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Als Ravensburger E-Book erschienen 2021

Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag

© 2021 Ravensburger Verlag

Text © 2021 Sandra Grauer

Dieses Werk wurde vermittelt durch die litmedia.agency, Germany.

Lektorat: Franziska Jaekel

Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München

Verwendete Bilder von © Dmitriy Rybin, © k_yu, © Jojo Textures, alle von Shutterstock

Vorsatzkarte: Carolin Liepins, München

Verwendete Bilder von © ALXR, © abeadev, © Lee Charlie, © PGMart, © Aleks Melnik, © AWK07, © Vectorfair.com, © Andrijamil, © urnifine Creative, alle von Shutterstock

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-51097-9

www.ravensburger.de

 

Für Christian, der immer an meiner Seite ist
Für Niklas und Betty
Und für alle »Clans of London«-Fans

Prolog

Nur langsam erwachte Merlin aus seinem tranceähnlichen Zustand. Schon lange hatte er nicht mehr so klare Bilder vor seinem inneren Auge vorbeiziehen sehen – Ereignisse, die noch gar nicht geschehen waren. Es fröstelte ihn, und das lag nicht nur an der Kälte, die sich mit Einbruch der Dunkelheit in seinem Turmzimmer ausgebreitet hatte. Der Wind heulte um das alte Gemäuer, pfiff durch die Risse in den Wänden. Heftiger Regen peitschte gegen das kleine Turmfenster. Trotzdem hörte er draußen die Reiter auf ihren Pferden.

Merlin erhob sich aus seinem Scherenstuhl. Vor dem Kamin nahm er sich die Zeit und rieb seine Hände aneinander. Funken bildeten sich zwischen den Handflächen, mit denen er im nächsten Moment ein Feuer entfachte. Er holte eine Pergamentrolle, setzte sich zurück an den Tisch und griff nach einer Feder, die er in ein Tintenfass tauchte. Ein erneuter Schauer lief ihm über den Rücken, als er die zukünftigen Ereignisse niederschrieb, die er gerade gesehen hatte – die Prophezeiung, die seinen eigenen Hexenclan betraf.

Seine Finger schmerzten, als er die Feder schließlich beiseitelegte. Dennoch stand er erneut auf, um eine zweite Pergamentrolle zu holen. Er hatte mehr als die Zukunft seines eigenen Clans gesehen. Ihm war bewusst, dass seine niedergeschriebenen Worte einst das Todesurteil für das Mädchen bedeuten könnten, das noch nicht einmal geboren worden war. Und doch durften diese Worte nicht ungehört bleiben. Zu viel stand auf dem Spiel – das Mädchen sorgte in der Zukunft für gewaltige Verwerfungen, die Angst auslösen würden, denn dank des Mädchens bestünde am Ende nur ein Hexenclan fort. Doch das war noch nicht alles: Es bedeutete auch den Untergang des Drachenthrons. Die Drachen waren Merlins Verbündete; er durfte ihnen sein Wissen über ihre eigene Zukunft keinesfalls vorenthalten, damit sie rechtzeitig reagieren konnten.

Mühsam ging Merlin in die Knie, um nach der zweiten Pergamentrolle zu greifen – er wurde allmählich gebrechlich, das Alter ging selbst an ihm nicht spurlos vorbei –, als er Schritte hinter sich vernahm.

»Wer stört mich in meinem kreativen Schaffensprozess?«, fragte er. Doch bevor er sich erheben oder nach dem Störenfried umdrehen konnte, spürte er den Luftzug eines Schwerthiebes in seinem Nacken.

