DIGITALE BILDKULTUREN

Durch die Digitalisierung haben Bilder einen enormen Bedeutungszuwachs erfahren. Dass sie sich einfacher und variabler denn je herstellen und so schnell wie nie verbreiten und teilen lassen, führt nicht nur zur vielbeschworenen »Bilderflut«, sondern verleiht Bildern auch zusätzliche Funktionen. Erstmals können sich Menschen mit Bildern genauso selbstverständlich austauschen wie mit gesprochener oder geschriebener Sprache. Der schon vor Jahren proklamierte »Iconic Turn« ist Realität geworden.

Die Reihe DIGITALE BILDKULTUREN widmet sich den wichtigsten neuen Formen und Verwendungsweisen von Bildern und ordnet sie kulturgeschichtlich ein. Selfies, Meme, Fake-Bilder oder Bildproteste haben Vorläufer in der analogen Welt. Doch konnten sie nur aus der Logik und Infrastruktur der digitalen Medien heraus entstehen. Nun geht es darum, Kriterien für den Umgang mit diesen Bildphänomenen zu finden und ästhetische, kulturelle sowie soziopolitische Zusammenhänge herzustellen.

Die Bände der Reihe werden ergänzt durch die Website www.digitale-bildkulturen.de. Dort wird weiterführendes und jeweils aktualisiertes Material zu den einzelnen Bildphänomenen gesammelt und ein Glossar zu den Schlüsselbegriffen der DIGITALEN BILDKULTUREN bereitgestellt.

Herausgegeben von

Annekathrin Kohout und Wolfgang Ullrich

Der Screenshot als Schnappschuss: beim Ansehen von Instagram-Stories

Die »fotografische« Zeugenschaft digitaler Welten

Der Screenshot ist die Allzweckwaffe der digitalen Kultur. Obwohl sie fast überall zum Einsatz kommen, finden Screenshots jedoch, anders als etwa Selfies, in der öffentlichen Debatte und in wissenschaftlichen Untersuchungen kaum Beachtung. Will man auf etwas aus den digitalen Medien Bezug nehmen, sind Screenshots eine allgegenwärtige Praxis. Da man dabei jedoch meist innerhalb digitaler Medien bleibt, wird der Screenshot in der Regel nicht als eigenständige Kulturtechnik wahrgenommen; man übersieht, dass es sich um eine Darstellungsform handelt, die bestimmte Annahmen voraussetzt und auch befördert. Diese Annahmen betreffen nicht nur den Status des Screenshots und das, was mit ihm ausgesagt werden soll, sondern ebenso die Verfasstheit der Sozialen Medien, auf die er sich (meist) bezieht und über die er etwas mitteilt. Die Naivität und das unreflektierte Verhalten gegenüber Screenshots sind nicht ansatzweise vergleichbar mit der Skepsis, dem Sarkasmus oder auch der ehrfürchtigen Bewunderung, die wir gegenüber anderen Kulturformen – oft sogar demonstrativ – an den Tag zu legen gewohnt sind. Nach wie vor ist es daher kaum möglich, auch nur eine einzige öffentliche oder wissenschaftliche Debatte über die Glaubwürdigkeit oder den Wahrheitsgehalt eines Screenshots zu nennen, obwohl Screenshots in vielerlei und zentraler Hinsicht nicht weniger manipulierbar und ideologisch sind als digitale Fotos. Um mit dem Rhetoriker Richard Lanham zu sprechen, schauen wir durch Screenshots fast ausnahmslos hindurch und konzentrieren uns darauf, was sie darstellen – statt auf sie zu blicken, um zu reflektieren, wie sie funktionieren.1 Trotz der Bedeutung des Screenshots als Diskursgegenstand (immerhin hat er einen Namen bekommen) gehört er in seiner geläufigen Verwendung also zu den bisher am wenigsten beachteten digitalen Phänomenen.

1: Screenshot des Twitter-Beitrags von US-Präsident Donald Trump, 31.5.2017.

Betrachten wir ein berühmtes Beispiel aus dem Jahr 2017 (Abbildung 1). Es geht um einen Tweet, der am 31. Mai kurz nach Mitternacht im Twitter-Feed von US-Präsident Donald Trump veröffentlicht und am selben Tag um kurz vor sechs Uhr morgens wieder gelöscht wurde. Da Trump zu diesem Zeitpunkt auf Twitter rund 31 Millionen Follower hatte, dürften viele seinen Tweet »originär« über die Twitter-App gesehen haben – entweder in Form des ursprünglichen Beitrags von Trump selbst oder durch (häufig süffisante) Retweets. Weitaus mehr Leute dürften jedoch aus anderen Quellen davon erfahren haben, da auf Online-Nachrichtenportalen, in Blogs und Sozialen Netzwerken sowie in traditionellen Medien wie Fernsehen, Radio und Zeitung ausführlich darüber berichtet, diskutiert und gespottet wurde. Allerdings berichteten diese Kanäle nicht einfach nur über Trumps Tweet, dessen sprachlichen Inhalt, seine Absurdität und das seltsam verspätete Löschen. Fast immer wurde der Tweet auch selbst abgebildet (häufig zusammen mit Kommentaren anderer Nutzer), und zwar mit Hilfe von Screenshots. So zeigt Abbildung 2 Teile eines Beitrags in der Nachrichtenrubrik der Website von The Guardian vom selben Tag (der immer noch online war, als ich etliche Monate später meinerseits einen Screenshot davon machte).

2: Beitrag in The Guardian von Elle Hunt über den »covfefe«-Tweet von US-Präsident Donald Trump, 31.5.2017.

