ge­gen­über eine gan­ze Ras­se, de­ren für im­mer un­zu­gäng­li­che Fremd­heit er auf ein­mal be­griff. Nun fing er an, auf das Land sei­ner Her­kunft als auf eine Macht zu po­chen, sich selbst als Er­zeug­nis ei­ner Kul­tur zu füh­len, von de­ren Höhe sei­ne Um­ge­bung nichts ahn­te. Bei der Um­schau nach Bun­des­ge­nos­sen be­geg­ne­te er den Bli­cken sei­ner Kin­der. Auch die­se soll­ten in Sit­ten und Spra­che ei­nes nied­ri­ge­ren Vol­kes er­wach­sen? Sei­ne Fein­de wer­den? Die Lau­te, die ihm in herz­li­chen Stun­den ka­men, die er von sei­ner Mut­ter er­lernt hat­te, sie soll­ten sie nie ver­ste­hen? Er hat­te sie, wenn er ih­nen deut­sche Ko­sen­a­men gab, sich an­bli­cken und lä­cheln ge­se­hen … Das soll­te an­ders wer­den! Ihr Va­ter­land war nicht die­ses, und er woll­te sie ihm zu­rück­ge­ben! Mit dem Jun­gen wür­de es viel­leicht schwer ge­hen: die Nach­fol­ge im hie­si­gen Ge­schäft ward ihm be­rei­tet – aber sei­ne Toch­ter! Er er­blick­te sich schon mit ihr in dem Gar­ten, worin sein El­tern­haus stand. Dort woll­te er einst en­den. Er sah sich den Weg zum Tor des Städt­chens ge­hen, und an sei­ner Sei­te ein blon­des jun­ges Mäd­chen: sei­ne Toch­ter. Sie war blond; sie war sein Kind und eine Deut­sche. Er nahm sie für sich al­lein; moch­te sei­ne Frau – wie fremd sie ihm ei­gent­lich ge­blie­ben war! – sich an dem Jun­gen schad­los hal­ten, sei­ne Toch­ter soll­te ihn ver­ste­hen ler­nen, soll­te in sol­cher Rein­heit und Ge­die­gen­heit le­ben, wie man nur zu Hau­se leb­te. Sie soll­te nach Haus.

Nie war Pai so zärt­lich ge­we­sen mit Lola! Üb­ri­gens soll­te sie bald zu­rück; und Mai und Nene wür­den sie be­su­chen, dort, wo­hin sie fuh­ren. Sol­che Fahrt war lus­tig: sie soll­te se­hen.

Vor­läu­fig ward ihr sehr übel; es dau­er­te drei Tage; aber Pai selbst pfleg­te sie; er selbst tat al­les, was Anna hät­te tun müs­sen. Zwi­schen ih­ren Kri­sen lag Lola in al­ler Er­schöp­fung ganz glück­lich da; und wenn sie ihre Hand in Pais schob, war ih­r’s, als sei sie selbst ganz in Pais Hand ge­schlüpft.

Dann konn­te sie auf­ste­hen und zu­se­hen, wie die Ma­tro­sen Fi­sche her­auf­zo­gen: einen Fisch so­gar mit ei­nem lan­gen Sä­bel an der Nase!

Da aber nah­te je­mand mit ei­nem Was­ser­schlauch und be­spritz­te alle Kin­der. Man moch­te sich hin­ter dem Schorn­stein ver­ste­cken oder in ei­ner Tau­rol­le: über­all trieb der Strahl einen wie­der her­vor, es war ein angst­vol­les Ver­gnü­gen. Die durch­näss­ten klei­nen Mäd­chen kreisch­ten, und die Da­men und Her­ren freu­ten sich laut, dass sie tro­cken wa­ren. Über­haupt war es zum Er­stau­nen, wie lus­tig alle wa­ren, wie freund­lich mit­ein­an­der und mit Lola. Es schi­en, sie hat­ten nichts an­de­res zu den­ken, als wen sie jetzt er­freu­en woll­ten. Nie hat­te Lola so vie­le lie­be Men­schen ge­se­hen. Ei­ner war da, der al­len Kin­dern Scho­ko­la­de schenk­te und or­dent­lich fleh­te, bis man sie nahm. Selbst Pai war sel­ten mehr ernst. Und Meer und Him­mel strahl­ten un­aus­lösch­lich.

Den­noch ge­riet man noch­mals in grau­es Was­ser mit Wol­ken dar­über und ward arg ge­schau­kelt. Doch Lola focht das nicht mehr an; und Pais Man­tel, un­ter dem sie auf Deck lag, war, wenn sie mit ih­ren Kni­en ein Dach mach­te, so gut wie ein ei­ge­nes Haus; die Sturz­wel­len moch­ten dar­über hin­ge­hen. Auch ward bald aus­ge­stie­gen – alle wa­ren viel erns­ter ge­wor­den – und Lola fand sich mit Pai und Anna in ei­ner großen, nicht schö­nen Stadt, in de­ren Stra­ßen man sich müde lief. Im­mer­hin gab es Spiel­sa­chen, wie sie da­heim nie wel­che ge­se­hen hat­te, und Pai kauf­te ihr so vie­le, dass sie sich wun­der­te. Ei­nes Mor­gens dann eine Fahrt mit der Bahn: und da wa­ren sie in ei­nem selt­sa­men Städt­chen mit höck­ri­gen Häu­sern und mit Gas­sen, die über Ber­ge klet­ter­ten und rutsch­ten – und ge­lang­ten in ei­nem rie­si­gen schau­keln­den Wa­gen vors Tor und an ein Haus, dar­aus sprang hur­tig eine klei­ne alte Frau her­vor, lief auf Pai zu und hüpf­te ihm an den Hals. Lola war er­schro­cken, denn Pai wein­te. Wie war das mög­lich? Da griff aber die alte Frau ihr selbst un­ters Kinn und zog Lo­las Ge­sicht ganz dicht zu ih­rem, bis in das Wim­pern­fä­cheln ih­rer Au­gen, die sehr gü­tig blick­ten. Aber was woll­te sie? Sie re­de­te so viel Un­ver­ständ­li­ches. Lola sah fra­gend auf Pai; und in­des sie ins Haus gin­gen, er­klär­te Pai ihr, dies sei sei­ne Mama, und heu­te feie­re sie ih­ren Ge­burts­tag, und er brin­ge ihr Lola zum Ge­schenk.

Im Hau­se roch es nach Ku­chen und Blu­men; Pais Brü­der wa­ren da und um­arm­ten ihn. Sie ga­ben Lola die Hand; ei­ner ließ sich von Pai et­was ins Ohr sa­gen, und dann wünsch­te er Lola in ih­rer Spra­che Will­kom­men. Sie lach­te über ihn. Al­les wäre gut ge­we­sen, da aber kam die neue Groß­ma­ma aus lau­ter Herz­lich­keit auf den Ge­dan­ken, die Arme um Lo­las Hüf­ten zu le­gen und vor ihr auf die Knie zu fal­len. Lola hat­te plötz­lich ein zum Wei­nen ver­zerr­tes Ge­sicht. Alle stie­ßen Fra­gen aus, und Pai über­setz­te:

»Was ist dir?«

»Nichts, Pai.«

Lä­chelnd und stam­melnd:

»Ich dach­te an et­was.«

Gra­de so hat­te, am letz­ten Tage, die schö­ne Mai vor Lola ge­le­gen, aber in Trä­nen und Jam­mer. Lola dach­te: »Ist es wahr, dass ich bald zu ihr zu­rück darf?«

Ei­ner der On­kel hei­ter­te sie auf: er klatsch­te in die Hän­de, und sie muss­te vor ihm da­von­lau­fen. Sie tat es aus Ge­fäl­lig­keit und lä­chel­te höf­lich, wie er sie fing. Nun spiel­ten alle mit und woll­ten sich ver­ste­cken, und der lus­ti­ge On­kel soll­te sie su­chen. Man zeig­te Lola ein sehr gu­tes Ver­steck: hin­ter ei­nem klei­nen Gar­ten­hau­se und un­ter ei­nem dun­keln Baum. Da stand sie lan­ge, und nie­mand fand sie. Kein Geräusch im Gar­ten. »Soll­ten sie mich ver­ges­sen ha­ben?« Eine has­ti­ge Angst über­fiel sie: »Pai ist fort, Anna ist fort; sie ha­ben mich al­lein ge­las­sen!« Sie senk­te be­täubt den Kopf und leg­te die Hän­de vors Ge­sicht. Ganz al­lein! Da ka­men Schrit­te her­bei; Lola nahm sich zu­sam­men und gab einen klei­nen hel­len Vo­gel­laut von sich. Es dau­er­te et­was; sie lausch­te atem­los, zwit­scher­te noch­mals, und dann fand man sie.

