Srr … scht. Die in der Flaggenfarbe unserer Raumstation azurblau gestrichene Tür gleitet beiseite.
So also sieht es auf der Präsidentenetage aus.
Vor mir öffnet sich ein mit marmorierten Bodenfliesen gepflasterter Eingangsbereich, der fast doppelt so groß ist wie das gesamte, heruntergekommene Apartment, in dem meine Familie haust – unten im Sublevel, im Dreck und Gestank der Abfallverwertung und der Fabriken.
Ein alter Diener eilt herbei, um die Militärstiefel entgegenzunehmen, die der Sohn des Hauses von den Füßen streift. Ratlos blicke ich auf meine goldenen Riemchensandalen.
Corvin hat mir dieses perfekt auf mein goldgesäumtes, weißes Kleid abgestimmte Schuhkunstwerk sicherlich nicht gegeben, damit ich es an der Tür ausziehe und barfuß vor den Präsidenten trete, oder doch?
Dämnd!, fluche ich innerlich. Wie verhalte ich mich jetzt?
»Kipem«, raunt Corvin. Ich soll die Sandalen anlassen. Er spricht Sublevel-Slang. Wenigstens mit Worten stellt er sich an meine Seite. Körperlich geht er auf Abstand. Mit einem Meter leerem, kaltem Raum zwischen uns unterbindet er jede vertraute Berührung. Die Luft um ihn herum scheint zu flimmern von der Energie seiner mentalen Schutzschilde. So angespannt habe ich ihn noch nie gesehen.
Ich erinnere mich an das, was er mir draußen versprochen hat: »Ich werde kämpfen, Rise. Mit allen Mitteln.«
Für uns.
»Tibi gratiam habeo«, bedankt er sich bei dem Diener in gebildetem Latein und bittet ihn dann, die Stiefel nicht wegzuräumen. Er werde noch mal ausgehen. »Ne asportaveris caligas! Postea egrediar iterum.«
»Bene«, bestätigt der Diener. Übergangslos wechselt er in die Mundart der Unterschicht und raunt Corvin zu: »Bi strong.«
Sei stark.
Das klingt nicht ermutigend. Nicht für meine Ohren. »Bi strong« sagt man bei uns, wenn jemandem großer Schmerz oder Kummer bevorstehen. Solange es noch Hoffnung gibt, wünscht man sich Glück, nicht innere Stärke. Was weiß der Diener? Warnt er Corvin? Was erwartet uns in dem Raum, auf den wir zugehen?
Hinter meiner schweißfeuchten Stirn breitet sich Sorge aus, dunkel und toxisch wie Schimmel. Ich stelle mir alle möglichen, schrecklichen Dinge vor, während ich Corvin folge.
Licht flutet mir entgegen.
Den prächtigen, roten Salon, den wir betreten, dominiert eine Fensterfront, durch die ich hinaus in die Kuppel der Biosphäre blicke. Leistungsstarke Wachstumslampen bestrahlen den wuchernden Wald und den Trinkwassersee etliche Stockwerke unter uns. Ich schaue nicht nach unten. Ich sehe nach vorn, in die sternenfunkelnde Schwärze des Weltalls.
Nur noch zehn Tage, dann wird Corvin das Erkundungsschiff SPES dort hinaussteuern. Ins All. Ich wage nicht darüber nachzudenken, ob ich mit an Bord sein werde. Step bei step, befehle ich mir, einen Schritt nach dem anderen – und der nächste Schritt führt mich erst einmal zu der gedeckten Tafel in der Mitte des Salons.
Auf dem blumengeschmückten Tisch glänzt Porcellanum-Geschirr. Ich wette, es handelt sich um eine echte Antiquität. Ein Erinnerungsstück von unserem zerstörten Heimatplaneten. Offensichtlich entspricht es nicht der Wahrheit, dass bei der Evakuierung der Erde keine privaten Besitztümer auf die Raumstation mitgebracht werden durften. In das kostbare Geschirr geprägt, in die Kristallgläser geschliffen und in die Leinenservietten gestickt, ist der auffliegende Rabe allgegenwärtig – das Wappen der Familie Corvus.
Corvin Corvus, der einzige Erbe des Namens, blickt mich an. Mein Freund. Der Gedanke zündet eine Antriebsrakete in meinem Magen. Sie befördert eine geballte Ladung Träume und Erinnerungen in mein innerstes System. Sengende Hitze durchflutet mich, als ich an den Kuss denke, der vor knapp zwei Stunden mein Schicksal besiegelt hat.
Corvins Lippen formen ein Slang-Wort. Suhn, beruhigt er mich unhörbar. Bald.
Bald haben wir das hier hinter uns. Nur ein paar Stunden, dann ist es geschafft.
Hinter unseren Rücken öffnet und schließt sich die Tür des Salons mit einem schlangenartigen Zischen. Wir wenden uns zu Lucius um, der uns in der goldenen Toga des Präsidenten entgegentritt. Sein Blick lähmt mich wie ein kobaltblauer Betäubungsstrahl. Am liebsten würde Corvins Vater mich gleich hier an Ort und Stelle in die Knie zwingen. Ich soll wimmernd in das Dreckloch zurückkriechen, aus dem ich gekommen bin. Den Gefallen tue ich ihm nicht. Stolz hebe ich das Haupt.
Lucius' Laserblick schaltet in den Vernichten-Modus.
»Te saluto«, heißt der amtierende Herrscher der Raumstation SPHAERA mich willkommen. Die Worte strömen unnatürlich weich aus seinem Mund. Seine Stimme klingt fast flüssig, süßlich und berauschend wie ein Begrüßungsaperitif.
Ich starre auf das langstielige Glas, das er mir reicht. Eine motorölfarbige Substanz wehrt sich gegen jeden Versuch einer Zuordnung. Sie riecht alkoholisch und irgendwie … nussig.
Gibt es nicht ein Gift, das nach Nuss riecht?
Ich weiß nicht, wie lange ich argwöhnisch in das Getränk stiere. Da fühle ich eine Berührung.
Corvin nimmt mir das volle Glas aus der Hand und drückt mir sein halb geleertes, vorgekostetes in die Finger. Zögernd nippe ich. Eine schwere, dunkle Süße ergießt sich über meine Zunge und versiegelt sofort die nadelstichfeinen Löcher, die der Alkohol in meine Geschmacksnerven brennt. Genuss und Schmerz. Es ist dekadent, beides zum Spaß miteinander zu verbinden.
Apropos dekadent. Auf einer Lamina, einem elektrischen Schwebebrett, gleitet eine üppige Blondine scheinbar schwerelos herein. Ihren femininen Körper umwallt ein Stoff, dessen energiegeladene, rotorange leuchtende Materie an die Protuberanzen der Sonne erinnert.
»Hera, mea mater«, stellt Corvin vor.
Als würde ich – als würde irgendjemand hier im Oberlevel – seine Mutter nicht kennen: Hera, die Wohltätigkeit in Person, zumindest was die Organisation entsprechend bemäntelter Galafeiern und Festbankette anbelangt. Bevor ich mich darüber ärgern kann, dass er mich für so unwissend hält, wird mir klar, was er signalisieren will. Corvin beginnt die Konversation auf Latein, damit gar nicht erst der Verdacht aufkommt, ich sei unfähig, mit seinen Eltern auf einer Ebene zu kommunizieren.
