2. erweiterte Auflage des
Heftes von 2014–16

Inhaltsverzeichnis:

Vorwort

Aus den Fragen der Teilnehmer/innen des 17. Heilpädagogischen Kurses in Herne (2014–16) ergab sich der Inhalt dieses Begleitheftes. Es wird demnach keine umfassende Darstellung des heilpädagogisch orientierten Unterrichts in allen Fächern und Jahrgangsstufen angeboten, sondern ein mehr aphoristischer Einblick in einzelne Jahrgangsstufen, Förderbereiche und Fächer – sowie der Versuch einer Darstellung der im heilpädagogischen Kurs beschriebenen Krankheitsbilder.

Wir beschäftigten uns im Herner Kurs in erster Linie mit dem bildhaften Unterricht, zu dem wir, die Pädagogen/innen, einen Zugang finden müssen/wollen, um den Bedürfnissen der Seelenpflege-bedürftigen Kinder und Jugendlichen in unserem ‚postindustriellen‘ Zeitalter gerecht zu werden. (1)

Dabei erstaunt es, wie hilfreich, treffend und aktuell auch heute noch die von Rudolf Steiner vor knapp 100 Jahren skizzierten Krankheitsbilder und die sich daraus ergebenden Hinweise für den Unterricht sind.

Gerhard Hallen

Aktivieren Sie Ihren Kreativitätspool

An den Waldorf-Regelschulen – wie auch an den öffentlichen Regelschulen – war schon vor 25 Jahren Folgendes zu beobachten:

Das kann man kulturpessimistisch deuten oder als Chance ansehen, Rudolf Steiners Hinweise zum Unterricht an Regel- und „Förderschulen“ zur Hilfe zu nehmen.

Mit anderen Worten: Wir können nicht mehr nach einem vorgeschriebenen Schema unterrichten, sondern so, dass den Bedürfnissen einer Klassengemeinschaft und der in ihr befindlichen Individuen entsprochen wird. Jeder Lehrer an unseren Schulen verschafft sich deshalb mehr oder weniger bewusst seinen von ihm selbst geprägten Zugang zu den Schülern. Hier einige Beispiele aus der Praxis:

Ein Eurythmist, der eine eigene Klasse führt, durchwirkt seinen Unterricht mit Eurythmie. Jede Bewegung, selbst die seiner Augen, seiner Finger, ist geführt. Die Kinder sind Tag für Tag aufs Neue fasziniert – durch ihn auf die Unterrichtsinhalte hin.

Ein anderer Klassenlehrer ist ein exzellenter Handwerker. Man hört ihn jeden Tag in seiner Klasse sägen und Raspeln – mal gemeinsam mit den Schülern/innen, mal allein.

Eine Kollegin setzt ihre Fremdsprachenkenntnisse ein und bringt die Kinder mit englischen Zungenbrechern und Bewegungsspielen ins Leben zurück.

In Klassen, in denen derartige Meisterinnen und Meister auftreten, herrscht – nach einer Phase der ‚Eingewöhnung‘ seitens der Kinder – eine angenehme Atmosphäre und gespannte Stille.

Mir persönlich standen seinerzeit (1991), als ich nach 13 Jahren an einem Kommunalarchiv noch einmal neue Gebiete erforschen wollte und deshalb in die Schule zurückkehrte, als Werkzeug nur bescheidene Musikkenntnisse und ein halbwegs kreativer Umgang mit der deutschen Sprache zur Verfügung – so wie es halt jeder normale Lehrer hat. Dazu gesellte sich eine nur mäßig ausgebildete Koordinationsfähigkeit in der Bewegung. Die in der Literatur empfohlenen Spiele konnte ich deshalb nicht umsetzen.

Viele meinten nun, dass es ihnen in der Schule gefalle. Den Kindern mit erhöhtem Förderbedarf fiel es aber weiterhin schwer, dem Unterricht zu folgen, eigene, ungesteuerte Impulse zurückzuhalten und/oder sie umzuwandeln. (3)

Veränderungen in der Sitzordnung oder das Sitzen auf dem Boden (Ansätze zum „bewegten Klassenzimmer“) führten bei den „überbeweglichen“ Kindern zu heftigen Auseinandersetzungen untereinander. Sie kamen sich zu nahe. Also gingen wir wieder zur alten Sitzordnung über und bewegten uns in regelmäßigen Abständen nach Spielen, Reigen und Tänzen im Raum. (4)

Beim Versuch, auf dem Schulhof einen Reigen einzuführen, bemerkte ich, wie sensibel die Kinder insbesondere auf Außeneinflüsse in ‚nicht geschlossenen Räumen‘ reagierten. Sie wurden selbst von „der Mücke auf dem Blatt“ abgezogen und konnten sich nicht auf den Reigen einlassen.

Moralische Geschichten über den Zwerg Tatatuck (J. Streit), begleitet von einem selbst verfassten Lied, trugen zur Beruhigung bei. Die Kinder nahmen unter anderem an den Unarten des „Brüllkobolds“ heftigen Anstoß. Dieser Kobold kommt zwar in der Original-Geschichte nicht vor, passte aber sehr gut zur Klassensituation.

Ebenso ging es mit dem „Kratzbobold“, dem „Schubskobold“ und anderen höchst unangenehmen Zeitgenossen, die mir durch die Verhaltensweisen einzelner Schüler/innen gespiegelt wurden. Anhand dieser Geschichten konnte ich beobachten, wer seine Verhaltensauffälligkeiten in den Griff bekam, weil er die Bilder in Verhalten umwandeln konnte, und wer nicht. (5)

Fazit:

Wenn die Lehrperson ihren Kreativitätspool aktiviert, ist der Unterricht mehr wert, als wenn man die Ratschläge Dritter unreflektiert übernimmt oder etwas nach einer Vorlage ausarbeitet. Dabei spielen die Disziplinen, in denen die Lehrperson ihre Stärken hat, eine zweitrangige Rolle. Es gehört nur ein wenig Mut dazu, sich als kreativer Mensch zu zeigen.

Die Schulung der basalen Sinne

Da nun immer noch ein Drittel der Kinder meiner damaligen – inklusiven – Regelschulklasse nicht vollends in den Unterricht eingebunden werden konnte, musste über das Musikalisch-Rhythmische und die Geschichten hinaus etwas gefunden werden, was sie länger als fünf Minuten fesselte.

