cover

dedicated to

Robert ‘Buffalo Bobby’ Yerike

GA – ME ‘03/‘07/‘11

who made a difference to so many hikers’ experience of the AT

with his absolute kindness towards everybody

Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über <www.dnb.de> abrufbar.

Originalausgabe Februar 2017

© 2017 – Manuela Pinggèra

Umschlaggestaltung, Layout und Satz: Manuela Pinggèra

Photos und Grafiken, wenn nicht anders angegeben, stammen aus der Hand der Autorin

Umschlagphotos: Mooselookmeguntic Lake und Aussicht von Bemis Mountain, Maine

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 9-783-743-12597-1

Inhalt

 

Vorwort

 

Dieses Buch hätte es gar nicht mehr geben sollen.

Es war zwar schon längst als Buchprojekt geplant, bevor ich das erste Mal auf den Appalachian Trail kam, doch hinterher wollte das Ganze einfach nicht klappen – da war nichts zu machen; ich fand keinen rechten Einstieg ins Thema, von dem aus das Ganze entwickelt werden sollte. Ein erstes Manuskript brach ich mittendrin ab, weil es nicht das war, was ich mir vorgestellt hatte. Es war wie verhext.

Da wandert man zwei Mal einen Weitwanderweg, zu dem es reichlich zu berichten gäbe – allein, es will einfach nicht funktionieren.

Es sollte keine Tag für Tag Nacherzählung meiner kompletten Wanderungen werden. Erstens gibt es solche Berichte auf dem amerikanischen Buchmarkt zuhauf, zum anderen aber werden diese Berichte schnell etwas eintönig, denn auch auf dem Appalachian Trail erlebt man nicht pausenlos Abenteuer oder hat aufregende Erlebnisse anderer Art.

Dieses fruchtlose Hin- und Her an angestrengtem Überlegen, ein brauchbares Konzept zu finden, mit der Ratlosigkeit darüber, was daran denn nur so kompliziert sein konnte, dauerte gut drei Jahre, bis ich beschloss, unter das Projekt endgültig einen Schlussstrich zu ziehen. Das Vorhaben war für mich also abgehakt.

Im vergangenen Jahr hatte ich ein Klassentreffen mit Klassenkameraden aus meiner Münchner Realschulzeit, zu dem auch einige Lehrkräfte gekommen waren, die uns damals unterrichtet haben. Der Abend verlief sehr erfreulich, mit allerlei Spaß und Unterhaltung; man tauschte sich über dieses und jenes aus – auch der Appalachian Trail war hier und da Thema, wobei es mehr um die grundsätzlichen Informationsaspekte zum Trail ging, als um Einzelheiten meiner beiden Komplettwanderungen (Thru-hikes). Insgesamt war es ein sehr schöner Abend, von dem ich zufrieden nachhause fuhr.

Am Tag darauf wache ich auf, und als sei irgendwo unbemerkt ein Schalter umgelegt worden, stand mir mit einem Mal klar vor Augen, wie dieses Buch zu schreiben sei.

Warum nun zwei Bücher?

Nachdem das Manuskript fertig war, kamen knapp 260 DIN A 4 Seiten reiner Text zusammen, in die noch zahlreiche Photos und Grafiken eingefügt werden sollten, außerdem standen Satz und Gestaltung des gesamten Buchblocks bevor, damit das Endprodukt lesbar wird.

Es sollte auf keinen Fall ein unhandlicher Wälzer am Ende dabei herauskommen, der womöglich nach kürzester Zeit im Buchrücken auseinanderfällt. Das macht keinem Leser Freude.

Daher gibt es nun einen eher allgemein gehaltenen ersten Teil zu vielerlei Aspekten des Trails mit einigen persönlichen Erfahrungsberichten zwischendrin und als Folgetitel einen zweiten Teil, der dem Verlauf des Appalachian Trails in klassischer Süd-Nordrichtung Bundesstaat für Bundesstaat von Georgia nach Maine folgt, mit gelegentlichen Einschüben aus meiner Erfahrung als Northbounder und als Southbounder.

Beide Buchteile enthalten die vollständigen Anhänge, denn sie ‘funktionieren’ auch als eigenständige Bücher.

Die folgenden Kapitel beider Bücher enthalten oftmals englischsprachige Ausdrücke, die ich bewusst und auch wiederholt verwendet habe. Dabei handelt es sich um spezifisches Vokabular, das für den Trail typisch ist, weil es aus dem dort gebräuchlichen Jargon stammt.

Es hat hier einfach keinen Sinn, diesen Spezialwortschatz krampfhaft ins Deutsche zu übersetzen, nicht nur, weil es sich mitunter dämlich anhört, aber auch deshalb, weil diejenigen Leser, die daran interessiert sind den Appalachian Trail selbst zu wandern, den Trail-Jargon im Originallaut kennen sollten.

Auch Pflanzen und Tiere werden öfter im englischen Wortlaut genannt, denn kein Mensch wird einem in den Appalachen begegnen, der Flora und Fauna auf Deutsch benennt, einmal abgesehen davon, dass es um ortstypische Tiere und Pflanzen geht, die ich noch nie in Deutschland gesehen habe, um einmal eine Auswahl zu nennen: Blacksnakes, Gartersnakes, Spotted Newts, Mayapples, Trillium, Crested Trillium, Bottle Gentian, Mountainlaurel, Springbeauties, Virginia Creepers, Poison Ivy ...

Keines der beiden Bücher hat den Anspruch, einen Wanderführer zu ersetzen – so möchten auch insbesondere Informationen, die ich im Text zu Hostels oder Serviceleistungen entlang des Trails gebe, als individueller Erfahrungsberichtsteil verstanden werden. Ob es eine Einrichtung/Serviceleistung aktuell noch entlang des Trails gibt, muss anhand der neuesten Ausgaben offizieller Handbücher zum Appalachian Trail geprüft werden.

Was die beiden Bücher ebenso nicht bedienen möchten, ist das zurzeit populäre Genre: große Wanderung plus Nabelinnenschau mit womöglicher Selbstfindungsgeschichte.

Eine Weitwanderung ist per se keine Pilgerreise, bei der neben den religiösen Aspekten eine Selbstreflexion durchaus Motivation und Thema sein kann. Zum anderen muss eine Weitwanderung auch nicht zwingend zu einem Selbstfindungstrip werden, um lohnenswert zu sein und die Berechtigung zu erhalten, erzählt zu werden.

Es gibt tatsächlich recht viele Leute, die sich auf einem Weitwanderweg einfinden, einfach, weil sie diesen Wanderweg laufen und die Landschaft mit Drum und Dran erleben wollen, ohne, dass sie unterwegs irgendwelche Baustellen mit sich selbst und ihrem Leben aufzuarbeiten hätten oder nach innerer Wandlung suchten.