Kapitel 1

Kailey

Den Drachen mit den blauen Schuppen bemerkte ich viel zu spät, weil er ohne jede Vorwarnung aus dem Meer schoss und direkt auf mich zuhielt. Tja, das war’s dann wohl mit meinem freien Tag in der Sonne. Noch im Aufspringen riss ich meine Messer aus beiden Seiten meines Hüftgürtels, die sich sofort in Schwerter verwandelten, und blieb an Ort und Stelle stehen, um den Drachen so nah wie möglich Richtung Boden zu zwingen – und weil ich für weitere Manöver ohnehin keine Zeit mehr hatte. Als er nahezu über mir war und sein Maul mit den Reißzähnen aufriss, warf ich die Arme in die Luft. Mit dem einen Schwert drang ich in die Mundhöhle des Drachen ein, mit dem anderen in seine empfindliche Bauchgegend. Warmes Blut tropfte auf mich herab, doch das war nicht der Grund, warum ich die Schwerter ruckartig zurückzog und mich zur Seite rollte. Der Drache prallte fast auf dem Boden auf, brüllte vor Schmerzen. Ich stieß mich von der Wiese ab und sprang auf seinen Rücken. Zwar war die Schuppenschicht dort härter, doch das Ungetüm konnte sich so schlechter zur Wehr setzen. Außerdem kannte ich seine Schwachstellen. Ich rammte ihm eines der Schwerter in den Nacken, während ich das andere wie einen Wurfstern Richtung Flanke schleuderte, wo es stecken blieb. Inzwischen waren die Schmerzensschreie des Drachen ohrenbetäubend – und sie lockten einen weiteren an. Das Vieh mit den roten Schuppen war nur unbedeutend kleiner als der Drache mit den blauen Schuppen, der nun endgültig auf den Boden krachte und dort einen Kampf um sein Leben ausfocht, den er zweifelsohne verlieren würde.

Ich rutschte den Rücken des Biests hinunter und befreite mein Schwert aus dessen Flanke. Lautlos kam ich auf dem weichen Gras auf. Derweil schoss der rot geschuppte Drache auf mich zu und riss sein Maul auf, um mich mit seinem Feuer zu attackieren. Ich schnaubte. Also bitte, mehr hatte er nicht zu bieten? Für mich als Feuerwandlerin war es ein Leichtes, die Flammen in Rauch zu verwandeln, der dem Drachen den Blick vernebelte. Er versuchte, sich stattdessen auf seine anderen Sinnesorgane zu konzentrieren, doch im Gegensatz zu ihm hatte ich keinerlei Probleme, durch den Rauch hindurchzusehen. Schon durchbohrte mein Schwert sein Auge, das andere drang in seinen Rachen ein. Der Drache brüllte, schlug blind mit Krallen und Schwanz um sich. Fast hätte er mich erwischt, doch ich sprang gerade noch rechtzeitig darüber hinweg, bevor ich ihm beide Schwerter in die Flanke rammte, während ich zurück auf den Boden segelte. Die Schmerzen ließen den Drachen seine letzten Kräfte mobilisieren, aber er war bereits zu schwach, um mir noch gefährlich zu werden. Es war eine meiner leichtesten Übungen, ihn immer wieder zielgenau zu attackieren, bis er den Kampf schließlich aufgab. Ich blieb in Angriffsposition und suchte den Himmel nach weiteren Ungetümen ab. Es kamen keine.

Der blau geschuppte Drache löste sich vor meinen Augen in Luft auf, kurz darauf folgte sein rot geschuppter Gefährte. Die Wiese, die eben noch blutdurchtränkt gewesen war, zeigte sich wieder in einem saftigen Grün. Nichts erinnerte mehr an den Kampf, der hier vor wenigen Minuten stattgefunden hatte.

Okay, so gut wie nichts, denn mein eng anliegendes grünes Kleid hatte einen Riss rechts an der Taille, wo mich offensichtlich eine der Klauen erwischt hatte. Außerdem war ich pitschnass von dem Tropfwasser des blauen Drachen, das er mitgebracht hatte, als er aus dem Meer direkt über mich hinweggeflogen war. Aber ich wollte mich nicht beschweren. Im Grunde musste ich schon froh sein, dass wenigstens das Blut verschwunden war, Drachenblut ließ sich nämlich nur sehr schwer herauswaschen. Es hatte mir bereits das eine oder andere Kleid ruiniert.

