Für Eike.

Der Kreis hat sich geschlossen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2015 A. Sieveking

Covergestaltung, Satz: Ralf Westphal, Hamburg

Herstellung und Verlag: BoD– Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7392-9443-8

1

„Hermann, das mußt du dir ansehen... Was für ein entzückendes Zimmer!“

Hermann Cornelsen beeilte sich, der Aufforderung seiner Frau nachzukommen. Schnaufend stieg er die schmale Holztreppe in den zweiten Stock hinauf. Mit ausgebreiteten Armen stand sie am geöffneten Fenster. Die hereinflutenden Sonnenstrahlen umgaben sie mit einem hellen Lichtkranz und tauchten den Parkettboden in einen honiggelben Goldton.

Sie sieht aus, wie ein Engel, kam ihm bei ihrem Anblick der Vergleich in den Sinn. Wie am ersten Tag ihres Kennenlernens war er immer noch verliebt in seine Frau.

Schweratmend blieb er im Türrahmen stehen und stützte sich auf seinen Spazierstock. Treppensteigen lag dem Neunundfünfzigjährigen nicht, obwohl er noch vital und ein passionierter Reiter war. Seit über fünfunddreißig Jahren gehörte er dem ‚Johannistrieb‘ an, Deutschlands ältester, privater Reit-Quadrille. Aber Treppensteigen war definitiv nicht seine Disziplin.

Langsam normalisierte sich sein Pulsschlag wieder. Die Hände auf den Spazierstock gestützt,schweifte sein Blick durch das leere, quadratische Turmzimmer. Der schmucke, zweigeschossige Bau aus der Gründerzeit, den er als neues Domizil für seine bald niederkommende Tochter auserkoren hatte, befand sich in der Heimhuder Straße in Pöseldorf, neben Blankenese, der Elbchaussee und Harvestehude eine der vornehmsten Adressen Hamburgs, und hob sich mit seinem Türmchen und dem elegant geschwungenen Balkon im ersten Stock von den umliegenden, zum Teil recht protzig wirkenden Häusern wohltuend ab.

Mit dem Zeigefinger und Daumen zwirbelte er die dünnen Enden seines Schnurrbarts nach oben, was er immer tat, wenn er nachdachte, dann nickte er bedächtig. „Du hast recht, Hildchen, das Haus wird Dodo gefallen!“ Mit einem Augenzwinkern setzte er vergnügt hinzu: „Dann haben wir ja endlich das passende Geschenk zur Geburt!“

Schmunzelnd schüttelte seine Frau den Kopf und folgte ihm nach unten. „Es wird deinem Schwiegersohn gar nicht recht sein, dass du sie so verwöhnst“, gab sie zu bedenken.

Seine buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen. In seinen wachen, himmelblauen Augen blitzte es entrüstet auf. „Sie ist meine Tochter!“

Seine Frau strich ihm mit einer liebevollen Geste über den Arm und lächelte nachsichtig. Das Lächeln spiegelte sich in ihren klaren, hellgrünen Augen wider und ließ ihr Gesicht von innen leuchten. „Die du, seit sie auf der Welt ist, unsagbar verwöhnst, Lieber! Du solltest endlich akzeptieren, dass Bernhard jetzt für sie sorgt!“

Das Paar hatte inzwischen die Eingangstür im Parterre erreicht, dessen eingelassene Scheibe von einem schmiedeeisernen Gitter verziert wurde. Sie traten hinaus und schritten hintereinander her den kurzen, gepflasterten Weg bis zur Pforte.

Hermann grummelte dabei etwas Unverständliches vor sich hin, was so ähnlich klang, wie: „Eine Tochter bleibt immer eine Tochter, und ein Vater immer ein Vater! Ich will den beiden doch nur eine kleine Freude machen. Sie leben in der Wohnung am Anscharplatz viel zu beengt.“

Ranghild hakte sich bei ihrem Mannunter und klopfte ihm begütigend auf den Arm, dann schloß sie die Pforte und betrachtete das Anwesen noch einmal mit wohlwollendem Blick. Im kleinen Vorgarten hatten die Vorbesitzer eine junge Tanne gepflanzt, die in ein paar Jahren sicher bis zum Balkon hinaufreichen würde. Ein schmaler, asphaltierter Seitenweg führte zu einem flachen, einstöckigen Nebengebäude.

Hermann deutete mit seinem Spazierstock darauf.

„Dort im ersten Stock könnte Bernhard seine Praxis unterbringen! Und im Parterre befindet sich eine Waschküche.“ Mit einem schelmischen Lächeln: „Es ist also für alles gesorgt. Das wird letztendlich auch meinen Schwiegersohn überzeugen. Ich denke nicht, dass ihm sein Stolz die Annahme meines Geschenks verbieten wird. Er ist doch ein vernünftiger Mann!“

Ranghild lächelte feinsinnig in sich hinein und schwieg. Ihr Mann war einfach unverbesserlich. Wenn er sich etwas in seinen Dickkopf gesetzt hatte, ließ er sich von niemandem, selbst von ihr nicht, davon abbringen.

Die Eheleute gingen zum Automobil, das an der Bordsteinkante parkte, ein schwarzer Mercedes mit dem amtlichen Kennzeichen HH-19365. Die Limousine mit den weinroten Ledersitzen bot Platz für mindestens acht Personen. Der schwarz uniformierte Chauffeur stieß eilig die Fahrertür auf, lief um das Auto herum, riß den Wagenschlag auf und nahm Haltung an.

Belustigt winkte Hermann ab.

„Stehen Sie bequem, Petersen,... wir sind doch nicht beim Militär.“

Seine Frau rutschte in die bequemen Wagenpolster, den sich selbst in diesen angeblich so goldenen Zeiten der Zwanziger nur wenige leisten konnten. Hermann kletterte neben sie auf die Rückbank und stützte die Hände auf seinen Spazierstock, dessen gebogener Knauf von silbernen Beschlägen eingefasst war. Mit einem letzten, anerkennenden Blick auf die Villa verkündete er: „In zwei Wochen kommt das Kind. Dann können wir den Umzug auf den ersten September festlegen, was meinst du, Hildchen?“

Doch selten hält sich ein neuer Erdenbürger an den ausgerechneten Geburtstermin. Das Kind, welches Dorothea Trautmann, von der Familie und Freunden liebevoll ‚Dodo’ genannt, erwartete, machte da keine Ausnahme. Es war bereits das zweite Kind, das die 26jährige Mutter erwartete. Ihr über alles geliebter kleiner Junge Albert hatte im Juni 1926 seinen dritten Geburtstag gefeiert und war ihr ganzer Sonnenschein. Nun sollte er ein Geschwisterchen bekommen. Sie freute sich auf das neue Kind, obwohl sie ein leichtes Unbehagen befiel, wenn sie an die bevorstehende Geburt dachte.

