Gefesselt – Der Anfang

ist der erste Teil

eines unabhängigen Prequel Spin-Offs

zu Infiziert – Geheime Sehnsucht.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2018 Elenor Avelle

www.elenoravelle.de

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

Illustrationen: Elenor Avelle

Cover: Christin Thomas

www.giessel-design.de

Lektorat: Nina Hasse

www.texteule-lektorat.com

Korrektorat: Katherina Ushachov

www.phoenixlektorat.com

ISBN: 978-3-7528-2595-4

Für Julia.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Drei Monate vor Ausbruch

Langsam ging Rebecca den Flur entlang. Es gab keine Topfpflanzen oder Bilder, die dem Gang ein wenig Leben eingehaucht hätten. Alles war in nüchternem Weiß gehalten und der geflieste Boden war so blank geputzt, dass Rebecca statt ihres Schattens ihr Spiegelbild sah.

Die Gummisohlen ihrer weißen Slipper machten kein Geräusch auf den Kacheln. Nur ihr hektischer Atem und das leise Rascheln ihrer Hose und des Laborkittels waren zu hören. Ihr Herz schlug unangenehm gegen ihren Brustkorb, Beklemmung schnürte ihr die Kehle zu. Ihre schwarzen Locken hatte sie zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden. Ein einzelner Schweißtropfen rann ihren Nacken hinab. Verzweifelt klammerte sie sich an die Plastikkarte in ihrer Hand. Sie strebte auf eine schlichte Metalltür am Ende des sterilen Flurs zu. Das getönte Sichtfenster war der einzige Farbfleck. Von innen konnte man hinaussehen, umgekehrt nicht.

Ein wenig zu heftig zog Rebecca ihren ID-Pass durch das Lesegerät neben der Tür. Die kleine Lampe sprang von Rot auf Grün, die Tür schnappte auf.

Rebecca presste die Zähne aufeinander. Sie wollte sich umdrehen und weglaufen, doch jetzt war sie so weit gekommen. So viele Monate hatte sie auf diesen Moment hingearbeitet. Ihr ganzes Leben hatte sie aufgegeben, um an diesen Punkt zu gelangen und endlich Antworten zu finden.

Vielleicht werden dir die Antworten nicht gefallen.

Sie knirschte mit den Zähnen und legte entschlossen ihre Hand auf das kalte Metall der Tür. Beinahe erwartete sie, die Tür knarren zu hören, wie in einem Horrorfilm. Doch alles, was sie hörte, war das Blut, das in ihren Ohren rauschte. Die Tür schwang geräuschlos auf.

Der Raum dahinter war in ein fahles, grünes Licht gehüllt. Es drang aus den Tanks, die wie Zuchtbecken von Karpfen über den Raum verteilt waren. Aber es waren keine Karpfen, die in den ovalen, halb im Boden versenkten Pools lagen. Es waren menschliche Körper. Nackt und mit Kabeln übersät, drifteten sie durch die geleeartige Masse. Über den Tanks waren Monitore angebracht. Im Augenblick waren sie schwarz.

Rebeccas Lippen begannen zu zittern, als sie die menschlichen Schemen unter der Oberfläche sah. Es war etwas anderes, über diese Anlage zu lesen, als sie mit eigenen Augen zu sehen. Voller Abscheu ballte sie die Hände zu Fäusten.

Geh weiter, du schaffst das! Sie machte einen beherzten Schritt nach vorne. Das Plastik des ID-Passes schnitt ihr in die Finger. Sie hieß den Schmerz willkommen. Jedes Gefühl war besser als die quälende Angst und der Schrecken, den dieser Ort in ihr auslöste.

Ihre Augen glitten über die akkuraten Nummernreihen an den Beckenrändern. Je näher sie ihrem Ziel kam, desto beklommener fühlte sie sich. Ihr ganzer Körper zitterte unter der Anspannung und eine unerklärliche Kälte drang ihr bis in die Knochen. Als sie den Tank mit der Nummer 2-5768 G.M. erreichte, konnte sie ein leises Stöhnen nicht unterdrücken. Selbst verzerrt durch die Geleemasse und ohne ihr wundervolles schwarzes Haar, erkannte Rebecca ihre Zwillingsschwester sofort.