»Gaudeo«, verleihe ich meiner angeblichen Freude Ausdruck. Freue ich mich, Corvins Eltern zu treffen? Freue ich mich auf das gemeinsame Abendessen, das sich schon beim Aperitif wie eine Henkersmahlzeit anfühlt? In etwa so sehr wie man sich auf die Bauchkrämpfe freut, nachdem man mit Sarkasmus, Verachtung und Hohn abgespeist worden ist. Ich freue mich. Die Lüge verlangt mir eine Menge Kraft ab.
Halt durch, Rise. Du schaffst das.
Wärme fließt mein Rückgrat entlang und von dort in alle Nervenenden. Die neu gewonnene Stärke entspringt weniger meinem Inneren als vielmehr Corvins Hand, die warm und vertraut auf meinem Rücken ruht. Mit sanftem Druck geleitet er mich zu meinem Platz. Kurz bevor er seine Hand wegnimmt, um mir den Stuhl zurechtzurücken, spüre ich, wie er seinen Daumen streichelnd kreisen lässt. Er versucht, mich zu beruhigen. Ich atme einmal tief durch und setze mich so anmutig wie möglich.
Der erste Gang wird serviert. Eine klare Brühe mit Fleischeinlage glotzt mich aus ihren Fettaugen heimtückisch an.
Galaxis! Ich und eine Suppe, das kann nicht gutgehen!
Ich denke an die vergiftete Suppe, die ich Corvin als Kellnerin im Gourmettempel Pantheon vor zehn Tagen aus der Hand geschlagen habe. Der Kommandant unseres Erkundungsschiffes wäre tot, wenn ich nicht gehandelt hätte, ebenso tot wie seine Navigatorin Silvia, die Kommunikationsoffizerin und der leitende Bordingenieur.
All diese Morde im Umfeld der SPES …
Ist es denkbar, dass tatsächlich die Untergrundbewegung S-FAIR-A dahintersteckt?
Ich kann es mir nicht vorstellen. In meinem Hinterkopf höre ich meinen Chef Ganymed, der mir versichert, ihr einziges Ziel sei es, gerechte Verhältnisse zu schaffen.
»S-FAIR-A will geänderte Bedingungen. Vor allem die freie Nutzung des Vertikaltransporters. Es sind keine Waffen und keine Paragraphen irgendeines Gesetzes, die deine Leute im Sublevel festhalten. Die völlig überteuerten Tickets sind es. Wenn der VT frei zugänglich wäre, könnten alle Familien ihre Kinder zur Schule schicken, alle könnten an den politischen Wahlen teilnehmen und die medizinischen Einrichtungen aufsuchen. Die SPES-Mission zu sabotieren, würde uns unserem Ziel keinen Schritt näherbringen. – Wir sind keine Terroristen, Rise. S-FAIR-A leistet Überzeugungsarbeit.«
Die öffentliche Meinung ist wie ein Esel. Störrisch. Ich kann nicht warten, bis sie endlich in die Hufe kommt und in Richtung sozialer Gerechtigkeit trottet. Für die Probleme meiner Familie muss jetzt – heute Abend – eine Lösung gefunden werden.
Corvin sucht meinen Blick. Er will die Senatorentochter, die sein Vater für ihn bestimmt hat, nicht. Er will mich.
Das Suppenmädchen.
Meine Gedanken kehren zu der Fleischbrühe zurück, die vor mir steht. Wider Erwarten schaffe ich es, ein Dutzend Schlucke hinabzuwürgen, ohne mein weißes Kleid oder das makellose Leintuch zu bekleckern.
Unterhalb des Tisches legt Corvin die Hand auf meinen Schenkel und nimmt das beruhigende Streicheln mit seinem Daumen wieder auf, während er über der Tischplatte gesittet den Weinkelch an die Lippen führt.
Er und sein Vater unterhalten sich über alarmierende Defizite in der Agrarproduktion, über die misslungene Reparatur eines Ventils in der Wasseraufbereitungsanlage und die zunehmend schwierigere Rückgewinnung der durch x-fache Recyclingläufe verunreinigten Rohstoffe.
Angesichts der Offenheit, mit der der Präsident in meiner Anwesenheit SPHAERAS Probleme bespricht, könnte man meinen, er habe sich damit abgefunden, mich als Partnerin seines Sohnes zu betrachten. Doch dieser Eindruck täuscht. Für Lucius bin ich schlicht nicht existent.
Ich beschließe, die Sache positiv zu sehen und mich zu entspannen. Wer nicht existiert, kann auch nicht verletzt, gedemütigt oder heimtückisch aus dem Weg geräumt werden.
Gerade habe ich das Gefühl, diesen Abend einigermaßen heil überstehen zu können, da wird das Hauptgericht serviert. Neben einem saftigen Stück »Filet Imperial« landen »Herzoginkartoffeln« und »Prinzessbohnen« auf meinem Teller. Wie lächerlich ist das denn? Wurden eigens Speisen mit aristokratischen Bezeichnungen gewählt, um mich zu demoralisieren?
Lächerlich oder nicht, der Plan geht auf. Ich fühle mich fehl am Platz. Das Ganze wird noch schlimmer, als Corvins Mutter mir die junge Frau vorstellt, die uns bedient.
»Elena ist Hoffnungsträgerin. Sicut tu!«
Wie ich eine bin? Was will sie damit sagen? Dass auch um meine Taille ein adrett gebügeltes Servierschürzchen gehört?
Die Hausherrin lächelt maliziös. »Letztes Jahr konnte ihre Familie mit dem Geld, das Elena in den Sublevel schickt, sogar zwei zusätzliche Apartments anmieten. Keiner ihrer Verwandten hat seither einen einzigen Tag Hunger gelitten.«
Mein Minderwertigkeitsgefühl erreicht eine neue Dimension. Genau besehen, rangiere ich sozial nicht nur weit unter Corvin und seinen Eltern, nein, ich kann mich nicht einmal mit ihrer Dienerschaft messen. Elena darf stolz sein auf das, was sie erreicht hat. Und ich? Sitze ich über meiner Datentab und büffle für einen guten Abschluss? Nein, ich hocke auf einem hochlehnigen, mit rotem Brokat überzogenen Stuhl und stochere in einem Essen herum, von dem jede einzelne, namentlich geadelte Komponente mehr Daseinsberechtigung besitzt als ich.
Auf Heras Wink hin präsentiert Elena mir eine Silberplatte, auf der ein dickes Stück rohes Fleisch, ungeschälte Kartoffeln und ein mit derbem Küchengarn verschnürtes Bündel Bohnen liegen.
Was soll das denn jetzt?
»Früher«, erklärt die Präsidentengattin generös, «brachte man einen Teil seiner Speisen den Hausgöttern als Opfer dar. Unter den Senatoren ist es Mode geworden, die überlieferten Bräuche neu aufleben zu lassen. Viele Familien errichten wieder ein Lararium als Altar für ihre Votivgaben. Ich habe mich bewusst dagegen entschieden. Von unserem Essen geht bei jeder Mahlzeit eine reichlich bemessene Portion an die Armen. Ich denke jeden Tag an das Leid und den Hunger bei euch da unten …« Da unten. Am Ende der Entsorgungsschächte. Dort, wo sich der Müll, der Kot und die Pisse der Gesellschaft sammeln. »… Das wird ein opulentes Mahl für deine Leute, denkst du nicht auch?«
Ich verziehe das Gesicht. Nicht nur, weil ich gerade an Exkremente denke, als Hera den Satz beendet. Was meint sie mit ›meine Leute‹? Meine Familie oder pauschal alle Sublevler – als könnte man uns alle über einen Kamm scheren? Für Hera sind wir keine Individuen, sondern eine Herde nicht näher differenzierbarer Lebewesen. Wie Vieh. Wie Ratten.