Die Tage vergingen, aber das Kind machte keine Anstalten, herauszukommen. Nun war es schon Anfang September und es wollte den schützenden Mutterleib einfach nicht verlassen. Dorothea war sich sicher, dass es wieder ein Junge werden würde, aber langsam wurde sie nervös, der Umzugstermin, den sie Woche um Woche verschoben und nun auf den 11. September festgelegt hatten, rückte immer näher. Mittlerweile stand die Wohnung am Anscharplatz voller gepackter Kisten und Kästen. Im engen Flur stapelten sich die Umzugskartons.

Die Unordnung und die eingeschränkte Bewegungsfreiheit verlangte der kleinen Familie einiges ab. Während Bernhard die meiste Zeit des Tages im Diakonissen-Krankenhaus ‚Betlehem‘ arbeitete und nur schnell zu den Mahlzeiten vorbeischaute, um sich anschließend in der eigenen Praxis seinen zahlreichen Privatpatienten zu widmen, mußte sich seine hochschwangere Frau mit Albert beschäftigen. Der Junge war bockig und unartig, da seine Spielsachen alle eingepackt waren, und lief ihr ständig zwischen den Füßen herum. Dorotheas Nerven waren bis zum Äußersten angespannt. Sie sehnte sich nach Ruhe und einer aufgeräumten Wohnung, wo sich alles wieder an seinem Platz befand. Ranghild stand ihrer Tochter so gut es ging tatkräftig zur Seite und wenn es gar zu arg wurde, nahm sie den Jungen mit und fuhr mit ihm nach Schulau, um die Schiffe zu begrüßen, die sich elbaufwärts Richtung Hafen vorbeischoben.

Am Vorabend des Umzugstages saßen die jungen Eheleute auf den beiden einzigen freien Sesseln im Wohnzimmer noch beisammen. Albert schlief längst in seinem Bettchen, das im Elternschlafzimmer aufgestellt war.

Dorothea setzte sich aufstöhnend auf.

Ihr Mann blickte besorgt zu ihr herüber.

„Ist es soweit?“

Sie strich eine Haarsträhne aus der Stirn, die sich aus ihrem dicken Haarknoten im Nacken gelöst hatte. Sie war eine attraktive Frau mit sanften, klaren Gesichtszügen, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Doch im Gegensatz zu Ranghilds hochgewachsener Statur war sie kleiner und von zierlicherem Körperbau. Die dunkelblauen Augen umrandete ein dichter, schwarzer Wimpernkranz. Doch das Faszinierendste an ihr waren die brünetten Haare, die ihr ovales Gesicht in langen Locken mädchenhaft umschmeichelten. Bernhard liebte es, wenn sie die Haare offen trug, was tagsüber allerdings nicht nur unschicklich, sondern auch extrem unpraktisch war. Daher steckte sie sie meist in einem losen Knoten im Nacken zusammen.

Mit einem enttäuschten Aufseufzen gab sie Entwarnung.

„Nein, ich glaube nicht... Es hat mich nur getreten!“

Ihr Mann stand auf, ging vor seiner Frau in die Hocke und legte seine Hand auf ihren gewölbten Leib. Eine sehnige Hand mit langen, schlanken Fingern, die Wärme und Ruhe ausströmte. Dorothea fühlte, wie sich ihre angespannten Nerven entspannten. Sie lehnte sich im Sessel zurück und betrachtete liebevoll sein besorgtes Gesicht. Auf einmal hellte sich seine Miene auf. „Da... da ist es wieder... ein kleiner Fuß.... Es tritt ganz schön kräftig! Das wird bestimmt ein Junge!“

„Wann kommen morgen die Umzugsleute?“

„Sehr früh. Dann sind wir vielleicht schon gegen Mittag im neuen Haus.“

Zärtlich strich sie ihm über die dünnen, hellbraunen Haare, die sich an den Seiten schon lichteten, obwohl er im August erst seinen vierzigsten Geburtstag gefeiert hatte. „Du bist nicht mehr böse auf meinen Vater, dass er uns das Haus zur Geburt schenkt, nicht wahr?“

Er ergriff ihre schmale Hand, drehte sie sanft herum und drückte einen Kuß auf die Innenfläche. „Wie könnte ich, wenn es dich glücklich macht? Ich muß zugeben, er besitzt einen ausgezeichneten Geschmack. Das Haus ist perfekt für uns. Es bietet Platz für meine Praxis, hat einen großen Garten samt Sandkiste und Reckstange für die Kinder, eine Waschküche, ein Zimmer für das Hausmädchen und die Köchin, ich bekomme endlich ein Arbeits- und jedes der Kinder sein eigenes Zimmer.“ Er richtete sich auf und stützte die Hände in die schmalen Hüften.

Sie sah in sein angespanntes Gesicht und griff nach seiner Hand.

„Trotzdem quält dich etwas?“

Seine dunkelbraunen Augen ruhten ernst auf ihr, dann wurde der Ausdruck auf seinem Gesicht weich. „Ich habe deinem Vater versprochen, für dich zu sorgen, Liebes! Nur möchte ich meiner Familie gerne selber alles bieten können und nicht...“, er brach ab.

„... und nicht vom Geldbeutel deines Schwiegervaters abhängig sein? Ach, Bernhard, so ist es doch nicht. Du bist Leiter eines Krankenhauses, Dekan an der Universität und führst nebenbei noch eine eigene Praxis. Mein Vater wollte uns beiden eine Freude machen! Und durch die Bank weiß er eben immer, wo gerade günstige Objekte zum Verkauf stehen. Es ist eine gute Geldanlage. Versteh doch, er ist durch und durch Bankier und erkennt ein gutes Geschäft sofort. Da konnte er wohl einfach nicht widerstehen.“

Dankbar drückte er ihre Hand, ihre Worte konnten ihn jedoch nicht recht überzeugen. Das ‚kleine Geschenk’ seines Schwiegervaters hatte ihn in seiner Ehre gekränkt. Er war stolz auf seine Lehrtätigkeit an der Hamburger Universität, denn die Arbeit mit den Medizinstudenten bedeutete ihm viel. Er liebte seinen Beruf als Wissenschaftler und Arzt, der ihm jedoch nur einen Bruchteil von dem einbrachte, was sein Schwiegervater mit seiner Bank verdiente. Es nagte an seinem ausgeprägten Selbstbewusstsein, dass er seine Frau nicht so verwöhnen konnte, wie sie es von Haus aus gewohnt war.

Er beugte sich zu ihr herab und ließ sie seine Verstimmung nicht spüren.

