Über Donald D. Hoffman

Donald D. Hoffman ist Professor für Kognitionspsychologie an der University of California, Irvine. Der international führende Experte der Wahrnehmungsforschung untersucht Bewusstsein, visuelle Wahrnehmung und evolutionäre Psychologie mit Hilfe mathematischer Modelle und neuropsychologischer Experimente.
Zu seinen Themen gehören die Gesichtsattraktivität, das Erkennen von Formen, die Wahrnehmung von Bewegung und Farbe, die Evolution der Wahrnehmung und das mind-body-Problem.

Über das Buch

Um zu überleben, musste der frühe Mensch in der Lage sein, ein Raubtier blitzartig zu erkennen – die Fähigkeit, feinste Farbnuancen zu unterscheiden, war dagegen nicht relevant. Diese evolutionär geformte Struktur der Wahrnehmung prägt uns bis heute. Warum gehen wir dann davon aus, dass wir die Realität komplett erfassen? Und nicht nur einen Ausschnitt oder eine Verzerrung der Wirklichkeit?

Der international führende Kognitionspsychologe Donald D. Hoffman untersucht, wie sich die menschliche Wahrnehmung entwickelt hat und was dies für unsere Erkenntnismöglichkeiten bedeutet. Er zeigt, welche Bereiche »hinter der Wirklichkeit liegen, die wir bisher wahrnehmen können«.

Vorwort

Ihre Augen retten Ihnen heute das Leben. Dank Ihrer Augen werden Sie weder die Treppe hinabstürzen noch vor einen heranpreschenden Maserati springen, weder eine Klapperschlange am Schwanz ziehen noch in einen schimmeligen Apfel beißen.

Warum sind unsere Augen, wie alle unsere Sinne, derart verlässliche Führer? Die meisten Menschen würden vermutlich antworten: Da sie uns die Wahrheit berichten. Die wirkliche Welt besteht, so nehmen wir an, aus Autos und Treppen und anderen Objekten in Raum und Zeit. Und diese existieren sogar dann, wenn kein Lebewesen sie betrachtet. Unsere Sinne sind damit schlicht ein Fenster zu dieser objektiven Realität. Allerdings nehmen wir auch an, dass sie uns nicht die ganze Wahrheit der objektiven Realität offenbaren. So erscheinen manche Objekte zu klein oder zu weit weg. Bei anderen Gelegenheiten täuschen sich unsere Sinne auch einmal – Künstler, Psychologen, Filmemacher und andere haben Illusionen entwickelt, die unsere Sinne in die Irre führen. Doch in der Regel »berichten« unsere Sinnesorgane die Wahrheit, die wir für ein sicheres Navigieren durch das Leben brauchen.

Warum existieren unsere wahrheitsoffenbarenden Sinne? Nun, auch hier haben wir wieder eine Vermutung: wegen der Evolution. All jene unserer Vorfahren, die genauer sehen konnten, hatten einen Vorteil gegenüber jenen, die weniger genau sahen, vor allem, wenn es um lebenswichtige Dinge wie Ernährung, Kampf, Flucht oder Paarung ging. Folglich hatten sie größere Chancen, ihre Gene für die genauere Wahrnehmung zu vererben. Wir sind die Nachfahren jener, die in jeder Generation die objektive Wahrheit genauer wahrgenommen haben. Kurz gesagt lautet unsere Vermutung: Die genauere Wahrnehmung ist jene, die das Überleben sichert. Die Evolution merzt die ungenaue Wahrnehmung aus. Deshalb sind unsere Wahrnehmungen Fenster zur objektiven Realität.

Diese Vermutungen sind falsch. Und das Gegenteil ist richtig: Unsere Wahrnehmung von Schlangen und Äpfeln, ja sogar die von Raum und Zeit offenbart keine objektive Realität. Das Problem dabei ist nicht, dass wir das eine oder andere Detail falsch wahrnehmen. Es ist vielmehr so, dass die Sprache über Objekte in Raum und Zeit schlicht die falsche Sprache ist, um die objektive Realität zu beschreiben. Das ist keine Vermutung. Es ist das Theorem der Evolution durch natürliche Auslese, die uns unsere Vermutungen um die Ohren haut.

Die Vorstellung, unsere Wahrnehmung könnte uns über die objektive Realität teilweise oder in Gänze in die Irre führen, ist uralt. Von Demokrit, der etwa 400 vor Christus lebte, stammt die berühmte Behauptung, dass unsere Wahrnehmungen von heiß, kalt, süß, bitter und der Farben nur Konventionen seien und keine Realität.1 Wenige Jahrzehnte später verglich Platon unsere Wahrnehmungen und Vorstellungen mit flackernden Schatten auf den Wänden einer Höhle, die von einer nicht gesehenen Realität stammten.2 Seitdem haben Philosophen immer wieder über das Verhältnis zwischen Wahrnehmung und Realität gestritten. Die Evolutionstheorie bringt nur neue Genauigkeit in diese Debatte.

Aber was nützten uns unsere Sinne – wie können sie unser Überleben sichern –, wenn sie uns nicht die Wahrheit über die objektive Realität mitteilen? Hier kann eine Metapher hilfreich sein. Stellen Sie sich vor, Sie schreiben einen Text am Computer, speichern ihn, und das Icon für diese Datei ist blau, rechteckig und befindet sich in der Mitte Ihres Desktops. Heißt das, dass die Datei selbst blau, rechteckig und in der Mitte Ihres Computers ist? Natürlich nicht. Die Farbe des Icons ist nicht die Farbe der Datei. Dateien haben keine Farbe. Form und Position des Icons entsprechen nicht der wahren Form und Position der Datei. Die Sprache von Form, Position und Farbe ist in Wirklichkeit nicht in der Lage, Computerdateien zu beschreiben.

Der Zweck der Benutzeroberfläche, des Interface, ist es nämlich nicht, Ihnen die »Wahrheit« des Computers zu zeigen – wobei »Wahrheit« hier eine Metapher ist und sich auf Schaltkreise, elektrische Spannung und Software-Schichten bezieht. Der Zweck einer Benutzeroberfläche ist es vielmehr, die »Wahrheit« vor Ihnen zu verbergen und Ihnen einfache Grafiken zu zeigen, die beim Ausführen von Aufgaben wie dem Verfassen von Texten oder dem Bearbeiten von Fotos helfen. Wenn Sie Spannungen hin und her regeln müssten, um eine E-Mail zu schreiben, würden Ihre Freunde niemals von Ihnen hören.