»Da­mit du mich nicht zu lan­ge su­chen soll­test«, er­klär­te sie, ob­wohl der On­kel doch nichts ver­stand.

Beim Abendes­sen ward sie leb­haft und sang so­gar ein Lied, nä­selnd wie die Schwar­zen, von de­nen sie es ge­lernt hat­te. Mit­ten in al­ler Ver­gnü­gen aber, und wie auch Pai ge­ra­de lach­te, nahm sie sei­ne Hand und flüs­ter­te ihm, als über­rum­pel­te sie ihn, ei­lig zu:

»Nicht wahr, Pai, wir rei­sen bald nach Haus?«

Pai nick­te; aber er war nun wie­der ernst, und Lola hat­te ge­se­hen, dass er bei­na­he är­ger­lich ge­wor­den wäre. Ver­stört schwieg sie. War’s mög­lich, dass man sich auf Pai nicht mehr ver­las­sen konn­te?

»Weißt du nicht, wann wir nach Haus rei­sen?« frag­te sie nach­her im Schlaf­zim­mer die schwar­ze Anna.

Nein, Anna wuss­te es nicht, und Lola glaub­te ihr. Anna sah sich, mit klei­nem tie­ri­schen Kopf­rücken, im Zim­mer um, wie in ei­nem Kä­fig; Lo­las Au­gen folg­ten ihr – und dann be­trach­te­ten die bei­den ein­an­der rat­los.

Aber die neue Groß­mut­ter war so hei­ter! Man konn­te nicht an ih­rer Hand durchs Haus lau­fen – in den Saal, wo die Äp­fel la­gen, auf den Bo­den, wo­her sie bun­te Klei­der und alte, selt­sa­me Pup­pen hol­te – ohne dass ir­gen­det­was Lus­ti­ges vor­fiel. Der zwei­te On­kel brach­te sei­ner­seits viel Le­ben mit. Und dann war es ziem­lich spaß­haft, mit Anna aus­zu­ge­hen, un­ter die hie­si­gen Kin­der, die schein­bar noch nie eine Schwar­ze er­blickt hat­ten. Da ward man an­ge­se­hen! Manch­mal zwar lie­fen ei­nem zu vie­le nach und mach­ten sich läs­tig: da half nur, dass man ih­nen Bon­bons hin­warf, um zu ent­kom­men, wäh­rend sie sich rauf­ten … Fer­ner war un­ter den freund­li­chen Men­schen, die Lola ken­nen­lern­te, ein schwarz­ge­klei­de­ter Herr mit weißem Bart, der ei­nes Ta­ges in Groß­ma­mas Zim­mer saß und Lola et­was frag­te. Pai be­deu­te­te ihr, es hand­le sich dar­um, ob sie zum pro­tes­tan­ti­schen Glau­ben über­tre­ten wol­le; er rate ihr dazu. Sie sag­te ja, be­kam von dem al­ten Herrn ei­ni­ge glat­te bun­te Bild­chen und ward am Abend in den Zir­kus ge­führt … So viel hat­te man er­lebt, dass ge­wiss schon ein Jahr her­um war.

»Nicht wahr, ein Jahr sind wir bald hier?« frag­te sie ei­nes Abends. Pai er­wi­der­te:

»Was denkst du. Sechs Wo­chen erst.«

»Erst? Aber es ist doch schon wie­der Win­ter?«

»Nein, Kind, so ist hier der Som­mer.«

Sie hät­te sich gern ein­mal wie­der nach der Heim­rei­se er­kun­digt; aber Pai schi­en nicht auf­ge­legt, er hat­te die schon lan­ge nicht mehr ge­se­he­ne Fal­te zwi­schen den Au­gen. Auch die an­de­ren spra­chen heu­te viel we­ni­ger. So­gar Groß­ma­ma lä­chel­te nur halb. Lola ging be­drückt zu Bett.

In der Nacht träum­te ihr et­was Trau­ri­ges: sie sah einen Ne­ger – wel­chen, wuss­te sie nicht, aber es war ei­ner, den sie gern hat­te – von ei­nem Auf­se­her grau­sam prü­geln, hör­te sein Win­seln, brach selbst in Wei­nen aus und lief, es dem Groß­va­ter zu kla­gen, wein­te und lief. Da er­wach­te sie, noch im­mer schluch­zend – und auch das an­de­re Schluch­zen ging wei­ter. Die schwar­ze Anna kau­er­te, über das Bett ge­beugt, und jam­mer­te er­stickt:

»Klei­ne Her­rin, ich muss fort. Schon mor­gen rei­sen der Herr und Anna mit dem Dampf­schiff fort, zu­rück in un­ser Land; die klei­ne Her­rin aber bleibt hier.«

Und da Lola, auf­fah­rend, in Ge­schrei aus­brach:

»Ganz lei­se! Anna darf nichts sa­gen: Der Herr hat es ver­bo­ten. Anna soll­te ohne Ab­schied weg­ge­hen; sie kann doch nicht!«

»Du sollst nicht weg­ge­hen! Hörst du, du tust es nicht! Ich be­feh­le es dir!«

Des Kin­des Stim­me brach sich vor Zorn.

»Pai lässt mich nicht hier zu­rück; das sind al­les Lü­gen.«

Die Amme wie­der­hol­te nur, ein­tö­nig kla­gend:

»Ganz lei­se! Anna muss fort.«

Und in ih­rem Ge­mur­mel ging der Zorn der Klei­nen all­mäh­lich un­ter. Sie ließ sich auf An­nas Schul­ter fal­len, ge­bro­chen, mit Schluch­zen und Bit­ten.

»Geh nicht fort!«

»Anna muss ge­hen.«

»Wenn du fort­gehst, dann –«

Der Schmerz schüt­tel­te das Kind. Es press­te sein Ge­sicht auf die nack­te schwar­ze Schul­ter – und mit dem öli­gen Ge­ruch die­ser Haut, an der es einst die ers­ten Atem­zü­ge ge­tan hat­te, er­hob sich die dunkle Flut sei­ner frü­he­s­ten Erin­ne­run­gen und über­schwemm­te es. Lola sah, in ei­nem auf­ge­reg­ten Ge­drän­ge von Bil­dern, zu­erst einen Pal­men­wald, dann vie­le gri­mas­sie­ren­de Ne­ger­ge­stal­ten, die ihr na­men­los schön er­schie­nen, um Fleischtöp­fe hocken, in die sie oft ihre Händ­chen ge­taucht hat­te; sah ein Stück schäu­men­den, hef­tig blau­en Mee­res und die bu­schi­gen We­del des Zucker­rohrs da­vor; sah Nene, den Bach und die Ku­ru­bus …

»Wenn du fort­gehst«, wim­mer­te sie, »dann –«

Es ent­stand ein Wo­gen großer Blu­men hin­ter ih­ren an An­nas Schul­ter ge­drück­ten Li­dern; und tief in den Blu­men hing die Hän­ge­mat­te mit der schö­nen Mai, die ihr zu­nick­te und lang­sam und wie von ei­ner nicht mehr An­we­sen­den das Ge­sicht weg­wand­te.