»Aliquando vobis pro meritis vestris gratiam referemus«, knurre ich, voller Abneigung gegen die Frau, die keinen Schimmer hat und sich doch für die seligmachende Lichtbringerin hält.
Eines Tages werden wir euch für alles danken.
Für alles, was ihr uns angetan habt.
Corvin – alarmiert von meinem Tonfall – unterbricht das Gespräch mit seinem Vater und sieht zu mir herüber. Seine gehobene Augenbraue formt den Bogen eines Fragezeichens. Ich bin zu sehr auf seine Mutter fixiert, um auf ihn einzugehen.
Beifall heischend deutet Hera auf die Silberplatte mit den ungekochten Nahrungsmitteln. »Ich mache das oft. Etwas mehr kaufen …«
»… und es dann spendabel wegwerfen.« Mein Sarkasmus ist ätzend, beinahe im Wortsinn Fleisch zerfetzend. Ich muss mich beherrschen, um den Brocken blutigen Rinderfilets, der gleich den Weg in den Müll antreten wird, nicht zu packen und der amtierenden Oberwohltäterin um die Ohren zu schlagen.
Die Frau unseres Präsidenten kauft teures Essen und wirft es in den Abfall. Das Fleisch und die Kartoffeln, das zum Päckchen verschnürte Gemüse können sich die notleidenden Menschen im Unterlevel dann aus dem Dreck ziehen und damit ein Fest feiern – ein Fest, bei dem sie mühsam Geld zusammenkratzen, um wenigstens eines ihrer Kinder in die Schule zu schicken oder bei dem sie ihre Tochter an einen Mann verhökern, der ihr für den Rest ihres Lebens zuwider sein wird.
Bei dieser Art von Wohltätigkeit wird mir schlecht. Klirrend lege ich mein Besteck auf den edlen Porzellanteller und schiebe die Herzoginkartoffeln und Prinzessbohnen von mir. Soll man im Hause Corvus doch ruhig noch mehr Lebensmittel in den Müll werfen. Hauptsache, die da unten haben ab und zu was zum Beißen, ehe sie wie ausgehungerte Ratten durch sämtliche Schächte nach oben klettern!
Hera ist sichtlich verstimmt über meine Reaktion. Mit ihren hängenden Mundwinkeln sieht die Königin der sinnlosen Wohltaten auf einmal alt und faltig aus, wie eine greise Hexe, die mir mit ihrem stechenden Blick die Pest an den Hals wünscht.
Die Stimmung im Salon, die schon zuvor nicht gerade warmherzig gewesen war, kühlt noch einmal merklich ab. Sie passt zu dem Eis, das als Dessert gereicht wird.
Mein Kopf schmerzt, mein Bauch tut es auch.
Den Magenbitter nach der Völlerei gibt es in Wortform.
Corvins Vater wählt eine kleine, rostrote Kapsel aus dem hauseigenen Sortiment teurer Stimulanzien, bestückt mit dieser einen vergoldeten Aerosol-Inhalator und gönnt sich einen ausgedehnten Lungenzug. Sein Atem riecht unangenehm süßlich, als er sich an seinen Sohn wendet. »Ich denke, wir haben diese Farce nolens volens recht passabel überstanden. Würdest du bitte die Güte haben, uns zu erklären, welche Intention du damit verfolgt hast?«
Besonnen legt Corvin seine Leinenserviette auf den Tisch.
»Ich werde Rise zur Erde mitnehmen. Als meine Partnerin. Ich dachte, du und Mutter möchtet es vielleicht von mir erfahren und nicht erst via SPHAERA AD PUNCTUM, wenn ich es am Samstag coram publico verkünde.«
Lucius lächelt seinen Filius herablassend an. »Mein Sohn, auch wenn die SPES bewusst gemischtgeschlechtlich besetzt wurde, die Frauen an Bord dienen nicht nur eurem Vergnügen. Sie müssen mehr mitbringen als einen willigen Schoß.«
In meinem Schoß würde er nach dieser Ansage zwei geballte Fäuste vorfinden. Ich bin höchst willig, ihm das hochnäsige Riechorgan zu brechen.
Corvin bleibt ruhig. »Sentio ac tu. Du sprichst mir aus der Seele, Vater. Genau aus diesem Grund möchte ich keine Senatorentochter wie Cäcilia zur Partnerin. Cäcilia hat außer ihren femininen Reizen und dem Vermögen ihrer Familie nichts vorzuweisen. Du weißt so gut wie ich, dass sie ohne die großzügig bemessenen Spenden ihres Vaters nie einen präsentablen Akademieabschluss geschafft hätte.« Er deutet auf mich. »Sunrise ist eine von nur vier Hoffnungsträgerinnen in der Geschichte SPHAERAS, die ein Vollstipendium des Senats erhalten haben. Ihre Intelligenz ist herausragend. Ihr Geist ist nicht zu brechen. Ihre Ausdauer, ihr Mut und ihre seelische Stärke übersteigen die jedes anderen Menschen, den ich je bei Belastungstests erlebt habe. Du warst bei dem Mensgraphenverhör dabei, du hast es miterlebt. Sie ist psychisch extrem belastbar. Innerlich stark. Wahrscheinlich sogar stärker als ich.«
Ihm zuzuhören wie er meine Vorzüge preist, sollte mich stolz machen, doch es verstört mich eher. Der Kommandant der SPES hält mich als Partnerin für geeignet. Ich habe den Wettstreit mit den anderen Bewerberinnen nach Punkten gewonnen, sämtliche Eignungstests als Beste absolviert. Deshalb wählt er mich aus. Nur deshalb?
Verunsichert sehe ich ihn an. Er spürt es und erwidert meinen Blick. Das Titangrau seiner Augen – metallisch kühl, hart und abweisend – wird durchlässig. Er hat seine Schutzschilde für einen Moment gesenkt. Dahinter begegnet mir ein junger Mann, der Sorge hat, im Psychoduell mit seinem Vater zu versagen und mich nicht mit an Bord nehmen zu können. Seine Pupillen weiten sich für ein Gefühl, das so tief hinabreicht, dass nicht einmal er weiß, wie weit es tatsächlich geht und mittendrin spiegle ich mich. Ich sehe uns, Corvin und mich.
Heras scharfe Zunge durchschneidet den Traum wie ein Messer. Illusion und Realität fallen auseinander und lassen mich im Nichts zurück.
»Sublevel-Mädchen eignen sich nicht für den Aufbau einer Zukunft«, belehrt die Mutter der Nation ihren Sohn. »Wir wünschen uns – und dir – dass du einmal Kinder haben wirst, um die Familienlinie fortzusetzen und den Namen Corvus groß zu machen. Quod autem fieri non potest. Ista non idonea est! Mit ihr …«, sie deutet auf mich, »geht das nicht. Hoffnungsträgerinnen sind sterilisiert.«
»Nein«, platze ich heraus.
Hera hebt eine perfekt geformte, goldblonde Augenbraue. »Ne contradixeris! Ich bitte dich! Der Schritt in die Klinik ist doch einer der ersten, den ihr Hoffnungsträgerinnen hier im Oberlevel macht. Insofern euch die Weiblichkeit nicht schon zuvor von einem eurer Scharlatane rausgesäbelt worden ist.«
»Nicht in meinem Fall. Ich bin intakt.«
Intakt? Bin ich ein Elektrogleiter, der soeben die jährliche Inspektion durchlaufen hat? Intakt. Was wäre ich denn sonst? Kaputt?