Mein Onkel Damian tauchte wie aus dem Nichts mitten auf der Wiese auf und nickte mir beeindruckt zu. Unter der offenen Lederjacke, auf der das Wappen von Fairyland eingestickt war – ein in einem Bogen eingespanntes Schwert –, konnte ich seinen magisch verkleinerten Bogen hervorblitzen sehen; er schien auf dem Sprung zu sein.

»Du willst noch weg?«

Er nickte. »Eine Mission im Auftrag der Königin.«

Ich hätte gern mehr erfahren, denn es kam nicht oft vor, dass mein Onkel Fairyland verließ, auch wenn es in letzter Zeit häufiger der Fall war als sonst. Er diente der Königin als Berater, und genau deshalb würde ich nicht mehr aus ihm herausbekommen. Er sprach niemals über seine Arbeit, das durfte er auch gar nicht. Ich griff nach meinem Buch, in dem ich gelesen hatte, bevor mich der erste Drache angegriffen hatte.

»Du hättest mich ruhig vorwarnen können, was heute auf mich zukommt«, sagte ich und versuchte, die Stelle in Sturmhöhe wiederzufinden, an der ich unterbrochen worden war.

»Dann wäre es kein spontanes Training mehr.« Damian kam näher. »Es ist wirklich erstaunlich. Ich habe nur selten eine Fae so schnell zwei Drachen besiegen sehen, noch dazu völlig unvorbereitet und mit nichts als Schwertern bewaffnet.«

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Damian hielt nicht viel von Schwertern, er hatte sich damals während seines Kampfunterrichts für Pfeil und Bogen entschieden. Tatsächlich präferierten viele Fae diese Waffe, weil man sich den Gegner damit besser vom Hals halten konnte. Ich hingegen liebte das Schwert. Wie es in der Hand lag; wie ich den Gegner damit aus seiner Komfortzone locken konnte, um ihn aus nächster Nähe anzugreifen … Natürlich konnte ich auch mit Pfeil und Bogen einen Drachen erlegen. Während unserer Ausbildung lernten wir, beides zu beherrschen. Doch die Elfenkrieger, die Talent und Instinkt besaßen, spezialisierten sich auf eine Waffe. Damit unterschieden wir uns von all den anderen Drachenjägern, die in Fairyland ausgebildet wurden.

Die Tatsache, dass Damian lange genug in der Nähe gewesen war, um mir beim Training zuzuschauen, erfüllte mich mit Stolz, immerhin war das einer meiner besseren Kämpfe gewesen, und mein Onkel nahm sich nicht oft die Zeit dafür. Durch seine Beratertätigkeit war er viel zu eingespannt. Trotzdem trainierten wir seit meinem fünften Geburtstag jeden Sonntagmorgen bei Wind und Wetter zusammen auf der Wiese vor dem Haus, und er verriet mir dabei seine Tricks. Dieser Termin war uns beiden heilig.

»Tja, man muss nur wissen, wo sich die Schwachstellen der Biester befinden«, sagte ich jetzt.

Mein Onkel schüttelte den Kopf. »Über dieses Wissen verfügen wir alle, werden wir doch von klein an auf Kämpfe dieser Art vorbereitet.«

Das stimmte natürlich. Neben dem Kampftraining mit Damian hatte ich auch noch anderen Unterricht. Die Lehrer brachten uns vieles bei, allerdings keine profanen Dinge wie Rechnen und Schreiben. Das war Grundwissen, was wir Fae bereits beherrschten, ehe wir überhaupt laufen konnten. In der »Schule« lernten wir alles über die Erde und das Universum, über die Natur, welche Kräuter und Pflanzen nützlich waren, welche Krankheiten es gab und wie man sie heilte. Uns wurde aber nicht nur beigebracht, was wir als naturverbundenes Volk wissen mussten, sondern auch, wie wir uns verteidigen und gegen Drachen kämpfen. Aufgrund meiner guten Kampffähigkeiten hatte ich im vergangenen Jahr noch weitere Fächer dazubekommen: Beobachtung, Infiltration, Aufklärung. Ich konnte inzwischen verschiedene Fragetechniken anwenden und mich problemlos an Menschen und verschiedene Gegebenheiten anpassen.