Die Kinder brauchten eine Schulung der basalen Sinne. Da es an der Regelschule kaum eine Einzelförderung gab, musste ich mir etwas einfallen lassen, wovon alle profitierten. Wir machten in Schulnähe einen kleinen Wald aus, der unser Abenteuergelände wurde. Wir hielten uns dort jeden Tag jeweils 20 Minuten auf (rhythmischer Teil). Das genügte insofern, als sich bei längerem Aufenthalt Konflikte und nicht gewünschte, sicherheitsrelevante Gefährdungen ergaben.

Während die Kinder spielten, konnte ich beobachten, wie sie Kontakt miteinander aufnahmen oder auch nicht, wie sie sich bewegten, wie ihre Phantasie ausgeprägt war, und: auf welcher Stufe der seelischen Reifung sie sich befanden.

Einige waren in der Tat noch Vorschulkinder. Sie hatten beim Klettern und Spielen grobmotorische Defizite. Die meisten konnten diese Defizite aber innerhalb eines Vierteljahres ausgleichen.

Sie lernten, aufeinander Rücksicht zu nehmen und im Spiel in eine gemeinsame Phantasiewelt einzutauchen. Einige neigten dazu, sich zurückzuziehen, andere wollten den Lehrer in ihre Welt mit einbeziehen usw. Dabei lernten alle Kinder, geordnet zum Wald zu gehen. Wenn es nicht gelang, wurde der Ausflug verschoben. Das motivierte sie, sich gegenseitig zu regulieren. (6) Nachdem die Kinder einige Wochen so miteinander gespielt und ihre Sinne ‚gesättigt‘ bzw. stimuliert hatten, konnten wir den Unterricht künstlerisch durchdringen und damit jene Lernschritte einleiten, die im Folgenden noch beschrieben werden. (7)

Nach den täglichen Waldspielen ließen sich die Schüler/innen auf die Bilder, die ich ihnen vorstellte, bereitwilliger ein. Selbst die motorisch Unruhigen waren nun nicht mehr ausschließlich mit sich selbst beschäftigt, sondern mit dem Unterricht.

(1) Die hier angegebenen Werte sind von mir ermittelt worden. Sie waren aber mit den Ergebnissen die von den Kollegen/innen ermittelt wurden, identisch. Sobald seelische und/oder körperliche Bewegung mit ins Unterrichtsgeschehen kam, wurde die Konzentrationsspanne wesentlich ausgeweitet. Wir haben insbesondere im Bereich der Seelenpflege manchmal die Tendenz, den Unterricht zu statisch zu gestalten, weil die Kinder „doch nichts richtig können“. Wenn ein „Rollstuhl-Kind“ mindestens einmal am Tag in die Aufrechte gebracht und assistiert bewegt wird, ist seine Konzentrations- und Aufnahmefähigkeit wesentlich gesteigert. Der rhythmische Teil bietet viele Möglichkeiten, Kinder in Bewegung zu bringen.

Vgl. dazu: Patzlaff, R.: Der gefrorene Blick, Bildschirmmedien und die Entwicklung des Kindes, Stuttgart 2013.

(2) Loebell, P.: Schönheitssinn und Leibeslerleben, in: Erziehungskunst, Heft 9, 2009, S. 922–929.

Gäch, A.: Das polare Prinzip in der Heilpädagogik, in: Grimm, R., Kaschubobski, G.: Kompendium der anthroposophischen Heilpädagogik (fortan: Kompendium), München, Basel 2008, S. 228–241. Hier insbesondere: S. 236f. und Literaturverzeichnis.

Schmalenbach, B.: Bewegung und Sprache, in: Kompendium, S. 184–199, hier insbesondere S. 195f. und die dazu gehörenden bibliographischen Angaben.

Zum Abbau der persistierenden frühkindlichen Reflexe wird u.a. im Bereich der Ergotherapie viel angeboten. Die größte Vielfalt bietet m. E. die anthroposophische Heilpädagogik, insbesondere die Eurythmietherapie.

An der Christian Morgenstern Schule entwickelte D. Meersmann für den Eurythmieunterricht in den ersten Schuljahren ein Programm, das auf den Abbau der besagten Reflexe zielt. Die Erfolge waren und sind beeindruckend. Die Schüler/innen bewegten/en sich im Laufe der Jahre sicherer, koordinierter. Auch waren/sind die unteren Sinne besser geschult.

Brzozowska-Majorek, M.: Eurythmie und Heileurythmie, in: Kompendium, S. 369–373. Die Autorin bezieht sich u.a. auf:

Steiner, R.: Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit, GA 15, Berlin 1911. Zu Beginn des ersten Vortrages weist R. Steiner schon auf die Entwicklungsschritte des Kindes über das Gehen, Sprechen zum Denken hin. Erst in den 1950er Jahren wurde in Deutschland unter Ernst Kiphard die Psychomotorik und in der Folge u.a. die Motopädie etabliert. Die Psychomotorik fußte auf Forschungen aus den 1930er Jahren.

Eine Kollegin arbeitete mit der Bothmer Gymnastik am Abbau der Reflexe. Diese Gymnasitk wurde um 1922 von Fritz Graf von Bothmer entwickelt, als er den Turnunterricht an der ersten Waldorfschule in Stuttgart übernahm. Die auf Angaben Rudolf Steiners basierende Gymnastik ist auf die verschiedenen Entwicklungsstufen des Kindes abgestimmt und wird auch in der therapeutischen Arbeit genutzt. Vgl. dazu:

Bothmer von, A.: Die Bothmer-Gymnastik. Pädagogische und therapeutische Anwendungsmöglichkeiten, Stuttgart 2004.

Bothmer von, Fritz Graf: Gymnastische Erziehung. 3. Aufl., Stuttgart 1989.

Auch wurde an der Schule Chirophonetik angeboten.

Vgl. dazu: Schulz, D.: Zur Chirophonetik, in: Kompendium, S. 387–390. Am eindrucksvollsten war für mich die Arbeit mit einem vorwiegend maniakalischen Schüler, der durch Hirnschädigungen (FAS) unter persistierenden frühkindlichen Reflexen litt. Außerdem war er durch Kaiserschnitt zur Welt gekommen. Ich beobachtete, dass er gern eng anliegende Kleidung trug und bevorzugt durch enge Höhlen kroch. Wenn es wieder einmal mit ihm durchging, klemmte ich ihn unter die rechte Armbeuge, dass seine Arme gerade frei waren. Mit großer Freude rang er sich durch die Enge dieses ‚Kanals‘ hindurch. Danach war er für den Rest des Unterrichts ruhig und ausgeglichen. Später verlangte er von sich aus immer wieder nach diesem Erlebnis, wenn es ihn umtrieb – bis zum Beginn des sechsten Schuljahres.

