Ostwind . . .
Gregori zieht mit einem behaglichen Grunzlaut das alte dicke Bärenfell enger um sich. Die steinerne Ofenbank auf der er liegt hat noch die Wärme des eingelegten Feuers in sich.
Unter seiner Schlafstelle ist noch alles still. Ab und zu quiekt mal eines von den Ferkelchen, wenn Salimba, die Schweinemama, sich im Schlafe dreht. Die Hörner der Ziege schaben leise am Ofenstein.
Der zottelige und schon halblahme Hundeveteran Igor schnarcht in den gleichen Tönen wie Gregori. Das zeigt die jahrelange Verbundenheit von Hund und Herr.
Durch die blinden Scheiben in den Fensterchen müht sich das letzte Blinkern des Mondes. Frau Luna ist gerade dabei schlafen zu gehen, um dem heranziehenden Frühling das Tageslicht zu überlassen.
Man sieht noch nicht viel vom Wegbereiter des Sommers, aber man riecht ihn und man fühlt ihn. Man hört ihn allenthalben donnernd krachen, wenn dem Flüßchen in der Senke das Bett zu eng wird und wenn der Panzer ihn drückt, den Väterchen Frost ihm im frühen Winter angelegt hat.
Die Sonne macht in der Mittagszeit den Schnee auf dem Dach zu Tränen, die an des Daches Walme silbern blitzende, lange Eisbahnen bilden.
Die knorrigen Kiefern ächzen im südlichen Wind, als wollten sie die winterliche Starre aus ihren Ästen vertreiben.
Das erinnert Gregori immer wieder an Petruschka - genauso schwer hat sie sich gemüht, ehe sie dem Fieber erlegen ist. Zehnmal ist General Winter nach ihrem Tod schon wieder durchs Land gezogen.
Jeden Morgen ist es Gregoris erste halbe Stunde des Tages. Das stille Zwiegespräch mit ihr, da abseits des Hauses vor dem hellen Birkenkreuz. Es ist schon seltsam - und er fragt sich manchesmal, warum es so ist. Mit Petruschka spricht er jeden Morgen in einer Sprache, die ihre Vorväter zu Zeiten Katharinas aus der fernen Herrlichkeit Jever mitgebracht hatten. Eine Sprache, die dort am Meer gesprochen wird - er ertappt sich immer häufiger dabei, sogar in diesen Lauten zu denken.
Freunde aus Jever haben vor Jahren zwei Bücher in Friesendeutsch - Plattdeutsch steht auf dem Einband - zurückgelassen.
Diese Schätze haben für ihn in den langen Wintern schon fast die gleiche Bedeutung erlangt wie die alte Familienbibel in der Kommode sie hat, mit den vielen Namen seiner Vorfahren in den abgegriffenen Deckeln.
Pjotr, der sieben Werst entfernt den Fluss hinauf wohnt, bewundert Gregori, wenn er eines der Bücher zur Hand nimmt, und ihm daraus vorliest.
„Verstehen - verstehen ist so eine Sache, Brüderchen“ - hört er dann von Pjotr – „wenn ich verstehen sollte, dann müsste mein Großväterchen auch wohl von einem dieser Sandhügel in der Nordsee stammen - so wie es bei dir ist,“ - Pjotrs Augen scheinen dann auf die Reise zu gehen. Als wenn sie sich in der Ferne verlieren, so klingen seine nächsten Worte – „aber sie zu Hören ist gut. Sie klingen so rund und so weich - wie wenn mich Babuschka als Junge in ihren Armen hielt - und mein Köpfchen zwischen ihre riesigen Brüste drückte.“
Er schließt in der Erinnerung daran die Augen, wohl, weil er mit dem Kopf zwischen Babuschkas Brüsten auch nichts sehen konnte. „Hören ist gut - besonders, wenn dein Wässerchen mir große Ohren gemacht hat - mit viel Platz für die Seele von Mütterchen Russland.“
Soviel Tiefgang hat Pjotr nüchtern noch nie in die Welt hinaus gelassen – wenigstens nicht einem männlichen Wesen gegenüber.