Ihr schlanker Körper lag bloß da, die Muskeln verwelkt, die Knochen traten scharf unter der straff gespannten Haut hervor. Ihr Schädel war kahl, selbst Augenbrauen und Wimpern fehlten. Die Wangenknochen waren eingefallen.

Mit aller Kraft musste Rebecca sich zurückhalten, um nicht ins Becken zu greifen und ihre Schwester sofort dort hinauszuzerren. Es hätte keinen Sinn, denn Gabriella war längst nicht mehr der denkende, fühlende Mensch, den Rebecca gekannt hatte. Sie war nur noch ein Geist und ohne die Geräte, an die sie angeschlossen war, nicht mehr lebensfähig. Außerdem hätte jede Störung im System sofort Alarm ausgelöst. Rebecca wäre entlarvt worden und jede Hoffnung darauf, Elli Frieden zu schenken, wäre vertan.

Rebecca hatte alles gelesen, was sie über die Wesen gefunden hatte, die Genetics in District 1 züchtete. Zumindest das, was sie ohne Aufmerksamkeit zu erregen aus dem Datenstrom des Hauptrechners hatte ziehen können. Geister nannten sie sie. Sie waren nur noch Hüllen ohne Seele. Man hatte ihnen ihre Persönlichkeit genommen. Keine Wünsche, keine Gedanken, nur noch die Träume, auf die die Wissenschaftler so scharf waren. Bilder, die angeblich Ausschnitte der Zukunft zeigten. Nur, dass die Versuchssubjekte für gewöhnlich keine natürlich geborenen Menschen waren, sondern Invitros. Künstlich Geschaffene ohne eigene Rechte. Eigentum von Genetics, Firmenmaterial. Sie wurden für Genetics geboren, existierten für die Firma und wenn sie ihren Zweck erfüllt hatten, starben sie. Sie hatten kein echtes Leben, das man ihnen hätte stehlen können. Nicht so wie Elli.

Tränen rannen Rebeccas Wangen hinunter und ärgerlich wischte sie sie weg. Vorsichtig strich sie über die Nummer am Rand des Tanks. Im Augenblick konnte sie nichts tun, aber sie würde nicht aufgeben.

„Ich komme wieder, Elli“, flüsterte sie.

Der leblose Körper im Gelee zeigte keine Reaktion. Nicht einmal die Augenlider zuckten. Elli hörte sie nicht, wusste überhaupt nicht, dass sie da war. Elli ist fort.

Rebecca hatte das Gefühl, an den zurückgehaltenen Tränen zu ersticken. Plötzlich flackerte der Bildschirm über dem Becken. Rebecca zischte erschrocken und duckte sich, doch der Alarm blieb aus. Nichts deutete darauf hin, dass einer der Geister eine Vision hatte. Unruhig warf sie einen Blick durch die Metalltür, aber der Flur war leer.

Sie kommen, hörte sie Elli wispern. Der Mund ihrer Schwester hatte sich nicht bewegt. Rebecca rückte näher an den Tank heran und spähte auf den Monitor. Sie sah nur verwaschene Farben und Ameisenkrieg.

Sie kommen, flüsterte Ellis Stimme wieder in ihrem Kopf. Viele werden sterben.

„Wer kommt?“, traute Rebecca sich leise zu fragen. Sie zitterte noch heftiger als zuvor und warf einen Blick auf ihre Uhr. Da sprangen Ellis Augen auf und selbst durch das Gelee leuchtete das satte Grün der Iris. Die gleichen Augen, wie sie auch Rebecca hatte. Waldfeenaugen, hatte ihr Vater gesagt.

Blut und Asche.

Rebecca presste ihre Hände an die Schläfen. Die Stimme ihrer Schwester war immer noch bloß ein Flüstern, aber in ihrem Kopf dröhnte es unerträglich laut. Der Schmerz, der sie seit dem Verschwinden von Elli Tag und Nacht begleitete, brannte heiß in ihrer Brust. Das war nicht Elli in diesem Tank, sondern der seelenlose Geist, der seine Vorhersage machte. Aber warum ging der Alarm nicht los? Wieso flutete nicht eine Horde von Wissenschaftlern in den Raum, um alles genau zu notieren? Hielt Elli die Übertragung zurück?