„Verzeih, Liebes. Ich weiß, dein Vater liebt dich über alles... so, wie ich.“

Seine Lippen berührten sacht ihre Schläfe. Ihre Augen schauten ihn ruhig an. Das schummrige Lampenlicht spiegelte sich in ihnen wider. Er hätte schwören können, dass sie jetzt in einem tiefen Violettblau erstrahlten.

„Ich liebe dich, Bernhard!“

Er hielt ihren Blick fest, dann strich er ihr sanft über den aufgewölbten Leib. „Ich bin ein sehr glücklicher Mann. Ich habe nicht nur eine wunderschöne Frau, sondern bald auch zwei gesunde Kinder!“

Inhaltsverzeichnis

2

Pünktlich um acht Uhr klingelten die Möbelpacker am nächsten Morgen an der Haustür. Dorothea hatte in der Nacht wenig geschlafen. Auf keiner Seite konnte sie lange liegen. Die letzten Wochen der Schwangerschaft waren sehr beschwerlich gewesen. Jetzt wünschte sie nichts sehnlicher, als dass endlich die Wehen einsetzten und das Baby herauskam.

Ihre Eltern waren vorbeigekommen, um den Umzug zu überwachen und Dorothea mit Albert zu unterstützen. Der Junge war nervös und aufgeregt. Ständig büxte er aus, um den Möbelpackern zu ‚helfen’. Ranghild hatte ihre liebe Mühe und Not, den quirligen kleinen Kerl wieder einzufangen. Endlich waren die Möbel, alle Kartons und Kisten in den großen Möbeltransporter eingeladen. Dorothea schritt am Arm ihres Vaters noch einmal durch die leeren Räume, in denen sie vier Jahre mit ihrem Mann gelebt hatte. Ihre Schritte hallten auf dem Parkettboden wider.

Aufmunternd blinzelte Hermann seiner Tochter zu.

„Ein letzter Blick zurück, dann laß uns gehen, Dodo.“

Er hatte ihr diesen Spitznamen gegeben, als sie gerade das Sprechen lernte. Wieder und wieder sprach er ihr geduldig ihren Namen vor. Schließlich brachte sie unter größter Anstrengung ‚Dodo’ heraus und dabei blieb es dann.

„Jetzt beginnt ein neuer Lebensabschnitt für euch!“

„Danke, Papa, du bist sehr großzügig! Was wird Jens...“

„Was soll dein Bruder schon dazu sagen“, fiel er ihr ungnädig ins Wort. „Wenn er sich entschließen könnte, eine seiner Damenbekanntschaften zu ehelichen und uns ein Enkelkind schenkt, bekommt er auch ein Haus!“

Dorothea verzog schmerzhaft das Gesicht und krümmte sich leicht.

Besorgt beugte er sich zu ihr. „Was ist denn, Kind?“

Sie atmete schwer und richtete sich langsam wieder auf.

„Es geht schon wieder, Papa, laß uns gehen.“

Aber es ging überhaupt nicht. Kaum saßen alle im Mercedes, platzte die Fruchtblase und die Wehen setzten mit einer derartigen Heftigkeit ein, dass kein Zweifel darin bestand, dass die so lange herbeigesehnte Geburt nun unmittelbar bevorstand.

Hermann trieb seinen Chauffeur zur Eile an.

„Los, los, los, Petersen, fahren Sie... Drücken Sie ordentlich auf die Tube!“

Der Chauffeur tat, wie ihm geheißen. Mit der Hand an der Hupe raste er die Straße Richtung Schlump hinunter. Ranghild saß neben ihrer Tochter und legte ihr den Arm um die Schultern. Mit beruhigender Stimme sprach sie auf die sich vor Schmerz Krümmende ein. Albert hockte auf der Bank gegenüber und blickte mit ängstlicher Miene von seiner Großmutter zu seiner Mutter, der es offensichtlich sehr, sehr schlecht ging, so schlimm, wie sie stöhnte.

„Mami, Mami!“, drang sein dünnes Stimmchen an ihr Ohr. Ranghild wußte nicht, wen sie zuerst beruhigen sollte. „Albert, sei ruhig, alles wird gut. Die Mami hat große Schmerzen, aber alles wird gut, mein Kleiner.“

Ihre Worte bewirkten das genaue Gegenteil.

Der Junge fing an zu greinen.

„Ich will zu meiner Mami, Mamiiii.“

Vorne auf dem Beifahrersitz trieb Hermann seinen Chauffeur weiter zur Eile an. „Vergessen Sie die Verkehrsregeln, Petersen... hupen Sie, dann werden die Leute schon Platz machen.“

Mit ohrenbetäubendem Gehupe raste die Limousine auf die Kreuzung an der U-Bahnstation Schlump Richtung Grindelallee zu. Der Schutzmann, der dort den Verkehr regelte, bedeutete ihnen mit ausgebreiteten Armen unmissverständlich zu halten, doch Petersen nahm seinen Fuß nicht vom Gaspedal. Mit unvermindertem Tempo bretterte der Wagen auf den Polizisten zu, der wild mit den Armen fuchtelte, aber der Mercedes wurde nicht langsamer. In allerletzter Sekunde rettete sich der Schutzmann mit einem beherzten Sprung zur Seite und landete auf dem Hosenboden.

Im Rückspiegel sah Petersen, wie der Mann sich wieder aufrappelte, drohend die Faust hob und ihnen wütend hinterherschimpfte. Auf Einzelschicksale konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Die Tochter seines Chefs kam, wenn er sich nicht sehr beeilte, gleich hier im Wagennieder! Petersen standen kleine Schweißperlen auf der Stirn. Er trug die Verantwortung für das neue Leben, was sich wirklich den denkbar schlechtesten Augenblick ausgewählt hatte, um auf diese Welt zu kommen.

Hermann drehte sich halb zu seinem Schwiegersohn um, der neben Albert saß, und tauschte einen sorgenvollen Blick.

Beunruhigt sah Bernhard wieder auf seine Armbanduhr. „Die Wehen kommen im Dreiminutenabstand. Ins Eppendorfer Krankenhaus schaffen wir’s nicht mehr.“

„Dann kriegt sie das Baby eben im neuen Haus! Los, Petersen, fahren Sie die Hallerstraße rauf. Von der Rothenbaumchaussee biegen Sie in den Turmweg ein. So kommen wir am schnellsten zur Heimhuder Straße.“

Und tatsächlich, ein paar Minuten später parkte Chauffeur Petersen die Limousine hinter dem geöffneten Möbelwagen. Er zog ein Taschentuch aus der Uniformjacke und fuhr sich damit über die Stirn.