Außerdem ist Weitstreckenwandern so, wie man es mit zeitlich begrenztem Visum als Nicht-US-Bürger in den USA zwangsläufig betreiben muss, wenn einer der großen Trails in Gesamtstrecke das Ziel ist, ein körperlich anstrengendes und eher athletisches Unterfangen, bei dem man einfach gar nicht die nötige Muße, geschweige denn Kraft zu einer Selbstreflexion mit möglicher Katharsis hat.

Es gilt, monatelang im Schnitt 10 bis 13 Stunden pro Tag anstrengende Etappen mit Tourenrucksack durch die Berge zu wandern, dabei ein Zeitfenster zu beachten – da ist man nicht mehr imstande, sich auf bahnbrechende innere Wandlungen zu konzentrieren, von denen hinterher groß berichtet werden kann.

Während der Wanderung werden täglich noch viele Photos gemacht, dazu Notizen zu Wetter, Temperatur und diversen Örtlichkeiten, außerdem zu Anekdoten mit anderen Wandernden, Erfahrungen mit Wildtieren und dergleichen mehr.

Obwohl ich eine leidenschaftliche Leseratte bin, war ich nach einem Wandertag nicht mehr in der Lage, mich im Camp entspannt auf ein Buch zu konzentrieren. Die kurzen Einträge in Shelterlogs waren das Maximum.

Ein Buch, das ich noch anfangs bei meiner ersten Wanderung auf dem Appalachian Trail dabeihatte, weil ich dachte, abends im Schlafsack Lesestoff zu benötigen, habe ich bis Hiawassee ungelesen mitgetragen, wo ich es dann aus dem Rucksack entfernte, denn ich war schlichtweg zu müde, um mich geistig noch einem Buch widmen zu können.

Es war A Tramp abroad von Mark Twain, was an sich sehr unterhaltsame und angenehm zu lesende Lektüre ist. Wenn man sich nach einer Tagesetappe Wandern nicht einmal mehr auf Mark Twain konzentrieren kann, dann dürfte zur Gesamtverfassung am Ende eines Trekkingtages alles gesagt sein.

Diejenigen Erfahrungsberichte, die Selbstfindungsthematiken behandeln, sind von Personen, die genügend Zeit hatten, ihren Trip, wenn auch mit Anfangsschwierigkeiten aber dennoch, mit relativer Muße zu bewerkstelligen; die keinen US-Long-Distance-Trail in einer Saison komplett gewandert sind und auch keine Visumsbeschränkungen für die gesamte Wanderung zu beachten hatten, sondern so unterwegs waren, dass es nicht wirklich eine Rolle spielte, wann man irgendwo ankam.

Das sind gänzlich andere Voraussetzungen.

Mit einer Ausnahme, von der im Buch (Teil I) noch die Rede sein wird, habe ich auf dem Appalachian Trail tatsächlich in englisch geflucht, geschimpft und auch das reiche Sortiment amerikanischer Kraftausdrücke ausgiebig genutzt.

Man ist knapp sechs Monate in Amerika, spricht von früh bis spät englisch, liest englische Texte, schreibt Kommentare auf englisch in die Logbücher der Campstellen; das Deutsche wird zwangsläufig zur Nebensache – sogar auf so krasse Weise, dass ich, als mich ein Amerikaner fragte, was 'blanket' auf deutsch hieße, und gemeint war in dem Zusammenhang nicht die Wolldecke, sondern die Bettdecke, erst einmal völlig perplex war, weil mir das Wort Bettdecke nicht einfallen wollte, also sagte ich ihm, das sei ein Federbett ...

Wenig hilfreich war, dass mir in dem Augenblick auch noch die bekannte Wilhelm-Busch-Illustration aus Max und Moritz vor dem geistigen Auge schwebte, in der die Spitzbuben die Tüte Maikäfer unter das aufgeplusterte Plumeau kippen.

In der Hoffnung, dass der Mann sich das nicht gemerkt hat und nun denkt, Bettdecke hieße grundsätzlich Federbett im Deutschen, verbleibe ich mit einem Happy Trails!

Mittenwald, im Februar 2017

Alpine Strider GA – ME '07

   ME – GA '08

Herzlichen Dank - Thank y'all, folks!

 

Wie schon eingangs berichtet, ist es einem inspirierenden Klassentreffen mit Lehrern und Mitschülern aus meiner Münchner Realschulzeit zu verdanken, dass Tags darauf die ersten Seiten zu diesem Buchprojekt entstanden, das ich längst schon gar nicht mehr verwirklichen wollte. Daher gilt mein besonderer Dank meinen Klassenkameradinnen und -kameraden aus der Klasse 8 bis 10g der Städtischen Wilhelm-Busch-Realschule in München und den Lehrkräften, die uns in dieser Zeit unterrichtet haben, von denen auch einige an diesem sehr netten Abend zugegen sein konnten, für den zündenden Input, wie auch immer das geschehen sein mag – you guys simply are the "bestest" ever!

Ein ganz dickes Vergelt's Gott geht an Eugen Bauer, einem sehr lieben Nachbarn, der sich noch vor etwas über einem Jahr so rührend Mühe gegeben hatte, helfend darüber nachzusinnen, wie ich das Buchprojekt vielleicht doch noch anpacken könnte – Herr Bauer, jetzt ist es also doch noch vollbracht!

Im selben Maße möchte ich mich bei meiner ehemaligen Tiroler Nachbarin Maria vom Raineck bedanken, die mich unermüdlich anstupste, wenn sie mich im Ort traf, was denn das Buch mache – Maria, Dein unerschütterlicher Glaube an dieses Projekt, das ich schon längst zu Grabe getragen hatte, hat sich letztlich eben doch ausgezahlt: Do isches!

Laurie Potteiger from the ever helpful and nice staff of the Appalachian Trail Conservancy Headquarters at Harpers Ferry deserves an extra big Thanks a bunch for providing me with the latest updates on the Trail and helping me kindly in obtaining copyright permission for photos I needed very badly in my history chapter on the AT – this book would not be the same without your great help, Laurie! Thank You so very much and a heartfelt Happy Trails to y'all in Harpers Ferry!

Last but not least hat mich auch mein Ehemann Detlef tatkräftig unterstützt, indem er praktisch die gesamte Heimzentrale am Laufen hielt, als ich nach der überraschenden Wende mit diesem Buchprojekt aus drängender Zeitnot von der Computertastatur nicht mehr wegkam und vollkommen in einer parallel laufenden Trailwelt abtauchte – vielen, vielen Dank für Deine große Hilfe und Dein Verständnis!

Remote for detachment,

narrow for chosen company

winding for leisure,

lonely for contemplation,

the Appalachian Trail beckons

not merely north and south,

but upward to the body,

mind and soul of man.