»Wenn du fort­gehst, dann ist … al­les aus!«

*

Am Mor­gen trat Pai ins Zim­mer und sag­te:

»Mei­ne klei­ne Lola, Pai muss nun auf kur­ze Zeit zu­rück­rei­sen, und bis er wie­der­kommt, lässt er dich hier.«

Da das Kind nur den Kopf senk­te:

»Es wäre für dich nicht gut, schon wie­der so weit zu rei­sen.«

Lola schlug die Au­gen auf und sag­te hell, wie eine ver­zwei­fel­te Schel­me­rei:

»Pai, nimm mich mit?«

»Mei­ne klei­ne Toch­ter ist ver­nünf­tig, nicht wahr«, er­wi­der­te Pai, ohne Fra­ge im Ton, und Lo­las klei­nes ge­spiel­tes Lä­cheln brach ab. Pai nahm sie bei der Hand und führ­te sie zur Stadt, über einen Markt­platz und in ein al­tes Haus, an des­sen glä­ser­ner Fl­ur­tür die Glo­cke lan­ge klap­per­te.

»Hier wohnt«, sag­te Pai, »eine gute Dame, die sich mei­ner Lola an­neh­men will, so­lan­ge Pai nicht da ist.«

Der Flur war weit; auf sei­nen Stein­flie­sen gin­gen Arm in Arm, zu zwei­en oder in lan­gen Rei­hen, vie­le Mäd­chen um­her. An­de­re hüpf­ten zwi­schen den Flü­geln ei­ner Tür, in der bun­tes Glas war, in den Gar­ten hin­ab. Es wa­ren große und klei­ne; aber die kleins­te, sah Lola gleich, war sie selbst. Sie sah es aus dem Zim­mer, worin Pai mit ihr war­te­te. Es hat­te wei­ße Ta­pe­ten mit gol­de­nen Blu­men dar­auf, eine gol­de­ne Stutz­uhr, sehr hohe Fens­ter mit den Bäu­men des Gar­tens da­hin­ter; und Lola wand­te sich, be­klom­men seuf­zend, von ei­nem Ge­gen­stand zum an­de­ren. Gleich war’s nun so­weit: Pai war fort. Noch hielt er sie doch an der Hand – und war schon fast fort! Oh, was für eine drän­gen­de Men­ge von Din­gen hät­te sie ihm zu sa­gen ge­habt; er muss­te doch ein­se­hen. Mit zu­cken­der Lip­pe brach­te sie her­vor:

»Pai, sieh, was für ein ko­mi­scher Mann ist auf der Uhr.«

Und fie­ber­haft dach­te sie: »Das war’s doch nicht, was ich woll­te.«

Hat­te Pai wirk­lich gar kein Er­bar­men? Sie lug­te zu ihm auf, mit un­ver­stell­tem Jam­mer. Pai sah grad­aus; er hat­te den Mund fest ge­schlos­sen, die Fal­te zwi­schen den Au­gen – und zum ers­ten Male fühl­te Lola, dass er ein stren­ges Ge­sicht ma­che, weil er trau­rig sei; dass er sich streng stel­le, weil er sie lieb­ha­be. Es ward ihr ganz warm und glück­lich; sie drück­te Pais Hand; Pai sah hin­ab, ihr in die Au­gen: da aber ward es drau­ßen bei den Mäd­chen viel stil­ler, und eine klei­ne Dame im schwar­zen Kleid lief ei­lig an dem gel­ben Trep­pen­ge­län­der ent­lang. Schon war sie un­ten, und nun kam sie auf das of­fe­ne Zim­mer zu. Gab es denn kei­ne Ret­tung? Pai tat nichts? Die klei­ne Dame trug die eine ih­rer schma­len Schul­tern hö­her als die an­de­re, sie hielt die Arme ge­krümmt zu den Sei­ten ih­res zer­knit­ter­ten Trau­er­klei­des, und ihr blas­ses, lan­ges Ge­sicht be­kam vom Lä­cheln eine krau­se Nase. Lola sah das al­les mit schre­ckens­vol­ler Ge­nau­ig­keit. Ihr war wie in ei­nem Traum, worin man da­von­lau­fen möch­te und kann sich nicht re­gen. Da fühl­te sie schon die dün­nen lan­gen Fin­ger der Dame kühl um ihre Hand. Was sag­te nun die Dame? Rat­los wand­te Lola sich nach Pai um.

»Fräu­lein Er­nes­te be­grüßt dich«, er­klär­te Pai, »und ver­spricht dir, sie wol­le dich lieb­ha­ben und dich al­les Gute leh­ren. Du musst ihr dan­ken.«

»Dan­ke«, sag­te Lola, mit An­stren­gung.

Da­rauf be­gann das Fräu­lein un­ter Lau­ten freu­di­ger Er­re­gung über­all in Lo­las Ge­sicht Küs­se zu wer­fen, die hart wa­ren und schmerz­ten. Lola be­griff nicht; sie er­schrak, und in­zwi­schen hat­te das Fräu­lein schon wie­der eine Men­ge ge­re­det, und al­les klang fra­gend. All­mäh­lich hör­te Lola, dass sie im­mer das­sel­be sag­te, und im­mer lang­sa­mer und deut­li­cher sprach sie es aus. Wie­der such­te Lola Hil­fe bei Pai, aber Pai hat­te sich in einen Stuhl ge­setzt und be­küm­mer­te sich nicht um sie. Und das Fräu­lein drang im­mer stren­ger auf sie ein, mit steil auf­ge­rich­te­tem Zei­ge­fin­ger. Lola hielt sich nicht län­ger; sie brach, und sah dem Fräu­lein da­bei im­mer starr in die Au­gen, in ent­setz­tes Schluch­zen aus. Da ge­sch­ah et­was sehr Selt­sa­mes. Die eif­ri­ge, Ge­hor­sam hei­schen­de Mie­ne des Fräu­leins fiel jäh in sich zu­sam­men und ward ganz un­si­cher und hilf­los. Das Fräu­lein war auch an­fangs nicht groß ge­we­sen; jetzt aber war es nicht mehr viel hö­her als Lola, und es tas­te­te schüch­tern, wäh­rend es den Kopf zum Bit­ten schief leg­te, nach Lo­las Hand. Dar­über er­schrak Lola noch­mals, aber nicht für sich selbst. Was hat­te das Fräu­lein? Ein ver­leg­nes Mit­leid be­rühr­te ihr Herz, und sie lä­chel­te zart. Ein we­nig hö­her noch hob sie des Fräu­leins Hand, die um ihre lag, zö­gernd – und plötz­lich leg­te sie die Lip­pen dar­auf. So­gleich aber trenn­ten sie sich, und Lola lief auf Pai zu, fiel ihm um den Hals und rief, um Pai von dem Fräu­lein und sei­ner Ver­wir­rung ab­zu­len­ken: was für ein herr­li­cher Ap­fel­baum da zum Fens­ter her­ein­grei­fe. Pai hob, da das Fräu­lein ihm et­was zu­rief, Lola hoch em­por, und sie konn­te eine Frucht bre­chen.

Alle drei gin­gen nun in den Gar­ten. Lola fühl­te sich ir­gend­wie be­glückt; und ehe je­mand es sich ver­sah, saß sie dro­ben im Ap­fel­baum. Pai schalt, aber sie hör­te, dass es Spaß sei; das Fräu­lein lach­te von Her­zen, und aus al­len Ecken des Gar­tens lie­fen Mäd­chen her­bei, sich die klei­ne Wil­de an­zu­se­hen. Sie tanz­ten um den Baum, schri­en und streck­ten die Hän­de aus. Pai sag­te hin­auf, das Fräu­lein er­lau­be, dass Lola zur Fei­er ih­rer An­kunft den Mäd­chen Äp­fel pflücke. Lola warf sie ih­nen zu; sie klet­ter­te von Ast zu Ast, such­te sich mit erns­ter Mie­ne eine aus und warf ihr die Frucht in die Schür­ze. Als sie her­un­ter­stieg, um­ring­ten die Grö­ße­ren sie und lieb­kos­ten sie. Aber eine Glo­cke läu­te­te, und alle eil­ten ins Haus. Pai und Lola folg­ten dem Fräu­lein zu ei­ner Lau­be, wo ein Früh­stück be­reit­stand.

Lola be­kam zum Es­sen ein hal­b­es Gläs­chen Wein; dann nahm Pai sie auf sein Knie, küss­te sie und sag­te: »Nun lauf um­her.«

Trotz­dem be­hielt er sie im Arm und sah sie an. Sie ent­schlüpf­te.

»Ei­nen Kuss noch, klei­ne Toch­ter«, rief Pai ihr nach.