So ist auch die Evolution vorgegangen. Sie hat uns mit Sinnesorganen ausgestattet, die die Wahrheit verbergen und uns nur einfache Icons anzeigen, die uns helfen, so lange am Leben zu bleiben, bis wir unseren Nachwuchs großgezogen haben. Der Raum, so wie Sie ihn beim Blick um sich herum wahrnehmen, ist nur Ihr Desktop – ein 3D-Desktop. Äpfel, Schlangen und andere physische Dinge sind schlicht Icons auf Ihrem 3D-Desktop. Diese Icons sind, zumindest teilweise, von Nutzen, da sie die komplexe Wahrheit über die objektive Realität verbergen. Unsere Sinnesorgane haben sich evolutionär so entwickelt, dass sie uns nur das geben, was wir brauchen. Vielleicht wäre Ihnen die Wahrheit ja lieber, aber die Wahrheit brauchen Sie nicht. Unsere Spezies würde aussterben, würde sie die Wahrheit wahrnehmen. Sie brauchen einfache Icons, die Ihnen zeigen, wie Sie am Leben bleiben. Wahrnehmung ist kein Fenster zur objektiven Realität. Sie ist ein Interface, das die objektive Realität hinter einem Vorhang aus nützlichen Icons versteckt.

»Nun«, werden Sie fragen, »wenn dieser heranrasende Maserati nur ein Icon auf Ihrem Interface ist, warum springen Sie dann nicht vor ihn auf die Straße? Sobald Sie tot sind, werden wir den Beweis dafür haben, dass ein Auto nicht nur ein Icon ist, sondern real und es wirklich töten kann.«

Ich würde aus dem gleichen Grund nicht vor ein beschleunigendes Auto laufen, aus dem ich auch nicht mein blaues Icon in den Papierkorb verschieben werde. Nicht, weil ich das Icon wörtlich nehme – die Datei ist nicht blau. Sondern weil ich es ernst nehme: Wenn ich das Icon in den Papierkorb verschiebe, geht meine Arbeit verloren.

Und damit sind wir am entscheidenden Punkt. Die Evolution hat unsere Sinne für das Überleben geschärft. Wir müssen sie ernst nehmen: Wenn Sie einen Maserati heranrasen sehen, springen Sie nicht auf die Straße; wenn Sie einen schimmligen Apfel sehen, beißen Sie nicht hinein. Aber es ist ein Logikfehler anzunehmen, wenn wir unsere Sinne ernst nehmen müssen, sei es erforderlich – oder wir seien gar dazu berechtigt –, sie auch wörtlich zu nehmen. Ich nehme meine Wahrnehmungen ernst, aber nicht wörtlich. In diesem Buch wird es darum gehen, warum Sie es ebenso halten sollten und warum das wichtig ist.

Ich werde erklären, warum die Evolution die objektive Realität versteckt und uns stattdessen mit einem Interface für Objekte in Raum und Zeit ausgestattet hat. Wir werden gemeinsam erkunden, wie diese unserer Intuition zuwiderlaufende Idee haargenau zu physikalischen Entdeckungen passt, die ebenfalls unserer Intuition zuwiderlaufen. Und wir werden untersuchen, wie unser Interface funktioniert und wie wir es mit Make-up, Marketing und Design manipulieren.

In Kapitel eins stellen wir uns den größten ungelösten Rätseln der Wissenschaft: Ihrer Erfahrung vom Geschmack dunkler Schokolade, dem Geruch von gepresstem Knoblauch, dem Klang einer Trompete, dem sinnlichen Gefühl von plüschigem Samt, dem Anblick eines roten Apfels. Neurowissenschaftler haben zahlreiche Verbindungen zwischen derartigen bewussten Erfahrungen und Hirnaktivitäten festgestellt. Sie haben erkannt, dass sich unser Bewusstsein mit einem Skalpell in zwei Teile zerlegen lässt und dass beide Hälften unterschiedliche Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Vorlieben, Abneigungen und religiösen Überzeugungen haben können: Eine Hälfte kann Atheist sein, während die andere an Gott glaubt. Doch trotz all dieser Belege haben wir noch immer keine plausible Erklärung dafür, wie unsere Hirnaktivität eine bewusste Erfahrung generieren kann. Dieses verblüffende Scheitern der Wissenschaft legt nahe, dass wir von einer falschen Annahme ausgegangen sind. Auf der Suche nach dem Schuldigen bin ich darauf gekommen, mir einmal genauer anzuschauen, wie unsere Sinne durch natürliche Auslese entwickelt wurden.

Ein eindeutiges Beispiel für diese Entwicklung ist unser Schönheitssinn. In Kapitel zwei werden wir Schönheit und Anziehung durch das Auge der Evolution betrachten. Wenn Sie einen Menschen ansehen, nehmen Sie augenblicklich – und unbewusst – Dutzende von Sinneshinweisen auf und lassen diese durch einen ausgeklügelten, von der Evolution entwickelten Algorithmus laufen, der eine Sache beurteilt: das Fortpflanzungspotenzial – die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Mensch erfolgreich Nachkommen aufziehen kann. Ihr Algorithmus fasst in Sekundenbruchteilen diese komplexe Analyse in ein einfaches Gefühl zusammen, das von heiß bis kalt reicht. In diesem Kapitel untersuchen wir spezifische Hinweise auf Schönheit im menschlichen Auge. Männer finden Frauen mit größeren Augen attraktiv, die eine größere Iris, eine größere Pupille, eine leicht bläuliche Sklera (das Weiße im Auge) und einen deutlich wahrnehmbaren Limbus haben – die dunkle Grenze zwischen Iris und Sklera. Frauen suchen nach etwas Komplexerem, und auch diese faszinierende Angelegenheit werden wir genauer betrachten. Bei der Überprüfung unserer Schönheitssinne saugen wir die entscheidenden Konzepte der Schönheit auf, lernen nützliche Tricks, um Porträts aufzudonnern, und erforschen die Logik der natürlichen Selektion – inklusive der Logik, die uns nahelegt, andere durchs Aufdonnern zu täuschen.

Viele Experten für Evolution und Neurowissenschaften behaupten, unsere Sinnesorgane hätten sich entwickelt, um uns Wahrheiten über die objektive Realität zu vermitteln. Nicht das gesamte Spektrum der Wahrheit – nur den Teil, den wir zum Aufziehen des Nachwuchses brauchen. Was diese Experten zu sagen haben, erfahren wir in Kapitel drei. Wir werden von Francis Crick hören, der gemeinsam mit James Watson die Struktur der DNA entdeckt hat. Er hat mir zehn Jahre vor seinem Tod in einer Reihe von Briefen seine Überzeugung dargelegt, dass unsere Wahrnehmung sich mit der Realität deckt und die Sonne bereits existierte, bevor irgendjemand sie gesehen hat. Der MIT-Professor David Marr verband Erkenntnisse der Neurowissenschaft mit solchen über Künstliche Intelligenz – damit schaffte er einen neuen Zugang zur Erforschung des menschlichen Sehvermögens. In seinem Klassiker Vision legt er dar, wie wir uns evolutionär so entwickelt haben, dass wir eine wahre Darstellung der objektiven Realität sehen. Marr war mein Doktorvater, bis er mit 35 starb; er hat meine ersten Ideen und das gesamte Forschungsfeld zu diesem Thema beeinflusst. Dann lernen wir Robert Trivers kennen, einen scharfsinnigen Evolutionstheoretiker, der davon überzeugt ist, dass unsere Sinne sich deshalb so entwickelt haben, damit sie uns eine akkurate Sicht auf die Realität vermitteln können. Schon seit langer Zeit fragen sich Philosophen: »Können wir darauf vertrauen, dass unsere Sinne uns die Wahrheit über die Realität erzählen?« Viele hervorragende Wissenschaftler antworten mit »Ja«.