»War’s das heute mit dem Training?«, fragte ich und steckte die Schwerter in meinen Gürtel, wo sie sich in Messer zurückverwandelten.

Mein Onkel grinste, dabei zeigte sich ein Grübchen in seiner linken Wange. »Du versuchst es immer wieder, was? Das spontane Training heißt so, weil es vor allem eins ist: spontan. Man weiß nie, wann und wo man angegriffen wird. Es ist die letzte Stufe deiner Ausbildung, danach bist du bereit, um in die weite Welt hinauszugehen. Wobei du das meiner Meinung nach jetzt schon könntest.« Die letzten Worte sagte er nicht ohne Stolz, was mich unwillkürlich lächeln ließ.

Damian war eine meiner wichtigsten Bezugspersonen, denn meine Eltern waren vor acht Jahren gestorben. Wer nicht wusste, dass Damian mein Onkel war, hielt ihn stets für meinen leiblichen Vater, denn wir hatten unübersehbare Ähnlichkeiten: blonde Haare, grüne Augen, ein Grübchen in der Wange. Wir waren beide groß gewachsen, was an sich gar nicht so ungewöhnlich war für Fae – jedoch waren weder meine Mutter noch mein Vater besonders groß gewesen –, und ich war genauso durchtrainiert wie Damian. Allerdings war meine Figur trotz allem sehr weiblich. Manchmal fragte ich mich, wo das herkam. Ich aß zwar nicht wenig, aber ich verbrauchte auch eine Menge Kalorien, weil ich viel Sport trieb. In meiner Altersstufe war ich die beste Elfenkriegerin, und ich wollte, dass das so blieb. Wie sich unter diesen Umständen meine Kurven halten konnten, blieb mir allerdings schleierhaft.

Jedenfalls war mein Onkel immer für mich und meinen Bruder Sloan da gewesen. Nachdem meine Eltern durch einen Drachenangriff gestorben waren, hatte er die Vaterrolle und in gewisser Weise auch die Mutterrolle übernommen. Damian war zwar alles andere als der mütterliche Typ, aber er gab heute noch sein Bestes, damit mein Bruder und ich zumindest einmal am Tag eine vernünftige Mahlzeit bekamen. Das rechnete ich ihm hoch an. Und er hatte immer dafür gesorgt, dass wir die bestmögliche Ausbildung bekamen.

»Danke, Onkel Damian. Du weißt aber schon, dass du maßgeblich an meinem Können beteiligt bist?«

Wieder schüttelte er den Kopf. »Ich habe dich zwar gegossen und dir den Dünger gegeben, den du zum Wachsen brauchtest, aber du bist inzwischen über dich hinausgewachsen, und das ist dein eigenes Verdienst. Darauf kannst du stolz sein.« Er schloss die Knöpfe seiner Lederjacke und zwinkerte mir zu. »Entschuldige mich jetzt bitte, ich muss mich auf den Weg machen. Trainier noch schön.«

»Viel Erfolg!«, rief ich ihm über die Wiese hinterher. Er hob die Hand zum Gruß, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Neidisch blickte ich ihm nach. Es war eine Ehre, von der Königin auf eine Mission geschickt zu werden – und das war auch mein Ziel. Eines Tages würde ich es schaffen, daran glaubte ich ganz fest.

Kapitel 2

Aiden

»Was denkst du, was Vater so dringend von uns will?«, fragte Aiden, während er zusammen mit Sharni durch die Gänge hastete.

»Es geht sicher mal wieder um die Fae«, antwortete seine Schwester. »Dieses verfluchte Elfenvolk. Wenn wir nur endlich …«

»Wenn wir nur endlich was?« Aiden warf ihr einen Seitenblick zu.