Weihs, Th. J.: Das entwicklungsgestörte Kind, Heilpädagogische Erfahrungen in der therapeutischen Gemeinschaft, Stuttgart 1974.

Schulz, D.: Frühförderung in der Heilpädagogik, Erfahrungen mit der Betreuung seelenpflegebedürftiger Kinder, eine Einführung für Eltern, in: Heilpädagogik aus anthroposophischer Menschenkunde, Bd. 10, Stuttgart 1991.

In diesem Buch sind auch Fallbeschreibungen zu finden.

Meijs, J.: Problemkindern helfen, durch Spielen, Malen und Erzählen, ein Ratgeber für Eltern und Erzieher, Stuttgart 1996.

Frau Meijs verbindet die Entwicklungsschritte des Kindes mit praktischen und seelenkundlich durchleuchteten Beispielen.

Britz-Crecelius, H.: Kinderspiel lebensentscheidend, Stuttgart 1970. Hier handelt es sich um eine menschenkundliche Beleuchtung des Themas.

Mehr auf die Kulturtechniken ausgerichtet:

Terlouw, M.: Legasthenie und ihre Behandlung, Stuttgart 1992.

Seelenbinder, H.: Konstitutionell bedingte Rechenschwäche, Verständnisgrundlagen und therapeutische Ansätze, entwickelt an zwei Fallstudien, hg. v. der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen, Stuttgart 2001.

(3) Steiner, R.: Heilpädagogischer Kurs (fortan HPK), GA 317, Neunter Vortrag, die letzten fünf Absätze, gehalten in Dornach am 4. Juli 1924. Hier stellt Rudolf Steiner die Beziehung des Erziehers zu den Sprachgenien auf der Ebene des Geistselbst dar. Zu den Sprachgenien u.a.:

Ders.: Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhang mit der germanischnordischen Mythologie, Oslo vom 7.6.-17.6.1910 (fortan Volksseelenvorträge). Hier: 2. Vortr. v. 8.6.1910, Absatz 12–15 (nach der Aufzählung der Wesensglieder bis zum Geistselbst).

Schmalenbach a.a.O.

(4) Zimmer, R.: Schafft die Stühle ab! Was Kinder durch Bewegung lernen, Freiburg 2008.

(5) Streit, J.: Tatatucks Reise, Stuttgart 1984. Der Verlag Freies Geistesleben bietet von der Hand erfahrener Autoren eine Vielzahl an sinnigen und moralischen Geschichten sowie Romanvorlagen für den Erzählteil im Hauptunterricht aller Altersstufen an.

(6) Steiner, R.: Weltwesen und Ichheit, GA 169, 2. und 3. Vortr., Berlin 1916.

Basfeld, M.: Wie viele Sinne hat der Mensch?, in: Kompendium, S. 200–212. Insbesondere das Literaturverzeichnis S. 211f. und:

Aeppli, W.: Sinnesorganismus, Sinnesverlust, Sinnespflege, in: Menschenkunde und Erziehung, Bd. 8, 3. Aufl., Stuttgart 1979. Hier insbesondere die Metamorphose der unteren Sinne zu den sog. vier oberen.

König, K.: Sinnesentwicklung und Leiberfahrung, Heilpädagogische Gesichtspunkte zur Sinneslehre Rudolf Steiners, erw. Neuausgabe, 4. Aufl., Stuttgart 1995.

Ein Junge mit dem Asperger Autismus bedurfte der Anbahnung durch das Aufbauen personaler Begegnung. Er war nicht in der Lage, Personen anhand ihrer Gesichtszüge zu erkennen (s.u. Kap. Autismus) und konnte sich in der Klassengemeinschaft nicht orientieren. Er wurde drei Monate nachmittags im Zuge einer privaten Betreuung durch meine Frau auf die personale Wahrnehmung (Ich-Sinn) hin und gleichzeitig im Bereich der unteren Sinne geschult. Schließlich war er ‚begegnungsfähig‘ und konnte trotz seiner Zwänge und Ängste erfolgreich am Leben in der Klasse teilnehmen.

(7) Vgl. Uhlenhoff, W.: Die Kinder des Heilpädagogischen Kurses, Stuttgart 1994, S. 26–67.

Die Arbeit mit dem Vierschritt

Schon 1911, also mehr als zwei Jahrzehnte vor den ersten Ansätzen zur Entwicklung der Motopädie, wies Rudolf Steiner auf die Bedeutung der Bewegung in der frühkindlichen Entwicklung hin. (1) Die Entdeckung des Dreischritts „Gehen, Sprechen, Denken“ war aber schon seit 1884 bei seiner Arbeit mit dem hydrozephalen Otto Specht die wesentliche Grundlage seines erfolgreichen therapeutischen und erzieherischen Wirkens. (2) Für die Kinder mit Entwicklungsverzögerungen bzw. Entwicklungsstörungen ergibt sich aus den im Heilpädagogischen Kurs gegebenen Hinweisen für die Erziehung Sandroes (durch Frau Langen) diese Schrittfolge:

Es werden auf der Ebene der Bilder und ihrer Verarbeitung durch Bewegung (Spiele, Gesänge, Theaterspiele) Begriffe angelegt, die gegebenenfalls erst in späteren Jahren, im heilpädagogischen Zusammenhang auch nach Jahrzehnten, kognitiv erfasst und erweitert werden. So können die Kinder in einer Klasse auf unterschiedlichen Ebenen des Vierschritts zur Begriffsbildung kommen – die einen bildhaft, die anderen bilderzeugend/-darstellend, wieder andere schon kognitiv Ein Beispiel:

Die einen backen Brot, die anderen rechnen die prozentualen Anteile von Wasser, Mehl, Salz und Hefe aus, die nächsten notieren Rezepte, einige zeichnen Bilder von der Brotbackaktion. Jeder beteiligt sich nach dem Maß seiner Entwicklung.

In diesem Sinne sind die folgenden Ausführungen ein Versuch, mein Bemühen um eine Realisierung dieses Ansatzes in der Regelschule zu dokumentieren.

Im ersten Schritt verbanden wir uns mit Unterrichtsinhalten, die als bildhafte Erzählungen/ Lehrervorträge, als Betrachtung von Vorgängen, Aktivitäten oder eigene Erkundungen nach Arbeitsaufträgen gestaltet waren.