Im vierten Kapitel betrachten wir die Argumente für ein »Nein«. Wir begegnen einem verblüffenden »Fitness-schlägt-Wahrheit«-Theorem (»Fitness-Beats-Truth«, kurz FBT), nach dem die Evolution durch natürliche Auslese gar nicht die realitätsgerechte Wahrnehmung bevorzugt – diese wird vielmehr regelmäßig durch Aussterben beseitigt. Die natürliche Selektion bevorzugt eher Wahrnehmungen, die die Wahrheit verbergen und stattdessen zu hilfreichen Handlungen anleiten. Ohne Gleichungen oder griechische Mathematik-Symbole erkunden wir die evolutionäre Spieltheorie, die es erlaubt, Darwins Ideen in exakte Mathematik zu übertragen, was uns schließlich auf dieses schockierende Theorem kommen lässt. Wir betrachten Computersimulationen von evolutionären Spielen, die die Vorhersagen des FBT-Theorems bestätigen. Weitere Bestätigungen ergeben sich aus Simulationen von genetischen Algorithmen, in denen Wahrnehmungen und Handlungen sich parallel entwickeln.

Das FBT-Theorem besagt, dass die Sprache unserer Wahrnehmungen – zu denen Raum, Zeit, Form, Farbton, Sättigung, Helligkeit, Textur, Geschmack, Klang, Geruch und Bewegung gehören – nicht in der Lage ist, die Realität so zu beschreiben, wie sie ist, wenn niemand hinschaut. Es ist nicht einfach so, dass diese oder jene Wahrnehmung falsch ist – vielmehr kann überhaupt keine unserer in dieser Sprache ausgedrückten Wahrnehmungen richtig sein.

Hier geraten unsere Intuitionen ins Wanken: Wie können unsere Sinne uns von Nutzen sein, wenn sie nicht die Wahrheit vermitteln? In Kapitel fünf richten wir unsere Intuition wieder auf, indem wir eine Interface-Metapher untersuchen. Raum, Zeit und physische Objekte sind nicht objektive Realität. Sie sind schlicht die von unseren Sinnen gelieferte virtuelle Welt, die uns beim Spiel des Lebens hilft.

»Nun gut«, mögen Sie jetzt sagen, »wenn Sie behaupten, Raum, Zeit und Objekte stellten nicht die objektive Realität dar, dann stolpern Sie in den Zuständigkeitsbereich der Physik, und viele Physiker dürften glücklich sein, Sie auf Ihre Irrtümer hinzuweisen.« In Kapitel sechs werden wir erfahren, dass für manche renommierte Physiker Raum, Zeit und Objekte unwesentlich sind; die Wissenschaftler reiben sich nachdenklich ihr Kinn wund beim Versuch zu vermuten, wodurch man sie ersetzen könnte. Einige sagen, die Raumzeit – eine für Einsteins Relativitätstheorien benötigte Verbindung von Raum und Zeit – sei dem Untergang geweiht und verloren.3 Vielmehr sei die Raumzeit ein Hologramm aus Informationshappen. Andere wiederum behaupten, dass sich die Wirklichkeit von einem Betrachter zum anderen unterscheide oder dass die Geschichte des Universums nicht unumstößlich sei, sondern davon abhänge, was gerade beobachtet werde. Die Physik und die Evolutionstheorie kommen zur selben Schlussfolgerung: Raumzeit und Objekte sind nicht entscheidend, nicht grundlegend. Etwas anderes ist viel grundlegender, und die Raumzeit entsteht genau daraus.

Wenn die Raumzeit nicht die grundlegende, immer schon existierende Bühne ist, auf der sich das Drama des Universums entfaltet, was ist sie dann? In Kapitel sieben nehmen wir noch etwas viel Merkwürdigeres in Angriff: Raumzeit ist nur ein Datenformat – ähnlich der Datenstruktur in Ihrem Smartphone –, das uns alle am Leben erhält. Unsere Sinnesorgane berichten über mögliche Fitness-Verbesserungen, und ein Fehler in diesem Bericht könnte Ihr Leben ruinieren. Deshalb nutzen unsere Sinne »Fehlerkorrektur-Codes«, um Fehler aufzuspüren und auszubügeln. Die Raumzeit ist nur ein von unseren Sinnen verwendetes Format, in dem sie von möglichen Fitness-Verbesserungen berichten und Fehler in diesen Berichten korrigieren. Um zu verstehen, wie dies funktioniert, werden wir mit einigen visuellen Täuschungen spielen und uns selbst dabei erwischen, wie wir diese Fehler korrigieren. Dann nutzen wir diese Einsichten, um Spaß beim Anziehen zu haben: Wir können visuelle Codes so manipulieren, dass Männer und Frauen in ihren Jeans besser aussehen – indem wir sorgfältige Veränderungen an den Nähten, Taschen, dem Finish und den gestickten Verzierungen vornehmen.

Anschließend wird es um Farben gehen. Vom erfrischenden Blau eines klaren Himmels über das lebhafte Grün einer Frühlingswiese – unsere an Licht und Farben so reiche Welt ist ein Willkommensgeschenk, ein Fest für die vier Arten von Fotorezeptoren im Auge. Doch die Ackerschmalwand (Arabidopsis thaliana), ein unscheinbares, an wilden Senf erinnerndes Kraut, verfügt über elf Arten von Fotorezeptoren.4 Das bescheidene Cyanobakterium, das seit mindestens zwei Milliarden Jahren die Erde bevölkert, hat sogar 27.5 In Kapitel acht werden wir lernen, dass Farbe ein von vielen Arten eingesetzter Code für Botschaften über die Fitness ist. Dieser Code ist unübertroffen darin, Daten zu komprimieren, wie Sie das von einem Foto kennen, das Sie komprimieren, bevor Sie es einem Freund per Messenger schicken. Farben können Gefühle und Erinnerungen auslösen, die unsere Fitness dadurch erhöhen, dass sie unsere Handlungen steuern. Unternehmen machen sich die Macht der Farben für ihre Markenpolitik zunutze und investieren sehr viel, um eine Farbe als ihr geistiges Eigentum zu schützen. Doch so potent und aussagekräftig Farben auch sein mögen, »Chromaturen«, also strukturierte Farben, erweisen sich als deutlich vielseitiger und mächtiger als reine Farben, und das aus guten evolutionären Gründen. Chromaturen können so designt werden, dass sie spezifische Gefühle und Assoziationen hervorrufen. Kennt man unsere Codes für Fitness, kann man sie auf intelligente Art und Weise zum eigenen Vorteil hacken.