Sie nutzt jede Gelegenheit, mich einzuschüchtern. Ich sollte dieses Gespräch sofort abbrechen. Stattdessen führe ich es fort: »Es gab keinen Eingriff. Meine Familie hat beschlossen, die Operation erst vornehmen zu lassen, wenn es unumgänglich wird.« Kurz vor der Hochzeit mit meinem Verlobten Agri, an den ich meistbietend verkauft worden bin, sobald feststand, dass ich Hoffnungsträgerin werden würde.
Corvin fasst nach meiner Hand. Auf dem Tisch. Er verwebt unsere Finger miteinander, um klar zu machen, dass er mich nicht ohne Weiteres aufgeben wird.
»Rise hat Verpflichtungen. Gegenüber ihrer Sippe. Ich möchte sie freikaufen.«
Sein Vater stößt ein Lachen aus. Eine widerlich süße Wolke Aerosol streift mich und trifft Corvin direkt ins Gesicht. »Du hast es nicht nötig, dir eine Frau zu kaufen! Du bist mein Sohn! Mein Stammhalter und Erbe. Innumerabiles feminae atque puellae te adorant! Sie liegen dir zu Hunderten zu Füßen!«
Damit ist alles gesagt. Der Präsident von SPHAERA steht von seinem Stuhl auf als erhebe er sich von einem Thron. Mir wird zum ersten Mal klar, warum der Senat ihn immer wieder an die Spitze der Regierung wählt. So wie er über uns aufragt, wirkt er Ehrfurcht gebietend … Furcht einflößend.
Corvin lässt sich nicht aus der Fassung bringen. »Vater, ich …«
»Tace! Schweig! Ich werde ihre Familie nicht umsiedeln. Unter gar keinen Umständen.«
»Id non rogo. Um eine Umsiedlung bitte ich dich gar nicht mehr. Doch ich bitte dich, mir zu meinem Recht zu verhelfen. Wenn ich hier auf SPHAERA als Flugoffizier im Dienst bliebe, würde ich jeden Monat einen Sold bekommen. Diesen Betrag spart sich der Senat nur, weil die SPES den Gültigkeitsbereich von SPHAERAS Marktwirtschaft verlässt. Trotz allem steht mir eine finanzielle Vergütung zu. Ich bitte dich um nichts weiter, als dass du den Senat veranlasst, dieses Geld – mein Geld – Rises Familie zukommen zu lassen. Es könnte die monatlichen Zahlungen ersetzen, die Rise als erfolgreiche Hoffnungsträgerin an ihre Sippe schicken würde. Und Rise wäre frei.«
Mein Herz beginnt zu pochen. Corvins Argumentation ist absolut plausibel, hundertprozentig logisch. Niemand kann diese Forderung einfach abschmettern. Niemand … außer SPHAERAS Präsident.
»Nein.«
Corvin steht auf. »Nun, dann wird wohl Castor die SPES zur Erde fliegen.«
»Das wagst du nicht!«
»Doch, das wage ich. Mein Leben wird dort stattfinden, wo Rise ist.«
In diesem Moment wird mir bewusst, dass Liebe sich nicht wie ein Schwarm paarungsbereit herumflatternder Schmetterlinge anfühlt. Das Prickeln erinnert eher an Gliedmaßen, die fast abgefroren sind und nun langsam auftauen. Wärme durchströmt mich. Sie umhüllt mich wie ein Thermomantel in der kältesten Phase der Energiesparmonate, beendet mein Zittern und gibt mir Sicherheit.
Corvin ist bereit, alles aufzugeben. Für mich.
Blufft er? Sagt er es nur, um Lucius unter Druck zu setzen?
Ein Skandal wie Corvins Rücktritt zugunsten eines Sublevel-Mädchens hätte unabsehbare Folgen. Etliche der alten Seilschaften innerhalb des Senats würden reißen, und das wäre erst der Anfang. Sollte die Rückbesiedlung der Erde ohne Beisein des Hauses Corvus stattfinden, würden sich auch die Machtverhältnisse auf SPHAERA grundlegend verschieben.
Bedächtig legt Lucius seinen goldenen Stimmungsinhalator beiseite. Es sieht aus, als strecke er die Waffen. Dennoch beschleicht mich die Furcht, Corvin gleich bluten zu sehen.
Der Präsident lächelt kalt.
»Ich habe eine Menge Einfluss, doch die Zuteilung von Geldern aus der öffentlichen Hand gehört nicht in mein Ressort, wie du sehr wohl weißt. Cäcilias Vater verwaltet die Finanzen. Dir bleiben zwei Wochen bis zum Start der SPES. Das reicht nicht aus, um einen Antrag zu stellen und ihn durchzubringen. Nicht, wenn Claudius Causidicus dir die Unterstützung verweigert. Wenn du deinen Willen durchsetzen willst, dann geht das nur über ihn. Ich denke, er lässt mit sich reden, wenn du Cäcilia mitnimmst. An deiner Seite.«
»Num audivisti mea verba? Hörst du mir eigentlich zu? Das Geld nützt mir nichts, wenn ich dafür Cäcilia nehmen muss. Mir geht es darum, Rise von ihren Verpflichtungen zu entbinden, damit sie mit mir fliegen kann. Sie und nicht Causidicus' Tochter! Ich will Cäcilia nicht!«
»Du wirst lernen, sie zu mögen – wenn du Rise haben willst. Du akzeptierst Cäcilia an deiner Seite, dann kannst du deine kleine Sublevel-Gespielin freikaufen und sie mit an Bord der SPES nehmen. Was du mit ihr treibst, interessiert niemanden, solange du es ausreichend diskret anfängst. Id est, das heißt: Absolviere deine körperlichen Trainingseinheiten im Sportraum oder in ihrem Bett. Deine Freizeitbeschäftigung sei dir freigestellt, solange du weißt, wo im Alltag dein Platz ist. Gaudium res severa est, mi fili.«
Freude ist eine ernste Angelegenheit.
Hoffnung und Verzweiflung zerren gleich stark an mir. Lucius' Angebot zerreißt mich innerlich.
Corvin sieht mich an. Er will mit mir in Ruhe darüber reden, doch eine zweite Chance werden wir nicht bekommen. Der Handel muss jetzt zum Abschluss gebracht werden. Eine Bedenkzeit würde auch dem Präsidenten die Möglichkeit geben, einen Reaktionsplan zu entwickeln.
»Vertraust du mir?«, fragt Corvin mich leise.
»Ja, aber …«
»Nein.« Er unterbricht mich. Wenn ich ihm jetzt Widerworte liefere, verlässt ihn die Kraft.
»Rise«, fährt er fort. »Kommst du mit mir an Bord der SPES, wenn ich offiziell verkünde, dass meine Wahl auf Cäcilia fällt?«
»… wenn du spätestens am Sonntag deine Verlobung mit Cäcilia bekannt gibst«, präzisiert Lucius, »und sie zukünftig in der Öffentlichkeit wie deine rechtsgültige Partnerin behandelst. Ich lasse einen Ehevertrag aufsetzen, den ihr – du und Cäcilia – im Rahmen einer amtlichen Eheschließung noch vor dem endgültigen Start der SPES unterschreiben werdet.«
Verlobung. Eheschließung.