In gewisser Weise ist der Screenshot hier überflüssig, da im zweiten Absatz des Beitrags der Wortlaut des Tweets, als Zitat gekennzeichnet, wiedergegeben wird. Zudem ist der Screenshot mit keinerlei Legende versehen, sondern steht einfach da (sogar zweimal – zuerst in der Anfangseinstellung des Videos und dann nochmals im Beitragstext). Seine Herkunft wird nicht näher erklärt, vielmehr liefert er offenbar das Ausgangsmaterial für den Bericht: als Nachrichtenteilchen, das in den Text eingebunden wird.2 Es gibt keine Hinweise darauf, dass es sich bei dem Screenshot um eine mediale Aufbereitung oder Wiedergabe – um ein Abbild – des Tweets handelt.

Genauer gesagt: Es fehlen Anzeichen dafür, dass die mediale Aufbereitung als solche reflektiert wird – womit zugleich die Aufmerksamkeit auf den Screenshot als eigenständiges Medienobjekt gelenkt würde. Im Gegensatz dazu ist der Screenshot voll von Zeichen, die zu seinem »Inhalt« sowie dem Medium gehören, das er abbildet; sie absorbieren alle Aufmerksamkeit. So gibt der Screenshot nicht nur den Wortlaut des »covfefe«-Tweets wieder, sondern umfasst auch alle zusätzlichen Angaben und Informationen, die auf Twitter erscheinen, wie etwa den Namen Trumps, sein Profilbild, Datum und Uhrzeit des Tweets sowie die Anzahl der Retweets und Likes zum Zeitpunkt des Screenshots. Das ist aus zwei Gründen relevant, wie ich später ausführen werde: Einerseits weil der Screenshot dadurch so präsentiert wird, als würde er den Tweet scheinbar unvermittelt in seiner vermeintlich ursprünglichen Form erfassen, und andererseits weil dadurch die Twitter-Oberfläche als Schauplatz permanenter Aktivität, als ein Aktionsfeld in sogenannter Echtzeit erscheint.

Was also ist ein Screenshot – und woraus ergibt sich, dass er als solcher so leicht übersehen wird? Und noch wichtiger: Wozu führt das? Rein technisch betrachtet wird ein Screenshot erzeugt, indem man auf die Informationen aus dem sogenannten Bildspeicher eines Computers oder Mobilgerätes zugreift. Dieser Speicherbereich enthält die visuellen Informationen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt auf dem Bildschirm dargestellt werden, zudem die Befehle an das Gerät, diese Informationen als Bilddatei (zum Beispiel im JPEG-Format) zu entschlüsseln. Hinsichtlich seiner kommunikativ-sozialen Funktion ist der Screenshot jedoch eine gänzlich andere Sache – genau genommen ist er sogar mehrerlei Sachen: Er ist ein Dokument, er ist ein Foto in neuem medialen Gewand, er ist ein Mittel der Zeugenschaft (mode of witnessing) und taugt sogar zu einer gleichsam poetischen Welterschließung.

Vom Prozess zum Dokument

Der Medientheoretiker Lev Manovich vertritt die Auffassung, dass die zeitgenössische »Software-Kultur« durch die Abkehr vom statischen »Dokument« als dem elementaren »Atom« der kulturellen Praxis im 20. Jahrhundert zugunsten der Hinwendung zu dynamischen Prozessen gekennzeichnet ist:

Ich verwende den Terminus »Prozess«, da das, was wir erleben, durch Software in Echtzeit erzeugt wird. Wenn wir eine dynamische Website besuchen, ein Computerspiel spielen oder eine App auf dem Smartphone nutzen, um Orte oder Freunde in der Nähe zu lokalisieren, so interagieren wir nicht mit vordefinierten statischen Dokumenten, sondern mit den dynamischen Resultaten eines Rechenprozesses, der in Echtzeit auf unserem Gerät und/oder dem Server abläuft.3

Dieses Argument macht den Screenshot zu einem etwas paradoxen Objekt. Denn während er – wie Manovich zu Recht hervorheben würde – durch Echtzeit-Berechnungen auf unseren Geräten erzeugt, gespeichert, verbreitet und angezeigt wird, erscheint er uns eindeutig als ein statisches Element. Screenshots suggerieren (ähnlich wie Ausdrucke), dem ständig in Veränderung begriffenen Strom an Prozessen, der die digitalen Medien auszeichnet, Festigkeit und Beständigkeit zu verleihen. Sofern in der zeitgenössischen Medienkultur tatsächlich ein historischer Übergang von statischen Textobjekten zu dynamischen Prozessen erfolgt, zeugt der Screenshot also vermeintlich von einer Gegentendenz.

Natürlich lässt sich der von Manovich beschriebene Gegensatz in historische Bezüge bringen. Die von ihm beschriebenen Formen von Fluidität und fortwährender Transformation sind in der zeitgenössischen Kultur und in den digitalen Medien keineswegs neu oder einzigartig. Variabilität und dauernde Transformation sind vielmehr bereits in der gesamten Moderne des 19. und 20. Jahrhunderts Schlüsselthemen.4 So wurden etwa Fernsehübertragungen vom Autor und Kritiker Raymond Williams5 schon vor geraumer Zeit als »fluid« beschrieben – im Gegensatz zu Texten in einem statischen Medium. Doch auch Dokumente waren – wie die komplexen Editionsgeschichten von Manuskripten und gedruckten Texten immer wieder bewusstmachen – nie einfach nur beständige »Atome«; Manovichs Diktion neigt dazu, ihren zutiefst historischen und prozesshaften Charakter zu verwischen. Der Gegensatz zwischen analoger Beständigkeit (analogue fixity) und digitaler Fluidität (digital fluidity) vermengt zudem die technische Infrastruktur mit der kommunikativ-sozialen Funktion.67(communicative stability)(death-of-fixity)8