Das ist nicht mehr Elli.

Rebecca nahm die Hände herunter und wandte sich zum Gehen. Sie würde wiederkommen. Noch ein einziges Mal um den verdammten Stecker zu ziehen, jetzt wo sie wusste, dass ihre Schwester wirklich hier war. Aber sie musste es genau planen, denn sie wollte auf keinen Fall so enden, wie Elli. Missbraucht und ausgehöhlt, als Versuchskaninchen von Genetics.

Rebecca.

Wie angewurzelt blieb sie stehen. Ein kalter Schauer zischte ihre Wirbelsäule hinunter. Das kann unmöglich wahr sein!

Rebecca.

Es war nur ein Flüstern, ein Echo in ihren Gedanken und trotzdem war sie sich sicher, dass es keine Einbildung war. Langsam drehte sie sich um und starrte in den Tank. Nichts rührte sich. Dann entdeckte sie das Gesicht, das auf dem Bildschirm über dem Becken flackerte. Ein Mann. Er hatte rabenschwarzes Haar und der Schatten eines Dreitagebarts zierte sein auffallend eckiges Kinn. Aber das Bemerkenswerteste waren seine klaren, stahlgrauen Augen. Ein dunkler Ring umfasste die Iris aus flüssigem Metall. Er schien Rebecca direkt anzusehen und sein Blick bohrte sich in ihr Innerstes. Nie wieder würde sie diese Augen vergessen können. Sie schluckte.

„Was willst du?“, fragte sie den Geist im Tank.

Töte mich.

1

Sechs Jahre und elf Monate zuvor
Sieben Jahre und zwei Monate vor Ausbruch

Zum hundertsten Mal strich Rebecca über den Kragen ihres schwarzen Lodenmantels. Sie trat aufgeregt neben ihrer Schwester von einem Bein aufs andere und beobachtete aus den Augenwinkeln die Studenten, die in kleinen Grüppchen vor dem Eingang der privaten Universität standen. Die prächtig verzierte Fassade ragte mit ihren massiven Blendsäulen und dem breiten Rundbogen- und Zahnfries einschüchternd über Rebecca auf. An der kühlen Herbstluft kräuselte sich der Rauch von Zigaretten zwischen kondensierendem Atem. Die Studenten plauderten über Kurse und Professoren, während sie ihre Hände in ihren Manteltaschen wärmten. Der ein oder andere blickte neugierig in ihre Richtung. Sie mussten wie verirrte Schüler wirken und im Grunde waren sie das ja auch. Fünfzehnjährige Mädchen gingen für gewöhnlich noch zur Schule. Aber Rebecca und ihre Schwester waren nicht wie andere Fünfzehnjährige. Manchmal hatte Rebecca das Gefühl, nicht einmal wie jedes andere Mädchen zu sein.

Nervös zappelte sie neben Elli herum. Abgesehen von der Farbe des Mantels - Elli trug einen satten Rotton - und dem dicken Zopf, zu dem Rebecca ihre Locken geflochten hatte, glichen sich die beiden bis aufs letzte Haar. Sie waren hochgewachsen für ihr Alter und hatten lange schwarze Mähnen. Ihre Gesichtszüge waren kantig und die hohen Wangenknochen traten deutlich hervor. Die klaren, grünen Augen standen leicht schräg und gaben ihnen ein katzenhaftes Aussehen.