Corvins Schultern verkrampfen sich wie unter dem Hieb einer Elektroschock-Peitsche. In seinen Gesichtszügen zuckt es. Sein hörbares Ausatmen überdeckt eine Mischung aus unartikuliertem Fluch und gepeinigtem Stöhnen. Zwei- oder dreimal holt er langsam und tief Luft, dann hebt er den Kopf und sieht mich an. Kalter Schweiß tritt auf seine Stirn, sein Herz rast, als würde er am liebsten vor diesem Wahnsinn fliehen, doch sein Blick bleibt fest – metallgrau und schimmernd wie Stahl unter einem unbezwingbaren Schutzschild.
»Kannst du damit leben?«
Kann ich damit leben, für immer heimlich mit ihm zusammen zu sein, wenn er eine aufgezwungene Scheinehe eingeht? Hätte ich Agri heiraten können und trotzdem Corvin lieben?
»Ja.«
Es ist nicht der geringste Zweifel in meiner Stimme.
Corvin wendet sich an seinen Erzeuger. »Das, was du verlangst, ist weit mehr als meine gerechtfertigte Forderung nach einem Sold. Wenn ich einwillige, werdet ihr – du und Cäcilias Vater – dafür sorgen, dass die Sippe von Rise und die Familie von Agri Arman in den Oberlevel umgesiedelt werden. Ihr werdet ihnen monatlich Geld zukommen lassen, damit sie die Mietkosten und ihren Lebensunterhalt decken können.«
Bereit, den mündlichen Vertrag zu besiegeln, streckt er die Hand aus. Lucius schlägt ein. Die Härte seines Griffs droht dem Sohn die Finger zu brechen. »Mach einen einzigen Fehler – und die Familie von Rise verliert alles. Wage es nicht, aus der kleinen Müllfresserin je mehr zu machen, als sie ist: ein Zeitvertreib.«
Corvin schließt die Augen. Er atmet noch einmal durch. Als er seine Lider wieder öffnet, liegen in seinem Blick Hass und Qual, aber ebenso eine tiefe innere Ruhe.
»Sic sit«, bestätigt er. Das Abkommen gilt.
Schweigend steige ich hinter Corvin auf den Tholus-Gleiter. Ich umschlinge die Taille meines Freundes und bin froh, eine unverfängliche Möglichkeit zu haben, ihn fest in die Arme zu schließen, ohne daraus eine hyperemotionale Geste zu machen. Das leichte Beben, das ich spüre, kann nicht von dem Motor des Tholus ausgehen. Corvin hat das Gefährt noch nicht gestartet. Seine angespannten Muskeln zittern. Ich bemerke, wie seine Finger, die um den Lenker verkrampft sind, sich ballen und sich in der nächsten Sekunde spreizen, um sich zu lockern. Er ringt mit sich. Er kämpft innerlich. Um was? Um Fassung? Ich kann mir nicht vorstellen, wie es in ihm aussieht. Ich kann ja kaum abschätzen, wie ich mich selbst gerade fühle.
Ich bin frei. In weniger als zwei Wochen werde ich mit der SPES zur Erde fliegen und ein anderer zahlt den Preis dafür. Einen viel zu hohen Preis.
»Redi?«, fragt Corvin mich im Sublevel-Slang.
Bereit? Ich weiß nicht, ob ich dazu bereit bin.
Er blickt über die Schulter zu mir zurück. »Rise, mach dir keine Gedanken.«
Statt einer Antwort verstärke ich nur meine Umarmung und schmiege den Kopf an seinen Rücken. Ich will nicht, dass er mir in die Augen sieht. Nein, das ist es nicht. In Wahrheit kann ich ihm nicht ins Gesicht sehen.
Fünfzehn Minuten später halten wir vor meinem und Miriams Apartment. Ich rutsche vom Gleiter herab und überlege dabei krampfhaft, wie ich mich verabschieden soll.
Was wäre angemessen? Eine Umarmung? Ein Kuss? Und wenn ja, soll ich dann eine Leidenschaft vortäuschen, die ich nicht empfinden kann, solange Schuldgefühle mein gesamtes emotionales Spektrum beherrschen?
Der elektronische Sicherheitsbeamte, der noch immer unsere Eingangstür bewacht, unterbricht meine Überlegungen. Er schmettert ein blechernes »Salvete!« zum Gruß. Mir wird bewusst, dass er alles, was er sieht und hört, unverzüglich an die Zentralbehörde weiterleitet. Soll Lucius mitbekommen, wie sehr er mich aus der Bahn geworfen hat?
Nein.
Ich setze ein strahlendes Lächeln auf.
»Salve!«, grüße ich betont fröhlich.
Die ID-Kennung des Porkos – des portablen Kommunikators – an meinem Handgelenk weist mich als zugangsberechtigt aus und entriegelt die Tür. Das leise Srr … scht, mit dem das Schiebeelement zur Seite gleitet, wird von einer donnernden Schalllawine hinweggefegt: elektrisches Schlagzeug, Bass und Gitarre. Miriam zuckt so wild herum, als sei sie selbst an den Strom angeschlossen. Direkt vor ihr, in unserer Wohnzimmerecke, rockt eine mannshohe Holografie des »Martialis«-Sängers Ares.
Kaum bemerkt meine Freundin mich – und hinter mir Corvin –, da bleibt sie ruckartig stehen. Ein Leuchten breitet sich auf ihrem schweißnassen Gesicht aus. Sie grinst.
»Fini!«, brüllt sie über den Lärm hinweg. Der Abschaltbefehl deaktiviert unser Unterhaltungsmodul und lässt Ares samt seinem neomusikalischen Angriffsgebrüll verschwinden. In der Stille ist nur noch ein sanftes Surren zu hören. Corvin steuert den Elektrogleiter an uns vorbei ins Apartment und parkt neben dem Sofa.
»Ich hoffe, es stört euch nicht. Aber ich hätte ihn ungern die ganze Nacht draußen vor der Tür.«
Die ganze Nacht. Hat er gerade die ganze Nacht gesagt??
Mein Herz hämmert. Er will die Nacht hier verbringen? Bei mir?
Miriam reagiert unbehaglich. »Ähm, also, ich pack' dann wohl besser mein Bettzeug und meine Schlafsachen ins Bad.«
»Nein!« Bloß nicht! Ich habe Angst, mit Corvin allein zu sein.
Dieses Mal lässt meine beste Freundin mich im Stich.
»Ihr seid es im Sublevel ja vielleicht gewohnt, dass alles Mögliche läuft, während die komplette Familie im Zimmer ist. Aber ich … also, ich kann das nicht. Bei uns gibt's so was wie Privatsphäre.«
Corvin blickt Miriam an, doch ich bin mir ziemlich sicher, dass er eigentlich mit mir spricht. »Ich denke, dass wir heute Nacht nicht allzu viel Privatsphäre brauchen werden. In ein paar Tagen sind wir auf der SPES. Dann haben wir endlos Zeit für uns.«
Die SPES.