Im zweiten Schritt traten wir aus dem Wahrnehmen in die Bewegung: Wir verbanden z.B. Sprüche und Lieder – meist selbst gemachte – zu kleinen Schau- und/oder Singspielen, die im rhythmischen Teil eingeübt und teilweise bei den Schulfeiern aufgeführt wurden. Mal traten die vier Rechenkünstler auf, oder es unterhielten sich die ‚Klinger‘ (Vokale) mit den ‚Mitklingern‘ (Konsonanten). Auch wurden die Märchen in kleinen Spielen verarbeitet (vgl. auch die Spiele zum Geschichtsunterricht). Das Bemühen um eine gelungene Aufführung verband die Kinder miteinander. Sie begannen, sich gegenseitig zu unterstützen und auch im Unterricht positiv zu regulieren.

Im dritten Schritt wurde der Unterrichtsinhalt so aufbereitet, dass er aus dem Spiel heraus ins Epochenheft gezeichnet, geschrieben bzw. gemalt wurde. So erzählte ein Epochenheft von den Abenteuern der wandernden Formen, von der Reise des Lautekobolds Holli (s.u.), oder es wurde die Liederfolge der Rechenarten in Bildern festgehalten (s.u.) und mit Aufgaben im Zahlenraum bis 10 verbunden.

Wegen der feinmotorischen Defizite unserer Förder-Kinder ließ ich im rhythmischen Teil noch einmal all jene Inhalte singen und tanzen, die wir vorher schon aufgeführt hatten, auch wurden grobmotorische Übungen während der Hofpausen für diese Kinder wiederholt/vertieft/variiert.

Im vierten Schritt ließ ich die Schüler/innen eigene Rechenaufgaben, Wörter finden bzw. erfinden. Das spornte auch die sogenannten Schwächeren zum Mitwirken an. Im rhythmischen Teil war weiterhin Raum und Zeit für ein Zurückgreifen auf die vorher durchlaufenen Stufen. Da konnte noch einmal die Form gelaufen oder eine bestimmte Zahl gehüpft werden usw.

Diese vier Stufen wurden in jeder Epoche durchlaufen. Die Förderschüler/innen erschlossen sich die Unterrichtsinhalte entweder bis zur letzten Stufe (Anwendung/ Transferleistung), oder sie blieben in einer der Zwischenstufen „vorerst stehen“ (z. B. bei der Darstellung durch Bilder, durch bewegte Bilder oder in der Reproduktion bzw. praktischen Anwendung). In jedem Fall war auch mit der ‚unvollkommenen‘ Erschließung die Möglichkeit gegeben, die „Inhalte“ (Begriffe) nachreifen zu lassen.

Den sogenannten normal Begabten vermittelte der Vierschritt eine lebendigere und vielfältigere Sicht auf die Welt als die kognitiv orientierte Darstellung (vgl. Allgem. Menschenkunde, 9. Vortr.).

(1) Steiner, R.: Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit, GA 15, Berlin 1911. Das erfolgreiche und nachvollziehbare ‚Konzept‘ Steiners hält auch den Forderungen der ‚modernen‘ Hirnforschung nach einer stringenten kognitiven Schulung der kommenden Kindergenerationen stand – besonders der handlungs-orientierte Unterricht, der Logik und Sinnhaftigkeit ins Tun eingliedert. Wenn wir dazu noch die künstlerische Komponente und den Umgang mit den Konstitutionsbildern pflegen, sind wir schon auf dem richtigen Weg.

(2) Ders.: Heilpädagogischer Kurs (fortan HPK), 6. Vortrag, S. 95f. und zu Otto Specht:

Ders.: Mein Lebensgang, verfasst 1923–25, GA 28, TB636, Dornach 1983, S. 78ff.

(3) Uhlenhoff, W.: Die Kinder des Heilpädagogischen Kurses, 3. Aufl., Stuttgart 2007, S. 39 (Bericht Frau Langens zu einem von Sandroe erfundenen Rätsel).

Steiner, R.: HPK.

Ders.: Die Erziehung des Kindes, w. oben angegeben.

Ders.: Allgemeine Menschenkunde, Menschenkunde und Erziehungskunst I, GA 293, hier: TB 6170, 3. Aufl., Dornach 1982.

Ders.: Die pädagogische Praxis vom Gesichtspunkte geisteswissenschaftlicher Menschenerkenntnis, GA 306, 8 Vorträge, Dornach 15.4.-23.4.1923, 2. Aufl., Dornach 1975. Hier nahm Rudolf Steiner zur Anbahnung der Kulturtechniken Stellung.

Allgemeine Hinweise zum Unterricht:

Götte, W. u.a.: Entwicklungsaufgaben und Kompetenzen, Zum Bildungsplan der Waldorfschule, Stuttgart 2009.

Richter, T.: Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele, Stuttgart 2010. Hier finden sich zur Waldorf-Regelpädagogik wesentliche Hinweise nebst aktuellen Literaturangaben.

Neuffer, H. (Hg.): Zum Unterricht des Klassenlehrers an der Waldorfschule, 3. Aufl., Stuttgart 2008.

Zwei Ältere wertvolle Bearbeitungen der Angaben Rudolf Steiners:

Heydebrandt, C. v.: Vom Lehrplan der Waldorfschule, Stuttgart 1931. Neuausgabe von 2009.

Stockmeyer, E. A. K.: Rudolf Steiners Lehrplan für die Waldorfschule, 2. Aufl., Stuttgart 1965. Außerdem: Patzlaff, R. u.a.: Leitlinien der Waldorfpädagogik für die Kindheit vom 3 bis 9 Jahren, Päd. Forschungsstelle b. Bd. d. fr. Waldorfschulen, Stuttgart 2007.

Lehrerkollegium der Rudolf-Steiner-Schule Zürich (Hg.): Zur Menschenbildung, aus der Arbeit der Rudolf-Steiner-Schule Zürich 1927–1977, Basel 1977. Hier sind in mehreren Aufsätzen wesentliche Aspekte zur Menschenkunde und zur Unterrichtspraxis aus 50 Jahren dargestellt.

Zur Anerkennung eines eigenen Lehrplans der Förderschulen:

Masche, Th.: „Waldorf-Sonderschulen“, Ihre rechtliche Anerkennung mit eigenem Lehrplan in Baden-Württemberg, in: Erziehungskunst, 1998, S. 163–172.