Elli zwinkerte Rebecca zu. Sie störte sich nicht daran, dass sie auffiel. Schon immer waren die Zwillinge aus der Masse herausgestochen. Zuerst im Kindergarten, als sie an ihrem ersten Tag kleine Origamidinosaurier falteten, während alle anderen unbeholfen auf ihren Blättern herumklecksten. Dann in der Schule, als sie eine Klasse nach der anderen übersprungen hatten. Selbst in der Einrichtung für Hochbegabte fühlten sie sich nicht lange gefordert und waren schnell zu Außenseitern geworden. Elli ließ solche Nebensächlichkeiten von sich abprallen. Sie war zufrieden mit dem Wissen, dass sie schlauer und begabter war als alle anderen. Aber Rebecca fühlte sich einsam, selbst wenn sie von Menschen umgeben war, die ihr Genie bewunderten. Hohe Intelligenz war wie eine Krankheit, die andere auf Abstand hielt. Hier würde es nicht anders sein, aber mit Gleichaltrigen wusste Rebecca umzugehen, notfalls mit den Fäusten. Doch was sollte sie zu einem Erwachsenen sagen, der sie schräg ansah?

Eine junge Frau schlängelte sich durch die Mantel- und Jackenreihen der Studenten und verteilte Flyer. Als sie an Rebecca und Elli vorbeiging, bedachte sie die Zwillinge mit einem neugierigen Blick und drückte einem vorbeilaufenden Studenten einen Flyer in die Hand.

„Sorry, erst ab achtzehn.“ Sie zwinkerte den Mädchen zu.

Unruhig sah sich Rebecca nach ihrem Vater um. Wo bleibt er denn? Er wollte doch nur das Auto parken.

Elli lachte leise. „Jetzt tu nicht so, als ob sie dich hier fressen wollen. Ging doch nur um eine Party.“

„Die sind alle viel älter“, murmelte Rebecca und vergrub ihre Nase in ihrem Schal.

Elli grinste. „Was hast du erwartet? Das ist die Uni.“

„Tut mir leid“, riss Eduardos Schnaufen Rebecca aus ihren Gedanken, als er neben den Schwestern schlitternd zum Stehen kam. Außer Atem stützte er sich auf seine Knie, so dass ihm die schwarzen Haarsträhnen ins Gesicht fielen.

„Seit wann haben arme Studenten so viele Autos?“ Er richtete sich wieder auf und lächelte die Mädchen an. „Na, alles klar?“

„Immer“, sagte Elli selbstsicher. Rebecca lächelte gezwungen.

„Na, na“, sagte ihr Vater und legte den Arm um Rebeccas Schultern, um sie kurz zu drücken. „Wird halb so wild, du wirst sehen.“

Rebecca seufzte und ließ sich von Eduardo in das Gebäude führen. Sie hatte gehofft, sich nicht mehr so unbedeutend und klein zu fühlen, wenn sie nicht mehr im Schatten des klassizistischen Kolosses stand, doch die holzvertäfelte Wandelhalle mit ihren schwarzen Ledersofas, dem mosaikbesetzten Fußboden und den gut gepflegten Palmen schüchterte sie noch mehr ein. An den Wänden tummelten sich bunte Papierkollagen hinter Glasscheiben, die Hinweise, Leerpläne und Bekanntmachungen enthielten. In Vitrinen, die an ein Museum erinnerten, waren Pokale und Auszeichnungen ausgestellt und in goldenen Lettern standen die Namen von herausragenden Studenten unter ihren stolzen Gesichtern geschrieben. Aus ihren Fotorahmen lächelten sie milde auf die Betrachter hinunter. Sehnsüchtig sah Elli zu den Bildern hinüber.

Räuspernd bemühte sich Eduardo um die Aufmerksamkeit der Frau, die hinter einer geöffneten Glasscheibe am Empfang links neben der Eingangstür hockte. Sie war dürr, hatte unschöne Tränensäcke unter den geröteten Augenlidern und einem bärbeißigen Gesichtsausdruck. Mit wässrigem Blick starrte sie auf etwas, das hinter ihrem Tresen auf dem Tisch lag.

„Entschuldigen Sie“, sagte Eduardo und setzte ein herzliches Lächeln auf. Die Lider der Krähe öffneten sich und die Augäpfel rollten in den Höhlen herum, bis sie den Störenfried erfasst hatten. Ihre feuchten Augen schienen das einzig Lebendige an ihr zu sein. Rebecca überlief ein Schauer.

„Wir suchen das Büro des Dekans“, fuhr Eduardo unvermindert fröhlich fort. „Meo, Eduardo Meo. Wir haben einen Termin.“ Er deutete auf seine Töchter.