Harold Allen, 1936

[Fern (genug) um sich abzunabeln, (und doch) nah für gewünschte Gesellschaft windet er sich zum freien Zeitvertreib, (und) abgeschieden zur Besinnung; der Appalachian Trail führt nicht nur nord- und südwärts, aber auch hinein in Körper, Geist und Seele des Menschen.]

Roan Highlands, North Carolina/Tennessee;

Appalachen in North Carolina – beide September 2008

Der AT Bundesstaat für Bundesstaat

Das Gebirge, durch das der Appalachian National Scenic Trail zwischen Springer Mountain in Georgia und Mount1 Katahdin in Maine führt, sind die Appalachen. Sie erstrecken sich vom Bundesstaat Alabama im Süden der USA bis hinunter nach Neufundland in Kanada.

Erdzeitgeschichtlich betrachtet eines der ältesten Gebirge, waren sie einst noch gewaltiger als der Himalaya, doch beständige Erosion hat die Appalachen im Lauf der Jahrmillionen zu einem dicht bewaldeten Mittelgebirge mit steilen, lang auslaufenden Bergrücken geformt.

Die höchstgelegene Etappe des Trails verläuft durch den Great Smoky Mountains Nationalpark in North Carolina/Tennessee, wo auf Clingman's Dome mit 2.025 Metern der höchste Punkt des AT erreicht wird; seine tiefstgelegene Stelle ist die Bear Mountain Bridge am Hudson River, mit 38 Metern über Meereshöhe.

Die südlichen Appalachen werden typischerweise mit zwei Dingen verbunden: Moonshine und Bluegrass.

Moonshine ist die traditionelle Bezeichnung für illegal gebrauten Schnaps, der in unzähligen, heimlich betriebenen Distillerien des Nachts hergestellt wurde und seit jeher für Konflikte mit den Gesetzeshütern sorgte.

Allein während der Prohibition konnten die Schmuggelwaren aus Kanada, der Karibik und Mexiko den Bedarf an illegalem Alkohol in der US-Bevölkerung gar nicht decken – ein Großteil des Alkohols kam aus den Appalachen, wo eben nachts die Distillerien arbeiteten und deren Rauchfahnen in dem blauen Dunst, der diesen Bergen von Natur aus eigen ist, mehr oder weniger gut kaschiert wurden.

Während der dreizehn Jahre, in denen der Volstead Act galt, kam es bis in die entlegensten Berggegenden der Appalachen immer wieder zu wilden Schießereien zwischen Ordnungshütern, die per Gesetz diese Distillerien aufspüren und ausheben sollten und den Schmugglern oder Distillerie-Betreibern, die sich ihr florierendes Geschäft natürlich nicht kaputt machen lassen wollten.

Wenn also in den Appalachen von Moonshine die Rede ist, muss nicht unbedingt der Mond damit gemeint sein.

Bluegrass ist eine sehr stark mit den Appalachen verwurzelte Musikrichtung, die sich in den frühen dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts von Tennessee und Kentucky ausgehend entwickelt hat.

|1 Mount Kathadin versus Kathadin: Sprachlich korrekt wäre Kathadin alleine, weil der Name aus der Sprache der Abenaki Indianer stammend bereits ‘der größte Berg’ bedeutet, womit das vorangestellte Mount redundant wird. Ich habe mich dennoch dazu entschieden von Mount Kathadin zu sprechen, weil kaum jemand mit dem Abenakischen so vertraut sein dürfte, um hier ständig den Berg doppelt genannt zu verstehen.

Elemente des Folk, aber auch Gospel und Blues bilden die Grundlage dieser amerikanischen Volksmusikrichtung, die zur Countrymusic gehört. Bluegrass gibt es rein instrumental oder mit Gesang, wobei als typische Instrumente Banjo, Fiddle, Gitarre, Dobro, Kontrabass und Mandoline gespielt werden.

Ist man in Amerika unterwegs, kommt man sowieso nicht umhin, viel Countrymusic zu hören. Für die Gegenden in und um die Appalachen bedeutet das Bluegrass, der dort nach wie vor sehr populär ist und gepflegt wird.

Ebenso mit den Appalachen verbunden ist eine Bevölkerungsgruppe, die bezüglich ihrer Herkunft große Rätsel aufgibt. Diese Menschen sind zum Teil europäischer Abstammung, aber sie lebten bereits in den Appalachen, bevor die englischen Siedler der Mayflower erfolgreich in Nordamerika Fuß fassten – soviel gilt als gesichert.

In Berggebieten der Bundesstaaten Tennessee, den beiden Carolinas und Virginias bis Kentucky verbreitet, wurden diese Menschen in Berichten englischer und französischer Auskundschafter erstmals im Jahre 1654 beschrieben, als sich die europäischen Erkundungstrupps im Südosten des heutigen Tennessee mit einem Mal einheimischen Bewohnern gegenüber sahen, die unverkennbar europäische Gesichtszüge hatten mit blauen oder braunen Augen, aber dunkelhäutig waren und gebrochenes Englisch der Elisabethanischen Zeit sprachen. Sie bezeichneten sich als Portyghee (Portugiesen), lebten in einfachen Holzhütten, bestellten das Land und schmolzen Silber aus dem Gestein der Berge. Ihre religiöse Gesinnung war christlich geprägt.

Im Verlauf der Jahrzehnte nach den Erstkontakten wurden diese Einheimischen bei den Siedlern als Melungeons (Mischlinge) bekannt, bei denen sich von der äußeren Erscheinung her drei ethnische Abstammungslinien zeigten: diejenige der Indianerstämme der Gegend, eine schwarzafrikanische und eine europäische Linie.

Als sie von den britischen Siedlern gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts als free persons of color klassifiziert wurden, war das der Auftakt zu Diskriminierung in großem Maße:

Man grenzte sie vollkommen aus der Gemeinschaft aus, und ihnen wurden sämtliche bürgerlichen Rechte verwehrt. Sie mussten sich von ihrem Land vertreiben lassen, und das nicht selten mit roher Gewalt, in immer entlegenere und unwirtlichere Gegenden der Berge, wo sie in bitterer Armut um ihr Überleben kämpften. Manche Melungeonfamilien hatten Glück, in der Nähe von Nachbarn zu leben, die ihr immenses Wissen um die Böden für die Landwirtschaft schätzten und sie auf ihren Farmen bleiben ließen, andere dagegen mussten aus purer Not auch mit kriminellen Geschäften wie Moonshining, Wilderei oder Raubzügen in der Gegend versuchen, ihren Lebensunterhalt zu sichern.

Bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein galt es als ein schier unüberbrückbarer Makel, ein Melungeon zu sein oder von einem Melungeon abzustammen. Wer aus dem Elend ausbrechen wollte, musste weit weg in einen anderen Bundesstaat ziehen und Stillschweigen bewahren über die eigene Herkunft.

"The census of 1795 listed 300 'free persons' in the mountains of east Tennessee. These apparently were the Melungeons. Whence they came nobody knows. Their origin is as much lost in the recesses of history as their present status is hidden behind the closed-mouth secrecy of Hancock County today. One thing seems certain - they were part Indian. Another seems apparent - they are disappearing the same way they appeared: by marrying others than their own." ~ Bill Rawlins, im Knoxville News-Sentinel vom 10. Oktober 1958

["Die Volkszählung von 1795 verzeichnete 300 'freie Personen' in den Bergen von Ost-Tennessee. Das waren offenbar die Melungeons. Woher sie kamen, weiß niemand. Ihre Herkunft ist in den Abgründen der Geschichte genauso verloren gegangen, wie ihr aktueller Status sich hinter der verschwiegenen Geheimniskrämerei des heutigen Hancock County verbirgt. Eines scheint gewiss – sie waren zum Teil indianischer Abstammung. Und noch etwas erscheint offensichtlich – sie sind dabei, auf dieselbe Weise zu verschwinden, die sie hervorgebracht hat: indem sie sich mit anderen als ihren eigenen Leuten verheiraten."]

Die Gegenden, durch die der Appalachian Trail führt, waren nie besonders reich. Wer sich dort niederließ, musste gewöhnlich hart dafür arbeiten, sich und seine Familien zu versorgen. Bei einem Thru-hike kommt man öfters an alten Grabstellen vorbei, wo einzelne Familien Angehörige auf ihrem Grund beerdigt haben.

Darunter gibt es welche, die ergreifend davon Zeugnis ablegen, wie man versucht hat, mit bescheidenen Mitteln eine würdige Grabstätte zu schaffen, weil kein Geld für einen Steinmetz zur Hand war. Im Süden führt der Appalachian Trail direkt an einem schlichten, verwitterten Grabstein vorbei, auf dem ein Mann mit großer Mühe versucht hat, eine Inschrift für seine Anfang 1940 verstorbene Ehefrau hineinzumeißeln.

In den Appalachen sind vor allem drei Wirtschaftszweige seit Alters her typisch: Land- und Holzwirtschaft, außerdem Bergbau. Entsprechend zeigt sich in den umliegenden Ortschaften und Städten nicht das Hochglanz-Amerika, dessen hippes Bild gewöhnlich nach außen transportiert wird: hier ist man im Small-town America von Appalachia, wo die Menschen viel bescheidener leben, aber dafür einen Begriff von Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft haben, der überwältigend ist.

Eine Ausnahme vom typisch vorherrschenden Kleinstadtbild, wo es ganz offensichtlich einen gehobeneren Lebensstil gibt, sind Salisbury in Connecticut und Hanover in New Hampshire.

Nördlich des James River, in Zentral-Virginia, kommt man als northbound AT-Hiker auf einer Bergkuppe mit grasigem Hang zur linken an einem Gedenkstein vorbei. Möglicherweise befinden sich darauf kleine Spielzeugautos, Miniaturstofftiere und andere kleine Gaben, die Vorbeiwandernde vor einem dort abgelegt haben.

An dieser Stelle hat man im April 1891 Ottie Cline Powell gefunden, der sich Monate zuvor im November beim Holzsuchen während der Schulpause in den nebligen Bergwäldern verirrt hatte und etliche Meilen vom Schulhaus entfernt dort oben erfror.

Der kleine Junge war kaum fünf Jahre alt gewesen.

"Sassafras - kick my ass - mountain was a bitch."

~ Hiker im Walasi-Yi-Hostel, in Porter: Just Passin' thru

["Sassafras - tritt' mit in den Arsch - Berg war ein Miststück."]

"Why, an Indian would die laughing his head off if he saw the Trail.

I would have never started this trip if I had known

how tough it was, but I couldn't, and I wouldn't quit."

~ Emma 'Grandma' Gatewood, 1955, zu ihrem ersten Thru-hike

["Wie?– ein Indianer würde sich totlachen, wenn er den Trail sähe.

Ich hätte diesen Trip nie begonnen, wenn ich gewusst hätte,

wie hart das ist, aber ich konnte und ich wollte nicht aufgeben."]

– 1 –

Georgia (GA) – erster oder letzter Trailstaat

Wandert man die 78 Meilen lange Etappe des Appalachian Trails in Georgia, ist man im März/April noch im winterkahlen Chattahoochee Nationalforest unterwegs. Man bekommt an schönen Tagen daher schon recht viel Sonne ab, weshalb ich mir bei meinem Northbound 2007 gleich am zweiten Tag trotz Sonnencreme einen leichten Sonnenbrand auf dem Nasenrücken geholt habe.

An Regen- oder Schneetagen ist man den Elementen direkt ausgesetzt, weil noch kein dichtes Blattwerk einiges davon abfängt. Auch die kalten Winde, die im Frühjahr durch die Berge pfeifen, erwischen einen voll.

Das Terrain ist ein beständiges Auf- und Ab in Achterbahnmanier über bewaldete Berge, die gelegentlich Ausblicke zur Seite ermöglichen. Das Gemeine an diesen Anstiegen ist, dass man sie von unten her kommend falsch einschätzt: zunächst sieht es gar nicht so weit nach oben zur vermeintlichen Kuppe aus, sodass man noch munter hochsteigt. Typisch für diese Berghänge ist aber, dass sie mehrere, aufeinanderfolgende Kuppen haben, allesamt bewaldet, über die es in einer schier endlosen Folge bergauf geht. Man hat noch gar nicht die erste gewölbte Kuppe erreicht, da sieht man bereits, wie sich gleich dahinter eine weitere Kuppe noch weiter hinauf auftut, und danach folgt meist noch eine und noch eine, die man erst in den letzten Anstiegsmetern erblickt. – Eine klassische Sisyphus-Quälerei! Und das ist typisch für die An- und Abstiege in den südlichen Appalachen.

Die Facetten vom Appalachian Trail in Georgia – alle April 2007

Was auch sofort auffällt, sind die mächtigen Rhododendron-Dickichte, die einen Großteil des Trails in den Talsohlen oder -Mulden säumen, sobald man von Springer Mountain nordwärts auf dem AT unterwegs ist. Diese Rhododendren sind riesige, gut drei Meter hohe Gewächse mit einzelnen Blättern in Bananengröße.