Ihre, gemeinsamen verbrachten, Stunden reichen auch schon mal bis in den Morgen hinein. Meistens ist es in der kurzen Zeit des Sommers, wenn die Nacht nur einen Klafter lang ist.
Dann ist in den Herzen der beiden Mannsleute genauso viel Leben wie in den lichten Birkenwäldern ringsumher, und wie in den springenden Flüssen der weiten Ebene.
Es ist die kurze Zeit der Ernte. Es ist die Zeit des Fallenstellens, und es ist die Zeit des Fischens, als Vorsorge für den nächsten langen Winter. Meister Petz müsste ihnen noch einmal zu Gefallen sein, und in eine der Gruben tappen. Das würde neue Kleider geben, und reichlich Schinken für die harte Zeit.
General Winter ist unerbittlich. Wenn der Herbststurm damit beginnt das Laub von den Bäumen zu fegen, dann stehen auch schon seine klirrenden Schwadrone bereit, das Land in eisige Ketten zu legen.
Gregori trägt jede Minute Petruschkas Traum mit durch die Zeit. Petruschka hat immer davon geträumt einmal das Land sehen zu können, in dem die Sprache ihrer Vorfahren ihr Zuhause hat.
Er wird seiner Petruschka davon berichten, wenn er denn ihren Traum einmal wird leben können. Vielleicht werden das Schicksal und Mütterchen Russland es ihm noch zugestehen.
Der einzige Wandschmuck in seiner Hütte ist ein kleines, vergilbtes Bild. Französischer Leuchtturm auf Norderney - steht in fast nicht mehr leserlichem Druck auf der Vorderseite.
Irgendeine sehnsuchtgeplagte Seele hat vor vielen menschlichen Zeiträumen den Text eines Gedichtes auf die Rückseite geschrieben. Wenn Gregori sich die Verse anschaut - er kennt sie nach zigtausendmal lesen längst auswendig – meint er die Wellen hinter dem leise singenden Dünenwind rauschen zu hören.
Er hat sich damals, von den Besuchern aus Tettens, immer wieder von dem wunderschönen Strahlenkranz erzählen lassen, der sich in der Dunkelheit wie ein Schirm über die Dünen ausbreitet. Gerade so als würde er die Insel behüten.
Norderney
Der Möve Flug durchkreuzt die Dünen
begleitet dich auf deinem Weg
mal verschwindest du im Grünen
mal benutzt du dünnen Steg
Unter dir das quirlige Strudeln
von Prielen die zum Meere zieh’n
nicht weit von dir in kleinen Rudeln
ruh’n Seehunde im Abendglüh’n
Wie wenn er Atem schöpfen musste, macht der Schreiber von damals eine Pause, bevor er die Zeilen des Gedichtes weiterlaufen lässt.
Fügt herzallerliebste Grüße an die Base Bertha ein – und setzt hinzu, daß sein Asthma durch das Klima der Insel, und ob der guten Pflege, nun schon fast Reißaus genommen habe. Dass im Übrigen die Schwestern im Seehozpiz recht zufrieden mit dem fortschreiten seiner Genesung seien, und erwähnt dann besonders Schwester Edeltraud, die ihn wohl ins Herz geschlossen habe, und der er sehr zugetan sei.
Dann folgt in schwächer werdender Schrift der Rest des Gedichtes.
Weit nach Osten vorgeschoben
sehr entfernt von Stadt und Land
ragt der Leuchtturm schlank nach oben
in Nacht und Sturm auf festem Stand
Einmal muß man bei ihm weilen
in warmer klarer Sommernacht
er schickt sein Licht in weißen Pfeilen
in großen Strahlenkranzes Pracht
Kommst du dann nach langen Runden
näherst dich deinem Quartier
behalt für dich, was du empfunden
sag einfach nur – ich bin gern hier
Der Schreiber dieses Gedichtes ist nicht darunter vermerkt – es muß wohl jemand gewesen sein, der diesem Fleckchen Erde sehr verbunden war.