Doch die Evolution hat es nicht einfach bei unseren Sinnescodes für die Fitness belassen. Sie experimentiert noch immer mit neuen Interfaces für unsere unternehmungslustige Spezies. Vier Prozent der Menschen sind »Synästhetiker«, die eine Welt abseits der Norm wahrnehmen. Wir werden von Michael Watson hören, der mit seiner Hand spürt, was er in seinem Mund schmeckt: Hat er den Geschmack von Pfefferminze im Mund, fühlen seine Hände hohe, kalte Glassäulen; ein Angosturabitter fühlt sich an wie »ein überquellender Korb voll herabhängendem Efeu«. Jeder Geschmack entspricht einem eigenen 3D-Objekt, das Michael Watson im Moment des Schmeckens erschafft und das mit dem Schlucken verschwindet. Einige Synästhetiker sehen für jede Zahl, jeden Buchstaben, Wochentag oder Monat eine einzigartige Farbe – und können Herausragendes beim Unterscheiden von Farben leisten.

Wahrnehmung mag anstrengungslos erscheinen, doch tatsächlich erfordert sie eine beträchtliche Menge Energie. Jede kostbare Kalorie, die wir bei der Wahrnehmung verbrauchen, ist eine Kalorie, die wir zuvor bei ihrem früheren Besitzer auftreiben und ihm wegnehmen müssen – vielleicht einer Kartoffel oder einem wütenden Gnu. Es kann schwierig und gefährlich sein, an Kalorien zu gelangen, folglich hat die Evolution unsere Sinne als Geizhälse geprägt.

Eine Konsequenz daraus lernen wir in Kapitel neun kennen: Unser Sehvermögen kürzt ab – wir sehen Details nur innerhalb eines kleinen, runden Fensters scharf, dessen Radius so groß ist wie die Breite Ihres am Arm ausgestreckten Daumens. Schließen Sie ein Auge und strecken Sie den Arm von sich, und Sie werden sehen, wie klein diese Fläche ist. Wir glauben, ein großes Blickfeld in großer Schärfe wahrnehmen zu können, doch wir lassen uns täuschen: Jeder von uns betrachtete Fleck liegt genau inmitten dieses kleinen Fensters mit großer Schärfe, sodass wir annehmen, wir würden alles scharf sehen. Nur innerhalb dieses kleinen Fensters konstruiert Ihr sensorisches Interface einen genauen Bericht über Ihre Fitnesserfolge. Dieser so wichtige Bericht wird formatiert als Form, Farbe, Textur, Bewegung und Identität eines physischen Objektes.

Sie erschaffen mit einem Blick ein passendes Objekt – Ihre Beschreibung einer Fitness-Verbesserung. Mit Ihrem nächsten Blick zerstören Sie es wieder und erschaffen ein neues. Ihr breites Blickfeld führt die Augen dorthin, wo von lebenswichtigen Verbesserungen zu berichten und folglich auch ein Objekt zu erschaffen ist. Wir werden uns die Regeln zur Steuerung von Aufmerksamkeit anschauen, wie sie in Marketing und Design eingesetzt werden, und wie eine Werbeanzeige versehentlich der Konkurrenz helfen kann, wenn sie diese Regeln missachtet.

Wenn unsere Sinne die Realität hinter einem Interface verbergen, was ist dann die Realität? Ich weiß es nicht. Aber wir werden in Kapitel zehn die Idee untersuchen, dass bewusste Erfahrungen ganz entscheidend sind. Wenn Sie sich im Spiegel betrachten, sehen Sie Haut, Haare, Augen, Lippen und Ihren Gesichtsausdruck. Doch Sie wissen, dass sich hinter Ihrem Gesicht eine viel reichere Welt befindet: Ihre Träume und Ängste, Ihre politische Meinung, Ihr Musikgeschmack, Ihre Vorlieben für bestimmte Bücher, die Liebe zu Ihrer Familie sowie die Erfahrungen von Farben, Geschmäckern, Geräuschen, Tastgefühlen und Berührungen. Das Gesicht im Spiegel ist nur ein Interface. Dahinter steckt die lebhafte Welt Ihrer Erfahrungen, Entscheidungen und Handlungen.

Vielleicht ist das Universum selbst ein riesiges soziales Netzwerk bewusster Akteure, die Erfahrungen machen, Entscheidungen treffen und handeln. Wenn dem so ist, dann entsteht Bewusstsein nicht aus Materie; auch diese große Behauptung werden wir uns noch genauer ansehen müssen. Vielmehr ist es so, dass Materie und Raumzeit dem Bewusstsein entspringen – als ein Wahrnehmungs-Interface.

Dieses Buch bietet Ihnen die rote Pille an.6 Wenn Sie sich vorstellen können, dass Virtual Reality Ihnen eines Tages eine überwältigende Erfahrung ermöglichen wird, die in nichts dem ähnelt, was Sie ohne das VR-Headset wahrnehmen können, warum sind Sie dann so sicher, dass Sie nach dem Abstreifen des Headsets tatsächlich die Realität so sehen, wie sie wirklich ist? Ziel dieses Buches ist es, Ihnen beim Abstreifen des nächsten Headsets zu helfen, von dem Sie nicht einmal ahnten, dass Sie es schon die ganze Zeit tragen.

 

 

 

 

Joaquin, Noemi und Cayetano,
ich biete euch die rote Pille an.

 

 

»Ich glaube, dass Geschmack, Geruch, Farben und noch mehr … im Bewusstsein wohnen. Würden folglich die lebenden Kreaturen entfernt, würden all diese Qualitäten weggewischt und ausgelöscht.«

Galileo Galilei

KAPITEL 1

Geheimnis.