Im Gegensatz zu ihm sah sie nicht aus, als wäre sie gerade erst aus dem Bett geholt worden, zumindest standen ihre rotblonden Haare im Vergleich zu seinen dunklen nicht in sämtliche Richtungen ab. Überhaupt gab sie ein hübsches Mädchen ab: die langen Haare in einer für Menschen eher seltenen Farbe, die Größe und die Figur. Auf Menschenjungen in ihrem Alter wirkte sie stets sehr anziehend, was keinesfalls selbstverständlich war, denn in ihrer menschlichen Gestalt lagen die Drachen meist im Durchschnitt, was das Aussehen anging. Sie waren weder besonders attraktiv noch unansehnlich, um nicht aufzufallen.

Sharni seufzte. »Keine Ahnung. Die Fae gehen mir einfach auf die Nerven.«

Ganz unrecht hatte seine Schwester nicht, auch wenn Aiden sich anders ausgedrückt hätte. Er war bedachter als Sharni, ruhiger und nicht so aufbrausend. Innerhalb der Familie hatten sie schon immer diese Rollenverteilung eingenommen, und ihre Positionen taten ihr Übriges dazu. Aiden konnte es sich nicht leisten, so schnell in die Luft zu gehen, wie seine Schwester es für gewöhnlich tat, auch wenn dies nicht bedeutete, dass er keinerlei Gefühle besaß. Wenn man ihn nur genug reizte … Und die Fae waren definitiv ein Reizthema.

Nun eilten die Geschwister an den links und rechts neben dem Eingang zum Thronsaal postierten Wachen vorbei. Aiden verspürte ein ungutes Gefühl, als er seinen Vater erblickte, der in seiner Königsrobe samt Insignien auf dem Thron saß.

»Die Fae?«, fragte Sharni.

Ihr Vater nickte.

»Was ist passiert?«

»Das kann ich euch noch nicht sagen«, antwortete der König, während er aufstand. »Ich weiß nur, dass ein Abgesandter der Fae auf dem Weg ist und jeden Moment hier sein müsste. Legt eure Umhänge an.«

Aiden und Sharni wechselten einen kurzen Blick und ließen sich von den Bediensteten helfen. Sharni schlüpfte in einen smaragdgrünen Umhang mit Kapuze, die sie allerdings nicht aufsetzte. Aidens Umhang war bordeauxrot.

Aus dem Gang vor dem Thronsaal waren bereits schwere Schritte zu hören, während sich Aiden und seine Schwester an jeweils eine Seite ihres Vaters stellten. Aidens Herz schlug ein wenig schneller. Er mochte die Fae genauso wenig wie Sharni, sein Vater oder sonst jemand seines Volkes. Vielen Fae war er zwar bisher nicht begegnet, doch die Abneigung lag in der Natur des Drachenvolkes, außerdem … Aber daran wollte er jetzt lieber nicht denken.

Acht Jahrhunderte waren seit dem letzten Krieg zwischen den Draconis und Fae vergangen, richtiger Frieden herrschte jedoch bis heute nicht. Beide Völker konnten sich nicht ausstehen und machten sich gegenseitig das Leben schwer, auch wenn sie einander nur selten angriffen. In letzter Zeit hatte sich die Situation allerdings verändert. Nach wie vor wandte kaum jemand Gewalt an, dennoch fühlte es sich anders an. Die Feindseligkeiten der Fae hatten zugenommen. Wann immer es möglich war, gingen sie auf Konfrontationskurs. Etwas Bedrohliches lag in der Luft, und dass nun auch noch ein Abgesandter der Fae persönlich vorsprach, konnte nichts Gutes heißen. Ganz und gar nichts Gutes.

Eine der Wachen trat vor und verbeugte sich vor dem König. »Eure Majestät, der Abgesandte der Fae, Damian Ainsley, bittet um eine Audienz.«

»Führt ihn herein«, befahl der König.