Gregori hat manchmal das Gefühl, die alte Karte spricht zu ihm – sagt ihm auch ganz einfach: ich bin gern hier.
Auf vergessenen Wegen war diese Postkarte vor langer Zeit in den russischen Weiten gelandet. Täglich einmal dieses vergilbte Papier mit seinen Händen berühren, das ist für ihn seit langem schon zu einem Ritual geworden
So führt ihn auch heute Morgen - nachdem er hinter den Bäumen seine Blase entleert hat - der erste Weg zu dem weißen Birkenkreuz auf dem kleinen Erdhügel.
Er steht auf bloßen Füßen im Schnee - spürt nicht die Kälte, die stumm an seinen Beinen hinauf kriecht – er sieht nichts um sich her, er blickt nur mit fassungslosem Erstaunen auf das hölzerne Kreuz. Er starrt mit weit offenem Mund auf die kleine, blanke Birkenknospe, die am grob behauenen Aste sprießt.
Ein Wunder ist geschehen, würde Väterchen Stochopan, der Pope, nun sagen und sich bekreuzigen.
Und genau das tut Gregori jetzt auch, während er vor dem Grab auf die Knie sinkt und betet.
Wie lange er schon regungslos im Schnee verharrt, weiß er nicht, als ihn von hinten eine klobige Hand ganz sacht an der Schulter berührt und ihm einen Becher hinhält. Pjotr steht schweigend hinter ihm. Sogar die beiden Hunde an seiner Seite geben keinen Laut.
„Brüderchen, trink" sagt er nur. Die Worte dieses hünenhaften und starken Mannes, der einen Bären nur mit seinen bloßen Händen erlegte - klingen wie das Flüstern des Sommerwindes, bevor er sich in den herbstlichen Wäldern verkriecht.
Ein irdener Krug wechselt die Hände - in blanken Tropfen perlt das Wässerchen durch Gregoris Kinngestrüpp.
" Uuaaahhhhh" - tief aus seinem Brustkasten tönt es wie ein Urlaut.
Seine schwielige Rechte fährt den Bart entlang - bleibt in der klaren Luft hängen und streicht mit den Fingerspitzen sacht wie ein Schmetterlingsflügel über die kleine Knospe am Birkenkreuz.
„Gregori - - Gregori Brüderchen - - “ noch einmal flüstert er eindringlich: „Gregori - - - komm!“
Pjotr muß seinen Freund mit einem festen Griff an den Schultern in die Wirklichkeit zurückschütteln.
„Es wird Zeit, das Eis hält nicht mehr lange.“
Er macht eine kurze Pause, um dann in drängendem Tonfall weiterzureden.
„Der Mond wird mager - er ist schon weniger als halb - in ein paar Tagen geht das Wasser.“
Die schiebenden und polternden Eisschollen tanzen in seinen Gedanken schon über den Strom – als wenn sie es nicht erwarten könnten, ihre Urheimat Meer zu erreichen.
Dieses Bild spornt ihn an, noch mehr Drängen in seine Stimme zu legen.
„Dann ist uns der Weg an die Fallen versperrt, bis der Fluss wieder klar ist."
Einen Moment hält er inne, um dann leise hintenan zu hängen: „Deine Petruschka läuft dir hier schon nicht weg."
Eine solche Sanftheit in der Stimme traut man diesem groben Klotz gar nicht zu, wenn man sonst seinen gewaltigen Bass die Luft erzittern lassen sieht.