Hermann stieß die Beifahrertür auf und schob sich schnaufend aus dem Wagen. Das goldene Licht der Herbstsonne strahlte die weiße Fassade der Villa an und blendete ihn so stark, dass er die Augen mit der Hand abschirmen mußte. Seine Halbglatze glänzte in der Sonne.

„Da verschieben wir den Umzug extra um zwei Wochen und dann muß es ausgerechnet heute kommen!“, brummelte er vor sich hin. Aus dem Fond des Wagens drang das gedämpfte Stöhnen seiner Tochter.

Seine Frau redete beschwichtigend auf sie ein.

„Nein, Dorothea,... versuch', noch nicht zu pressen!“

Chauffeur Petersen stieg aus, eilte um den Wagen herum und öffnete die hintere Autotür, um den beiden Damen beim Aussteigen behilflich zu sein.

Hermann steuerte mit dem Hut in der Hand auf einen der Möbelpacker zu, der gerade aus dem Haus trat. „Haben Sie das Ehebett schon ausgeladen?“

Der Möbelpacker kratzte sich nachdenklich am Kopf und überlegte. Herman schien es eine Ewigkeit zu dauern. Nervös zupfte er an seiner Hutkrempe. Schließlich schüttelte der Möbelpacker den Kopf und meinte in breitem Hamburgisch lakonisch: „Nee, Chef, das is wohl noch im Wagen...“

Ungeduldig wedelte ihm Hermann mit dem Hut vor der Nase herum. „Guter Mann, worauf warten Sie?! Fix, fix, fix, holen Sie das Bett raus oder wollen Sie, dass meine Tochter hier im Vorgarten entbindet?!“

Der Möbelpacker starrte ihn verdutzt an, dann setzte er sich in Bewegung. Wie zur Bekräftigung von Hermanns Worten kam ein langgezogener Schmerzensschrei der werdenden Mutter aus dem Inneren der Limousine.

Bernhard kletterte aus dem Auto und wechselte mit seinem Schweigervater, der sich anschickte, den Transport des Bettes nun persönlich zu überwachen, einen besorgten Blick, doch Hermann nickte ihm zuversichtlich zu.

Bernhard beugte sich wieder in den Fond des Wagens und reichte seiner stöhnenden Frau den Arm. Mühsam und von hinten von ihrer Mutter geschoben, zog er sie ins Freie.

Die Schmerzen waren unerträglich. Zwei Wochen hatte sich das Kind Zeit gelassen und jetzt trieb es alle zur Eile an. Dorothea blickte verzweifelt auf den kurzen Weg zum Eingang. Er kam ihr wie ein unüberwindbarer Graben vor. Nicht einen einzigen Schritt konnte sie mehr gehen. Das Kind drängte jetzt mit aller Kraft aus ihrem Leib. Eine neue Wehe zwang sie in die Knie. Ihr Mann umfaßte sie fest und hielt sie an, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

„Gleich hast du’s geschafft, Dodo... gleich kannst du dich hinlegen!“

Ranghild folgte den beiden, an der Hand den verstört dreinblickenden Albert, der in seinem weißblauen Matrosenanzug neben ihr herstapfte. Sein Gesicht wurde halb von der Matrosenmütze verdeckt, die ihm in die Stirn gerutscht war. Ängstlich drängte er sich an seine Großmutter.

Beruhigend tätschelte diese seine kleine Hand.

„Der Mami geht es bald besser, Berti! Du brauchst keine Angst zu haben.“

Dorothea blieb wieder stehen und preßte die Hand gegen ihren Leib.

Bernhard sprach ihr Mut zu.

„Nur noch ein paar Schritte, Liebes.“

In diesem Moment schoben sich die Möbelpacker mit dem großen Ehebett an ihnen vorbei zur Tür. „Vorsicht, bitteee!“

Das Paar trat beiseite. Ein feiner Schweißfilm hatte sich auf Dorotheas Stirn gebildet. Sie krallte sich an den Arm ihres Mannes und glaubte, jeden Augenblick ohnmächtig zu werden. Eine Geburt im Vorgarten der neuen Villa – was für ein scheußlicher Gedanke!

Ihr Vater eilte den Möbelpackern hinterher. Der Ausdruck auf seinem runden Gesicht war angestrengt. Sein Blick streifte seine Tochter, die mühsam auf den Arm ihres Mannes gestützt den Weg zum Hauseingang fortsetzte. Er versuchte ein aufmunterndes Lächeln.

„Ich rufe gleich die Hebamme an und sorge dafür, dass die Männer das Bett nicht im Keller aufstellen!“ Die Möbelpacker quälten sich mit dem sperrigen Möbelstück durch die Eingangstür. Hermann setzte ihnen nach.

„Warten Sie... das Bett muß in den ersten Stock!“

Beinah pünktlich zur Mittagszeit, um 11 Uhr 30, erblickte das neue Familienmitglied das Licht der Welt! Ranghild und Hermann hatten sich ins geräumige Wohnzimmer des neuen Hauses zurückgezogen, das voller Möbel und Kisten stand. Vor der Verbindungstür, die das Wohnzimmer vom Esszimmer trennte, stand ein schwarzer Steinwayflügel. Dorotheas liebstes Möbelstück, an dem sie täglich mehrere Stunden verbrachte und die Werke alter Meister spielte, allen voran von ihrem Lieblingskomponisten Ludwig van Beethoven. Das Musikinstrument würde wohl noch eine Weile auf ihre virtuose Fingerfertigkeit warten müssen, im Moment brachte es nur dissonante Töne hervor.

Albert hockte auf dem Klavierhocker und hieb mit seinen kleinen Fäusten auf die schwarzen und weißen Tasten ein. Schließlich klopfte seine Großmutter mit der Hand neben sich auf die Couch. „Komm mal her, mein Kleiner. Die Omimi erzählt dir jetzt eine Geschichte, ja?“

Widerstrebend rutschte er vom Hocker und ließ sich neben seiner Großmutter nieder.

„Wo ist Mami? Ich will zu meiner Mami“, fragte er mit weinerlicher Stimme.

Ranghild schloß ihn in die Arme, sein Kopf sank an ihre Brust. Sanft strich sie ihm übers dunkle Haar. „Hab noch etwas Geduld, mein Kleiner, deine Mami...“

Kräftiges Babygeschrei aus dem ersten Stock ließ sie aufhorchen. Sie tauschte einen glücklichen Blick mit ihrem Mann.

„Na also, das wär‘ geschafft“, konstatierte dieser mit zufriedenem Kopfnicken und zog aus seinem Jackett eine Pfeife mit einem kleinen Tabakbeutel heraus und begann, sie zu stopfen. „Mein Enkel hat’s aber sehr eilig gehabt.“ Er steckte die Pfeife in den Mund und hielt ein brennendes Zündholz über den Tabak.