Das Skalpell, das das Bewusstsein aufschlitzte

»Dass etwas so Bemerkenswertes wie ein Bewusstseinszustand als Ergebnis einer Reizung von Nervengewebe zustande kommt, ist ebenso unerklärlich wie das Auftauchen des Dschinn, wenn Aladin an seiner Lampe rieb.«

Thomas Huxley, The Elements of Physiology and Hygiene

» ›Aus einer Bewegung wurde ein Gefühl!‹ – kein anderer Satz, den unsere Lippen bilden können, ist derart leer von jeglicher verständlichen Bedeutung.«

William James, The Principles of Psychology

Im Februar 1962 schlitzten Joseph Bogen und Philip Vogel das Gehirn von Bill Jenkins auf – absichtlich, methodisch und bedächtig. Der Patient Jenkins, Ende vierzig, erholte sich von dem Eingriff und genoss fortan eine Lebensqualität, wie er sie jahrelang nicht gekannt hatte. In den folgenden Jahren schnitten Bogen und Vogel in Kalifornien ein Gehirn nach dem anderen auf, was ihnen den Beinamen »die Westküsten-Schlachter« einbrachte.1

Jedes der von den beiden durchtrennten Gehirne gehörte zu einem Menschen, der unter schwerer und hartnäckiger Epilepsie litt, einem Zustand, der durch abnorm rasante neuronale Aktivität im Gehirn verursacht wird. Die besten damals verfügbaren Medikamente konnten das Leiden nicht lindern, weshalb die Betroffenen unter Anfällen, Zuckungen oder »Sturzanfällen« litten. Letztere gehen mit dem plötzlichen Verlust der Muskulaturspannung einher und können daher zu gefährlichen Stürzen führen. Die Betroffenen können kein normales Leben mehr führen: Sie dürfen weder Auto fahren noch arbeiten oder einen sorgenfreien Abend in einem Sportstadion verbringen. Der Alltag wird zu einer Strapaze, immer wieder von schrecklichen Anfällen durchbrochen.

Bogen und Vogel waren begabte Neurochirurgen an der University of Southern California und dem California Institute of Technology. Sie durchtrennten die Gehirne von Epileptikern, um damit die außergewöhnlich starke neuronale Aktivität in einem bestimmten Gehirnareal ihrer Patienten »einzusperren«.

Die Operation war heikel und aufwendig, die Idee dahinter jedoch simpel. Das menschliche Gehirn beherbergt 86 Milliarden Neuronen, die sich in einem elektrochemischen Dialekt miteinander unterhalten – ein riesiges soziales Netzwerk, bei dem jedes Mitglied Follower hat und dem selbst viele folgen, während sie tweeten und re-tweeten, jedes auf seine ganz eigene Art. Jedes Neuron tweetet über sein Axon und folgt anderen über seine Dendriten. Trotz aller Komplexität läuft dieses Netzwerk in der Regel stabil und ermöglicht einen geregelten Austausch von Nachrichten. Doch genau wie der Zusammenstoß zweier Autos wie in einer sich ausbreitenden Welle den Verkehrsfluss einer ganzen Stadt in Mitleidenschaft ziehen kann, stört auch das plötzliche Übermaß an abweichenden Signalen im Gehirn den Fluss der elektrochemischen Botschaften. Krämpfe, Zuckungen und Bewusstseinsverlust treten auf.

Bogen und Vogel wollten die katastrophalen Wellen aufhalten, bevor sie das Gehirn überfluteten. Glücklicherweise legt die Anatomie des Gehirns einen opportunen Ort und eine mögliche Methode dafür nahe. Das Gehirn ist in zwei Hälften (Hemisphären) unterteilt, links und rechts. Jede Hemisphäre besitzt 43 Milliarden Neuronen. Deren Axone verzweigen sich wie die Äste eines Baumes, sodass es Billionen von möglichen Verbindungen zwischen den Neuronen gibt. Im Gegensatz zur dichten Verzweigung innerhalb jeder Hemisphäre ist die Verbindung zwischen den beiden Gehirnhälften nur ein schmaler Strang, das Corpus callosum, mit nur 200 Millionen Axonen – also etwa 1 Axon zwischen den Hemisphären pro 200 Axone innerhalb der Hemisphären. Dieser Flaschenhals stellt die ideale Stelle für einen Schnitt dar, der die Übertragung der lähmenden Wellen von einer Gehirnhälfte zur anderen unterbindet. Zugegeben, dieses Vorgehen ist ziemlich grobschlächtig. Es ähnelt dem Versuch, die Ausbreitung eines Computervirus dadurch zu verhindern, dass man alle Seekabel zwischen Europa und Amerika durchtrennt. Aber eine »Triage« war notwendig. Bogen und Vogel entschieden sich, eine Hemisphäre dem epileptischen Anfall ungebremst ausgesetzt zu lassen, in der Hoffnung, die andere Gehirnhälfte, und damit auch der Patient, müsste dann weniger leiden.

Die Operation, von Medizinern »Callosotomie«, umgangssprachlich auch »Split Brain Operation« genannt, war ein klinischer Erfolg. Bill Jenkins litt nach der OP nicht mehr unter Sturzanfällen und wurde in den folgenden zehn Jahren nur zweimal von schweren Krämpfen heimgesucht. Andere Patienten erfuhren ebenfalls Erleichterungen. Einer konnte zum ersten Mal seit Jahren unbeeinträchtigt ein Sportstadion besuchen, ein anderer fand zum ersten Mal in seinem Leben eine Vollzeitstelle. Man nannte die Callosotomie nun nicht mehr »Westküsten-Schlachterei«, sondern »eine mögliche neue Behandlungsform«.

Als ich Bogen 1995 zum ersten Mal traf, sprachen wir nicht über den aufsehenerregenden Erfolg seiner Operation. Es ging vielmehr um die außergewöhnlichen Veränderungen im Bewusstsein, die sie nach sich zieht. Joe war zu einem Vortrag in den Helmholtz Club eingeladen, wo sich über Jahre hinweg eine kleine Gruppe Neuro- und Kognitionswissenschaftler sowie Philosophen jeden Monat an der University of California, Irvine, traf. Man wollte erkunden, wie die Fortschritte in der Neurowissenschaft eine wissenschaftliche Theorie des Bewusstseins hervorbringen könnten. Wir trafen uns in Irvine, da die zentrale Lage allen Mitgliedern gelegen kam, ob sie nun aus dem Norden vom California Institute of Technology, der University of Southern California oder der University of California, Los Angeles, oder aus dem Süden von der University of California, San Diego, oder dem Salk Institute for Biological Studies anreisten. Und wir trafen uns heimlich, damit niemand nur wegen des Ruhms von Francis Crick angelockt würde, dessen kluger Kopf sich dem Geheimnis des Bewusstseins widmete. Unsere Treffen begannen mit einem Mittagessen im University Club der UC Irvine, dann zogen wir uns in einen Privatraum zurück, wo wir die eingeladenen Gäste bis 18 Uhr ins Kreuzverhör nahmen. Anschließend begaben wir uns in ein Restaurant, meist in der Nähe der South Coast Plaza, und diskutierten noch bis spät in die Nacht hinein.

Das Geheimnis des Bewusstseins, das im Mittelpunkt des Helmholtz Clubs stand und Thema von Bogens Vortrag war, ist im Grunde auch das Geheimnis unseres Selbst. Ihr Körper hat, wie andere Objekte auch, physikalische Eigenschaften wie Lage, Masse und Geschwindigkeit. Wenn ein Stein und Ihr Körper gleichzeitig vom Schiefen Turm in Pisa fallen würden, was der Himmel verhindern möge, prallten beide im selben Augenblick auf dem Boden auf.