»Wie Ihr befehlt, Eure Majestät.« Der Wachmann verbeugte sich erneut und ging mit gesenktem Haupt drei Schritte rückwärts, bevor er sich umdrehte und zu den schweren Doppeltüren des Thronsaals schritt, um einen der vier Meter hohen bronzenen Türflügel zu öffnen. Mit lauter Stimme verkündete er: »Der König empfängt Euch nun.«

Er stellte sich zurück auf seinen Posten, und ein erstaunlich großer Mann betrat den Thronsaal. Unter seiner Kleidung – Stiefel, Hose, Lederjacke, alles in verschiedenen Brauntönen – zeichneten sich mehr Muskeln ab, als man bei einem einfachen Abgesandten vermutet hätte. Aidens Blick blieb einen Moment an den spitzen Ohren hängen, die von den blonden Haaren kaum verdeckt wurden. Mit großen, schnellen Schritten durchquerte der Fae den Saal, blieb schließlich vor Aiden, Sharni und ihrem Vater stehen und deutete eine Verbeugung an.

»König Roarke. Danke, dass Ihr mich so rasch empfangt.«

Die Geschwister erwiderten die Geste, wobei Sharnis Verbeugung noch dezenter ausfiel als Aidens. Ihre Abneigung hing in der Luft wie ein schweres Parfüm.

»Was gibt es denn so Dringendes?«, wollte der König wissen, nachdem er sich auf dem Thron niedergelassen hatte. Auch Aiden und Sharni setzten sich.

»Wenn Ihr erlaubt, mache ich es kurz: Mein Volk hat vor einer Weile Drachenaktivitäten in der britischen Hauptstadt festgestellt.«

Aiden schluckte und zwang sich, regungslos sitzen zu bleiben, was seinem Vater mühelos gelang, seiner Schwester jedoch ganz und gar nicht.

»Drachenaktivitäten in London?«, platzte sie heraus. »Das kann nicht sein, wir sind doch nicht lebensmüde.«

»Nichts stünde mir ferner, als das zu behaupten, aber die Fakten sprechen leider für sich.«

Damian holte etwas aus seiner Hosentasche, das wie eine Fernbedienung aussah, und drückte auf einen der Knöpfe, woraufhin neben ihm Bilder mitten in der Luft erschienen – ein japanisch anmutender Park mit einem Teich und einem Wasserfall. Allzu viel war allerdings nicht mehr übrig von dem Park. Die meisten Bäume waren kahl und verkohlt, auf dem Weg und der größtenteils verbrannten Wiese lagen Äste, Blätter und Asche verstreut, Büsche waren entwurzelt. Der Steg, der über den Teich führte, war beschädigt, ebenso die Steinskulpturen im Wasser. Es sah tatsächlich so aus, als hätte dort ein Drache gewütet und hemmungslos Feuer gespuckt. Aber wer? Und warum? Aiden konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass es einer der Draconis gewesen sein sollte. Natürlich bestand noch die Möglichkeit, dass einer der autonomen Drachen dafür verantwortlich war. Es gab einige Drachen, die sich nicht der Linie des Königs unterwerfen wollten und den Connemara-Nationalpark, in dem das Volk der Draconis lebte, hinter sich gelassen hatten. Im Norden Irlands hatten sie sich angesiedelt, um genau zu sein nördlich von Galway, in anderen menschenleeren Gebieten. Sie hielten sich nicht immer an die Regeln, so hassten sie es etwa, den ganzen Tag in Menschengestalt zu verbringen – einer der häufigsten Gründe, warum sie dem Königreich den Rücken kehrten. Trotzdem war es bisher nie vorgekommen, dass ein Drache den Norden Irlands verlassen hatte – den Bereich, der ihnen nach dem Krieg mit den Fae zugesprochen worden war. Und warum hätte einer von ihnen nach London fliegen und sich dort wie die Axt im Walde aufführen sollen? Um den Draconis Ärger zu bereiten?

»Das ist der Holland Park in London«, fuhr Damian fort. »Wie gesagt, die Fakten sprechen für sich.« Er drückte erneut auf einen Knopf, woraufhin die Bilder wieder verschwanden und er die Fernbedienung wegsteckte.