Der Hauch des Sommerwindes in seiner Stimme hat sich schon wieder versteckt, als er polternd hinzufügt:
„Aber ein Jammer ist es, wenn die Wölfe unsere Felle unter sich aufteilen.“
Damit holt er seinen Gefährten endgültig in die Wirklichkeit zurück. Gregori reibt sich mit einer handvoll Schnee die Kälte aus den Knochen - während Pjotr am Ofen den Samowar zum Singen bringt. Ein Becher grusinischer Schwarztee, mit einem Schuß Wodka versilbert, verscheucht im Nu alle ungnädigen Geister.
Bevor die beiden Männer sich dick vermummt auf den Weg machen, muß Gregori noch die Ziege melken, und die Milch auf die Ofenbank stellen, damit sie sich nach ihrer Rückkehr am Kwaß laben können.
Auf den wendigen Schlitten ist nur das nötigste verstaut. Leichtfüßig laufen die Hunde davor her. Gut dreißig Werst müssen sie zurücklegen, und vor Einbruch der Dunkelheit den Fluß wieder überquert haben.
Den Fluß. Diesen großen Verbündeten und ständigen Gegner. Er ist ein Gegner, den man mit Respekt behandeln muß, damit man in Frieden mit ihm leben kann. Denn ohne ihn wäre es ein kärgliches Auskommen für die Menschen am Strom. Es gäbe keinen Tran, und auch keinen Rogen.
Krachende Schläge – lauter wie Haubitzendonner - zeigen an, wenn der Wassergeist sich Raum verschafft, wenn wieder eine Spalte ins Eis bricht. Das kann ohne des Tages Helle tödlich sein für Mensch und Tier.
Im letzten Vorsommer ist ihnen dadurch ein beladener Schlitten verloren gegangen. Die Hunde davor haben sie retten können, weil Pjotr geistesgegenwärtig die Zugleinen kappte. Die mühevolle Arbeit eines langen Winters, und ein Stück Erinnerung an Petruschka, versank jedoch in der Dunkelheit unter dem Eis. Es war auch noch ausgerechnet der Schlitten, mit dem er seine Petruschka als glückliche Braut in ihr gemeinsames Heim gefahren hatte.
Nach der ersten Verbitterung über den erlittenen Verlust, hatte Gregori es anders betrachtet. Die Lachse in den Gründen würden den Verlust ausgleichen, wenn sie als fette Beute in den Fangkörben landeten.
In der Nacht hat es noch einmal kräftig geschneit – es war schon Frühlingsschnee. Der Schnee war nicht mehr so unermüdlich wie noch vor Tagen, aber er war gefährlich. In seiner weißen, jungfräulichen Unversehrtheit alles überdeckend.
Der Wind macht zwar noch dicke Backen, wenn er bläst – er ist aber bei weitem nicht mehr so scharfkantig und beißend wie im echten Winter.
Um die Köpfe von Mensch und Tier wehen die weißen Fahnen des Atems, und hinter ihnen wie glitzernde Wolken die aufgewirbelten, blinkernden Schneekristalle.
Anstrengend und schweißtreibend ist das Vorwärtskommen im unberührten Schnee. Selbst die Hunde hecheln mit langer Zunge, obwohl die Last auf den Schlitten eigentlich gar keine ist.
Der harschige Untergrund birgt so manche unsichtbare Tücke. Sie kreuzen Wolfsspuren. Freund Isegrim ist schon mit seiner Sippe durchs lichte Unterholz gezogen.
In der Ferne hört man sie heulen, die einsamen Wanderer - lang gezogen und sehnsuchtsvoll, als wenn sie die Brautzeit spüren.
Natürlich sind auch sie hungrig - wie alles, was sich im weiten Land bewegt, hungrig ist - gleich ob es sich auf zwei oder auf vier Beinen fortbewegt. Mühsam arbeiten die Männer sich von Falle zu Falle. Die Fallen unter der Schneedecke zu finden, erleichtert ihnen der alte Igor – wenn er auch nicht mehr bestig sehen kann - seine spürende Nase ist noch immer durch nichts zu ersetzen.