Wenn es regnet, halten auch die noch kahlen Bergwälder im Frühling den Wasserdampf, sodass der gesamte Wald feucht und neblig wird. Diese Feuchtigkeit dringt in alle Gewebe und überall ein, was bedeutet, dass man morgends in einem dampfigen Zelt aufwacht, in dem sich innerhalb der Zeltwände kleine Kondenströpfchen gebildet haben. Im Rucksackstoff, in den Schuhen, aber auch in der Kleidung hat man den feinen Wasserdampf ebenso.

Ebenso diese feuchten Wälder sind typisch für die Appalachen und werden einen bei Regen bis Maine begleiten. Im Sommer kommt schwüle Treibhaus-Hitze hinzu.

Die Bergwälder von Springer Mountain bis Neels Gap halten noch eine weitere Überraschung bereit: Gooch Mountain Shelter und die umliegenden Campstellen waren am 3. April 2007 gesteckt voll mit Northboundern für die Nacht. Am frühen Abend gab es ein kurzes Gewitter, das mit einem heftigen Regenguss über die Gegend zog und gleich einmal alle Zeltenden ums Shelter gehörig einnässte. Als sich wieder alles beruhigt hatte und jeder im Schlafsack lag und schlief, brach mitten in der Nacht von den umliegenden Bergen kommend, mit einem Mal ein Inferno an wildem Geschrei, begleitet von stakkatoartigen Maschinengewehrsalven los.

Im Nu waren gut vierzig Leute hellwach – Now what the f**k?!?

Hiker auf dem Appalachian Trail in Georgia und typisches Shelterleben – alle April 2007

Nach der ersten Verwirrung dämmerte uns sogleich, was es mit dem nächtlichen Spuk auf sich hatte: dieses Gebiet wird zu Ausbildungszwecken von Spezialeinheiten der US Army für Manöver unter härtesten Bedingungen genutzt. Die Soldaten, die da ausgebildet werden, sind Marines und müssen vorgegebene Aufgaben erfüllen, ohne Proviant und weiteres Marschgepäck, abgesehen von ihren Waffen mit Platzpatronen, die sie bei sich tragen. Sie haben auch kein Zelt dabei. Wind, Wetter, Hunger, Durst und Schlafentzug ausgesetzt, müssen sie zusehen, wie sie sich tagelang auch nachts in unbekanntem Terrain zurechtfinden, während ihr Auftrag erfüllt werden muss. Dasselbe gilt für eine Gegnertruppe im selben Gebiet.

Es gibt zwar nicht immer Manöver in dieser Gegend, unsere Gruppe NoBos jedenfalls hatte die überraschende Gelegenheit, so etwas miterleben zu können. Und das hörte sich recht authentisch an. Die Verwirrung war perfekt: Erst noch in einem ruhigen, friedlichen Bergwald in den Appalachen eingeschlafen und mit einem Mal von ratternden Maschinengewehrsalven in nächster Nähe geweckt zu werden, hat schon etwas ziemlich Surreales!

Das erste Hostel direkt am AT, durch dessen Gebäude der Trail sogar hindurchführt, das Mountain Crossings at Walasi-Yi, wird nach knapp 31 Meilen in Neels Gap erreicht.

Üblicherweise hat man zu dem Zeitpunkt fünf sehr kalte Nächte in den Bergen verbracht, mit Nachttemperaturen unter minus sechs Grad Celsius und eisigen Winden – davon die vorherige Nacht ziemlich sicher im zugigen Blood Mountain Shelter, wo man den frostigen Nachttemperaturen besonders ausgesetzt ist und es wenig hilft, dass man mit neun bis zehn anderen Hikern darin übernachtet. Da oben wird es in den Aprilnächten einfach nicht warm.

Blood Mountain bietet allerdings einen phantastischen Ausblick mit schönen Sonnenauf- und -untergängen. Seinen Namen hat er indianischer Folklore nach erhalten, weil sich dort ein erbitterter Kampf zwischen den Cherokee und den Creek Indianern zugetragen haben soll, bei dem am Ende das Blut der getöteten Krieger in Strömen vom felsigen Gipfel auf die Bergflanken herabgeflossen sei.

Long Creek Falls

Der weitere Gedanke, dass man sich bei diesen Frost-Temperaturen auch noch in nördliche Richtung bewegt, macht einem nicht gerade rosige Hoffnungen. Hinzu kommen die ersten Eindrücke eines Thru-hikes mit schmerzender Schulterund Nackenpartie; dem Gefühl, wie ein überpacktes Muli ständig langsam bergauf und bergab zu trotten in einem Bergwald, der noch graubraun und kahl ist und dessen Baumbestand sich wie ein Meer aus mächtigen Pfählen über weite Berghänge ergießt. Der Trail in Georgia ist für viele Northbounder mühsame Arbeit.

Und das ist es tatsächlich: man erarbeitet sich Trailfitness, man erarbeitet sich jede Meile und jeden Berg. In diesen ersten Tagen erhält man einen Eindruck, auf was man sich da eingelassen hat, wo abenteuerliche Vorstellungen an der alltäglichen Wirklichkeit auf dem Trail rasch zerbröseln.

Bitter ist es, von einigen fitten Hikern leichten Schrittes überholt zu werden, denen das Terrain scheinbar keine Mühe macht.

Einige andere Hiker dagegen bekommen zu den Schulter- und Nackenschmerzen schon erste Knie- und Fußgelenkprobleme, weil das ständige Auf- und Ab seinen Zoll fordert.

Deshalb ist bereits in Neels Gap für einen guten Teil von Northboundern Schluss mit dem Thru-hike-Abenteuer.

Erste Hiker verlassen den Trail.

Allgemein gilt: Der AT kann northbound mit normaler Alltagskondition begonnen werden, wenn man beachtet, es anfangs langsamer anzugehen, also nicht mehr als 7-8 Meilen pro Tag wandert, mit vielen Pausen zwischendurch.

So gewöhnt sich der Körper allmählich an das tägliche Fitnesstraining. Man muss allerdings damit rechnen, dass dieses Fitnesstraining hart ist und die ersten drei Trailstaaten dauert, bis man langsam das Gefühl hat, fitnessmäßig auf dem Trail angekommen zu sein. Es stehen also mindestens 467 brutale Meilen durch Georgia, North Carolina und Tennessee an, bei denen man tapfer die Zähne zusammenbeißt, um vorwärts zu kommen.

Aber es ist machbar, denn viele Northbounder gehen durch diese harte Eingewöhnungszeit. Man ist in bester Gesellschaft.

Abendstimmung auf Blood Mountain und Blood Mountain Shelter; Aussicht über die Appalachen Georgias vom Trail aus – alle April 2007

Aussicht von Blood Mountain im September 2008

Bei mir war es im April 2007 nicht anders; ich kam auch noch als absoluter Backpacking-Neuling auf den AT, habe davor abgesehen von Tageswanderungen in den Alpen noch nicht einmal eine Wanderung mit Übernachtung gemacht, nach der es am nächsten Tag weiterging. Da in Georgia sehr viele Hiker auf dem AT unterwegs sind, kann man sich über vieles untereinander austauschen und lernt so recht schnell voneinander.