Des Weiteren wird im Kapitel über die Lebensprozesse ein weiterer Aspekt angesprochen, unter dem ein Zugang zu einer lebendigen Unterrichtsgestaltung eröffnet wird. So entspräche die erste Stufe des Vierschritts dem der Atmung und Wärmung (seelisch: Wahrnehmung, Begeisterung, Konzentration), der Schritt des In-Bewegung-Setzens überwiegend der Nährung (seelisch: Verarbeitung), der Schritt des Nachschaffens dem der Absonderung und Erhaltung (Differenzierung/Auswahl der Inhalte und deren Wiedergabe durch Erinnerungsvorstellungen), der Schritt des Ersinnens von Rätseln dem des Wachstums (s.: Herstellen von Analogieschlüssen, Entwickeln der Erinnerungsvorstellung zum Begriff, der durch weitere hinzugewonnene Vorstellungen erweitert wird).

Zum handlungsorientierten Unterricht

Bevor wir uns mit der Förderung unserer Schüler/innen anhand der Krankheitsbilder und am Rande auch der Lebensprozesse beschäftigen, soll auf einen Bereich verwiesen werden, der den bildhaften Unterricht im Vierschritt einschließt und darüber hinaus eine für alle Schüler/innen effektive Förderung ermöglicht – der handlungsorientierte Unterricht.

In dieser Unterrichtsform können auch die Schüler/innen mit erhöhtem Förderbedarf die Unterrichtsinhalte mit Auge, Hand und Herz erleben – so wie es die Waldorfschulen in ihrer Außenwerbung verkünden. (1)

Der handlungsorientierte Unterricht

Auch beschränkt sich die Auseinandersetzung mit den Schülern/innen, die spätestens mit dem zweiten Ich-Einschlag (Rubikon) kommen muss/soll, auf das Sachliche:

Im handlungsorientierten Unterricht spricht die Aktion, in die sich Lehrkräfte und Kinder begeben, für sich:

Trotz der ‚Gefahr‘, mit den eigenen Fähigkeiten konfrontiert zu werden, beteiligten sich die Förderschüler/innen freudig an den Aktionen und Projekten. Das Kind, insbesondere das traumatisierte, kann beim Mahlen des Mehls, an das es behutsam herangeführt wird, schnell seine Selbstwirksamkeit erleben. Die in den Sinnen schwachen Kinder brauchen zwar Zeit zum Beobachten, die bekommen sie aber, um dann – nach Monaten – mit Hilfe eines Erwachsenen ins Tun einzusteigen.

Gleiches gilt für Kinder mit Autismus oder autistischen Zügen. Sie können ihr Tun auf einen bestimmten Bereich fokussieren und den Fokus nach ihren Möglichkeiten erweitern. Sie können ruhig ein Jahr lang Mehl mahlen, bevor sich ihr Interesse auf die anderen Arbeitsgänge ausweitet. Auch werden die traumatisierten Kinder nicht gedrängt bzw. zum Handeln genötigt. Sie können sich so eingeben, wie es ihre Befindlichkeit erlaubt und sie ihre Bedürfnisse leiten.

Erfahrungsgemäß steigen alle Kinder nach einer mehr oder minder langen Beobachtungsphase ein und werden dann durch Lehrer, Gast-Eltern und Mitschüler unterstützt. Sie lernen, schrittweise in die Eigenständigkeit zu kommen und das mit wachsendem Erfolg. Sie können sich, da die Arbeiten in regelmäßigen Abständen wiederholt werden, von Mal zu Mal initiativer in die einzelnen Arbeitsschritte hineinbegeben.

Schließlich, das heißt nach Jahren, muss der Lehrer die Arbeiten nur noch beaufsichtigen. Da die Förderschüler/innen immer in die Klassengemeinschaft eingebunden sind, haben sie nicht das Gefühl, mit ihren Leistungen hintenan zu stehen, sondern ihre Selbstwirksamkeit entfalten zu können.

Über die Arbeit und ihre Ergebnisse kann mehr berichtet und resümiert werden als über jeden kognitiven Lerngegenstand. In allen Abläufen spielt das Rechnen, das Beschreiben bzw. Erklären eine wesentliche Rolle – ohne dass ich als Lehrer darauf hinweisen oder hinleiten muss. (2)

Als Beispiel für eine Förderschule, deren Kollegium sich schon vor über 50 Jahren dem handlungsorientierten Unterricht verschrieben hat, sei die Christian Morgenstern Schule erwähnt. Sie bietet mit ihrer Ausstattung, inneren Struktur und ihrem Konzept ein ideales Arbeitsfeld für alle Formen des heilpädagogisch fundierten handlungsorientierten Unterrichts:

  1. Scheinbar banal und doch so wichtig: Durch den Schulhof fließt ein freigelegter Bach. Hier kann mit Wasser und Sand ordentlich gematscht werden. Außerdem ist der Schulhof reich bepflanzt und für Spiele aller Art bestens geeignet. Mit anderen Worten: Dieser Schulhof ist ein Sinnesschulungs-Parkour.
  2. Seit den achtziger Jahren voll ausgebaut, besteht in dieser Förderschule für Lernen und emotionale Entwicklung in der Oberstufe ein Werkbereich mit künstlerischer, handwerklicher und hauswirtschaftlicher Ausrichtung.
  3. Die Kollegen/innen sind in allen Klassenstufen auf den handlungsorientierten Unterricht eingestellt und unterrichten an vielen außerschulischen Lernorten mit unterschiedlichsten Aktionen:
  4. Die Schulgemeinschaft hat viele Projekte entwickelt, die innerschulisch vom handlungsorientierten Ansatz geprägt sind:

Die Schule hat zwar ein Konzept, z.B. Klassenhelfer/innen in der Unter- und Mittelstufe, die jede/r Klassenlehrer/in in Anspruch nehmen kann, dieses Konzept lässt aber jede/n Pädagogen/in in der Entscheidung, ob er/sie davon Gebrauch macht, frei. So erleben wir eine Vielfalt an Methoden, die den Begabungen der Pädagogen/innen und den Bedürfnissen der Schüler/innen entsprechen.

(1) HPK, insbesondere im 11. Vortrag, Starke Eindrücke in Verbindung mit rhythmischen Wiederholungen.

(2) Zum handlungsorientierten Unterricht:

Aebli, H.: Zwölf Grundformen des Lehrens. Eine allgemeine Didaktik auf psychologischer Grundlage, 12. Aufl., Stuttgart 2003.