Aidens Vater zuckte mit den Schultern. »Es könnte genauso gut ein natürliches Feuer gewesen sein, das im Park ausgebrochen ist.«

Damian schüttelte den Kopf, ein bedauerndes Lächeln auf den Lippen, wobei sich ein Grübchen auf seiner linken Wange zeigte. »Leider unmöglich, das haben wir überprüft. Es war weder Brandstiftung im Spiel, noch gab es ein Gewitter. Die Londoner Feuerwehr und die Polizei stehen vor einem Rätsel. Aber wir wissen es besser, nicht wahr? Außerdem hat ein Augenzeuge berichtet, in jener Nacht über dem Holland Park einen Drachen gesehen zu haben.«

»Verstehe«, antwortete der König. »Und wann war dieser Vorfall?«

»Ende Juni.«

»Ende Juni?«, ging Sharni dazwischen.

Der König forderte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen auf. »Warum kommt Ihr erst jetzt, wenn das Ganze bereits vor zwei Monaten geschehen ist?«, fragte er Damian.

»Nun, Ihr werdet verstehen, dass wir uns zuerst absolut sicher sein wollten, bevor wir Euch gegenüber solche Anschuldigungen erheben.«

Sharni schnaubte. Sie glaubte diesem Damian kein Wort, und das tat auch Aiden nicht. Die Fae hatten ihre Gründe, warum sie erst jetzt einen Abgesandten schickten. Gute Gründe. Kriegsgründe. Das war mehr als offensichtlich, doch wie immer hielt der König mit seiner Meinung hinter dem Berg.

»Natürlich verstehe ich das«, sagte er, »aber ich versichere Euch, dass niemand aus meinem Volk für diese Verwüstung verantwortlich ist. Trotzdem werde ich dem nachgehen, und sollte ich mich irren, werde ich Euch informieren, damit wir uns gemeinsam über die Konsequenzen Gedanken machen können.«

Damian rührte sich nicht vom Fleck. »Was ist mit den autonomen Drachen? Wenn es keiner der Draconis war, kann es nur einer von ihnen gewesen sein. Sehe ich das richtig?«

Dieses Mal spannte sich der König kaum merklich an, aber Aiden bekam es dennoch mit. Die ganze Atmosphäre veränderte sich. »Die autonomen Drachen gehören nicht länger zu meinem Volk, daher bin ich weder für sie noch für ihre Taten verantwortlich.«

Damian atmete hörbar aus. »Diese Diskussion hatten wir bereits des Öfteren, und Ihr wisst, wie die Fae-Königin dazu steht. Auch wenn Ihr Euresgleichen nicht mehr unter Kontrolle habt, könnt Ihr Euch nicht so einfach aus der Affäre ziehen.«

Der König biss die Zähne zusammen. »Na schön, ich werde den für diese Verwüstung zuständigen Drachen finden und Euch benachrichtigen.«

»Ich fürchte, das wird nicht reichen, König Roarke. Glaubt mir, wenn es nach mir ginge … Aber die anderen Berater der Fae-Königin sprechen von Vertragsbruch und Grenzüberschreitung. Und damit haben sie leider nicht ganz unrecht, weshalb mir die Hände gebunden sind. Ich wurde überstimmt, so leid es mir tut.«

»Verstehe«, murmelte der König erneut, dieses Mal sichtlich bemüht, die Haltung zu wahren. »Was fordert Eure Königin?«

»Da gibt es einige Dinge, unter anderem eine jährliche Zahlung in Höhe von zwanzig Millionen Kronen. Darüber hinaus erklärt Ihr Euch damit einverstanden, dass mein Volk sowohl das neutrale Gebiet zwischen unseren Territorien hier in Irland als auch London annektiert, und Ihr tretet den südlichen Teil des Connemara-Nationalparks bis zum Lough Nahillion ab. Sämtliche Gesetze, die von Euch neu verabschiedet werden sollen, müssen außerdem ab sofort der Fae-Königin zur Prüfung vorgelegt werden. Ich war so frei und habe alles schriftlich festgehalten.«

Bevor er das Dokument aus seiner Jackentasche ziehen konnte, sprang Sharni auf und schnaubte gefährlich, wobei Rauch aus ihrer Nase stieg. Es war absolut unvernünftig – und würde hoffentlich keinerlei Konsequenzen haben –, dennoch konnte Aiden sie verstehen. Er selbst musste sich schwer zusammenreißen, um keine Reaktion zu zeigen, und seinem Vater ging es mit Sicherheit genauso. Aber als König beziehungsweise erster Thronfolger erwartete man das von ihnen. Sie mussten ruhig bleiben.