Nach einem wohlverdienten Rasttag in Neels Gap, wo man das erste Mal seit Beginn seines Hikes geduscht hat, Hikerkleidung wäscht und in den Store einfällt, der zum Walasi-Yi-Hostel dazugehört, um sich mit allerlei Snacks zu verwöhnen oder mit der erfahrenen Crew dort seinen Rucksack danach prüft, was man heimschicken sollte, damit das Ding leichter wird, geht es wieder weiter am Trail.

Erneut in beständigem Auf- und Ab über einen bewaldeten Berg nach dem anderen; wieder nur mit gelegentlichen Aussichten und weiterhin in 7 bis 8 Meilenetappen pro Tag.

Im April wird es ohnehin erst gegen sieben Uhr früh hell; am Spätnachmittag ab 5 Uhr geht die Sonne wieder unter, sodass es in den Bergen mit einem Mal sehr schattig und eiskalt wird. Da sitzt man üblicherweise schon im Camp und kocht sein Essen, um sich warm zu halten.

Weitere vier Tage Traillife, wie man es nun kennengelernt hat, bringen einen schließlich zur Dicks Creek Gap, von wo es 11 Meilen westlich in die Ortschaft Hiawassee geht, ein wichtiger Stop, um Proviant aufzustocken, Postdinge zu erledigen und einen Rasttag einzulegen.

Auf gut einem Drittel Weg zwischen den Traileinstiegen in der Gap und Hiawassee befindet sich das Blueberry Patch Hiker Hostel von Gary und Lennie Poteat.

Für mich waren die Hostels am oder in Trailnähe immer eine aufregende Sache.

Jedes ist einzigartig, obwohl es im Grunde ähnlichen Service gibt – Bunkroom mit mehreren, einfachen Holzstockbetten, auf denen man seinen Schlafsack ausrollt und natürlich mit neun bis zwölf Leuten im selben Raum schläft.

Außerdem gibt es eine Toilette nebst Duschmöglichkeit und einen Gemeinschaftsraum, in dem man sich aufhält, um seinen Rucksack neu zu ordnen und zu packen; wo man sich mit anderen Hikern unterhält oder sein Journal schreibt, sein Essen kocht – was auch immer erledigt werden muss. Dennoch hat jedes Hostel seinen eigenen Flair, in dem ich mich immer sofort wohlgefühlt habe.

Im Blueberry Patch kümmern sich Gary, selbst ein AT Thru-hiker von 1991, und seine Frau Lennie rührend um die Hiker, denen die Wäsche gewaschen und getrocknet in den Hostel-Bunkroom zurückgestellt wird.

Man muss seine Wäsche nicht erst nach Hiawassee mitnehmen und im dortigen Laundromat selbst waschen, was natürlich eine schöne Zeitersparnis bedeutet, denn immer noch stehen Besorgungen im Supermarkt für die nächste Etappe an, die Bibliothek zwecks freiem Internet und das Postamt.

Mountain Crossings at Walasi-Yi in Neels Gap, Aussicht von Tray Mountain (September 2008), Rhododendren am Wasser

Three Forks; Backyard vom Blueberry Patch Hostel und Hiawassee

Auf den amerikanischen Weitwanderwegen funktioniert die Logistik auch über Maildrops oder Bounceboxes. Das ist kein Luxus-Spleen sondern eine schlichte Notwendigkeit.

Ein Maildrop ist ein Paket, das man sich selbst am Trail vorausschickt, entweder zu einem Hostel oder Motel, bei dem man plant zu bleiben, oder zu einem Postamt entlang des Trails. Solche Maildrops sind einmalige Angelegenheiten. Bei anderen Weitwanderwegen in den USA sind Maildrops sogar entscheidend, dass man weiterwandern kann, weil der einzige Ort, an den man sich das Paket hinschicken kann, etwa nur eine Tankstelle auf einer Landstraße im Nirgendwo ist, die gerade einmal Snacks und Getränke verkauft, aber keine Lebensmittel, die man als Thru-hiker für zwei Wochen auf dem Trail braucht.

Eine Bouncebox ist im Prinzip ähnlich, nur dass man diese mit jeweils neuen Adressetiketten versehen öfters verwendet, um Dinge, die man für einen bestimmten Abschnitt oder zunächst nicht benötigt, hineinzugeben, um sie dann später am Trail wieder in den Rucksack zu packen.

Das ist beispielsweise eine gute Idee, wenn man regelmäßig Medikamente braucht, die man nicht unterwegs bekommen kann, oder Kontaktlinsen für sechs Monate, die man nicht insgesamt im Rucksack mitschleppen möchte und die in den USA (übrigens auch in Kanada) zudem rezeptpflichtig sind. Oftmals kauft man zuviel Proviant ein, weil die Packungsgrößen im Supermarkt zu groß waren oder es gibt ein Sonderangebot, das man ausnutzen möchte, sodass die überschüssigen Artikel eben auch in die Box kommen als Vorrat für künftige Etappen auf dem Trail.

Alleine die 37 Karten, die für den AT von Georgia bis Maine genutzt werden, wiegen fast zwei Kilo (genau: 1.950 Gramm) – wer möchte das auf den ganzen 3.500 Kilometern zusätzlich schleppen, wenn man je nach Etappe immer nur eine bis drei Karten braucht bis zum nächsten Stop an einem günstig gelegenen Postamt oder Hostel?

Denn der Rucksack wird auch so schon schwer genug!

Bei meinem Southbound habe ich außerdem zwischen Zelt und Biwak gependelt –je nachdem, welches Terrain mir bis zur nächsten Stadteinkehr bevorstand; und so schickte ich mir entweder das Zelt oder meinen Outdoor-Biwaksack am Trail voraus.

Vom Trailhead in Dicks Creek Gap sind es neun Meilen bis Bly Gap. Wie gewohnt, verlaufen auch diese neun Meilen in einem stetigen Auf und Ab mit unverändert bekannter Vegetation. Doch ein Detail macht jedem Northbounder etwas kräftigere Beine als sonst: in Bly Gap verläuft die Grenze zwischen Georgia und North Carolina, dem zweiten Trailstaat auf dem AT. Dieser Grenzübertritt wird am entsprechenden Marker aufgeregt und glücklich mit High-Five-Handklatscher und Photos gefeiert, auf denen strahlende Gesichter zu sehen sind.

Bye bye Georgia – Hello, North Carolina!

First State down, 13 to go!