Drei Schlagfallen sind bis auf ein paar Fellreste leer. Es sei den grauen Gesellen gegönnt. Obwohl Pjotr, lauthals und anhaltend, die wölfigen Plünderer verflucht.
Auf dem Rückweg liegen drei Schneefüchse, und eine Handvoll Hasen auf den Schlitten. Das gibt Fell für Stiefel und Mützen, und ihr Fleisch wird reichen, bis der Fluß ohne Eis ist.
Pjotr bleibt heute Nacht bei Gregori. Olga, sein Weib wird's verstehen - und gleichzeitig seine Nähe vermissen. Seine Wärme und seinen Schutz, aber sie wird’s verstehen.
Die russischen Frauen haben ein so großes Herz für ihre Männer - solange sie ihnen treu sind.
Aber welcher gute russische Mann ist seiner Muschka nicht treu. Man lebt hier nicht in den dekadenten Machtzentren, in denen Geld häufig mehr bedeutet als alle anderen Werte.
Sie hat noch ihr altes Mütterchen Galina bei sich. Es ist ein vergnügtes hutzeliges Weiblein. Pjotr versucht manchmal die Runzeln in ihrem Gesicht zu zählen – gelungen ist es ihm aber noch nie.
Er kann seinem Zusammenleben mit seiner Muschka, und ihrem Mütterchen, eigentlich nur gute Seiten abgewinnen. Bloß auf seine Machorka Vorräte muß er ein waches Auge haben. Ehe er es sich versieht, hat Galina strangweise seine Tabaksblätter in Ahornsirup eingelegt. Mütterchen Galinas einziges Laster ist nämlich der Kautabak. Sie priemt leidenschaftlich gern.
Gemeinsam sind Mutter und Tochter seit Wochen am Teppichknüpfen – die Zeit wird ihnen also nicht lang werden. Der Teppich ist für das neue Kirchlein in der nächsten Siedlung bestimmt. Über fünfzehn Arschin soll er reichen, nach dem letzten Knoten. Vielleicht schenkt der liebe Gott seinen beiden Frauen dafür ein langes Leben.
In der aufbrechenden Natur, mit stetig neuem Schneefall, wären sieben Werst Dunkelmarsch heimwärts gleich sieben Werst lauernde Gefahr. Auch für einen Naturburschen wie Pjotr einer ist. Da ist ein guter Abend beim Freund, mit Wässerchen und Balalaikamusik, wahrlich die bessere Wahl.
Das brennende Harz der frisch geschlagenen Kiefernstämme verbreitet bis in den letzten Winkel aromatischen Duft, der sich mit den Ausdünstungen der lebenden Wesen in der Hütte zu einer unnachahmlichen Gerüchekomposition verbindet.
So unglaublich es klingen mag – wer sich einmal in dieser Atmosphäre geborgen fühlte, der wird sie an jedem anderen Ort der Welt schmerzlich vermissen.
Das geheimnisvoll knisternde, flackernde Feuer im offenen Herd ist die einzige Helligkeit, bei der die beiden Freunde, nach ihrem einfachen Nachtmahl, sinnfällig die Zeit betrachten.
Rötlichgelbe Lichtflecken huschen über die Wände – sie verwandeln den kargen Raum in eine Märchenwelt. Als Petruschka – Gott hab’ sie selig – noch an seiner Seite war, da zauberten ihre selbstgedrehten Kerzen mit an dem Bild. Boris nahm ihre Winterarbeit im Frühling stets mit auf seine Handelsreise. Jetzt ruht in der Hütte die Wachsgießerei.
Salimba die Schweinemutter, ihre Ferkelchen und die Ziege liegen wohlversorgt unter der Ofenbank. Die Hunde zanken sich deftig um ein paar fleischige Knochen. Der Wind singt im Rauchfang geheimnisvolle Weisen, während er die gepökelten Hasen und Füchse umspielt.