Gudjons, H.: Handlungsorientiert lehren und lernen, Schüleraktivierung – Selbsttätigkeit – Projektarbeit, 6. überarb. u. erw. Aufl., Bad Heilbrunn 2001.

Meyer, H.: Unterrichtsmethoden, 2 Bde., Frankfurt/M. 1987.

(3) Informationen über die Schule im Schulbüro Wittensteinstr. 76, 42285 Wuppertal. Dort erhalten, soweit noch vorrätig, die Festschrift zum 50 jährigen Jubiläum der Schule mit allen wissenswerten Informationen. Der Internet-Auftritt ist dagegen wenig aufschlussreich. Vgl. auch das Interview mit H. F. Jaenicke, dem langjährigen Schulleiter der Christian Morgenstern Schule in:

Punkt und Kreis, Weihnachtsheft 2008, S. 12–15.

Auch gibt die Schule eine Vierteljahrszeitschrift heraus, die viele pädagogische Themen bearbeitet. Bestellung unter: s.o.

Beispiele für den handlungsorientieren Unterricht

Bau eines Backofens

Im dritten Schuljahr mauerten wir im Rahmen der Handwerkerepoche einen Backofen mit Gewölbe auf. Während die ‚bewegungsorientierten‘ Schüler/innen die Materialien zur Baustelle trugen, zeichneten andere den Bauplan. Einige rechneten den Materialbedarf aus. Dabei waren nicht immer die sogenannten Kognitiv-Schwachen bei den praktischen Arbeiten zu finden, wie auch die planerischen Dinge nicht nur von den sogenannten Kognitiv-Starken geregelt wurden.

Da Eltern die Bauarbeiten unterstützten, waren genügend Förderkräfte zur Stelle, um die Kinder beim Rechnen, Schreiben und bei den praktischen Arbeiten zu unterstützen. Am Aufmauern waren – selbstverständlich nicht gleichzeitig – alle Schülern/innen beteiligt. Durch diese Tätigkeiten wurde aus vielen Lern-Individualisten („Mein Weiterkommen ist mir am nächsten…“) eine Klassengemeinschaft. Die Schüler/innen halfen sich gegenseitig, anstatt sich als Konkurrenten zu sehen. Beim Spielen in den Pausen entfalteten sie mehr Phantasie. Auch handelten sie in allem planvoller.

Backen

Schon vor der Handwerkerepoche stellten wir Brot zum Eigenverzehr her. Aus Erfahrungen im häuslichen Umfeld wussten einige Schüler/innen, was aus Mehl, Wasser, Hefe und Salz hergestellt wird. Einen mit Holz beheizten Backofen kannten sie aber noch nicht…

Zur Einführung wurde am Tag vor der ‚Einweihung‘ des selbst gebauten Holzbackofens die Geschichte vom Bäcker Rotwange erzählt. Der hatte zufälligerweise auch einen Holzbackofen und durch den Umgang mit dem Feuer immer rote Wangen. Am folgenden Tag wurde der Ofen um sieben Uhr angeheizt.

Einige Schüler waren schon um halb sieben zur Schule gekommen, um beim Anfeuern zu helfen. Mit Unterrichtsbeginn wurde der Hefeteig in mehreren Schüsseln angerührt und mit den Händen geknetet. Der Teig quoll über die Ränder der Schüsseln.

Zwischenzeitlich wurde mehrfach im Ofen Holz nachgelegt und die Temperatur geprüft. Die Kinder erlebten, dass die Reifung des Brotteigs mit dem Erreichen der richtigen Ofentemperatur abgestimmt war.

Nachdem die Brotlaibe geformt waren, wurde die Glut aus dem Ofen entfernt. Die Brote wurden mit Mehl bestäubt und in den Ofen geschoben. Wir konnten den Brotteig noch einmal intensiv riechen. Die nach 20 Minuten ausgebackenen Brote dufteten so verführerisch wie sie schmeckten. Viele Brote wurden schon beim Transport nach Hause verzehrt.

Bei den regelmäßig stattfindenden Backaktionen wurden verschiedene Getreidearten und Teige – wie zum Beispiel Sauerteig – eingesetzt. Für den Begriff „Brot“ gab es verschiedene Formen der Herstellung mit unterschiedlichen Zutaten. Brot stand aber auch mit dem Bau eines Steinbackofens und dem Brennstoff Holz in Verbindung. Buchenholz gab eine andere Geschmacksnote als zum Beispiel Birke.

Die Kinder brachten Rezepte mit, nach denen jeweils ein anderes Brot und/oder ein anderer Kuchen gebacken werden konnte. Auch stellten sie fest, dass sich nicht alle Tage zum Brotbacken gut eigneten. Mal war das Brot locker, mal war es dichter und feuchter. Das führte uns im sechsten Schuljahr zu der Erkenntnis, dass die Sternenkonstellationen einen Einfluss auf das Reifungsverhalten des Teiges und den Backvorgang im Ofen haben. Wir beschäftigten uns in diesem Zusammenhang mit dem Aussaatkalender Maria Thuns und mit der biologischdynamischen Landwirtschaft. (1)

In der Förderschule wurde im Vergleich zur inklusiven Regelschule (s.o.) für das Einüben der Arbeitsschritte mehr Zeit eingeplant, so dass sich ein Backtag von sieben Uhr in der Frühe bis 13 bzw. 15 Uhr erstreckte.

Aber auch hier legten wir Hefte an, in denen die Rezepte festgehalten wurden (viertes/ fünftes Schuljahr). Auch wurden die Schüler/innen ab dem fünften Schuljahr aufgefordert, eigene Rezepte zu entwickeln bzw. zu suchen (Transfer/ eigenständige Anwendung).

Im dritten Schuljahr verbanden wir das Brotbacken zu Michaeli mit einer Mutprobe. Die Glut wurde aus dem Ofen geholt und auf dem Pflaster vor dem Backhaus ausgebreitet. Die Kinder konnten darüber springen und mit Holzschuhen aus dem Gartenbau hindurchlaufen. Alle waren begeistert, nur der Gartenbau-Kollege war „not amused…“, denn seine Holzschuhe waren angekohlt.