Blick von Wesser Bald, September 2008; Regendunst und Rhododendron-Tunnels am Trail

"If Bryson were to ever walk into my store, I'd tie his ass to a board, rub honey over him, and set him down by the river next to the bee box. That would sweeten him up a little. […] That pansy-ass wouldn't know which side of the mountain to walk off when I was done with him. You know, he pissed off a lot of people along this trail, and he better not show his face around here again. […] Tourists stop by our little store all the time just to get a glimpse at the rednecks behind the counter."

~ Jensine Crossman, Rainbow Springs Campsite in North Carolina

["Wenn Bryson jemals in meinen Store käme, würde ich seinen Hintern an einem Brett festbinden, ihn überall mit Honig beschmieren und ihn drunten am Fluss neben den Bienenstock setzen. Das würde ihn ein bisschen süßer machen. [...] Diese Heulsuse würde nicht mehr wissen, von welcher Seite des Berges er herunterlaufen müsste, wenn ich mit ihm fertig wäre. Wissen Sie, er hat einen Haufen Leute entlang dieses Trails verärgert, und er taucht besser in dieser Gegend hier nicht wieder auf. [...] Touristen halten die ganze Zeit bei unserem kleinen Store an, nur, um einen Blick auf die Rednecks hinter dem Tresen zu erhaschen."]

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North Carolina (NC)

North Carolina/Tennessee

Tennessee (TN)

In North Carolina kommt nach 95,5 Meilen auf dem AT bei Doe Knob im südlichen Teil des Great Smoky Mountains Nationalpark der Bundesstaat Tennessee hinzu. Man wandert ab da auf weiteren 212 Meilen mehr oder weniger gleichzeitig in beiden Bundesstaaten, oder der Trail mäandert mal nach North Carolina, mal nach Tennessee hinüber. Durch die Smokies folgt der AT der Grenzlinie beider Bundesstaaten.

Ab den Doll Flats verlässt man North Carolina endgültig und wandert noch 74 Meilen in Tennessee bis zur Grenze nach Virginia auf Holston Mountain.

Die alte White Oak bei Bly Gap

Zunächst aber verlässt man in Bly Gap den Chattahoochee National Forest Georgias und betritt nun den Nantahala National Forest in North Carolina.

Die Namen dieser Forste, aber auch Ortsnamen, gehen im Süden auf die Cherokee Indianer zurück, die diese Berggegenden bewohnt hatten, bevor die ersten Siedler aus Europa kamen und sie trotz größter Bemühungen, sich den weißen Siedlern anzupassen, schließlich doch vertrieben wurden.

Ab Doe Knob, wenn man gleichzeitig zwei Bundesstaaten bewandert, ist man auf östlicher Seite mit einem Bein noch immer im Nantahala Nationalforest unterwegs, mit dem anderen Bein auf westlicher Seite im Cherokee Nationalforest Tennessees. Nach Davenport Gap, dem nördlichen Ende des Great Smoky Mountains Nationalpark auf dem AT, verlässt man aufseiten North Carolinas den Nantahala Nationalforest und betritt den Pisgah Nationalforest, den man mit regelmäßigen Abstechern nach Tennessee und in den Cherokee Nationalforest bis zu den Doll Flats durchwandert.

Gleich nach Bly Gap kommt man an einer schönen, alten White Oak (amerikanische Weißeiche) vorbei, die fast schon jugendstilartig gebogen ist. Danach legt der Trailverlauf sofort an Steigung etwas zu: Welcome to North Carolina, hikers!

North Carolina unterscheidet sich vom Terrain in Georgia, als dass hier die An- und Abstiege nun steiler und länger werden; außerdem bewegt man sich durchschnittlich 300 Höhenmeter höher hinauf als noch in Georgia.

Das Terrain hier gilt allgemein als härter, was die Beine enorm trainiert. Doch man wird erstaunt feststellen, dass erste 12-Meilen-Tage möglich sind, nach denen man zwar fix und fertig an seiner Campstelle für die Nacht ankommt, aber immerhin. Der Trail durch Georgia hat Wirkung gezeigt.

Wenn man sich das nicht schon in Georgia durch den Kopf hat gehen lassen, überlegt man spätestens in North Carolina, was für ein Unterschied ein Neun-Stunden-Tag vor dem Computer im Büro zu dem ist, was man hier tagein, tagaus tut, und wie jeder daheim sich natürlich völlig falsche Vorstellungen macht von dem, was man gerade im Schweiße seines Angesichts bewerkstelligt.

Dass man etwa fröhlich und unbeschwerten Schrittes durch blühende Traumlandschaften in den Bergen dahinspaziert, womöglich einem sorglosen, angenehmen Dolce far niente frönt, während das wirkliche Leben auf dem Trail zu diesem Zeitpunkt ganz anders aussieht ...

Nach wie vor wandert man in Bergmulden oder weiter unten entlang mächtiger Rhododendron-Dickichte, deren dunkle, glänzende Blätter weit in den Trail hineinreichen und einen beständig abwatschen, wenn man nicht aufpasst. Echte Hallo-Wach-Momente erlebt man bei Regen, wenn man früh morgends auf dem Trail unvermutet ein paar nasskalte Rhododendronblatt-Ohrfeigen bekommt, nach denen einem Wassertropfen kreislaufanregend über den Hals bis unter das Shirt laufen.

Auch die Bäume im Nantahala Nationalforest sind noch graubraun und kahl, aber erstes, undefinierbares Grün kommt hier und da so langsam am Waldboden heraus.

Möglicherweise hatte ich in Georgia noch kein Auge dafür, aber ein weiteres, typisches Gewächs, das den Trail oftmals sogar gleichzeitig mit Rhododendren säumt, ist Mountainlaurel. Dieser wächst nicht so hoch, wie die Rhododendren, kommt aber in sehr dichten Buschformationen vor und hat kleinere, aber ebenso dunkelgrüne, glänzende Blätter.

An Aussichtspunkten entlang des Trails bemerkt man, wie unten in den Tälern langsam der Frühling die Oberhand bekommt und alles in junges Grün mit Blüten verwandelt, während oben in den Bergen noch gefühlter Spätwinter herrscht.

Mit North Carolina kommen Feuertürme, die sich auf manchen Bergen befinden und bei schönem Wetter 360 Grad Panoramen über die Appalachen dieses Bundesstaats bieten.

Den ersten dieser Türme erreicht man knapp 21 Meilen weiter nördlich, nach einem supersteilen Anstieg auf Albert Mountain, wo man schönes Wetter haben sollte.

Blick von The Jump Off auf die Appalachen North Carolinas, September 2008; Bergwald im April

Außerdem lernt man eine Landschaftsformation kennen, die so nur in den südlichen Appalachen vorkommt: die Southern Balds. Hohe Berge, die entweder gänzlich oder teilweise nur mit Gras bewachsen sind.