»Sonst noch was?«, fauchte Aidens Schwester. »Der südliche Teil bis zum Lough Nahillion? Das ist ein Drittel des Parks. Warum erklärt Ihr uns nicht gleich den Krieg?«

»Sharni.« Die Stimme ihres Vaters klang überraschend sachlich, und er zog sie zurück auf den Thron. »Entschuldigt bitte das Verhalten meiner Tochter.«

Damian hob abwehrend die Hände. »Ich verstehe diese Reaktion durchaus, aber ich bin lediglich der Überbringer. Bedenkt das bitte.«

Der König nickte. »Kann ich das haben?«, fragte er mit einem Blick auf das Dokument, das der Abgesandte der Fae inzwischen aus der Tasche gezogen hatte und nun dem König reichte. »Ich würde die Forderungen zuerst gern mit meinen Beratern durchgehen, wenn Ihr erlaubt.«

»Natürlich, das ist das Mindeste, was ich für Euch tun kann«, erklärte Damian. »Ich spreche mit der Königin und werde dafür sorgen, dass Ihr eine Woche Bedenkzeit bekommt. Eine Woche, um zu entscheiden, ob Ihr die Forderungen annehmt oder uns den Krieg erklärt. Das scheint mir angebracht in dieser Situation.«

»Einverstanden«, sagte der König. Er blieb sitzen, während Damian sich kurz verbeugte und anschließend den Thronsaal schnellen Schrittes in Richtung Ausgang durchquerte.

»Du willst doch nicht ernsthaft auf diese Forderungen eingehen, oder?«, fragte Sharni.

Ihr Vater gab keine Antwort, stattdessen bat er einen der Bediensteten, unverzüglich den Beraterstab einzuberufen.

Aiden beobachtete, wie der Bedienstete mit gesenktem Kopf drei Schritte rückwärtsging, bevor er sich umdrehte und den Raum ebenfalls verließ. Es galt als schwere Beleidigung, dem König den Rücken zuzukehren. Noch in der Zeit, als Aidens Großvater regiert hatte, war jeder dazu verpflichtet gewesen, sich in tiefer Verbeugung durch den gesamten Thronsaal rückwärts zur Tür zu bewegen. Dies hatte selbst für die Königin, Aidens Großmutter, gegolten. Aidens Vater hatte diese Verpflichtung bei seiner Krönung immerhin auf drei Schritte begrenzt, doch weder Aiden noch Sharni konnten dem ganzen Pomp der Monarchie viel abgewinnen.

Ihr Vater war da völlig anderer Ansicht und erklärte seinen Kindern immer wieder: »Der König ist nicht irgendein Drache, er symbolisiert unser Volk. Viele meiner Untertanen sind stärker oder klüger als ich, dennoch sehen sie alle zu mir auf und erwarten, dass ich sie führe. Daher brauchen wir die Symbole, die Insignien und die Rituale. Wir können sie verändern oder abschwächen, aber wir dürfen sie niemals gänzlich abschaffen, denn dann sieht jeder, dass wir auch nur ganz gewöhnliche Draconis sind. Und das, meine Kinder, wäre das Ende der Monarchie. Unser Volk würde aufbegehren und uns stürzen, aber die Macht der Herrschaft verschwindet nicht einfach. Sie muss weiterhin ausgeübt werden, irgendjemand muss regieren. Und so würde sich der Stärkste und Brutalste unseres Volkes durchsetzen und alle anderen unterjochen. Dies zu verhindern, ist unsere Aufgabe. Zu diesem Zweck sitzt unsere Familie auf dem Thron.«

Bei dem Gedanken an die Worte seines Vaters, die er schon so oft gehört hatte, verdrehte Aiden die Augen. Und was brachte all das Gehabe, um sich gegen die Fae zu behaupten? Nichts, rein gar nichts.