Das Herstellen von Pflanzenfarben/ Textilfarben

Ein anderes Projekt, das uns in der sechsten Klasse für eine Epoche beschäftigte und unter anderem der Anbahnung für den Chemie-Unterricht diente, war das Herstellen von Pflanzenfarben. Eine kundige Schülermutter grub mit uns verschiedene Wurzeln aus. Sie brachte auch Rote Beete und andere Gemüse mit, um sie auf offenem Feuer auszukochen und den Sud als Textilfarbe zu verwenden. Aus der gefärbten Wolle wurden im Handarbeitsunterricht Socken und Schals gestrickt und später mit Stolz getragen.

Eigenproduktion von Landkarten

Wie unten noch detaillierter beschrieben wird, stellten wir Relief-Landkarten her. Der Volksseelenvorträge Rudolf Steiners brachten mich auf diese Idee: Darin wird die Entstehung unserer festen Erdgebiete als ein Zusammenwirken der Geister der Bewegung aus dem Erdinneren (Aufwölben) und der Geister der Form aus dem Kosmos (von außen formen und verfestigen) beschrieben. (2) Diese Hinweise dienten dazu, die Entstehung der Erdgebiete als einen Prozess erlebbar zu machen und ihn in Stufen (siehe unten) zu einem Kartenbild ‚erstarren‘ zu lassen.

Keilschrift auf Tontafeln

In der Behandlung der alten Geschichte zielte – wie es an vielen Waldorfschulen üblich ist – die Beschriftung von Tontafeln in eine ähnliche Richtung. In den frischen Ton wurde mit einem Holzstift die Keilschrift bzw. die Hieroglyphe geritzt. Dann konnte die Tafel getrocknet und zwecks besserer Haltbarkeit gebrannt werden. Aus dem beweglichen Material, in das noch Korrekturen eingebracht werden konnten, entstand durch Trocknung und Brennen etwas Festes, Unveränderliches.

Tonarbeiten im Backofen brennen

Neben der Erstellung von beschrifteten Tontafeln formten wir in der Tierkunde Tiere aus Ton. Die haben wir aber nicht im „richtigen Brennofen“, sondern im Holzbackofen gebrannt. Wir sahen, wie das auf etwa 900 Grad hochgefahrene Feuer die Schamottesteine glühen ließ. Die Produkte war nicht ganz so hart wie im professionellen Zusammenhang, aber hinreichend gebrannt.

Epochenzeitung

Dass die Erfahrungen in Epochenheften festgehalten wurden, versteht sich. Wir konnten jeden Tag über neue Erlebnisse berichten und zeichnen. Entweder erstellten wir einen Tafeltext gemeinsam, um ihn abzuschreiben, oder jede/r Schüler/in berichtete/zeichnete aus eigenem Erleben. Am Ende sammelten wir die interessantesten/schönsten Zeichnungen und Aufsätze und fassten sie zu einer Epochenzeitung zusammen. (3)

Kerzenziehen

Im zweiten Schuljahr begannen wir mit dem Kerzenziehen. Wie an vielen anderen Schulen hielt ein Schnellkochtopf als Behälter für das flüssige Wachs her. Nach dem Einführen/Vorführen der Arbeitsgänge musste der Lehrer nur noch neben dem Topf stehen bleiben und schweigend, aber in handwerklicher Hinsicht immer wieder regulierend begleiten (Förderbereich L/E). Schnell hatten die Schüler/innen begriffen, dass geordnetes Zuwarten und Abstandhalten die Qualität der Kerzen steigerte. Ab dem sechsten Schuljahr konnten die Schüler/innen die Regie über alle Vorgänge von der Materialbeschaffung bis zum Verkauf auf dem Weihnachtsbasar übernehmen.

Übrigens lehnten die Schüler/innen die Begleitung ihrer Arbeit durch Musik oder andere ‚Berieselungen‘ ab. Das störe ihre Konzentration, erklärten sie mir. Im siebten Schuljahr verkaufte die Klassengemeinschaft auf dem Basar Kerzen im Wert von 1.000, im achten Schuljahr im Wert von 3.000 Euro. Sie hatten sich viel einfallen lassen, um die Angebotspalette breit zu fächern. Auch führten einige Schüler/innen gute Verkaufsgespräche.

Arbeit mit Schafwolle (siehe auch unten zum Filzen)

Im dritten Schuljahr sammelten wir bei der Besichtigung einer Schafschur rohe Heidschnucken-Wolle, wuschen sie, verarbeiteten sie zu Fäden und webten daraus auf selbst gefertigten Rahmen Sitzkissen, die nach einem Jahr leider dem Mottenfraß zum Opfer fielen. Die Geruchs- und Tasterlebnisse beim Waschen, Spinnen und Weben waren höchst intensiv.

Filzen

Eine weitere Möglichkeit, schon ab dem ersten Schuljahr die unteren Sinne zu schulen und dabei auch noch schöne Ergebnisse zu erzielen, ist das Filzen – insbesondere, wenn die Wolle vor Ort, also im Beisein und unter Mitwirkung der Kinder gewonnen wird (s.o. Schafschur).

Eine Kollegin an einer heilpädagogischen Schule unterrichtet alle Klassen mit Filzaktivitäten vom Hauptunterricht bis zur Nachmittagsbetreuung. Diese Stunden sind häufig das „High light der Woche“.

Theaterprojekte

Am Beginn des pädagogischen Bemühens im Vierschritt steht die Vermittlung von Lerninhalten, die in Bilder ‚gebannt sind‘. Um diese Bilder in Bewegung zu bringen, werden sie als kleine Spiele inszeniert.

Das Schauspiel hat im Vierschritt eine zentrale Stellung zwischen Sinneserleben und Vorstellungsleben. Es verbindet Vorstellungs- und Willenspol miteinander und erzeugt dadurch eine vertiefte und wesentlich lebendigere Vorstellung von der dargestellten Idee (vgl. dazu das Kapitel über die Lebensprozesse).

Wir spielten sowohl in der inklusiven Regelklasse wie auch in allen Förderbereichen viel Theater, zum einen im Sinne der Anbahnung des kognitiven Erfassens von Inhalten, zum anderen aber auch zur Bildung einer sozialen Gemeinschaft (s.u. die Theaterspiele zur Geschichte und zur Grammatik).

Wenn ein Kind – insbesondere in der Unterstufe – seine Rolle anders ausfüllte, als es der Lehrer sich vorgestellt hatte, wurde es erst interessant. Ein Beispiel aus der Darstellung einer Fabel im zweiten Schuljahr:

Ein Kind ist der Frosch, ein anderes ist der Storch, der den Frosch im Schnabel gefangen hält.