„Deine Enkelin hatte es eilig gehabt, Schwiegerpapa!“

Überrascht blickten Hermann und Ranghild zur Tür. Dort stand der überglücklich strahlende Vater mit einem strampelnden Bündel Mensch auf dem Arm.

Alberts Miene verfinsterte sich.

„Ich will zu meiner Mami, Mami...?!“

„Aber Berti, willst du gar nicht sehen, was dir der Storch gebracht hat? Du hast jetzt eine kleine Schwester“, mühte sich seine Großmutter redlich, sein brüderliches Interesse am neuen Geschwisterchen zu wecken. Vergeblich.

Albert glitt von der Couch und lief an seinem Vater vorbei in den Flur hinaus. „Mami, Mami!“

3

Es waren unruhige Zeiten, in die die kleine Tochter von Bernhard und Dorothea Trautmann hineingeboren wurde, und diese Unruhe sollte ihr Leben bestimmen. Die Weimarer Republik unter Reichskanzler Paul von Hindenburg hatte nach der eben überstandenen Inflations- und Wirtschaftskrise Anfang der Zwanziger mit immer größeren Problemen zu kämpfen. 1926 erreichte die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland einen neuen Höchststand. Daraufhin verabschiedete die Regierung ein neues Arbeitsbeschaffungsprogramm, um die hohen Arbeitslosenzahlen zu senken. Zwei Monate nach der Geburt von Dorotheas Tochter trat ein neues Gesetz über die Erhöhung der Arbeitslosenfürsorge in Kraft, das die Gemeinden dazu verpflichtet, die Arbeitslosen zu unterstützen, die kein Arbeitslosengeld erhielten.

Doch die Regierung bekam die Lage einfach nicht in den Griff. Kurz vor Ende des Jahres kritisierte der SPD-Abgeordnete Philipp Scheidemann im Reichstag die Reichswehr wegen der finanziellen Unterstützung durch die Großindustrie, ihren Verbindungen zu rechtsgerichteten Kampfverbänden sowie ihre anhaltende Zusammenarbeit mit der Roten Armee. Am nächsten Tag reichte die SPD einen Misstrauensantrag ein. Die Regierungskrise war perfekt: Das Kabinett Marx mußte zurücktreten, aber schon Anfang des neuen Jahres beauftragte Hindenburg Wilhelm Marxerneut mit der Kabinettsbildung; die Verhandlungen zur Bildung einer neuen Regierung waren am Widerstand des Zentrums gescheitert. Am 29. Januar 1927 stellte der alte und neue Reichskanzler Marx sein neues Kabinett vor. Mit dieser sogenannten Bürgerblock- Regierung wurde ein weiterer Schritt nach rechts vollzogen.

Von diesen politischen Wirren unberührt wuchs Dorotheas und Bernhards kleine Tochter heran. Als sie etwa ein halbes Jahr alt war, stand die Taufe in der St. Trinitatis-Kirche an, in der Bernhards Vater als Hauptpastor von Altona sein Amt inne hatte.

Nur der engste Kreis der Familie fand sich in der Kirche, die in der Altonaer Altstadt lag, ein.

Die kleine Taufgesellschaft hatte sich um das Taubecken herum versammelt. Dorothea fasste Albert bei der Hand, der sich eng an ihre Hüfte schmiegte und seinen Kopf in den Rockfalten ihres Kleides vergrub.

Bernhard hielt seine Tochter, die in einem weißen Spitzenkleid auf seinem Arm lag und ihn aus tiefbraunen Augen anblickte, über das Taufbecken. Sein Gesicht leuchtete vor Liebe und Vaterstolz.

Seine Schwiegereltern hatten sich an seine Seite gestellt und betrachteten das neue Enkelkind mit verklärtem Blick. Etwas abseits, so als gehöre er nicht dazu, stand Dorotheas Bruder. Jens Cornelsen, fünf Jahre älter als seine Schwester, strahlte eine natürliche Autorität aus. In seiner Kleidung bewies er einen erlesenen Geschmack. Für diesen Anlaß hatte er einen dezent gemusterten, maßgeschneiderten Dreireiher gewählt, der perfekt an seiner sportlichen Figur saß. Er war so groß, wie Bernhard, im Gegensatz zu seinem Schwager verfügte er aber noch über einen kräftigen Haarwuchs, den er mit Pomade gebändigt und aus der eckigen Stirn zurückgekämmt hatte. Der abschätzende Blick aus den wasserblauen Augen, die sein Gesicht beherrschten, verliehen seiner Haltung etwas Abweisendes, Gelangweiltes. Lässig hielt er seinen Hut in der Hand und wohnte der Zeremonie mit einem leicht herablassenden Lächeln bei.

Es war für Bernhard eine Selbstverständlichkeit, dass sein Vater die Taufe vornahm. Pastor Ludolph Trautmann im schwarzen Talar mit weißer, hanseatisch krauser Halskrempe strich der Kleinen sanft über den dunklen Schopf. Sein Gesicht strahlte vor Güte und Liebe. Er hob den Blick. „Wie soll denn meine Enkelin heißen?“

Bernhard schaute liebevoll auf seine Tochter herab, die ihn nun anlächelte. Sie war seiner Mutter, die vor einigen Jahren verstorben war, wie aus dem Gesicht geschnitten. Seine Stimme klang belegt. „Sie soll Mutters Namen bekommen.“

Pastor Trautmann wechselte einen kurzen Blick mit seinem Sohn und nickte. Das leichte Zittern in seiner Stimme verriet, wie bewegt er war.

„Damit hättest du ihr keine größere Freude machen können, mein Junge.“

Er räusperte sich und hielt seine Hand über den Kopf des Kindes, das vertrauensvoll zu ihm aufblickte. Seine tiefe, volltönende Stimme erfüllte das hohe Kirchengewölbe.

„Hiermit taufe ich dich auf den Namen Eva-Maria Trautmann.“ Er träufelte ein paar Spritzer des geweihten Wassers über den Kopf der Kleinen, die daraufhin das Gesicht verzog und bitterlich zu weinen anfing. Pastor Trautmann schlug über ihrem Kopf das Kreuz.

„Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen!“

4

Dorothea führte das Leben einer jungen, wohlhabenden Frau, fand sich aber nur schwer in der Mutterrolle mit nun zwei kleinen Kindern ein, was nicht zuletzt daran lag, dass sich Eva-Marias Wesen total von dem ihres Bruders unterschied, der eher ein stilles, ruhiges Baby gewesen war. Sie dagegen steckte voller Energie und war lebhaft. Anstrengend, fand Dorothea. Zunächst stand Eva-Marias Wiege noch im Balkonzimmer im ersten Stock, dem elterlichen Schlafzimmer. Jede Nacht hielt sie beide auf Trab. Mehrmals mußte Dorothea aufstehen, um die Kleine zu versorgen. Da sie ihre Tochter stillte, fühlte sie sich nach ein paar Wochen durch das Schlafdefizit wie gerädert.