Auf der anderen Seite unterscheiden wir uns von Steinen in zweierlei Hinsicht. Erstens nehmen wir Sinneseindrücke wahr. Wir schmecken Schokolade, leiden unter Kopfschmerzen, riechen Knoblauch, hören Trompeten, sehen Tomaten, fühlen uns schwindlig und genießen Orgasmen. Sollten Steine ebenfalls Orgasmen haben, können sie das ziemlich gut verbergen.

Zweitens haben wir »propositionale Einstellungen«, wie etwa die Überzeugung, dass Steine keine Kopfschmerzen bekommen, die Angst vor fallenden Börsenkursen, die Sehnsucht nach einem Urlaub auf Tahiti und die Verwunderung darüber, dass sich Chris nicht mehr meldet. Derartige Einstellungen erlauben es, unser Verhalten und das anderer Menschen vorauszusagen und zu interpretieren. Wenn Sie sich einen Urlaub auf Tahiti wünschen und glauben, dass Sie dafür ein Flugticket brauchen, dann stehen die Chancen recht gut, dass Sie sich dieses Ticket kaufen. Ihre propositionale Einstellung sagt Ihr Verhalten voraus und erklärt es. Wenn Chris anruft und ankündigt, er komme morgen früh um neun mit dem Zug an, dann erlaubt Ihnen die Zuschreibung der propositionalen Einstellung von Chris – dass er vorhat, den Zug zu nehmen, und das gerne tut – die Vorhersage, wo er morgen um neun Uhr sein wird, mit größerer Leichtigkeit, als wenn Sie den Zustand jedes Moleküls seines Körpers kennen würden.

Wir verfügen in gutem Glauben über physikalische Eigenschaften, genau wie ein Stein. Doch im Gegensatz zum Stein verfügen wir zudem über bewusste Erfahrungen und propositionale Einstellungen. Aber sind diese auch physikalisch? Falls dem so ist, dann ist das nicht offensichtlich: Wie groß ist die Masse von Schwindel, die Geschwindigkeit von Kopfschmerzen, welche Lage hat die Verwunderung darüber, dass Chris nicht anruft? In all diesen Fällen scheint schon die Frage für Verwirrung zu sorgen und Kategorien falsch zuzuordnen. Das Schwindelgefühl ist kein Ding, das auf einer Waage gewogen werden könnte; eine Verwunderung hat keine Raumkoordinaten; ein Kopfschmerz kann nicht mit der Radarpistole geblitzt werden.

Bewusste Erfahrungen und propositionale Einstellungen sind entscheidend für die menschliche Natur. Würde man sie uns nehmen, verlören wir uns selbst. Die übrig gebliebenen Körper tapsten ziellos durchs Leben.

Welche Art von Kreatur sind Sie denn nun? Wie ist Ihr Körper mit bewussten Erfahrungen und propositionalen Einstellungen verknüpft? Wie ist das Erlebnis eines Chai Latte mit den Aktivitäten in Ihrem Gehirn verbunden? Sind Sie nichts weiter als eine biochemische Maschine? Falls ja, wie bildet Ihr Gehirn dann Ihre bewussten Erfahrungen? Diese Frage rührt tief an Ihrer Persönlichkeit und ist in der Tat äußerst geheimnisvoll.

Der deutsche Mathematiker und Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz versuchte 1714, dieses Geheimnis in Worte zu fassen: »Übrigens muß man notwendig zugestehen, daß die Perzeption und was von ihr abhängt, auf mechanische Weise, das heißt mit Hilfe von Figuren und Bewegungen, unerklärbar ist. Nehmen wir einmal an, es gäbe eine Maschine, die so eingerichtet wäre, daß sie Gedanken, Empfindungen und Perzeptionen hervorbrächte, so würde man sich dieselbe gewiß dermaßen proportional-vergrößert vorstellen können, daß man in sie hineinzutreten vermöchte, wie in eine Mühle. Dies vorausgesetzt, wird man bei ihrer inneren Besichtigung nichts weiter finden als einzelne Stücke, die einander stoßen – und niemals etwas, woraus eine Perzeption zu erklären wäre.«2

Leibniz erfand eine ganze Reihe von Maschinen, darunter Uhren, Lampen, Pumpen, Propeller, Unterseeboote und hydraulische Pressen. Er baute eine Rechenmaschine nach dem Staffelwalzenprinzip, die Zahlen mit bis zu 16 Stellen addieren, subtrahieren, multiplizieren und dividieren konnte. Er war überzeugt, dass die menschliche Vernunft im Prinzip durch Rechenmaschinen nachgebaut werden könne. Doch er hielt es für ausgeschlossen, dass eine solche Maschine Wahrnehmungserfahrungen erzeugen könne.

Der englische Biologe Thomas Huxley zeigte sich 1869 verblüfft von diesem Geheimnis: »Dass etwas so Bemerkenswertes wie ein Bewusstseinszustand als Ergebnis einer Reizung von Nervengewebe zustande kommt, ist ebenso unerklärlich wie das Auftauchen des Dschinn, wenn Aladin an seiner Lampe rieb.«3

Huxley war Experte für Anatomie und Neuroanatomie. Er verglich das menschliche Gehirn mit dem anderer Primaten und wies auf die Ähnlichkeit ihrer Strukturen hin, was Darwins Theorie der menschlichen Evolution stützte. Er fand jedoch nichts im Gehirn, das erklären könnte, wie es bewusste Erfahrungen erzeugt.

Der amerikanische Psychologe William James rang ebenfalls mit dem Geheimnis des Bewusstseins und schrieb 1890: » ›Aus einer Bewegung wurde ein Gefühl!‹ – kein anderer Satz, den unsere Lippen bilden können, ist derart leer von jeglicher verständlichen Bedeutung.« Er war wie der irische Physiker John Tyndall der Meinung, dass »der Übergang von der Physik des Gehirns zu den entsprechenden Tatsachen des Bewusstseins … unvorstellbar« ist.4 Auch Sigmund Freud zeigte sich verwirrt von diesem Geheimnis: »Von dem, was wir unsere Psyche (Seelenleben) nennen, ist uns zweierlei bekannt, erstens das körperliche Organ …, anderseits unsere Bewusstseinsakte …. Alles dazwischen ist uns unbekannt.«5

James und Freud gelangen tiefe Einblicke in die menschliche Psychologie, und sie hatten verstanden, dass Psychologie und Neurobiologie zusammenhängen. Doch sie entwickelten keine Theorie darüber, wie die Gehirnaktivität bewusste Erfahrungen hervorbringen könnte, und es gelang ihnen auch nicht, dieses Geheimnis zu lösen.