Zeit wird's, daß das Eis aufbricht und der Fluss geht, damit Boris - der Alleshändler - mit seinem Boot die Versorgung der Einsiedeleien wieder aufnehmen kann.
Dunnerlittchen - ist das jedesmal ein Festtag, wenn das erste Mal nach langem Winter die Glocke auf dem Fluss ertönt. Bei Gregori macht der Händler immer Nachtstation. Boris und Petruschka hatten nämlich dasselbe Mütterchen.
Beim Väterchen wußte es keiner so genau, weil – ihre Mamuschka liebte zwei feurige Männer auf die gleiche verzehrende Weise. Vermählt war die rassige Elisabetha mit keinem von den Beiden, weil sie keinen verlieren wollte.
Der eine diente bei den Kosaken, der andere diente dem Herrn. Nicht das jetzt jemand auf die unkluge Idee kommt, die Mamuschka von Petruschka und Boris hätte den einen mit dem anderen betrogen – bei Gott – so war es nicht.
Es wollte einfach keiner der beiden gestandenen Recken auf sein Glück verzichten. Geteilte Freude ist auch in den sibirischen Weiten doppelte Freude.
Damit bei den Besuchen nicht unschöne Kalamitäten entstanden, hing der Priester sein großes goldenes Kruzifix an den Türbalken, wenn er mit Mamuschka auf rosigen Wolken durch den Liebeshimmel flog.
Des strammen Kosakenkriegers Säbel baumelte an eben demselben Ort, wenn die beiden durch die Gärten der Lüste galoppierten, und er sein schweißnasses, duftendes Pferdchen liebkoste.
Der Machorka geht zur Neige – Pjotr macht seinen Tabak seit Tagen schon länger, indem er die knisternden, vorjährigen Blätter der Buchen darunter mischt. Gregori hat ihm schon vorgeschlagen, er solle dieses Verfahren doch in Moskau zum Patent anmelden. Olgas Mütterchen hat an den langen Teppichknüpfabenden nämlich recht häufig seine goldbraunen Tabakblätter eingelegt.
Auch das Salz wird langsam knapp, und Lampenöl ist schon seit geraumer Zeit nicht mehr im Fässchen.
Statt mit Lampenöl kann man sich ja zur Not mit Kienspan behelfen – nur, der Ruß ist oft unerträglich. Um nicht zu ersticken, muß man dann schon die Luken öffnen, und die kostbare Wärme entflieht der Enge des Raumes.
Obwohl sie den Winter trotz all seiner Widrigkeiten lieben, sehnen die beiden Männer nun den Frühling herbei, Den Frühling mit seinen brausenden, südlichen Winden. Den Frühling mit dem geheimnisvollen Wispern in dem jungen Birkengrün, mit den quirligen, strudelnden Erzählungen, des zu neuem Leben erwachenden Flusses. Uralte und doch immer wieder neue Geschichten verbreitend.
Viele inhaltsträchtige Worte gehen in den dunklen Stunden dieser Nacht hin und her. Sie sausen auf den vom Wässerchen gelockerten Zungen aus den Mündern wie die blanken Kufen der Schlitten auf gefrorenem Schnee. Sie springen von einer Ecke des Raumes in die andere.
Es sind Stunden in einer festgefügten, kleinen Welt. Eingebettet in die unberührten Weiten der sibirischen Ebenen. Die neueste politische Entwicklung, im fernen Moskau, wird unzählige Male hin und her gedreht – und von allen Seiten gründlich beleuchtet.
Bei jeder Drehung der Ereignisse entsteht dabei ein anderes Bild. Es ist wie bei dem alten Kinderspielzeug, das bei Gregori auf der Borte steht. Man schaut in eine Röhre, und jede Bewegung der Hand bringt die bunten Steinchen im Innern dazu, etwas anders zu zeigen.