Hypernervös und vollkommen überfordert kam es nicht selten vor, dass sie ihren Unmut am Personal ausließ, was wiederum einen häufigen Wechsel der Kindermädchen zur Folge hatte.

Albert konnte sich auch gut ein Jahr nach der Geburt seiner Schwester mit ihrem Dasein nicht anfreunden. Seit ihrer Geburt stand seine kleine Welt Kopf. Die Mami gehörte ihm nun nicht mehr allein. Ständig war sie müde oder kümmerte sich um das schreiende Baby. Das gefiel ihm ganz und gar nicht. Eifersüchtig drängelte er sich dazwischen, wenn Dorothea die Kleine stillte und quengelte so lange herum, bis sie ihm wieder ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte. Sie bemühte sich redlich, ihn mit Süßigkeiten oder kleinen Geschenken aufzumuntern. Es half nichts. Albert wurde bockig oder lief beleidigt aus dem Zimmer, was seine Mutter zutiefst bekümmerte. Innerlich fühlte sie sich zerrissen. Es bereitete ihr einen fast körperlichen Schmerz, wenn sie sah, wie der kleine Kerl litt. Und es fiel ihr schwer, sich damit abzufinden, dass sie eine Tochter statt eines weiteren Jungen geboren hatte.

„Jungen sind viel pflegeleichter!“, vertraute sie ihrer Mutter bei einem von Ranghilds häufigen Besuchen an. „Berti hat nie so viel geschrieen!“

Bernhard dagegen freute sich von ganzem Herzen über seine kleine Tochter. Der erste Weg, wenn er abends aus der Praxis kam, führte ihn geradewegs in ihr Zimmer. Er liebte es, wie ihre Augen aufleuchteten, wenn er das Zimmer betrat und sie ihm freudig ihre kleinen Ärmchen entgegenstreckte.

Eines Abends ging Dorothea am Kinderzimmer vorbei und sah, wie Bernhard mit einem seligen Gesichtsausdruck seine Tochter auf dem Arm in den Schlaf schaukelte. Sie verspürte einen eifersüchtigen Stich in ihrer Brust. Ohne zu überlegen betrat sie das Zimmer, nahm ihm das Kind unter dem Vorwand ab, es sei schon spät, die Kleine bräuchte jetzt dringend ihre Ruhe und legte ihre Tochter unbeeindruckt von deren Weinen zurück ins Bett.

Bernhard schien die Eifersucht seiner Frau auf die Tochter nicht zu bemerken. Er genoss die frühen Morgenstunden, wenn Dorothea noch schlief und er im Bad vor dem Spiegel stand und sich rasierte. Eva- Maria, mittlerweile zu einem niedlichen Hosenmatz von zwei Jahren mit kurzen, dunklen Haaren herangewachsen, saß mit Hemd und Windel bekleidet auf der Wickelkommode neben dem Waschtisch und schaute ihm neugierig bei seiner Morgentoilette zu. Bernhard machte ein paar Faxen und stupste ihr mit dem Zeigefinger Rasierschaum auf die Nasenspitze. Eva-Maria gluckste freudig. Ihre großen, dunkelbraunen Augen strahlten ihn an – seine Augen.

Eines Morgens stand Dorothea in der Tür; Bernhard herzte gerade seine Tochter und beachtete sie kaum. „Guten Morgen, Liebes... ist sie nicht ein goldiger Schatz?“

Eifersucht erfüllte das Herz seiner Frau. Mit verkniffener Miene betrachtete sie das Bild trauter Zweisamkeit von Vater und Tochter. Ein schrecklicher Gedanke bemächtigte sich ihrer: Sie stiehlt mir seine Liebe!

Dorothea war es nicht gewohnt, die zweite Geige zu spielen. Vom Vater abgöttisch geliebt und verwöhnt, von der Mutter mit milder Nachsicht erzogen, hatte sie ein Leben geführt, das die meisten Töchter gutbürgerlicher, wohlhabenderer Familien in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts führten. Einen eigenen Beruf zu erlernen, stand da nicht unbedingt an erster Stelle. Nach der Schule, die Dorothea mit leidlichen Zensuren abschloss, wurde sie auf ein Mädchenpensionat geschickt und lernte dort alles, was man wissen mußte, um ein stattliches Haus zu führen und dem Personal entsprechende Anweisungen geben zu können. Von Anfang an lebte sie in dem Bewußtsein, dass sie nach dem Abschluss einen Mann finden, heiraten und natürlich auch Kinder bekommen würde.

Nach dem Kriege 1918 besuchte sie regelmäßig einen Tanzkreis, wo sich der Nachwuchs der gutsituierten Familien der Hansestadt zu mancherlei Festivitäten traf. Dort lernte sie Bernhard kennen. Von der ersten Sekunde als er sie sah, wußte er, dass seine Suche ein Ende hatte! Aber Dorothea hatte einen Verehrer, mit dem sie Tanz um Tanz absolvierte. In einer Tanzpause, als sie auf die Toilette verschwand, um sich die Nase zu pudern, fasste sich Bernhard schließlich ein Herz und sprach ihren Kavalier an.

Höflich stellte er sich vor.

„Dr. Bernhard Trautmann, Arzt!“

„Dr. Bernhard Trautmann, Zahnarzt!“, echote der andere trocken.

Verblüfft sahen sich beide Männer an, dann brachen sie in schallendes Gelächter aus. Bernhard erfuhr, als er wieder zu Atem kam und sich nach der jungen, bezaubernden Dame erkundigte, dass sein Namensvetter nur der Tanzpartner von Dorothea sei und keinerlei andere Absichten hegte.

Es entwickelte sich ein reger Briefwechsel zwischen den beiden, der schließlich zu einem Treffen mit Hermann führte und in einem anschließenden Heiratsantrag mündete. Dorothea hatte sich auf Anhieb in den schlanken, hochgewachsenen Mann mit den feingeschnittenen Gesichtszügen verliebt. Seine ruhige, überlegte Art erinnerte sie an ihren Vater, obwohl beide vierzehn Jahre trennten. Als Bernhard ihr die Anekdote mit ihrem Tanzpartner erzählte, war sie überzeugt – hier hatte das Schicksal seine Hände im Spiel gehabt!