Bewusstsein ist noch immer eines der größten Rätsel der Wissenschaft. Eine Sonderausgabe der Zeitschrift Science stellte 2005 eine Rangliste der 125 wichtigsten offenen Fragen der Wissenschaft auf. Auf dem ersten Platz landete: Woraus besteht das Universum? Ein verdienter Gewinner angesichts der Tatsache, dass heute 96 Prozent der Materie und Energie im Universum »dunkel« sind, was bedeutet, dass wir »im Dunkeln tappen«, wenn wir über sie nachdenken.

Auf Platz 2 folgte: Was ist die biologische Grundlage des Bewusstseins? Das ist die Frage, dem auch der Helmholtz Club nachging. Das ist das Rätsel, an dessen Lösung Forscher weltweit arbeiten.

Wichtig ist, wie Science diese Frage formulierte: Was ist die biologische Grundlage des Bewusstseins? Hier wird deutlich, welche Art von Antwort die meisten Wissenschaftler erwarten – dass es nämlich eine biologische Grundlage für das Bewusstsein gibt, dass das Bewusstsein auf eine bestimmte Art und Weise von biologischen Prozessen verursacht, von ihnen ausgelöst wird oder bestimmten biologischen Prozessen entspricht. Angesichts dieser Annahme wäre das Ziel, herauszufinden, was die biologischen Grundlagen sind, und zu beschreiben, wie das Bewusstsein daraus entsteht.

Dass es einen neuronalen Ursprung für das Bewusstsein gibt, war die Arbeitshypothese von Francis Crick. In seinen Worten: »Die erstaunliche Hypothese [so auch der Buchtitel wörtlich übersetzt; Anm. d. Übersetzers] ist, dass ›Sie‹, dass Ihre Freuden und Ihre Sorgen, Ihre Erinnerungen und Ihre Bestrebungen, Ihr Gespür für die persönliche Identität und freien Willen in Wirklichkeit nichts anderes sind als das Verhalten einer riesigen Ansammlung von Nervenzellen und den mit ihnen verbundenen Molekülen … ›Sie sind nichts anderes als ein Haufen Neuronen.‹«6

Von dieser Annahme ging auch der Helmholtz Club aus, weshalb auch viele der von uns eingeladenen Gäste Experten für Neurowissenschaften waren wie beispielsweise Joe Bogen. Wir suchten nach Hinweisen auf die entscheidenden Nervenzellen und Moleküle, um das Geheimnis des Bewusstseins zu lösen. Wie Paläontologen bei einer Grabung legten wir die Forschung unserer Vortragsgäste frei in der Hoffnung, auf Einsichten zu stoßen, die erklärten, weshalb einige physische Systeme bewusst sind und andere nicht.

Unsere Hoffnung war nicht unbegründet. Jahrhundertelang waren Biologen auf der Suche nach einem Mechanismus zur Erklärung, warum einige physische Systeme lebendig sind und andere nicht. Vitalisten, die davon ausgehen, dass sich lebende Organismen grundsätzlich von nicht lebenden Dingen unterscheiden, behaupteten jedoch, dass eine solche Suche scheitern müsse, da man Leben nicht aus den unbelebten Zutaten der physischen Welt erzeugen könne; eine spezielle nicht physische Zutat sei dazu notwendig, eine »vis vitalis«. Diese Meinungsverschiedenheit zwischen Vitalisten und Biologen blieb bis 1953 virulent, als James Watson und Francis Crick die gefeierte Entdeckung der DNA-Doppelhelix gelang. Damit waren die Vitalisten widerlegt. Diese Struktur, mit ihrem Vier-Buchstaben-System und der Neigung zur Replikation, löst auf brillante Art und Weise das Problem der Erzeugung des Lebens, sie bietet eine mechanistische Lösung für das Entstehen von Leben aus rein physischen Zutaten. Sie erlaubte es der noch jungen Disziplin der Molekularbiologie, sich ganz selbstverständlich mit Darwins Evolutionstheorie durch natürliche Auslese zu verbinden – und lieferte uns Werkzeuge zum Verständnis der Evolution des Lebens, zur Entschlüsselung von dessen vielfältiger, Milliarden Jahre dauernder Odyssee und darüber hinaus Technologien, mit denen wir nach Gutdünken Leben umgestalten können. Der mechanistische Physikalismus triumphierte auf ganzer Linie über den Vitalismus.

Angeregt von diesem Triumph erwartete der Helmholtz Club, dass das Bewusstsein es sich zu gegebener Zeit würde gefallen lassen müssen, mit einer mechanistischen Erklärung in die Sprache der Neurowissenschaft gefasst zu werden. Das müsste dann neue Perspektiven für die wissenschaftliche Erforschung und technologische Innovationen eröffnen. Bei einem Lunch im Club erwähnte Crick 1993, er schreibe an einem Buch über Neurowissenschaft und Bewusstsein und entwickle darin eine erstaunliche Hypothese. »Erklären Sie, wie neuronale Aktivität bewusste Erfahrungen erzeugt, wie etwa meine Erfahrung der Farbe Rot?«, wollte ich wissen. »Nein«, erwiderte er. »Wenn Sie sich irgendeinen biologischen Fakt aussuchen dürften, der dieses Problem lösen könnte«, fuhr ich fort, »könnten Sie dann sagen, welcher das wäre?« – »Nein«, stellte er erneut fest, fügte aber noch an, dass wir weiterhin neurowissenschaftlich forschen müssten, bis wir eines Tages das Geheimnis gelüftet haben.

Crick hatte recht. Da es noch keinen mathematischen Beweis für das Gegenteil gibt, auch angesichts des beeindruckenden Präzedenzfalls der DNA, ist es sinnvoll, weiter nach einer Doppelhelix für die Neurowissenschaft zu suchen – nach einem entscheidenden Umstand, dessen Entdeckung das Geheimnis des Bewusstseins entschlüsselt. Es könnte sein, dass unser bewusstes Netz aus Träumen, Bestrebungen, Ängsten, Selbstwahrnehmung und dem Gefühl des freien Willens mithilfe eines bislang unbekannten Mechanismus aus einem Haufen Neuronen gestrickt wurde. Dass wir uns heute diesen Mechanismus noch nicht vorstellen können, heißt nicht, dass es ihn nicht gibt. Womöglich sind wir einfach nicht clever genug, und ein Experiment wird uns künftig etwas lehren, was wir uns bislang schlicht nicht ausmalen können. Aus diesem Grund geben wir uns so viel Mühe mit Experimenten: da sie uns mit überraschenden Ergebnissen belohnen.

Denken wir beispielsweise einmal an die Versuche des Neurobiologen Roger Sperry mit Split-Brain-Patienten. Sie erbrachten mehrere verblüffende Ergebnisse über das menschliche Bewusstsein. Bei einem Experiment blickt ein Teilnehmer starr auf ein kleines Kreuz in der Mitte eines Bildschirms. Dann werden zwei Worte wie »SCHLÜSSEL RING« für eine Zehntelsekunde eingeblendet, wobei »SCHLÜSSEL« links des Kreuzes und »RING« rechts davon zu lesen ist – was dann so aussieht: SCHLÜSSEL + RING.