Miriams braune Augen erinnern mich an zwei übergroße, schmelzende Schokodrops. »Fata!«
Normalerweise weiß ich, in welcher Gemütsverfassung sie sich befindet, wenn sie das Schicksal anruft. Heute kann ich es nicht beurteilen. Schluchzt sie oder hört es sich eher wie ein Glucksen an? Sie schlägt die Hände vor den Mund und ich bin mir nicht sicher, ob sie lacht oder weint, bis sie die Arme um meinen Hals wirft und jubelt. »Ich wusste es! Ich wusste es!«
Ich lächle verkrampft. Linkisch erwidere ich den Druck ihrer Umarmung und halte mich einen Moment lang an ihr fest. Zu lang. Miriam spürt, dass irgendetwas nicht stimmt. Ihre Hände streichen über meinen verspannten Rücken. Ich schiebe sie von mir fort, bevor ihre Berührung meine mühsam aufrechterhaltene Beherrschung durchbricht.
Corvins und Miriams Blicke treffen sich. Ich kann direkt hören, wie es klick! macht, als er die jetzige Situation mit der Zukunft verknüpft, die mich erwartet. Ich werde nicht viel brauchen auf der SPES. Aber eines brauche ich mit Sicherheit: eine verlässliche Freundin.
Corvin legt einen Arm um meine Schultern. Er sendet einen Strom tiefer innerer Ruhe in mich und versetzt Miriam in helle Aufregung. »Wenn du möchtest«, sagt er zu ihr, »sorge ich dafür, dass du mit an Bord der SPES kannst. Das setzt allerdings voraus, dass du großteils alleine klarkommst. Rise wird nämlich die meiste Zeit bei mir sein.«
Miriam quietscht wie eine Gummisohle beim Spurt über einen PVC-Boden. Mit voller Wucht hechtet sie Corvin an den Hals. Ich sehe Cäcilia dort. An seinem Hals. In seinen Armen. Überall an seinem Körper.
»Ich geh duschen«, würge ich hervor, während ich bereits auf dem Sprung ins Badezimmer bin.
Hastig entledige ich mich meiner Kleider, schalte mit einem Hieb auf den Aquaregulator den Brausestrahl an … und lasse meinen Tränen freien Lauf. Ich bin nicht traurig. Nur völlig fertig. Man erreicht die Trauerphase erst, wenn der erste Schock überwunden ist.
Srr … scht. Jemand kommt herein. Auch ohne hinzusehen, weiß ich, wer es ist.
Corvin streift seine Zeremonialuniform ab und lässt sie achtlos zu Boden fallen. Jackett, Hemd, Hose … Der schwarz schimmernde Stoff hebt sich drastisch von den weißen Fliesen ab. Ich denke an Schach, an Sieger und Verlierer, und dann denke ich gar nichts mehr. Zumindest nichts Vernünftiges.
Sein Körper ist perfekt, kraftvoll und muskulös – nicht wie bei einem Schwermetall-Recycler, sondern eher wie bei einem Tänzer oder bühnenshowtrainierten Musiker. Jeder einzelne Muskelstrang ist genau akzentuiert. Ich sehe es und bemerke wie mein Herz schneller schlägt. Erregung mischt sich mit Furcht. Ich habe Angst, dass Corvin Erwartungen in mich setzt.
Was erwartet er von mir? Erwartet er überhaupt etwas?
Er hat den Ort, an dem wir uns zum ersten Mal komplett ohne Kleider begegnen, bewusst neutral gewählt. Es ist viel natürlicher und weit weniger fordernd, wenn er die Hüllen im Bad fallen lässt, anstatt draußen vor meinem Bett. Man duscht eben nicht angezogen, sondern nackt. Das ist eine alltägliche Tatsache.
Corvin tritt zu mir unter den Brausestrahl. Wasser prasselt auf ihn nieder, während er sich mit den Händen übers Gesicht und über die widerspenstigen Haare fährt, die ihm jetzt – nass – dunkel und schwer bis auf die Schultern reichen. Statt irgendetwas zu sagen, gibt er mir nur einen Kuss auf die Stirn. Dann greift er über mich hinweg und nimmt sich eine der Flüssigseifen von der Ablage. Dank Miriam ist ein beachtliches Sortiment verführerischer Düfte vorrätig, alles von »Arcanum Aphroditae« bis »Zeus Caelestis«. Ohne es zu wissen, fällt Corvins Wahl auf die einzige Flasche, die mir gehört: ein Gel, das laut Etikett nach einem blühenden Regenwald riecht, nach Wildnis und Natur. Anscheinend haben wir tatsächlich Gemeinsamkeiten: den gleichen Geschmack – zumindest, was parfümierte Reinigungstenside anbelangt.
Corvin öffnet die Flasche und lächelt, als er den Duft erkennt, den ich für gewöhnlich benutze.
Jeder für sich seifen wir uns ein und waschen die Anspannung von uns ab. Unser Schaumwasser vermischt sich zu unseren Füßen. Er hat schöne Zehen, denke ich. Jetzt bin ich froh, dass ich meine Nägel nicht aufwändig lackiert oder effekthaschend verziert habe. Der natürliche Look passt besser zu mir – und auch besser zu ihm. Corvin streichelt meinen Kieferknochen entlang und fasst mein Kinn. Er hebt meinen Kopf, dass ich nicht länger unsere Zehen anstarre.
»Itsokei, Rise«, sagt er sanft.
»Nichts ist okei! Du hast alles getan, um von Cäcilia wegzukommen. Und jetzt? Jetzt hast du sie am Hals!«
»Nicht erst seit heute. Und nicht wegen dir. Ich wäre nicht von Cäcilia weggekommen. Nullo modo! Unter keinen Umständen. Selbst wenn ich nicht dich, sondern Laetitia oder Victoria gewählt hätte … mein Vater hätte einen Weg gefunden, seinen Willen durchzusetzen. Die Partnerin meiner Wahl hätte es nicht an Bord der SPES geschafft. Si necesse fuisset, aliquid mali ei accidisset.«
… wenn nötig, hätte sie einen tragischen Unfall erlitten.
Was er da so lapidar andeutet – was er Lucius zutraut – nimmt mir die Luft zum Atmen. Corvin aber spricht einfach weiter, als wäre Mord die perfekte Überleitung zur Tagespolitik.
»Im Senat steht ein Umbruch bevor. Der Widerstand gegen meinen Vater wird größer. Es ist nicht gesagt, dass er die nächste Wahl gewinnt. Nach sechs Generationen, in denen das Haus Corvus durchgehend den Präsidenten gestellt hat, könnte dieses Jahr zum ersten Mal eine andere Familie an die Macht kommen.«
S-FAIR-A, schießt mir durch den Sinn. Im Dampf des heißen Duschwassers sehe ich schemenhaft Ganymed vor mir, der mir Mut macht, an die Rebellion zu glauben.
Corvin holt mich in die Realität zurück.
»Claudius Causidicus und der Rest von Cäcilias Familie wollen um jeden Preis bei der SPES-Mission dabei sein. Sie wollen sich auf der Erde eine entscheidende Position sichern. Mein Vater wiederum braucht ihre finanzielle Unterstützung, um sich im Senat Stimmen zu kaufen. Er kann es sich buchstäblich nicht leisten, dass ich Cäcilia zurückweise. Du denkst, dass ich meine Freiheit für deine geopfert habe, doch das stimmt nicht. Ich war nie frei, Rise. Nicht wirklich. Ich hatte nie eine reelle Chance, von Cäcilia loszukommen.«
Ändern seine Worte irgendetwas an der Situation? Fühlt Unrecht sich besser an, wenn es keine Alternative gibt?
Ich weiß es nicht.
Auf einmal bin ich todmüde. Total erschöpft.