»Gleich!«

Und sie sprang hin­ter ei­nem Schmet­ter­ling her. Ihr war lus­tig zu Sinn, sie dach­te: »Sol­che großen Klat­schro­sen! … Ich muss se­hen, was dort in der Mau­er für ein dunkles, dunkles Loch ist … Pai ist gut, auch das Fräu­lein ist gut … Eine Ei­dech­se, husch … Ob die Mäd­chen nicht wie­der­kom­men? … Der schö­ne Tag!«

»Pai!« jauchz­te sie.

»Er kann mich nicht hö­ren, so groß ist der Gar­ten. Wo ist denn die Lau­be ge­blie­ben? Ah, um die­se He­cken muss ich her­um … Nun aber: Pai!« Und sie lief.

Plötz­lich hielt sie an: vor der Lau­be stand das Fräu­lein al­lein.

»Pai?«

Lola kam lang­sam nä­her. Ihre Au­gen durch­forsch­ten die Lau­be, über­flo­gen den Gar­ten und haf­te­ten, ver­za­gend, am Blick des Fräu­leins. Was sag­te er? Doch nicht das? Er konn­te nicht! Lola nahm sich zu­sam­men und frag­te:

»Wo ist Pai, Fräu­lein?«

Das Fräu­lein sag­te et­was, wie­der mehr­mals das­sel­be, aber gar nicht lang­sam und deut­lich wie vor­hin, und doch ver­stand Lola. Sie warf, halt­los jam­mernd, die Arme in die Höhe.

»Er woll­te noch einen Kuss von mir! Wie kann er fort sein, wenn ich ihm doch noch den Kuss ge­ben soll!«

Sie tau­mel­te ein­mal um sich selbst und schlug, un­si­che­ren Laufs, den Weg zum Hau­se ein. Mit­ten dar­auf blieb sie ste­hen, ließ die Arme fal­len, senk­te den Kopf, und die rin­nen­den Trä­nen wu­schen ihr von den Lip­pen den Kuss, den sie nicht hat­te ge­ben dür­fen.

III

Lola war al­lein.

Sie wein­te auf ei­ner Bank, zu­sam­men­ge­krümmt, lan­ge und wild. Das Fräu­lein stand an­fangs da­bei und flüs­ter­te hier und da ein Trost­wort, das fra­gend klang, als wis­se sie es selbst nicht ge­nau. Dann mach­te sie ei­ni­ge Schrit­te, sah sich war­tend um, ver­schwand im Hau­se. Bald kam sie wie­der und rief sehr mun­ter, ob Lola die­sen schö­nen Pfir­sich möge. Als aber das Kind zor­nig den Kopf schüt­tel­te und wil­der schluchz­te, zog das Fräu­lein sich so rasch zu­rück, als flö­he sie.

Die Glo­cke läu­te­te wie­der, und Lola ließ sich fort­füh­ren, weil das Fräu­lein ihr sag­te, nun wür­den die Mäd­chen kom­men und sie wei­nen se­hen. Das Fräu­lein öff­ne­te die Tür zu ih­rem ei­ge­nen Zim­mer: da sprang kläf­fend ein klei­ner wei­ßer Spitz auf Lola zu, und Lola, die da­heim vor Groß­pais rie­si­gen Hun­den kei­ne Furcht ge­habt hat­te, wich mit ei­nem Auf­schrei zu­rück.

»Ami!« rief das Fräu­lein und re­de­te, zu ihm nie­der­ge­beugt, ernst­haft auf den Spitz ein. Es half nicht; das Kind und das Tier hat­ten sich ge­gen­sei­tig er­schreckt, und der Hund muss­te hin­aus – wo er win­sel­te.

Nun kram­te das Fräu­lein in ei­nem Schrank, zog ein großes bun­tes Buch her­vor und hielt es Lola ent­ge­gen. Sie woll­te Lola auf einen Sche­mel set­zen. Lola glitt da­mit aus, griff um sich und warf ein Glas Was­ser über die Hand­ar­beit, ne­ben der es ge­stan­den hat­te. Das Fräu­lein strich ihr die Wan­ge und lä­chel­te. Dann schlug sie das bun­te Buch bei der ers­ten Sei­te auf – es war ein Affe dar­auf, ein Ast und noch meh­re­re Din­ge – und wie­der­hol­te, auf den Af­fen zei­gend, ein Wort: im­mer nur das eine. Zu­erst be­ach­te­te Lola es nicht; dann merk­te sie wohl, dass sie es nach­spre­chen sol­le, aber sie schwieg; und die­se Ra­che für al­les, was mit ihr ge­sch­ah, tat ihr wohl. Trotz­dem rich­te­te das Fräu­lein sei­nen Fin­ger jetzt auf den Ast und sag­te dazu ein an­de­res Wort, vie­le Male. Sie führ­te Lola auch zu ei­nem wei­ßen Turm, der in ei­ner Ecke des Zim­mers rag­te, und zu dem Schirm, der da­vor­stand; dar­auf wa­ren aus bun­ten Per­len eine Dame und ein Kind und zu bei­der Fü­ßen ein Tier, das Lola nicht kann­te. Es schi­en ihr sanft, zärt­lich, zum Zer­bre­chen fein, und sei­ne großen Au­gen glit­zer­ten, als sei­en sie voll Trä­nen. Mit­leid durch­schau­er­te Lola, mit dem Tier, mit sich selbst – und da stam­mel­te sie das Wort nach, das das Fräu­lein ihr schon längst vor­sag­te: »Reh«, und wein­te, lei­se und ohne Trotz.

Wie die Trä­nen ge­stillt wa­ren, nahm das Fräu­lein sie mit zum Es­sen, an eine lan­ge Ta­fel, wo vie­le Mäd­chen schwatz­ten und klap­per­ten. Lola aß nichts, aus Trau­rig­keit; sie saß be­täubt da, er­schrak, wenn ihr Name ge­nannt ward, und dach­te, weh und wund: »Was wollt ihr alle? Was tue ich hier? Wa­rum hat Pai mich nicht mit­ge­nom­men?« Nach Tisch ward sie in den Gar­ten ge­bracht, aber sie schüt­tel­te den Kopf und ging dem Fräu­lein nach, bis sie wie­der im Zim­mer und bei dem Reh war; denn das war hier ihr ein­zi­ger Freund. »Reh, Reh«, flüs­ter­te sie ihm zu. Das Fräu­lein küss­te sie lei­se auf die Lo­cken und ließ sie mit ih­rem Ka­me­ra­den al­lein. Als Lola spä­ter zu Bett ge­legt wer­den soll­te, hat­te sie sich schon in Schlaf ge­weint.

Beim Er­wa­chen in hel­ler Son­ne fiel ihr als ers­tes das Reh ein, dann der Spitz Ami. Sie be­dach­te vie­les Er­leb­te und auch, ob sie dies Zim­mer schon ken­ne. Neu­gie­rig sah sie sich dar­in um. Noch ein an­de­res Bett stand da, aber es war schon ver­las­sen. Sie ließ sich aus dem ih­ren glei­ten und trip­pel­te um­her. Da trat das Fräu­lein her­ein, hob Lola auf ih­ren Arm, zeig­te sich auf die Brust und sag­te mehr­mals:

»Er­nes­te.«

Lola hat­te in ih­rem rot­ge­schla­fe­nen Ge­sicht­chen große, auf­merk­sa­me brau­ne Au­gen, die, auf den Mund des Fräu­leins ge­rich­tet, ganz lei­se seit­wärts hin und her rück­ten; ihre blon­den Lo­cken hin­gen wirr ge­rin­gelt, die leich­ten Li­ni­en ih­rer Lip­pen füg­ten sich fein in­ein­an­der, und am Sau­me ih­res Hemd­chens strei­chel­ten sich ihre ro­si­gen klei­nen Füße. Sie äu­ßer­te nichts; aber als sie fand, das Fräu­lein habe ge­nug »Er­nes­te« ge­sagt, nick­te sie be­däch­tig, zum Zei­chen, dass sie ver­stan­den habe.