Fragt man normale Testteilnehmer nach ihrem Eindruck, wird man »Schlüsselring« zu hören bekommen. Die Aufgabe ist einfach. Eine Zehntelsekunde ist mehr als genug Zeit, um die Worte zu lesen.

Fragt man aber einen Split-Brain-Patienten, antwortet er »Ring«. Hakt man nach und will wissen: »Nur ein Ring? Oder vielleicht ein Ehering, ein Ringbuch oder etwa der Ringfinger?«, wird er bei »Ring« bleiben. Er wird es nicht genauer sagen können.

Dann verbindet man dem Split-Brain-Patienten die Augen und stellt eine Kiste mit Gegenständen vor ihm ab: einem Ring, einem Stift, einem Löffel, einem Schlüsselring usw. Nun bittet man den Patienten, mit der linken Hand in die Kiste zu greifen und den Gegenstand herauszuziehen, der eben auf dem Monitor genannt worden war. Nun wird er in der Box herumwühlen, Dinge hochnehmen und wieder zurücklegen, bis er das gefunden hat, was er suchte. Wenn die linke Hand dann aus der Kiste zurückgezogen wird, hält sie immer einen Schlüssel fest. Während der Suche hat die linke Hand zwar auch einen Schlüsselring berührt, ihn aber abgelehnt.

Wenn die linke Hand wieder zum Vorschein gekommen ist, erkundigt man sich bei dem Patienten mit den verbundenen Augen: »Was halten Sie in Ihrer linken Hand?« Er wird sagen, dass er es nicht weiß. »Was würden Sie vermuten?« Er vermutet dann kleine Gegenstände, die in einer solchen Kiste Platz finden, zum Beispiel einen Stift oder einen Löffel. Doch auf die richtige Antwort kommt er nicht, es sei denn per Zufall.

Dann bittet man den noch immer »blinden« Patienten, mit der rechten Hand in die Kiste zu greifen und den Gegenstand herauszuholen, der auf dem Monitor genannt worden ist. Die rechte Hand wird einen Ring herausfischen. Bei der Suche danach berührt die rechte Hand ebenfalls einen Schlüsselring, legt diesen aber wieder ab. Fragt man den Patienten, was er in seiner rechten Hand hält, antwortet er korrekt und mit großer Sicherheit: »Einen Ring.«

Nun löst man, noch während der Patient in jeder Hand einen Gegenstand umfasst, die Augenbinde, erlaubt den Blick auf die beiden Hände und fragt: »Sie sagen, Sie haben das Wort RING gelesen. Warum halten Sie in der linken Hand dann einen Schlüssel?« Entweder hat der Patient darauf keine Antwort oder er fantasiert eine Geschichte zusammen, die seine Wahl plausibel erscheinen lassen soll. Bittet man ihn dann: »Zeichnen Sie mit der linken Hand, was Sie gesehen haben«, zeichnet er einen Schlüssel.

Die Erklärung zu derartigen Experimenten brachte Roger Sperry 1981 eine Hälfte des Nobelpreises für Physiologie oder Medizin ein. Sperrys Erklärung war einfach und tiefgreifend. Wenn man sich auf das Kreuz zwischen SCHLÜSSEL + RING konzentriert, wird über die neuronale Verknüpfung zwischen Augen und Gehirn SCHLÜSSEL nur an die rechte und RING nur an die linke Gehirnhälfte geschickt. Wenn das Corpus callosum intakt ist, informiert die rechte Hemisphäre die linke über SCHLÜSSEL, und die rechte schickt RING an die linke, sodass der Betrachter SCHLÜSSELRING sieht.

Ist das Callosum aber durchtrennt, sind die beiden Gehirnhälften nicht mehr miteinander verbunden. Die rechte Hemisphäre sieht SCHLÜSSEL, die linke sieht RING und keine von beiden sieht SCHLÜSSELRING. Die linke Gehirnhälfte kann sprechen, die rechte jedoch nicht (abgesehen von ihrem Talent für Schimpfworte, was einem dann schmerzlich bewusst wird, wenn ein Gehirnschlag in der linken Hemisphäre einem Patienten das Sprachvermögen raubt, er jedoch weiterhin herzhaft fluchen kann). Daher antwortet die linke Gehirnhälfte des Split-Brain-Patienten auf die Frage »Was sehen Sie?« mit »Ring«.

Die linke Hemisphäre kontrolliert die rechte Hand und spürt, was sie berührt. Wenn der Patient gebeten wird: »Holen Sie mit der rechten Hand aus der Kiste das heraus, was Sie gesehen haben!«, lenkt die linke Gehirnhälfte die rechte Hand so, bis das gepackt wurde, was sie gesehen hat: einen Ring. Die rechte Hemisphäre kontrolliert die linke Hand und spürt, was sie berührt. Fragt man den Patienten, er möge mit der linken Hand das herausziehen, was er gesehen hat, steuert die rechte Hemisphäre die linke Hand, bis das gefunden ist, was sie gesehen hat: einen Schlüssel. Erkundigt man sich dann bei dem Patienten, was in seiner linken Hand ist, kann er das nicht sagen, da das nur die rechte Gehirnhälfte weiß, aber nur die linke Gehirnhälfte sprechen kann.

Das Buch mit der erstaunlichen Hypothese bietet dafür eine stichhaltige Erklärung: Erwächst das Bewusstsein aus der Interaktion einer Gruppe Neuronen, bedeutet das, dass die Auftrennung dieser Gruppe – und damit auch die Aufspaltung ihrer Interaktion – zu einer Aufspaltung des Bewusstseins führt.

Der ungeschulten Intuition erscheint es unwahrscheinlich, dass sich das Bewusstsein mit einem Skalpell aufspalten lässt. Was würde das bedeuten, wenn man meine Gefühle, mein Wissen, meine Emotionen, meine Überzeugungen, meine Persönlichkeit, mein innerstes Ich aufspaltet? Viele von uns würden diese Idee als lächerlich abtun. Für Sperry war nach jahrelangen, sorgfältig durchgeführten Experimenten der Beweis jedoch eindeutig: »Unserer Auffassung nach scheint tatsächlich der Beweis für die Überzeugung erbracht, dass die kleinere Hemisphäre wirklich sehr bewusst ist, außerdem, dass die beiden getrennten Hemisphären sowohl in der linken wie auch der rechten Hälfte bewusst und simultan unterschiedliche und sogar einander widersprechende mentale, dabei aber parallel verlaufende Erfahrungen machen können.«7

Es kamen immer mehr Hinweise hinzu, die diese Schlussfolgerung stützen. Bei einem Patienten unterschieden sich die Karrierewünsche, je nachdem welche 8