Vor Jahren hatte ein westlicher Geldmann, dem die Partei einen Bären zum Abschuss genehmigte, so ein Spielzeug als Souvenir zurück gelassen.
Die Veränderungen in Russland sind für die beiden Mannsleut heute noch genauso unbegreiflich, wie vor drei Monaten, als die Prawda, aus der Gregori und Pjotr ihre Informationen schöpfen, nach wochenlangem Irrweg durch die Taiga bei ihnen gelandet ist. Die eins so glorreiche Sowjetunion, sie ist nicht mehr.
Zu ihrer Beerdigung wurde nicht einmal ein Trauermarsch gespielt. Jemand meinte gesehen zu haben, daß der einbalsamierte Genosse Stalin sich im Mausoleum an der Kremlmauer vor Wut selbst in den Hintern gebissen habe.
So richtig zu glauben ist es ja nicht – aber alleine die Vorstellung einer solchen Wundertat ist schon einen oder besser noch zwei Extraschluck Wässerchen wert.
Wieviel einfacher war ihnen das Verstehen der Welt zu Zeiten der straffen Führung durch die allgegenwärtige Partei doch gemacht worden
Ein tiefer Seufzer Pjotrs unterstreicht diese Erkenntnis, die er gleich noch einmal in einen gehörigen Schluck Wodka hüllen muß. Damit sie sich auch so recht behaglich fühlt in der Dunkelheit seines Inneren.
Da kam des Sommers alle Monate ein Politoffizier aus der Provinzhauptstadt in den „Kulturpalast“ - dem einzigen Steinhaus der nächsten Siedlung. Um den Bürgern die Segnungen und Errungenschaften der Partei in wortreichen, bunten Bildern zu malen.
Im Gepäck steckte stets ein Bündel Grüße der Genossen Parteisekretäre, an die Adresse der Arbeiter und Bauern im Lande gerichtet.
Ein Graus waren den Männern allerdings die Male, in denen ein weiblicher Politruck ihnen aus der Parteibibel vorlas. Mit den berockten, meistens an Hintern und Busen herrlich stramm gerundeten Ideologinnen konnte man hinterher seine „Befriedigung“ über die sinnlosen Pläne der genialen Parteistrategen nicht einmal im Wodka ersäufen.
Die blitzenden Augen über den weiblichen Formen guckten sich für die Nacht höchstens ein gut bestücktes Mannsbild aus, um die lodernde Glut zwischen ihren griffigen Schenkeln einzudämmen. Wer dabei nicht als Feuerlöscher für brennende Venusberge auserkoren wurde, der konnte heilfroh sein – denn häufig verschwanden die „glücklichen Ritzenstürmer“ wie sie genannt wurden - auf Nimmerwiedersehen in den Weiten des Landes. Oder in den Tiefen der Bergwerksschächte. Sie hatten ja standfest bewiesen, daß sie „ihren Mann“ stehen konnten.
Pjotr hatte einmal auf dem Heimweg von so einer Versammlung verlauten lassen: „Wenn jeder Gruß der Genossen aus Moskau ein Rubelchen wäre - Brüderchen – einen Kolchos könnten wir uns dafür kaufen!“
Ein Alptraum vom Glück hatte ihn wohl zu dieser Aussage hingerissen. Denn wer so etwas an falscher Stelle auch nur laut dachte, war meistens der Zwangsarbeit in den Kohlebergwerken näher, als seinem heimischen Herd, selbst wenn der nur einen Werst entfernt stand.
Kulturpalast war gut gesagt. Es war nur ein ummauertes Stück sibirischer Luft, mit grob behauenen Stämmen als Dach. Als Volkspalast war dieses einfache Vierkant, nach dem großen vaterländischen Krieg, von gefangenen Germanskis errichtet worden. Sogar eine Kosakenkapelle aus Usbekistan spielte bei der Einweihung zackige Märsche.