Sie be­kam ih­ren Ka­kao, grub im Gar­ten, ward, wie die Glo­cke ge­läu­tet hat­te, von den Mäd­chen in ei­nem Rin­gel­rei­hen ge­schwenkt und dann wie­der von Fräu­lein Er­nes­te in das Zim­mer des Re­hes ge­holt. Der Spitz Ami knurr­te nur, und er we­del­te da­bei. Lola soll­te auch heu­te »Affe« und »Ast« nach­spre­chen. Sie tat es zer­streut, sah da­bei im­mer das Reh an; sie hat­te kei­nen Sinn für die Din­ge, auf die Er­nes­te sie jetzt noch hin­zu­len­ken wünsch­te; und nur zu­fäl­lig be­merk­te sie, dass es sich um die zwei­te Sei­te des bun­ten Bu­ches han­del­te und dass dort je­des Bild mit ei­ner Mar­zi­pan­schei­be be­deckt war. Nahm man sie weg, ka­men dar­un­ter zum Vor­schein: ein Baum, ein Bä­cker, ein Bot­tich. Sie er­lern­te die­se Wor­te in großer Eile, um zu er­fah­ren, was auf der drit­ten Sei­te wäre.

Von die­sen Er­leb­nis­sen, die sie in­ter­es­siert hat­ten, woll­te sie bei Tisch – war nicht heu­te al­les lus­ti­ger bei Tisch? – ih­rer Nach­ba­rin er­zäh­len, ei­nem Mäd­chen, das nur we­ni­ge Jah­re äl­ter sein konn­te. Sie er­zähl­te aus­führ­lich, die an­de­re aber lach­te nur und stieß eine drit­te an. Lola, in Ei­fer, kam von dem Reh auf die Tie­re da­heim, sprach von da­heim und von Nene und Mai. Plötz­lich ward sie inne, dass alle still wa­ren, zu bei­den Sei­ten des Ti­sches, und sie an­sa­hen: die meis­ten mit Neu­gier, ei­ni­ge spöt­tisch – und kei­ne, er­in­ner­te sie sich nun, kei­ne ein­zi­ge hat­te sie ver­stan­den! Er­rö­tet, rat­los be­schämt, sah sie die Rei­hen ent­lang, konn­te, zit­tern­den Ge­sich­tes, die Trä­nen noch ge­ra­de hin­un­ter­schlu­cken und beug­te sich mit ei­nem klei­nen ein­sa­men Lä­cheln über ih­ren Tel­ler.

Nun kam eine Stun­de, in der al­les durchs Haus sprang und sang. Auch Lola soll­te sin­gen, sie tat nur so, als be­grif­fe sie nicht. Da fass­te aber Er­nes­te ihre bei­den Arme, und die Nase kraus vor Freund­lich­keit und wäh­rend alle um­her­stan­den, sag­te sie ihr meh­re­re Wor­te, de­ren je­des un­ge­fähr klang wie »sin­gen«, nur nicht ganz. Schließ­lich aber fand sie’s wirk­lich: sin­gen; und da sang Lola. Sie sang nä­selnd: »Ihr Ne­ger­kna­ben mei­nes Va­ters …«, schloss da­bei halb die Li­der und sah nun al­les, was sie sang, sah die Hei­mat … Noch wie sie schwieg, war sie aus dem Schwarm der auf sie Ein­re­den­den weit fort.

Eine Wei­le dar­auf fiel ihr ein, dass sie die­ses Lied ein­mal bei der deut­schen Groß­ma­ma ge­sun­gen hat­te. Selt­sam: an den Auf­ent­halt bei der Groß­ma­ma hat­te sie noch gar nicht wie­der ge­dacht; ihr war, als sei sie von der Gro­ßen In­sel gra­des­wegs hier­her ver­schla­gen, und al­les da­zwi­schen war ver­wor­ren wie ein Schiff­bruch. Nun kam ihr eine Frat­ze in den Sinn, die der lus­ti­ge On­kel ein­mal ge­schnit­ten hat­te, und von da aus fand sie sich in al­lem wie­der zu­recht. Ach! Das war doch Lo­las Groß­ma­ma, denn Pai war ihr Sohn, und sie hat­te ihn lieb. Eine auf­zu­cken­de Hoff­nung: Ob Pai nicht bei ihr war? Dass Lola dar­an nicht frü­her ge­dacht hat­te! Pai war nicht ab­ge­reist, er war bei sei­ner Mama! Lola ging zu Fräu­lein Er­nes­te und sag­te: »Groß­ma­ma« – nur das eine, bit­ten­de Wort; und Er­nes­te ver­stand es, sie ließ Lola hin­füh­ren.

Die Groß­ma­ma brei­te­te die Arme aus, Lola aber lief, ohne ih­rer zu ach­ten, um sie her­um: »Pai! Pai!« – in sein Zim­mer, in das Wohn­ge­mach, in den Gar­ten: »Pai! Pai!« Sie kehr­te von ih­rer ver­geb­li­chen Run­de wie­der.

»Wo ist Pai?«

Die Groß­ma­ma be­deu­te­te ihr et­was, Lola wuss­te wohl, was, aber sie glaub­te ihr nicht. Ei­ner der On­kel kam, die Magd ward ge­ru­fen, und alle wie­der­hol­ten das­sel­be. Lola schüt­tel­te nicht mehr den Kopf, aber ihre Mei­nung stand fest. Zu­letzt er­schi­en der lus­ti­ge On­kel und wünsch­te ihr Gu­ten Tag in ih­rer Spra­che. Im­mer die zwei Wor­te, die er sich einst von Pai hat­te ins Ohr sa­gen las­sen. »Dum­mer Pa­pa­gei«, dach­te sie, und sie ver­lang­te fort.

Sie späh­te in je­des Hau­stor, zerr­te ihre Beglei­te­rin in die Lä­den, die sie mit Pai be­sucht hat­te, und auf ei­nem lee­ren Platz, wo es weh­te, blieb sie ste­hen und rief fle­hent­lich »Pai!« Keins der trä­gen Fens­ter öff­ne­te sich; es fror Lola bit­ter­lich, und die Magd zog sie fort.

Aber für das bun­te Buch war sie nicht mehr zu ha­ben, nicht mehr für den Gar­ten und kaum noch für das Reh. Sie sah je­den mit Miss­trau­en an, der ein Wort zu ihr sprach: eins die­ser un­ver­ständ­li­chen Wor­te, de­ren Geräusch um sie her war. Zu Fräu­lein Er­nes­te sag­te sie: »Das ist nicht wahr«, ob­wohl sie gar nicht wuss­te, was das Fräu­lein ge­meint hat­te; bei Berüh­run­gen brach sie in Ge­schrei aus; und ihr Drang war im­mer: auf die Stra­ße, durch die Stadt, und in die Häu­ser spä­hen. Sie schrie, bis das Fräu­lein ängst­lich ward und sie hin­ausließ. Das dau­er­te meh­re­re Tage.

Dann wich Lo­las Glau­be. Sie hat­te ge­wiss in je­dem Win­kel nach­ge­se­hen und über­all ihr »Pai!« ge­ru­fen. So woll­te Pai sie wohl nicht hö­ren, oder er war wirk­lich fort. Ja, er war fort; die Leu­te hat­ten recht. Aber dann hat­te Pai selbst sie ver­ra­ten und un­ter die­sen Frem­den zu­rück­ge­las­sen. Wem also war noch zu trau­en? Scheu sah das Kind sich um. In die­sen Ta­gen brach ein Ge­wit­ter aus; und Lola – wie hat­te sie da­heim zu ur­welt­li­chen Un­wet­tern ge­jauchzt! – ward von je­dem die­ser Blit­ze in eine an­de­re Zim­me­r­e­cke ge­scheucht, bleich und mit ge­schlos­se­nen Lip­pen; denn nie­man­des Hil­fe wuss­te sie an­zu­ru­fen.