Corvin steigt aus der Dusche. Er reicht mir ein Handtuch und wickelt sich selbst ein anderes um die Hüfte. Zu überraschend, als dass ich noch protestieren könnte, hebt er mich hoch und trägt mich zu meinem Bett. Mein Kopf kommt auf etwas Hartem zu liegen. Schläfrig gleiten meine Finger darüber. Muskeln unter samtweicher Haut. Corvins nackte Brust.
»Ich kann gehen«, raunt Miriam.
»Brauchst du nicht.« Sein Flüstern verliert sich in der Ferne.
Ich bin eingeschlafen.
***
Srr … scht. Das Geräusch der sich schließenden Eingangstür zischt durch mein Bewusstsein. Ich schrecke auf.
»Ssscht«, beruhigt mich eine warme Männerstimme. »Evrising okei.«
Durch den künstlichen Mondschein, auf den das Zimmer nachts programmiert ist, blicke ich in Corvins markante Gesichtszüge. Seine Augen sind dunkel, fast schwarz. Dennoch bemerke ich in ihnen ein Leuchten. Es erinnert mich an das Dämmerlicht frühmorgens auf den Korridoren, kurz bevor der Tagesbetrieb startet. Corvin hat sich mit dem, was gestern Abend passiert ist – mit dem, was sein Vater ihm abgepresst hat – abgefunden.
Ich nicht. Für mich ist nicht ›evrising okei‹. Zwangsehen, Wahlbetrug, Tyrannei und Unterdrückung sind nicht okei. So viel steht fest.
In diesem Moment fällt mir auf, wie ungewöhnlich still es ist. Aus der anderen Zimmerhälfte dringt kein Geräusch herüber. Kein Atmen.
»Wo ist Miriam?«
»Gerade gegangen.«
»Gegangen?! Wohin?«
»In die AULAT.«
In die Aula Athletica? Bitte?! Was will sie denn dort? Miriam und Sport! Sie hat wahrscheinlich nicht mal den erforderlichen Zugangscode, um in die Anlage reinzukommen, und ich bezweifle – mit einem Wink aktiviere ich den Zeitsignifikator und werfe einen Blick auf die schwebenden Leuchtzahlen –, dass um 4.23 Uhr jemand da sein wird, um mit ihr einen Mitgliedsvertrag abzuschließen.
Corvins Stimme klingt gedämpft. Er hält seine Emotionen zurück. »Sie sagte, wir sollen uns nicht scheuen, falls wir uns hier auch ein wenig körperlich betätigen wollen. Das Apartment gehöre die nächsten Stunden uns. Sie würde von der AULAT direkt in die Schule gehen.«
Ich stoße ein gepresstes Lachen hervor. »Mittellevel.«
Agraranimalischer Fortpflanzungssektor. Kein Wunder, dass Männer wie Castor Mädchen von dort bevorzugen. Ich kann meinem Freund kein paarungstechnisches Fachwissen bieten. Selbst bei den Grundkenntnissen hapert es.
Erwartet Corvin, dass wir uns näherkommen?
Wir sind allein und unter der dünnen Bettdecke bis auf zwei locker geknotete Handtücher unbekleidet.
Corvin beugt sich zu mir und küsst mich sanft. Seine Hand wandert über meine nackte Taille abwärts zum Becken. Harte Knochenbögen und weiche Täler. Er kennt sich in der weiblichen Hügellandschaft aus. Spielend leicht streift er von einer empfindsamen Stelle zur nächsten und jagt wohlige Schauer durch meinen gesamten Körper. Vom Nacken bis hinab zu meinen Beinen stellt sich jedes feine Härchen auf. Ich bekomme eine Gänsehaut. Nicht weil ich friere, sondern weil Millionen sensibler Nervenenden sich einer Berührung entgegenstrecken. Jeder Millimeter meiner Haut will Corvins Fingerkuppen spüren.
Ich will ihn. Wirklich.
Aber ich kann es einfach nicht genießen. Es ist ein wenig so, als wäre ich unvorbereitet in eine Party hineingestolpert – müde, ungewaschen und in der mit Schweiß durchtränkten Arbeitsmontur, die ich den ganzen Tag im Abfallrecycling getragen habe. Corvin zieht mich enger an sich.
Ich bin weder verdreckt noch verschwitzt, trotzdem schäle ich mich aus seinen Armen. »Ich muss mal kurz ins Bad.«
Er folgt mir nicht.
Die kleine Schiebetür unserer Sanitärzelle schließt sich hinter mir und ich atme auf. Ein weißes Nicht-denken-Rauschen flutet mein Hirn, so hygienisch rein wie das Wasser, das ich mir ins Gesicht klatsche oder wie das Waschbecken, in das ich starre.
Was denkt sich ein Mann, wenn sich die Frau im entscheidenden Moment unter seinem Körper hervorwindet und ins Bad verabschiedet? Was denkt Corvin, was ich mache? Rasch Körperhygiene betreiben? Meine Blase entleeren? Verhütungsmaßnahmen einleiten?
Alles, was ich bräuchte, um mit einem Jungen bedenkenlos Spaß zu haben, befindet sich in greifbarer Nähe: Spermiencaptoren, Ejakulationssupressiva oder Antikonzeptiva – Miriams Ablagefach im Badezimmerschrank ist voll davon. Ich müsste nur wahllos etwas herausziehen. Corvin wird sicher wissen, wie man das Zeug anwendet.
Tock, tock. Es könnte mein Herz sein, das so laut pocht, doch es ist ein starker Fingerknöchel. Corvin klopft von außen gegen die geschlossene Tür.
»Rise? Kann ich kurz reinkommen?«
Nein!, schreie ich innerlich und sage vernehmbar: »Ja.«
Das cremeweiße Schiebeelement fährt beiseite und lässt Corvin eintreten, der mich vorsichtig mustert. Vorsichtig ist vielleicht nicht das richtige Wort, behutsam trifft es besser. Seine grauen Augen halten mich sanft aber unausweichlich fest, während sein Blick mich abtastet, als untersuche er mich auf Verletzungen. Ich habe mehr als genug davon: Dutzende vernarbte und frische seelische Wunden.
Er bückt sich und fischt ein Kleidungsstück aus dem schwarzen Haufen seiner Zeremonialuniform, der gestern hier zurückgeblieben ist. Bevor er das Handtuch fallen lässt, um in seine Hose zu schlüpfen, kehrt er mir den Rücken zu. Keine beängstigende Intimität mehr, keine übermäßige Vertrautheit.
Nicht heute.
Ich bin verwirrt, ein wenig enttäuscht, vor allem aber … erleichtert.
Schon hat er sich angezogen und öffnet die Tür.
»Ich programmiere ein Frühstück. Magst du Kaffee oder Tee?«
»Kaffee. Ohne Koffeineinspritzung.« Mein Herz ist sowieso schon völlig aus dem Takt.
»Proteine oder eher was Süßes?«
Ich weiß nicht, ob es an der reservierten Sachlichkeit liegt, mit der er mir auf einmal begegnet oder daran, dass ich nur ein Handtuch um mich geschlungen habe und barfuß auf den kalten Bodenfliesen stehe … ich beginne zu frieren.
»Tohk tu mi, Rise. Willst du mir nicht sagen, was los ist?«
Nein. Ich kann nicht über Gefühle reden. Wie auch? Bis gestern Abend durfte ich nicht mal welche haben.