In den folgenden Jahren gab Bernhard ihr nie Anlaß, an seiner tiefen Liebe zu ihr zu zweifeln. Ein Jahr nach der Hochzeit wurde Albert geboren. Beide waren überglücklich über die Geburt ihres Sohnes und insgeheim fand Dorothea, dass sie damit auch ihrer Pflicht als Frau Genüge getan hätte. Dann aber meldete sich drei Jahre später Eva-Maria an. Und nun schien es, als würde in eben diesem Kinde eine Konkurrenz heranwachsen, mit der sie nicht gerechnet hatte.

In der Aufwallung ihrer Gefühle schritt sie zur Wickelkommode und riß ihre Tochter mit einem Ruck hoch. Der Ton ihrer Stimme war bestimmt. „So, jetzt lassen wir den Vati mal in Ruhe und ziehen dir was Ordentliches an!“

Augenblicklich verzog sich das Kindergesicht und Eva-Maria streckte ihre Ärmchen nach dem Vater aus. Herzzerreißend fing sie an zu weinen. Davon unberührt verließ Dorothea mit ihr auf dem Arm den Raum. Eva-Marias verzweifelter Protest drang durchs Treppenhaus.

„Will nicht... Veva will nicht... Veva will nicht!“

5

Gegen Ende der Zwanziger hatte sich die Lage in Deutschland dramatisch verschlechtert. Das Volk litt unter den Folgen des Versailler Vertrages, den es nie angenommen hatte, in dem Frankreich aber eine Lebensgarantie sah und über die US-Präsident Hoover später einmal sagen sollte, dass am Tische der Friedenskonferenz von Versailles zerstörerische Kräfte gesessen hätten und Bedingungen schufen, unter denen Europa niemals wieder aufgebaut oder der Menschheit der Frieden zurückgegeben werden konnte.

Im Sommer 1929 verschlechterte ein gewisser Mister Owen D.Young aus den USA die Lage des Deutschen Reiches mit dem nach ihm benannten Young-Plan noch zusätzlich. Demnach sollte die Tributlast, die Deutschland und seine heranwachsende Jugend in den folgenden 59 Jahren hätten zahlen müssen, 110 Millionen Mark betragen. Der Amerikaner berücksichtigte dabei nicht, dass ein arbeitsloser deutscher Familienvater nur elf Mark wöchentlich als Arbeitslosenunterstützung vom Amt erhielt. So war es wenig verwunderlich, dass die Enttäuschten und Verzweifelten in Scharen in die SA strömten und der NSDAP beitraten. Die deutsche Wirtschaft kam einfach nicht in Schwung!

Die Auswirkungen bekam man auch auf der anderen Seite des Erdballs an der Wall Street empfindlich zu spüren, da sowohl private Investoren als auch die amerikanische Regierung nach Ende des Weltkrieges großzügig Kredite an Europa verliehen hatten. Mittlerweile waren die ausländischen Forderungen auf ungefähr fünfundachtzig Milliarden Dollar angewachsen.

Das Jahr 1929 sollte sich für die Wall Street erst als der Beginn einer Reihe schlechter Jahre erweisen. Die Kurse stürzten ineinander, was zur Folge hatte, dass die amerikanische Federal Reserve Bank Deutschland die Kredite sperrte.

„Wir befinden uns in einer sehr gefährlichen Lage, meine Herren. Amerika geht das Geld aus, da Europa, allen voran Deutschland, seine Schulden nicht tilgen kann!“, stellte Dietrich Cornelsen bei einem Krisentreffen in seinem Büro in nüchternem Ton fest und blickte finster in die Runde. In dem riesigen Raum mit Blick auf die Wall Street hatten sich an diesem Morgen die fünf Aufsichtsratspräsidenten der Federal Reserve Bank, sowie vier weitere unabhängige Bankiers der Wall Street Banken als auch der Aufsichtsrat von Standart Oil und der holländischen Royal Dutch um den Konferenztisch herum versammelt. Stummes Kopfnicken der Anwesenden signalisierte Zustimmung.

„An der Börse ist der Teufel los“, bestätigte Sigmund Cornelsen, der ebenfalls diesem Treffen beiwohnte, die einführenden Worte seines Vaters. „Innerhalb einer einzigen Minute sind heute Morgen die Aktien von Anaconda, Bethlehem Steels und die führenden Ölwerte um ganze zehn bis zwanzig Punkte gefallen! Die Welt blickt mit großer Sorge auf die Wall Street. Alles, was hier passiert, hat ja direkte Auswirkungen auf Paris, Amsterdam, London und Berlin!“

Zustimmendes Gemurmel.

„Tja, und wem haben wir den ganzen Schlamassel zu verdanken? Wilson, diesem Schwachkopf, der von der internationalen Geschäftswelt keinen Schimmer hatte, sonst hätte er sich seinerzeit nicht dieses geldvernichtende Konstrukt ausgedacht, was sich Versailler Vertrag schimpft!“, empörte sich der Aufsichtsratsvorsitzende des amerikanischen Ölmagnaten Standard Oil. Die amerikanische Geschäfts- und Bankenwelt war mit ihrem ehemaligen Präsidenten nie so richtig warm geworden, betrachten sie seinen Idealismus, der ihn beim Versailler Vertrag wohl geleitet haben mochte, allenfalls passend fürs Studierzimmer, aber extrem schädlich für die Weltwirtschaft.

Dietrich Cornelsen, ein mittelgroßer, wohlgenährter Mann in den Fünfzigern von kräftigem Körperbau und Aufsichtsrat einer der fünf großen US- Privatbanken, schaute abwartend in die Runde. „Und…was schlagt ihr vor?“

„Nun, das Geschäft mit den Baisse-Spekulationen läuft noch ganz gut...“, begann sein Freund Burt Cox, Vorsitzender des Aufsichtsrates der Guaranty Trust Bank.

„Oh nein, da muß ich widersprechen“, wurde er hitzig von Sigmund unterbrochen. „Ich keine viele seriöse Bankiers, die jetzt am liebsten ihre Baisse-Order vom Markt nehmen oder ganz verschweigen möchten.“

Dietrich Cornelsen taxierte seinen Sohn sekundenlang mit unbeweglicher Miene, dann wandte er sich wieder an die Runde.