Ward Lola jetzt um ihr Lied ge­be­ten, schüt­tel­te sie, mür­risch und ver­le­gen, die Schul­tern. Auch sprach sie nicht mehr, und sie dach­te ganz Un­ge­wöhn­li­ches. »Ich wer­de viel­leicht sehr krank wer­den und kann dann nie­man­dem sa­gen, wo es weh tut, und muss im­mer so schrei­en, wie da­mals der Ne­ger schrie, der ein Loch im Ma­gen hat­te.« Wenn sie al­lein im Zim­mer war und mit sich selbst und ih­ren Pup­pen plau­der­te, muss­te sie manch­mal lau­schen: so selt­sam klein und al­lein klang ihr die ei­ge­ne Stim­me. Und sie fühl­te es plötz­lich, tief in ih­rem er­schau­ern­den Her­zen, es gäbe im Hau­se und in der gan­zen Stadt und auf al­len Stra­ßen, die hin­aus­führ­ten, kei­nen Men­schen, der, wie die da­heim, zu ihr sa­gen kön­ne: »Mei­ne klei­ne Lola, mei­ne lie­be klei­ne Lola.« Sie flüs­ter­te die er­sehn­ten Wor­te vor sich hin und sah da­bei ihre Pup­pen an. Da be­merk­te sie, dass auch die Pup­pen sie ihr nie sa­gen und, was sie ih­nen vor­plau­der­te, nie ver­ste­hen wür­den: wa­ren doch auch sie aus die­sem frem­den Lan­de. Sie schob sie weg. Und selbst das Reh! Da­heim gab es kein sol­ches Tier, und es wuss­te nichts von Lola. »Hörst du denn nicht?« bat sie, mit Trä­nen. »Reh! Reh!« Aber das Reh sah sie fremd an.

Lola war al­lein.

*

Am Sonn­tag ward sie wie­der zur Groß­ma­ma ge­bracht. Sie be­nahm sich scheu und ver­dros­sen; man ver­lor end­lich die Ge­duld und über­ließ sie nach dem Es­sen sich selbst. Un­zu­frie­den, weil nie­mand mehr sich um sie be­küm­mer­te, drück­te sie sich im Gar­ten um­her. Wie es kalt war in die­sem Lan­de! Ängst­lich und feind­se­lig sah sie zu den grau­en Wol­ken hin­auf, die her­ab­droh­ten. Der Pa­vil­lon, der sie am ers­ten Tage ver­steckt hat­te, da­mals, als sie schon vor­aus­ge­ahnt hat­te, Pai wer­de sie al­lein las­sen: heu­te stand er of­fen, und Lola be­trat ihn. Es wa­ren wun­der­li­che alte Mö­bel dar­in; sie be­müh­te sich, einen Wand­schrank zu öff­nen – da ge­sch­ah ein Pol­tern un­ter ihr. Sie fuhr zu­sam­men. Es pol­ter­te stär­ker, es schlug so­gar ge­gen den Bo­den, auf dem sie stand. Er­starrt, horch­te sie. Ein furcht­ba­rer Krach: nun drang es gleich zu ihr ein; und Lola schrie los, mit al­len Kräf­ten höchs­ter Not:

»Der Teu­fel! Der Teu­fel!«

So­fort hör­te das Pol­tern auf, und im nächs­ten Au­gen­blick stand in der Tür der lus­ti­ge On­kel, ganz bleich, und blick­te Lola zor­nig an. Sie schrie, zu ih­rer Recht­fer­ti­gung und aus Ei­gen­sinn, noch ein­mal: »Der Teu­fel!« Da stürz­te aber der On­kel auf sie zu und leg­te sie über sein Knie … Und nach­dem Lola dies durch­ge­macht hat­te, war es ihr viel leich­ter und sanf­ter. Der On­kel nahm sie bei der Hand und führ­te sie in das Keller­ge­wöl­be un­ter dem Gar­ten­haus. Er zeig­te ihr, wie er Holz ge­hackt habe und wie die ge­schwun­ge­ne Axt manch­mal ge­gen die nied­ri­ge De­cke ge­sto­ßen sei. Was er dazu re­de­te, hat­te einen gu­ten, tröst­li­chen Ton – und Lola ward be­trof­fen und sehr nach­denk­lich. Denn es war klar, dass dies ge­gen alle ihre bis­he­ri­gen Er­fah­run­gen ging. Wenn da­heim aus dem Ur­wald her­aus ir­gend­ei­ne un­ge­wohn­te Stim­me er­scholl, lief es bei den Schwar­zen von Mund zu Mund: »Der Teu­fel«; und blin­zel­te ir­gend­wo ein Licht, das nie­mand kann­te, ward ge­raunt: »Der Teu­fel«. Als der On­kel Holz hack­te, hät­te die schwar­ze Anna nur bei Lola sein sol­len; ganz si­cher wür­de sie ge­wim­mert ha­ben: »Der Teu­fel«. Er war es also nicht? We­nigs­tens nicht im­mer? Das war tröst­lich, und der On­kel war gut, dass er Lola dies ge­lehrt hat­te. Sie lä­chel­te ihm zu. Sie hat­te auf ein­mal alle Men­schen lie­ber, ging ins Zim­mer, um­arm­te die Groß­ma­ma und klatsch­te in die Hän­de bei dem Ge­dan­ken, dass sie auch dem Fräu­lein Er­nes­te et­was recht Lie­bes an­tun wol­le. Eif­rig ver­glich sie im In­nern die schwar­ze Anna mit Fräu­lein Er­nes­te und wun­der­te sich, wie viel nä­her ihr Er­nes­te sei. Die schwar­ze Anna war dumm, mit ih­rem Teu­fel; Lola schäm­te sich ih­rer ein we­nig. Wie sie nach Haus kam, stell­te sie sich vor Er­nes­te hin, sam­mel­te sich und sag­te zu­trau­lich:

»Ast, Boot, Reh, Er­nes­te.«

Da­bei lä­chel­te sie ent­schul­di­gend, denn für ein acht­jäh­ri­ges Mäd­chen war dies na­tür­lich kin­disch; aber was soll­te sie sa­gen? Er­nes­te ver­stand Lola; vor Rüh­rung be­kam sie ein be­küm­mer­tes Ge­sicht und Trä­nen in die Au­gen.

Ei­ni­ge Wo­chen spä­ter schlug sie Lola vor, einen Brief an Pai zu schrei­ben.

»Schrei­be in dei­ner Spra­che.«

Lola tat es; aber sie füg­te mit Ge­nug­tu­ung eine An­zahl ih­rer deut­schen Wör­ter hin­ein: alle wa­ren in ei­nem Brief schon nicht mehr un­ter­zu­brin­gen. Die Ant­wort kam. Auch Herr Ga­bri­el hat­te auf por­tu­gie­sisch ge­schrie­ben; nur am Schluss stand der Satz: »Ich habe dich lieb.« – Und die­se Wor­te, die er noch nie in sei­ner ei­ge­nen Spra­che hat­te äu­ßern dür­fen, wa­ren von ihm mit ei­ner Sü­ßig­keit er­füllt wor­den, die Lo­las schwa­che Hän­de noch nicht her­aus­pres­sen konn­ten. Er­nes­te sah die­se Zei­len lan­ge an und sag­te dann:

»Be­wah­re den Brief gut auf, Kind.«

Den nächs­ten schrieb Lola – sie war vier Mo­na­te bei Er­nes­te – ganz deutsch, und ihr Va­ter ant­wor­te­te eben­so. In­zwi­schen aber war ein Brief an­ge­kom­men; Lola wuss­te nicht gleich, wer ihn ab­ge­schickt habe. Sie war sehr ge­spannt.

»Ah!«

»Nun?« frag­te Er­nes­te.

»Von Mai!« – und sie be­trach­te­te ihn an­ge­strengt.