„Du bist jetzt ein frecher Frosch und springst aus dem Schnabel.“

„Bin nicht frech.“

„Das bist du auch nicht. Kannst du trotzdem aus dem Storchenschnabel springen?“

„Warum?“

„Weil du sonst gefressen wirst.“

„Will nicht springen.“

„Dann wirst du gefressen.“

„Will nicht gefressen werden.“

„Dann bitte den Storch, sich loszulassen.“

Der Storch wollte eigentlich widersprechen. Als er aber den Schnabel öffnete, fiel der Froschheraus, und der Fabel war Genüge getan.

Zu erleben, dass dieselbe äußere Erscheinung – hier das Entkommen des Frosches – ohne Normvorgabe so verläuft, das der Begriff stimmt, fördert beim Lehrpersonal und bei den Schülern/innen ein bewegliches Denken, wie es in allen Lebenszusammenhängen erforderlich ist. Die Kinder sollten nie so spielen, wie ich mir das als Lehrer vorstelle, sondern so, wie sie es als empfundenes Bild heraussetzen können. So ergibt sich immer ein produktives Zusammenspiel.

Auf der Bühne miteinander zu agieren, aufeinander ein- und zuzugehen, ist unsere Art der Anbahnung eines beweglichen Empfindens, Vorstellens und Verhaltens.

Anbahnung vielfältigster Art

In allem, was die Kinder im Freien an Spielen und am Umgang mit Naturmaterialien entwickeln, ist eine Anbahnung für die Fachunterrichte enthalten. Beim Wippen werden die Hebelgesetzte erlebt. Beim Umleiten eines Baches (s.u. zur Geografie) das ‚Verhalten‘ des Festen und Flüssigen miteinander – beim Bau eines Segels das ‚Verhalten‘ der Luft usw. Beim Backen erleben die Kinder die Chemie der Stoffe, beim Arbeiten auf dem Bauernhof die Tier- und Pflanzenkunde usw.

Resümee:

Mein Fazit ist folgendes:

Vielleicht funktioniert die Inklusion nur mit dem handlungsorientiertem Unterricht, denn sowohl in der inklusiven Regelschulklasse wie auch an der Förderschule führte das Handlungsorientierte zum gewünschten Lernerfolg. (4)

In der Elternarbeit ist zu beachten, dass die Unterrichtsmaßnahmen begründet und mit Beispielen belegt werden. Sonst fragen die Eltern zu Recht:

„Wann lernt mein Kind denn mal was Richtiges?“ Das „Richtige“ ist für sie immer noch die Aneignung von Lerninhalten ‚ohne Bewegung und Leben‘. (5)

(1) Thun, M. K.: Aussaattage, Thun-Verlag (jährlich seit 1963). Vorläufer des Aussaatkalenders ist der 1912/13 von Rudolf Steiner initiierte Konstellationen-Kalender (Dornach).

(2) Steiner, R.: GA 121 (Volksseelenvorträge), fünfter Vortrag vom 11. 6.1910, Oslo 1910.

(3) Auszüge einiger Epochenzeitungen, auch aus anderen Klassen wurden in verschiedenen Ausgaben der Schulzeitschrift „Morgenstern“ veröffentlicht.

(4) Vgl. dazu u.a. Jaenicke, H. F.: Kinder mit Entwicklungsstörungen, Möglichkeiten und Grenzen der Integration in der Waldorfschule, Stuttgart 1996.

(5) In der Elternarbeit hatte ich folgende Grundsätze:

Transparenz aller pädagogischen Maßnahmen (Es genügten in der Regel Berichte auf den Elternabenden), Respekt vor den im Elternhaus herrschenden Verhältnissen bzw. den karmischen Bedingungen, in die sich das Kind begibt/ begeben will bzw. begeben ‚muss‘ (Notwendigkeit) und keine Anspruchshaltung bzw. Belehrungshaltung gegenüber Eltern, sondern Interesse an ihnen sowie Stärkung der Elternkompetenz durch Austausch und Einbeziehen von Kollegen/innen oder außerschulischen Einrichtungen. Auch vermieden wir eine pathologisierende Sicht auf das Kind.

Köhler, H.: Von ängstlichen und traurigen und unruhigen Kindern, Grundlagen einer spirituellen Erziehungspraxis, Stuttgart 2009.

H. Köhler hat sehr viel zum Thema publiziert, erweckt aber wegen seiner äußerst konsequenten Haltung – ganz im Sinne der ersten Vortrags im HPK – bei manchen betroffenen Pädagogen/innen das Gefühl, im Regen stehen gelassen zu werden. – zum Beispiel:

Köhler, H.: „Schwierige“ Kinder gibt es nicht, Stuttgart 1997.

Wiechert, C.: Kinderbetrachtung in der Konferenz, in: Medizinisch-Pädagogische Konferenz 46/2008, S. 5–12.

Hier werden in aller Kürze wesentliche Fragen beantwortet. Siehe auch unten Anm. zu dem Krankheitsbildern. Zum Gedächtnis:

Steiner, R.: GA 170.

Die pädagogische Provinz Hof Vorberg

Goethe verwies in „Wilhelm Meisters Wanderjahren“ (hier: „Die pädagogische Provinz“) auf den erzieherischen Wert des Landlebens. Dieser Wert ist in unserer zivilisatorisch überformten Gesellschaft noch größer geworden. Die Christian Morgenstern Schule hat mit den biologisch-dynamischen Bauernhöfen im Windrather Tal einen kompetenten Partner für derartige ‚Provinz-Aktivitäten‘ – zum Beispiel für landwirtschaftliche Praktika und die Ackerbauepoche im dritten Schuljahr. So fuhren auch wir im dritten Schuljahr einmal wöchentlich auf den Vorberg-Hof.

Einige Schüler/innen erfuhren erst hier, woher die Lebensmittel stammten, die sie bisher nur als Inhalt eines Plastikbehälters kannten. Die Unkenntnis dieser Zusammenhänge hatte ‚Löcher in die Kinderseelen‘ gebrannt, und wir waren froh, als diese Löcher durch die Erlebnisse auf dem Bauernhof geschlossen wurden. Anfangs ekelten sich die Kinder vor Kuhmist und feuchter Erde. Aber die treuen Augen der Kühe beim Ausmisten und Striegeln, auch das zufriedene Grunzen der Schweine nach der Fütterung stimmten die Schüler/innen um.

Die Drittklässler/innen lernten,