„Ich glaube, meine Herren, der Zeitpunkt ist gekommen, die nächste Stufe unseres Plans umzusetzen“, seine wulstigen Lippen zogen sich so weit auseinander, dass es der Andeutung eines Lächelns gleichkam. Ein gewitztes Glitzern funkelte in seinen Augen. „Schließlich haben wir das Federal Reserve System erschaffen, um eigenes Geld auszugeben.“

Man konnte Dietrich als den ‚Gründungsvater’ der amerikanischen Federal Reserve Bank bezeichnen, die er Weihnachten 1913 zusammen mit Oberst Mandell House, der rechten Hand von Präsident Wilson, ins Leben gerufen hatte und die anfänglich auch unter seiner Kontrolle stand. Die Zentralbank gab sich den Anschein einer offiziellen Einrichtung, doch in Wahrheit blieb sie in der Hand von Dietrich und dem ‚Inner Circle’ der US-Hochfinanz, die die Bundeszentralbank als Direktorenkonsortium leitete. Der Plan war so einfach, wie perfide: Das Finanzkartell wollte weg vom Staatsgeld, dass laut der amerikanischen Verfassung nur in Form von Gold und Silber als gesetzliches Geld festgelegt war. Mit der Zentralbank schufen sie sich das Recht, eigenes Geld auszugeben, das nun zum gesetzlichen Zahlungsmittel wurde und für das die amerikanische Zentralregierung anfangs auch noch garantierte. Nach dem Weltkrieg auf der Konferenz 1922 in Genua machten Dietrich und seine Freunde von der Hochfinanz den Dollar gemeinsam mit dem Pfund durch die Etablierung eines Gold-Devisen-Standards zur Weltwährung und entschieden, die Goldreserven auf der ganzen Welt zusammenzukaufen, was zur Folge hatte, dass viele andere Währungen ihren Goldstandard nicht mehr halten konnten und in einer Deflation zusammenbrachen - Auslöser der ersten Weltwirtschaftskrise von 1920. Dieser Crash vermehrte das Vermögen der mächtigen Bankiers, die ab 1921 die Geldmenge wieder ausdehnten und Kredite an jedermann vergaben.

Nun war der Zeitpunkt für den nächsten Schritt gekommen.

Der Aufsichtsratsvorsitzende des Ölkartells ergriff das Wort. „Mit anderen Worten, wir werden die Geldmenge wieder rapide verknappen?“

Dietrich nickte bedächtig, in seinen Augen, die von Schlupflidern zu schmalen Schlitzen niedergedrückt wurden, lag ein entschlossener Ausdruck. „Genau. Sagen wir, an einem Tag X werden Millionen von Krediten fällig, was zur Folge haben wird, dass die Börsen kollabieren und das Finanzwesen weltweit zusammenbricht.“

Mister Cox richtete sich in seinem Stuhl auf. Sein spitzes, an einen Habicht erinnerndes Gesicht zeigte beinah einen heiteren Ausdruck.

„Wir könnten über die Bank für den internationalen Zahlungsausgleich in Basel operieren“, schlug er listig vor. Seine Augen hinter der Brille mit rechteckigem Horngestell funkelten begeistert.

Dietrich Cornelsen hatte den gleichen Gedanken gehabt. Dieser Bank unterlag die Verwaltung der amerikanischen Forderungen in Deutschland, die unter anderem in den Dawes-Young-Anleihen in Erscheinung traten. Es war nun einmal ein festgeschriebenes Gesetz, dass Banken und Kreditschieber den größten und schnellsten Nutzen daraus zogen, wenn sie direkt vor einem von ihnen zu schaffenden Börsenzusammenbruch alles wieder abstießen.

„Da stimme ich dir zu, Burt... der Crash ist bei der Geldmenge, die momentan im Umlauf ist, unvermeidlich... Also sollten wir ihn so lenken, dass wir unsere Macht weiter ausbauen können!“

Jetzt besaß Dietrich die ungeteilte Aufmerksamkeit aller im Raum. Doch in ein paar der Gesichter las er auch Zweifel. Es war nicht das erste Mal in den vergangenen Wochen, dass er bezüglich eines drohenden Börsencrash warnend den Finger hob.

Mit eindringlicher Stimme sprach er weiter.

„Über die Bank in Basel werden wir diese Wertpapiere vor dem vorbestimmten Kurseinbruch ins breite Publikum abstoßen. Das heißt aber...“, er machte eine kleine Kunstpause, doch sein Freund Cox beendete für ihn den Satz.

„Das heißt, dass wir die deutsche Währung solange stabil halten, bis das Geschäft über die Bühne gegangen ist. Ich kenne da auch den Mann, der in Deutschland alles in unserem Sinne überwachen wird: Reichbankpräsident Dr. Hjalmar Schacht!“

Sigmunds blasses Gesicht wurde noch eine Spur blasser. Er kannte sich in den Mechanismen des manipulierten Finanzstroms zu gut aus, um zu wissen, dass diese Aktion ein weltweites Chaos hervorrufen würde. Mit einer ruckartigen Kopfbewegung warf er seine Haare aus der Stirn zurück und blickte seinen Vater über den ovalen Konferenztisch aus blankpolierten Teakholz entsetzt an, was dieser allerdings nicht bemerkte, da er sich anschickte, Cox beizupflichten.

„Okay, Burt, dann sei so gut und weihe Dr. Schacht soweit wie nötig in unseren Plan ein, und wenn du schon mit ihm sprichst, eruiere bitte, was es mit diesem Herrn Hitler auf sich hat. Ich habe von meinem Bruder gehört, dass dieser Mensch in Deutschland die treibende Kraft dieser nationalsozialistischen Bewegung sein soll, die der Weimarer Republik momentan ganz schön zu schaffen macht. Vielleicht können wir ihn bei seiner Revolution unterstützen?“

Zustimmendes Gemurmel.

Es gelang Sigmund nicht länger, seine Kritik an dem beschlossenen Plan zurückzuhalten. „Aber Vater, ist euch denn nicht bewußt, was ihr damit heraufbeschwört?! Mit dieser Kursmanipulation vernichtet ihr Millionen Existenzen!“

Dietrichs graue Augen richteten sich auf das empörte Gesicht seines Sohnes und musterten ihn kühl. Zum soundsovieltem Male fragte er sich, warum es Sigmund nach all den vielen Jahren, die er nun schon dem ‚Inner Circle’ angehörte, der die Geschicke der Staaten und mittlerweile auch der westlichen Welt lenkte, immer noch nicht gelungen war, die Dinge mit seinen Augen zu sehen. Mit seinen knapp fünfunddreißig Jahren sollte er inzwischen erkannt haben, was im Leben wirklich zählte: Geld und Macht! Stattdessen zerbrach er sich über unnütze Dinge den Kopf. Wer aber die Weltpolitik und die Weltwirtschaft lenken wollte, mußte in Jahrzehnten, besser noch in Jahrhunderten denken und stets das große Ganze im Blick haben. Skrupel waren dabei absolut fehl am Platz.

„Junge, ich sag' dir jetzt mal was: Es gibt nur drei Arten, sein Geld auf menschliche Weise zu verdienen: es zu finden, in der Lotterie zu gewinnen oder zu erben!“

Die Runde brach in vergnügtes Gelächter aus.

Sigmund preßte die Lippen aufeinander und schwieg. Die Sache war beschlossen. Seine zu recht