»Was schreibt dir dei­ne Mama?«

»Ja, ja«, mach­te Lola, und: »Gleich kom­me ich wie­der.«

Sie lief ins Schlaf­zim­mer und buch­sta­bier­te. Mais Schrift sah Lola zum ers­ten Mal; die schö­ne Mai lag im­mer nur in der Hän­ge­mat­te. Wie muss­te sie Lola lieb­ha­ben, dass sie ihr schrieb! Lola küss­te den Brief. Dann ver­such­te sie es noch­mals: nein; wirk­lich, sie ver­stand nichts, oder nur hier und da ein paar Wor­te. »Mai, Mai«, stam­mel­te sie, und plötz­lich wein­te sie. Klein­laut be­rich­te­te sie spä­ter Er­nes­te:

»Jetzt ist es sehr heiß in Rio, schreibt Mai, und hier ist es so kalt.«

Tags dar­auf wuss­te sie:

»Nene war krank und ist nun wie­der ge­sund.«

Sie las im­mer in dem Brief; er hat­te schon Ris­se, Fett­fle­cke und Trä­nen­spu­ren. Ei­nes Mor­gens beim Er­wa­chen fand Lola ihr Händ­chen hoch in der Luft. Im Traum hat­te sie’s nach ei­ner Frucht aus­ge­streckt, die Mai ihr hin­hielt – und zog es nun leer zu­rück. Noch sah sie Mais Ge­sicht: und da ver­stand sie plötz­lich ei­ni­ge von Mais Wor­ten in ih­rem Brief. Schon war Lo­las ers­te Spra­che, Wort für Wort, zu­rück­ge­drängt von ih­rer zwei­ten; neue Ge­sich­ter scho­ben sich ihr vor die al­ten, und eine neue Luft mal­te alle Din­ge an­ders. Drau­ßen schnei­te es; das ers­te Mal hat­te Lola den Schnee für Zu­cker ge­hal­ten, und Mai kann­te ihn noch im­mer nicht. Mai lag in großer Wär­me in ih­rer Hän­ge­mat­te und kann­te, ob­wohl sie Mai war, nichts von al­lem, was Lola sah. Wie rät­sel­haft das war! Lola dach­te sich dar­in fest; sie saß am Bo­den, den Blick nach in­nen, die Lip­pen lei­se ge­löst, und hielt mit al­len Kräf­ten den Ge­schmack sol­ches Ge­dan­kens fest. Manch­mal war es nur ein Wort, ein Name, den sie in sol­cher Wei­se ganz aus­zu­kos­ten such­te: Er­nes­te, wie konn­te je­mand so hei­ßen; Er–­ne–s­te, wie jede der Sil­ben plötz­lich ver­wun­der­lich und ko­misch war. Je­den Au­gen­blick wur­den sie frem­der! Im Früh­ling, auf ei­nem Aus­flug, ward Lola ver­misst und al­lein zwi­schen Wald­hü­geln bei ei­ner Quel­le ge­fun­den. Das nas­se Laub hing um sie her, es roch herb nach Kräu­tern, die Quel­le rann, Lola saß ohne Re­gung. Wor­über sie nach­ge­dacht habe. »Über die Quel­le.« Im Som­mer lag sie oft am Ran­de ei­nes He­lio­trop­bee­tes auf dem Bauch, schob den Kopf zwi­schen die Blu­men und lausch­te in die große Tie­fe die­ses Duf­tes.

Ein Ge­sicht, das sie lan­ge schon kann­te, ward ihr auf ein­mal wie durch­leuch­tet; nun fühl­te sie’s. Ein­mal, im Schul­zim­mer, sah sie, an­statt nach­zu­schrei­ben, un­ver­wandt auf ihre Lieb­lings­leh­re­rin, auf die ra­schen klei­nen Mie­nen und die flin­ken, pi­cken­den Be­we­gun­gen des Fräu­leins.

»Lola, warum siehst du mich im­mer­fort an?« frag­te Fräu­lein Mina. Lola er­klär­te:

»Du aus­siehst wie ein klein Vo­gel.«

Die fran­zö­si­sche Leh­re­rin ward ge­hasst von Lola, be­son­ders seit sie Lola ge­droht hat­te, wenn sie noch län­ger die Kirsch­ker­ne ver­schlu­cke, wer­de ihr ein Kirsch­baum aus dem Hal­se wach­sen. Lola wühl­te sich mit dem Blick in die­ses fet­te, graue, schnüf­fel­na­si­ge Ge­schöpf hin­ein, bis sie in dem Fräu­lein deut­lich eine große, di­cke Rat­te sah und bei ei­ner zu­fäl­li­gen Berüh­rung be­sin­nungs­los auf­schrie!

In eine Vor­stel­lung, eine Be­gier­de konn­te sie sich ret­tungs­los festren­nen, bis zu klei­nen Ver­bre­chen. Ein­mal log sie, in dem un­ver­mit­tel­ten Dran­ge, eine Sa­che ganz für sich zu ha­ben. Nun hat­te sie’s: ein Ge­heim­nis, und kos­te­te ta­ge­lang aus, dass nie­mand wis­se, was sie wuss­te. Das war ein neu­es Le­ben, eine ei­ge­ne Welt! Et­was spä­ter stif­te­te sie, um des Aben­teu­ers wil­len, eine große Ver­schwö­rung an, ver­bun­den mit Dieb­stahl. Zwar han­del­te es sich um die »Rat­te«, die oh­ne­hin je­den Streich ver­dien­te. Mitt­ler­wei­le nann­ten alle sie so; Lola hat­te den Na­men durch­ge­setzt und in vie­len Wi­der­wil­len er­regt ge­gen die Leh­re­rin. Es war nicht schwer, die Mäd­chen zu über­zeu­gen, dass sie der Rat­te eine große, scheuß­li­che Pup­pe ins Bett le­gen müss­ten. Man brauch­te eine Mas­ke, eine Hau­be, eine Ja­cke, eine Bril­le. Das Geld? Man wuss­te doch, wo die Rat­te ih­res auf­be­wahr­te. Es war nur ge­recht, dass sie selbst sich die Pup­pe kauf­te. So ge­sch­ah es. Die Rat­te fiel zu­erst in Ohn­macht, und wie der Ver­lust des Gel­des her­aus­kam, er­litt sie einen Wein­krampf. Lola sah ihn mit an, sie sah den Schmerz des häss­li­chen und gei­zi­gen Ge­schöp­fes, ward hin­ein­ge­zo­gen und leb­te ihn mit, au­ßer sich vor Reue. Sie sah eine di­cke Rat­te sich ängs­ti­gen, die sie ver­gif­tet hat­te, und hät­te gern, wenn es noch mög­lich ge­we­sen wäre, das Gift selbst ge­ges­sen. Sie bat um Ver­zei­hung, nahm so­gar, mit lei­den­schaft­li­cher Selb­st­über­win­dung, die Hand der Rat­te. Den­sel­ben Ekel emp­fand sie auch jetzt noch; aber sie sah die­ses We­sen lei­den, sah un­end­lich mehr da­von, als die an­de­ren sa­hen, und be­griff nicht mehr, wie sie solch Lei­den hat­te zu­fü­gen mö­gen! Viel lie­ber statt an­de­rer lei­den! In man­cher Nacht kam ihr die Fra­ge: »Wenn ich mich le­ben­dig be­gra­ben las­sen soll­te, oder Er­nes­te soll­te ster­ben, oder Mai: was wür­de ich wäh­len?« Sie warf sich seuf­zend und heiß um­her: nun hieß es sich ent­schei­den, das Furcht­bars­te auf sich neh­men. Und plötz­lich war sie hin­durch, sah Licht, war sanft und süß durch­ron­nen und hat­te sich dar­ge­bracht: »Oh, lie­ber, viel lie­ber will ich le­ben­dig be­gra­ben wer­den!«

Sie war er­schüt­tert; ein Drang nach Güte, eine schmerz­li­che Wal­lung von Lie­ben­wol­len hob ihr Herz auf – und da kam recht­zei­tig der neue Ge­schichts­leh­rer, Herr Diet­rich. Er war schüch­tern und iro­nisch, und er sprach im­mer wie zu er­wach­se­nen Da­men. Alle in­ter­es­sier­ten sich für ihn, ei­ni­ge er­kun­de­ten sei­ne Le­ben­sum­stän­de. Er wohn­te mit sei­ner Mut­ter und sei­nen jun­gen Ge­schwis­tern zu­sam­men und un­ter­hielt sie. Wie Lola von sei­nem Le­ben träum­te! Lieb­reich muss­te es da­hin­flie­ßen, voll sanf­ter, gü­ti­ger, ed­ler Ge­dan­ken. Mit zwei an­de­ren, die für ihn schwärm­ten, wag­te sie es un­ter ei­nem Vor­wand, ihn auf­zu­su­chen. Kein Tep­pich lag auf den wei­ßen Die­len sei­nes Zim­mers. Herr Diet­rich stand von sei­nem Schreib­tisch auf, der da­bei ins Wan­ken kam, und deck­te ver­le­gen ein Kis­sen auf einen Riss im Le­der­so­fa. Das gan­ze Haus roch nach sau­rer Milch. Ta­ge­lang er­bit­ter­te Lola sich ge­gen Er­nes­te, die ihn nicht bes­ser be­zahl­te. Alle hät­ten hin­ge­hen sol­len und es ihr vor­hal­ten. Lola son­der­te sich ab, so­oft sie konn­te, lern­te den Leit­fa­den der Ge­schich­te aus­wen­dig, und wenn sie ihn sich wie­der­hol­te, war es ihr, als sag­te sie ihm et­was Lie­bes. Als sie an ei­nem März­tag, es lag noch Schnee, al­lein im Gar­ten ge­we­sen war, kam sie er­regt zu Er­nes­te ge­lau­fen.