»Es ist nichts. Ich … ich bin nur noch nicht ganz wach.«
Er schlüpft in sein Jackett. »Auf der SPES werden wir ausschlafen, so oft es geht, das verspreche ich dir. Ich bin kein Frühaufsteher, wenn's nicht sein muss.«
Muss es jetzt sein? Die leuchtende Zeitanzeige in der unteren, linken Ecke des Spiegels springt um eine Minute weiter. 5:12 Uhr. Mitten in der Nacht für jemanden, der behauptet, ein Langschläfer zu sein.
Habe ich ihn frustriert?
Ich wage es nicht, die Frage direkt zu stellen.
»Warum ziehst du dich schon an?«, murmle ich.
Der Kommandant der SPES sieht mich an, als versuche er im Sternfunkeln meiner Augen einen annähernd sicheren Kurs zu bestimmen. »Wenn du wieder ins Bett gehen willst, bin ich der Erste, der drin liegt.«
»Nein! Schon gut.«
Ich will mit ihm zusammen sein. In jeder erdenklichen Art und Weise. Aber es geht nicht. Nicht jetzt. Mein Kopf ist ein Schlachtfeld voll widerstreitender Gedanken und Empfindungen.
Corvin zieht mich an sich und bettet sein Kinn auf meinen Scheitel. Er ist groß und seine Arme halten mich, als könnte mich nichts in dieser Galaxie von ihm fortreißen. Bestärkend gibt er mir einen Kuss ins Haar.
»Lass dir Zeit.«
Meint er im Bad? Oder mit uns?
Ich zittere noch schlimmer als zuvor. Meine Haut ist klamm und kalt. »Ich zieh mir nur kurz was an, dann komme ich raus.«
Corvin versteht den Wink. Er küsst mich noch einmal auf die Stirn, wie um zu sagen: Bitte, hör auf dir das Hirn zu zermartern. Dann lässt er mich allein.
Rasch krame ich meine Jeans aus der Schmutzwäsche. Eines der Hosenbeine ist feucht, da es auf einem nassen Handtuch lag. Ich beschließe, die Feuchtigkeit zu ignorieren und nutze die Kapazitäten des Warmluftgebläses, um mein Shirt zu trocknen, nachdem ich es im Seifenwasser ausgewaschen habe. Floribus Magicis. Der Duft reiner Natur.
Ich denke an die Erde. An Corvin und an …
Lucius.
Dieses gewissenlose, machtgierige Schwein!
Das gallsüchtige Kribbeln in meinem Bauch verwandelt sich in ein aggressives Surren. Ein Schwarm blutgieriger Gedanken fällt über mich her. Ich wünschte, ich könnte mehr tun, als unser despotisches Staatsoberhaupt nur zu hassen! Ich wünschte, ich könnte diesen Hass, der mich innerlich zerfrisst, effektiv gegen ihn richten und dazu beitragen, seiner Tyrannei ein für alle Mal ein Ende zu bereiten.
Auf einmal halte ich eine Schere in meiner Faust. Die beiden scharfen Klingen enden in einer Spitze, die ohne jeden Widerstand bis zum Handwurzelknochen in mein Fleisch fährt. Glühender Schmerz durchzuckt mich. Ich unterdrücke einen Aufschrei und fühle gleichzeitig, wie der Druck, unter dem ich gestanden habe, nachlässt.
Blut tropft ins Waschbecken. Ich sehe in jedem Tropfen einen Buchstaben, ein scharlachrot geschriebenes Bekenntnis.
S-FAIR-A.
In meiner Erinnerung höre ich, wie Ganymed mir das geheime Erkennungszeichen der Untergrundbewegung verrät: »Eine offene Wunde symbolisiert die Not des Sublevels. Wenn du zu uns gehören willst, Rise, dann sorg dafür, dass du eine kleine Verletzung hast. Nichts Auffälliges, doch etwas, das du bei Bedarf vorzeigen kannst.«
Der Schnitt an meinem Handgelenk ist größer als nötig. Aber lieber ist mir schwindlig vom Anblick des Blutes, vom Schmerz und der schlagartig einsetzenden Schwäche als vor selbstzerstörerischem Hass. Ich kralle mich am Waschbecken fest, atme gegen die Ohnmacht an. Statt den Einschnitt mit einem Pflaster aus künstlicher Haut unkenntlich zu machen und antibakteriell zu versiegeln, lasse ich ihn bluten, bis er allmählich verschorft.
Die Wunde pulsiert und pocht. Von mir aus könnte sie noch viel mehr wehtun. Der Schmerz klärt meinen Verstand.
Lucius denkt, dass er gewonnen hat. Doch das hat er nicht. Noch ist er nicht wiedergewählt. Alles kann sich ändern.
Gackerndes Gelächter schallt herein. Ein lautes Krächzen und pickende E-Gitarren folgen. Gallina, die Moderatorin des Morgenmagazins SPHAERA PRIMA LUCE, präsentiert den saisonalen Trend – den buchstäblich neuesten Schrei – der Musikszene. Offenbar wurde unser Medienmodul angeschaltet.
Ich trete an das Schiebeelement, das die Sanitärzelle vom Wohnbereich unseres Apartments trennt, lasse die Hand aber sinken, ohne den Durchgang zu öffnen.
Corvin unterhält sich mit jemandem. Mit wem? Automatisch schärft sich mein Gehör. Ich horche und erkenne Miriams Stimme. Nach den ersten Sätzen weiß ich, dass Corvin meine Freundin in den elenden Handel eingeweiht hat, den wir gestern Nacht abgeschlossen haben.
»Kannst du denn nichts dagegen tun?«, will sie wissen.
»Nein.«
Offenbar glaubt sie ihm nicht. »Ihr könntet die Sache mit dem Wahlbetrug publik machen. Dann würde Lucius seines Amtes enthoben.«
»Die Wahl findet erst statt, nachdem wir gestartet sind. Und ganz ehrlich, ich weiß nicht, was passiert, wenn Lucius gestürzt wird. Die Zukunft von Rises Familie hängt mit an dem Deal.«
Seine Worte lassen die kaum erloschenen Ängste in mir von Neuem aufflammen. Sie befeuern meine Wut. Ich reiße die Tür auf und platze in das Gespräch.
»Wenn auf SPHAERA gerechte Verhältnisse herrschen würden, bräuchte meine Familie keinen Deal!«
Erschrocken fährt Miriam zu mir herum. »Oh, hey Rise! Guten Morgen! Ähm … ich … hab' meine Sporttasche vergessen …«, stammelt sie und beschwört mich mit einem vielsagenden Blick. Ich soll auf keinen Fall zur Sprache bringen, dass sie mangels Zugangscode gar nicht erst in die AULAT reingekommen ist. Sie will nicht unsportlich erscheinen. Unsportliche dürfen vielleicht nicht auf die SPES.
Corvin fährt sich mit den Fingern durch die verstrubbelten Haare. Es sieht aus, als versuche er weniger seine zerzauste Frisur als vielmehr seine aufgewühlten Gedanken zu glätten. Dann deutet er mit einem Wink auf Miriam. »Sie hockte vor der Tür und stritt mit dem elektronischen EXSEC-Sicherheitshüter.«
Meine Freundin grummelt. »Blöder, beschränkter Pixelhaufen! Von wegen In vestibulo vagari vetatum est. Er kann mir gar nichts verbieten! Ich habe nicht auf dem Korridor herumgelungert. Ich saß vor der Tür zu meinem eigenen Apartment!«
»Hättest du nicht müssen! Hat keiner von dir verlangt!«
für mich