Diese Balds sind zwar menschengemacht, allerdings ist nicht ganz klar, wie es dazu kam. Vermutlich haben schon die Cherokee bestimmte Berge als Weideflächen genutzt oder aus einem andern Grund von Bäumen und Sträuchern nahezu befreit, indem sie dort wiederholt die Vegetation kontrolliert abbrannten.

Jedenfalls werden diese Southern Balds weiterhin erhalten, und erste davon lernt man auf seiner Wanderung des AT in North Carolina kennen. Die ersten sogenannten Balds sind jedoch zunächst enttäuschend, weil sie eben nicht so 'kahl' sind, wie man sich das vorstellt.

Da wäre als erstes Siler Bald, die nur eine offene, rundliche Grasflanke zur Seite hat, umrandet von hochwachsenden Bäumen. Als nächstes kommt Wayah Bald mit einem steinernen Aussichtsturm am Gipfel, der abgesehen von einer kleinen Lichtung oben herum auch bewachsen ist. So wird man etwas ungeduldig, denn beim Vorbereiten auf den AT hat man ja ganz andere Photos von den Southern Balds gesehen – mächtige Grasberge, die sich bis weit in den Horizont hinein erstrecken.

– Also, wo sind die nun?

Noch nicht hier. Zuerst, scheint es, muss man die ‘Dreiviertel-Balds’ kennen und schätzen lernen, bevor man auf die richtig Großen losgelassen wird.

Also geht es weiter durch bewaldete steile Berge hinauf und hinab, während aus dem Nirgendwo kommend erste Gerüchte gestreut werden, dass der Trail in Virginia ganz easy sei ....

Schließlich erreicht man über einen steilen, viereinhalb Meilen langen Abstieg den Nantahala River und das dort ansässige Nantahala Outdoorcenter (NOC) mit beheizten Bunkroomhütten, gut sortiertem Outfitter, Restaurants, Minimarkt und Zughaltstelle.

– Ein regelrechtes Paradies nach fünf Tagen butt-kicking Terrain in North Carolina, das einen 'Baumwolle spucken' lässt, wie Amerikaner das recht bildlich ausdrücken.

Im NOC wimmelt es im Frühjahr nur so vor Hikern, denn viele nehmen sich hier einige Tage frei, um die ersten 59 Meilen Appalachian Trail in North Carolina zu verdauen, andere haben mit Knien und Gelenken zu tun, und wieder andere müssen ihre Wasserblasen behandeln, die richtig schlimm geworden sind.

Wer Lust hat, kann vor Ort Wildwasser-Rafting mitmachen, denn das ist ganz großer Sport auf dem Nantahala River.

Gewöhnlich plant man im NOC seine weiteren Maildrops, denn nach der nächsten Etappe geht es schon in den Great Smoky Mountains Nationalpark hinein, wo man am AT nirgendwo vorbeikommt, um Proviant aufstocken zu können – für die Etappe im Nationalpark benötigt man als Northbounder fünf Tagesrationen Essen, die durch die Smokies getragen werden müssen. Außerdem muss man für die direkt bevorstehende Wegstrecke bis zum Nationalpark neuen Proviant besorgen.

Cheoah Bald und Blick von Cheoah Bald auf den Nantahala Nationalforest; April 2007

Das wirklich schlimme Übel nach Raststops und neuem Proviant ist ja, dass man nun mit rappelvollem Rucksack gleich wieder stramm bergauf loswandern muss. Im Falle des NOC bedeutet das: extrastramm.

Sechs lange, steile Meilen hinauf zu Swim Bald, die sich dann auch wieder als so eine halbschalige 'Bald' entpuppt, worüber man sich oben angekommen gleich ärgert.

Das Terrain im Nantahala Nationalforest, gerade um den Nantahala River, wird von AT Hikern gerne als die Nantahell bezeichnet. Wandert man als Northbounder in der Gegend, weiß man warum. Daran ändert leider auch der schöne Name der Cherokee nichts, deren Sprache nach Nantahala mit Land der Mittagssonne übersetzt wird.

Nach Swim Bald kommt bald darauf Cheoah Bald, auf der man schließlich doch lachen muss, denn es gibt zwar eine grasige Lichtung ganz oben, aber auch diese ist teils von hochwachsenden Bäumen umsäumt, von denen einer sogar ein Hinweisschild trägt, auf dem zu lesen ist: Cheoah Bald.

Wenn diese Bald wirklich nur grasbewachsen wäre, wie es sich für eine ordentliche Bald gehört, dann gäbe es keinen Baum dort oben, an dem man ein solches Schild befestigen könnte.

Weiter geht's über Wegkehren hinunter Richtung Locust Cove Gap, wo ich bei meinem NoBo 2007 mit einem anderen Hiker glaubte, ein feines Plätzchen für eine ruhige Nacht gefunden zu haben, um sich eine wohlverdiente Mütze voll Schlaf zu genehmigen. Jeder hatte bereits eine gute Stelle für sein Zelt gefunden, als zwei andere Hiker hinzustießen. Ein etwas älteres Herrenduo, wovon der eine eine Outdoor-Hängematte zwischen zwei Bäumen spannte, während der andere ein farbenfrohes Ein-Mann-Kuppelzelt in meiner Nähe aufstellte, das aussah wie ein Miniatur-Zirkuszelt.

Shelter-life: frühmorgends; später Nachmittag im Groundhog Creek Shelter; April 2007

Wirklich niedlich mit fröhlichen Farbelementen in Blau, Rot, Gelb und Grün auf weißem Untergrund.

Als weniger niedlich sollte sich allerdings recht bald in der Nacht herausstellen, dass mein Zirkuszelt-Nachbar imstande war, ganze Bergwälder abzuholzen mit dezibelstarkem Schnarchen. Auf der anderen Seite, wo der Hiker campierte, der mit mir in die Gap hinuntergekommen war, gab es auch keine Nachtruhe, denn der Herr mit der Outdoor-Hängematte hatte offensichtlich eigene Probleme, zunächst einmal in seine Hängematte hineinzukommen, was mit viel Grunzen schließlich umständlich bewerkstelligt wurde; dann wollte der Mann doch wieder hinaus, wofür er sich erst wieder geräuschvoll aus seiner Hängematte herausschälen musste; in der weiteren Nacht wälzte er sich nicht minder geräuschvoll in seiner Hängematte herum – kurz, der andere Hiker kam auch nicht zu seinem wohlverdienten Schlaf.

Inzwischen taufte ich brennenden Auges meinen musikalischen Zeltnachbarn im Stillen auf den Trailnamen "The Circus-Tent-Snorer".

– Was war noch gleich wieder der Grund, weswegen man auf dem AT plus/minus einskommafünf Kilo Dackelgarage (Zelt) mitschleppt ...?