»Er­nes­te, ich weiß jetzt, wie der Früh­ling aus­sieht!«

»Wie­so?«

»Wie Herr Diet­rich sieht er aus!«

Lola leuch­te­te. Die Of­fen­ba­rung, die sie so­eben emp­fan­gen hat­te, war ein­fach und tief­wahr.

Er­nes­te dach­te: »Mit zwölf Jah­ren schon? …« Sie fass­te sich und äu­ßer­te:

»Aber Kind, für ein Mäd­chen, das bald drei­zehn wird, ist das doch zu kin­disch. Herr Diet­rich ist na­tür­lich ein Mensch wie wir alle.«

Lola stutz­te. War er das? Wa­rum muss­te sie dann so viel an ihn den­ken? Im­mer hat­te sie je­nen leich­ten Ge­ruch von sau­rer Milch in der Nase, so viel dach­te sie an Herrn Diet­rich. »Ich will ihn mir ganz ge­nau an­se­hen.« Gera­de heu­te war Herrn Diet­rich sein gel­ber Strumpf über sei­nen schwar­zen Schuh ge­rutscht. Lola starr­te fins­ter und nach­denk­lich dar­auf hin. Ähn­li­ches konn­te man auch bei an­de­ren Leh­rern se­hen; aber Herr Diet­rich, der so edel war, an den Lola so viel den­ken muss­te! Nun be­merk­te sie auch, wie Herr Diet­rich sich mit Jen­ny ab­gab; wie die di­cke, fre­che Jen­ny, das Kinn auf der ge­ziert aus­ge­spreiz­ten Hand, ihn an­schmach­te­te; wie er er­rö­tend weg­sah und, nach­dem er ein we­nig an sei­nem Knei­fer ge­rückt hat­te, ihr zu­lä­chel­te. Da ward es Lola kalt und zor­nig zu Sinn; es trieb sie, Herrn Diet­rich zu zei­gen, dass er für sie durch­aus kein Ide­al sei. Er stand gra­de vor ihr; sei­ne röt­li­che, kno­chi­ge Hand lag auf ih­rem Tisch, und in sei­ner Man­schet­te konn­te sie Haa­re se­hen. Vor­sich­tig führ­te sie zwei Fin­ger hin­ein, er­fass­te ein Haar, mach­te »Kieks!« – und da hat­te sie’s. Herr Diet­rich zuck­te zu­sam­men; dann rief er mit ro­ter, ent­rüs­te­ter Mie­ne:

»So et­was tut man nicht!«

Lola, ziem­lich er­schro­cken über ihre Tat, aber trot­zig, be­trach­te­te das Haar.

»Gib’s her!« – und Herr Diet­rich nahm es ihr weg.

Als er sie spä­ter et­was frag­te, ant­wor­te­te sie nicht, ob­wohl sie’s wuss­te. Sie be­schloss, ihm brief­lich ihre Ver­ach­tung aus­zu­spre­chen. Den gan­zen Nach­mit­tag ar­bei­te­te sie dar­an. »Wenn ich einen Men­schen gern habe, ver­lan­ge ich mehr von ihm als von an­de­ren; Sie ha­ben mich sehr ent­täuscht«, woll­te sie ihm sa­gen, und: »Ich bin viel zu stolz, um je­mand noch gern zu ha­ben, der eine an­de­re liebt.« In­des fiel ihr ein, dass Herr Diet­rich von ih­rer Nei­gung nichts ge­wusst habe, und dass ihn dar­um auch ihre Ent­täu­schung nichts an­ge­he. Wahr­schein­lich wür­de er ihr mit sei­ner ent­rüs­te­ten Mie­ne den Brief zu­rück­ge­ben und dazu schrei­en: »So et­was tut man nicht!«

Sie hielt sich nun für fer­tig mit der Lie­be. Den­noch ver­lor sie den Win­ter dar­auf ihr Herz an einen ita­lie­ni­schen Lei­er­kas­ten­mann. Sie lag im Fens­ter und leb­te in sei­nen Au­gen. Bleich und trau­rig schmach­te­te er her­auf. Lola sag­te:

»Wie ist er schön! Ich habe noch nie einen so schö­nen Mann ge­se­hen.«

Die di­cke Jen­ny stör­te sie dies­mal nicht, im Ge­gen­teil, sie frag­te, ob Lola sei­ne Be­kannt­schaft ma­chen wol­le, sie be­glei­te sie gern. Lola schrak zu­rück, sie wuss­te noch nicht, wo­vor. Aber am Sonn­tag war­te­te sie mit ih­rem gan­zen Wo­chen­geld. Der Ita­lie­ner kam, nur war er be­trun­ken und kot­be­spritzt, fing Streit an und ward ver­haf­tet. Lola warf aufs Ge­ra­te­wohl ihre zehn Mark hin­un­ter und ret­te­te sich.

Die Tren­nung von die­ser Lie­be war hart. Wo­chen­lang zuck­te Lola schmerz­lich zu­sam­men, pfiff je­mand auf der Stra­ße eine von des Ita­li­e­ners Ari­en. Bei der An­kün­di­gung der Oper, aus der sie stamm­ten, ge­riet Lola in Er­re­gung und ver­lang­te hin. So­gar die Beglei­tung der Rat­te nahm sie mit in den Kauf. Auf ih­rem Bal­kon­platz be­kam sie Herz­klop­fen; aber wie sie sich den Lei­er­kas­ten­mann vor Au­gen ru­fen woll­te, be­merk­te sie, dass sein Bild un­auf­find­bar war und dass nur die Klän­ge und Ge­bär­den von dort drü­ben sie er­füll­ten und be­weg­ten. Ihr schi­en es der ers­te Thea­ter­be­such; und al­les mu­te­te sie wie ei­ge­ne tie­fe Erin­ne­run­gen an. Woran sie je­mals ah­nungs­voll ge­rührt hat­te, das war hier auf­ge­schlos­sen und ent­zau­bert. Der letz­te Duft schö­ner Blu­men, Na­men, Ge­sich­ter schi­en hier her­aus­ge­presst. Die Wor­te klan­gen alle vol­ler und sinn­rei­cher, die Din­ge hat­ten hö­he­re Far­ben, die Mie­nen er­glänz­ten in­ni­ger. Hier wie­der­hol­te sich, hät­te man mei­nen sol­len, das Le­ben Lo­las in stär­ke­rem Licht: als habe sie dort auf der Büh­ne ihr ei­ge­nes Herz, hö­her schla­gend, vor Au­gen. Al­les, wo­für man sonst kei­ne Ver­wen­dung wuss­te, konn­te hier spie­len. Man konn­te sich ganz ge­ben, wie man war; denn die Men­schen hiel­ten end­lich das, was man sich von ih­nen ver­sprach. Der Held die­ser Oper war so edel, wie Herr Diet­rich hät­te blei­ben sol­len, und so schön wie der Ita­lie­ner, ohne sich da­bei zu be­trin­ken.

Bei der Heim­kehr war es Lola, als habe sie nun ein Zau­ber­wort er­fah­ren: Schau­spie­le­rin, und sei da­durch er­löst und mit sich selbst be­kannt ge­macht.

»Wie son­der­bar!« dach­te sie im Bett und starr­te zur dunklen De­cke hin­auf; »das also bin ich!« Er­nes­te rühr­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­