Nationalismus ist nicht mit Patriotismus gleichzusetzen, so George Orwell in diesem streitbaren Essay. Doch was kennzeichnet nationalistisches Denken? Unter anderem der besessene Glaube an die eigene Überlegenheit und der Unwille, sein Handeln an realen Fakten auszurichten. Geschrieben 1945 und noch nie auf Deutsch erschienen, ist ›Über Nationalismus‹ eine höchst aktuelle Lektüre.
George Orwell (eigentlich Eric Arthur Blair, 1903–1950) wurde in Indien als Sohn eines Britischen Kolonialbeamten geboren. Nach Studienjahren in Eton und Wellington trat er 1922 in den burmesischen Polizeidienst ein. 1927 zog er zurück nach England und arbeitete dort sowie in Paris als Journalist, Tellerwäscher und Lehrer. Seine Romane ›Farm der Tiere‹ und ›1984‹ sind Klassiker der Weltliteratur.
Armin Nassehi, geboren 1960, ist Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und seit 2012 Herausgeber der Kulturzeitschrift Kursbuch. 2019 erschien von ihm ›Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft‹.
Andreas Wirthensohn, geboren 1967, lebt als Übersetzer, Lektor, Literaturkritiker und Hörfunkautor in München. Er hat u. a. Werke von Michael Hardt/Antonio Negri, Eva Illouz, Neil MacGregor, Timothy Snyder und Yuval Harari ins Deutsche übertragen.
›Über Nationalismus‹ wurde im Mai 1945 verfasst und im Oktober desselben Jahres unter dem Titel ›Notes on Nationalism‹ veröffentlicht in: Polemic [No 1 October 1945]; S. J.; E. Y. E.; C. E.
Der Text ist enthalten in: ›The Collected Essays, Journalism and Letters of George Orwell‹ (Volume 3: ›As I please‹), erschienen 1968 bei Secker & Warburg, London.
Deutsche Erstausgabe
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ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-14737-8
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George Orwells Generalthema war der Totalitarismus und das Verhältnis von Individualität und Kollektiven. Seine berühmtesten Werke, die dystopischen Bücher ›Animal Farm‹ von 1945 und ›1984‹ aus dem Jahre 1949, haben totalitäre Herrschaft im Blick, insbesondere die Unterdrückung des Individuums durch autoritäre Strukturen und die Herrschaft einer antidemokratischen Struktur über die Gesellschaft. Die historischen Erfahrungen liegen auf der Hand – geschrieben unter dem Eindruck von Nationalsozialismus und Faschismus auf der einen Seite und des Sowjetkommunismus auf der anderen. Insbesondere ›Animal Farm‹ kann als eine Satire darauf gelesen werden, dass selbst eine Revolution gegen die Unterdrücker am Ende wieder in die Gewaltherrschaft einer kleinen Clique münden kann. Für den Sozialisten Orwell bedeutete dies vor allem eine Auseinandersetzung mit dem sowjetischen System, dessen revolutionäres Streben nach Aufhebung von Klassengegensätzen ganz neue Klassenformen erschaffen hat – es gab welche, die gleicher waren als die anderen. Was Orwell vor allem beschäftigte, war nicht nur die Verselbständigung solcher Unterdrückungssysteme, sondern auch ihre Attraktivität besonders für Intellektuelle. Dies ist auch ein zentrales Motiv von ›Über Nationalismus‹, veröffentlicht 1945 – im Erscheinungsjahr von ›Animal Farm‹ – unter dem Titel ›Notes on Nationalism‹ in dem britischen Magazin für Philosophie, Psychologie und Ästhetik Polemic.
Es lohnt sich, den Text ›Über Nationalismus‹ mit einem kleinen Essay zu konfrontieren, der ein knappes Jahrzehnt zuvor erschienen ist, nämlich 1936 in dem Literaturmagazin New Writing: ›Shooting an Elephant‹ (dt.: ›Einen Elefanten erschießen‹). Orwell berichtet hier von einer Szene, die er in Burma zur Zeit der britischen Kolonisierung Indiens spielen lässt. Orwell war selbst von 1922 bis 1927 Offizier der britischen Imperial Police in Burma, damals eine Provinz von Britisch-Indien. In dem Essay erhält der Ich-Erzähler, ein britisch-kolonialer Polizeioffizier wie Orwell selbst, eine Meldung über einen außer Kontrolle geratenen Elefanten. Er wird aufgerufen, sich das Problem anzusehen, zögert, hält die Berichte für womöglich erfunden, muss aber als Polizeioffizier trotz seiner Zweifel einschreiten. Für den Offizier ist dies von Anfang an ein unangenehmer Auftrag, zumal die Szene zu einer Zeit spielt, in der sich die Kolonialmacht offener Feindschaft der Burmesen gegenübersieht. Nach kurzer Suche trifft der Offizier aber tatsächlich auf ein Opfer des Elefanten, einen Mann, der von dem Tier zu Tode getrampelt wurde. Er lässt sich von einem Diener ein Elefantengewehr bringen und findet das Tier schließlich friedlich am Rande eines Reisfeldes, wo es keine Gefahr mehr darzustellen scheint. Offensichtlich ist das Tier in der »Musth«, einer Art Pubertät, was bisweilen mit aggressiven Phasen einhergeht.
Ein zahmer Arbeitselefant stellt einen hohen Wert dar, und der Offizier zögert, ob das Tier zu töten sei. Aber die halb feindlichen, halb fordernden Erwartungen der umstehenden Burmesen zwingen ihn dazu, auch gegen den eigenen Willen Tatkraft und Entschlossenheit zu zeigen, sodass er versucht, den Elefanten zu töten, was ihm nicht auf den ersten Versuch gelingt. Nach mehrfachen Schüssen stirbt das Tier sehr langsam.
Dem Offizier widerstrebt es, das Tier zu erschießen, aber er hat unter dem Druck der Erwartungshaltung der Umstehenden keine andere Wahl. Er muss in der Situation die Handlungsfähigkeit der Kolonialmacht demonstrieren. Orwell schreibt: »Die Menge erwartete es von mir, mir blieb gar keine andere Wahl. Ich fühlte den Willen der Zweitausend, der mich dazu antrieb, förmlich unwiderstehlich.«* Letztlich kehrt sich dadurch die Machtsituation um. Der Offizier ist kein Individuum mehr, sondern das Exemplar einer Gattung, und als solches kann er nicht anders, als zu tun, was zu tun ist. »Ein Sahib hat die Pflicht, wie ein Sahib zu handeln. Er muß entschlossen erscheinen, er muß wissen, was er will, und dementsprechend vorgehen.«** Er muss klare Entscheidungskriterien simulieren, auch wenn er sie nicht hat.
Rechtlich hat der Offizier korrekt gehandelt, aber unter den Briten wird sein Verhalten unterschiedlich bewertet: Die Älteren geben ihm recht, doch die Jüngeren finden es nicht angemessen, einen Elefanten zu erschießen, weil er einen Inder getötet hat – sei der Elefant doch viel mehr wert als solch ein »Kuli«*******