Die Krähe sah träge auf etwas, das auf ihrem Schreibtisch lag. Dann schnellte ihr Blick zurück zu Rebeccas Vater. Unwillkürlich wich Rebecca hinter ihm zurück, was ihr einen flüchtigen Blick der unheimlichen Frau einbrachte. Dürre, gelbliche Finger tauchten auf dem Tresen auf, kommentarlos schob die verdorrte Empfangsdame Eduardo einige Zettel zu.

Blinzelnd nahm er sie entgegen und studierte sie.

Die Vogelfrau deutete zu einer breiten Treppe, die neben dem Empfang nach oben führte, und betätigte einen Knopf, um die Glastüren zu öffnen, die den Zugang versperrten. Mit einer unwirschen Bewegung der knorrigen Hand waren Eduardo und die Zwillinge entlassen.

Ein wenig verwirrt, stolperte Rebeccas Vater auf die Treppe zu. „Komische Person“, murmelte er.

Die Mädchen folgten ihm und wechselten bedeutungsvolle Blicke. Gruselig wäre die passendere Beschreibung für die Empfangsdame.

Die Treppe führte zu einem verlassen wirkenden Korridor im ersten Stock, von dem unzählige Türen abzweigten. Die dunkle Holzverkleidung und die schmalen Fenster ließen kaum Licht in den Flur. Ratlos blätterte Eduardo die Unterlagen durch, die er am Empfang erhalten hatte. Rebecca sah sich die nächstgelegene Tür genauer an.

„Schau mal, Schilder, da stehen die Zimmernummern und Namen“, sagte sie und lächelte über das erleichterte Seufzen ihres Vaters. Langsam passierten sie eine Tür nach der anderen und suchten nach der richtigen Aufschrift.

„Sicher, dass das eine Uni ist?“, fragte Elli. „Macht eher den Eindruck, als würdest du uns an einen reichen, aber verrückten Wissenschaftler verhökern.“

Eduardo schnaubte entrüstet. „Das Schreiben des Dekans klang sehr gebildet und seriös. Seid lieber froh, dass eine renommierte Privatuni Naseweise wie euch haben will.“ Der Stolz darüber, dass seine Töchter Stipendien von den bekanntesten Unis der Welt förmlich aufgedrängt bekamen, war deutlich zu hören.

„Da ist es“, sagte Elli und zeigte auf eine Tür, die genauso aussah wie alle anderen. Nicht, dass sie schäbig oder einfach gewesen wäre. Alle Türen in diesem Flur sahen aus, als wären sie dem Vatikan entwendet worden. Kunstvoll und poliert, glänzten die filigranen Schnitzereien im dunklen Holz.

Eduardo straffte sich und hob die Faust, um zu klopfen.

„Herein“, sagte eine raue Stimme, noch bevor seine Knöchel das Holz berührt hatten.

Mit großen Augen sahen sich die Mädchen an.

Nach kurzem Zögern drückte Eduardo die Klinke hinunter und trat ein.

Neugierig folgte Rebecca ihm und spähte in den Raum, Elli dicht hinter ihr.

Das Zimmer sah aus, wie man es sich anhand der Tür vorstellen konnte. Schwere, kunstvoll verzierte Möbel, dicke Teppiche und zahlreiche alte Bücher. Ein großes Fenster hinter dem dunklen Schreibtisch warf vorteilhaftes Licht auf die Einrichtung. Nur der Mann, der in dem großen, ledernen Bürostuhl saß, passte nicht ins Bild. Er trug wirres, graues Haar auf dem Kopf und einen langweiligen Nadelstreifenanzug am Körper.

Mit schnellen Bewegungen kritzelte der Dekan ein paar Worte aufs Papier und legte dann den goldverzierten Füller beiseite. Lächelnd sah er auf und erhob sich.

„Willkommen.“

Eduardo beugte sich über den Schreibtisch, ergriff die ihm angebotene Hand und nickte höflich. Dann trat er beiseite, damit der Dekan seine neuen Schützlinge in Augenschein nehmen konnte.

„Habe ich den harten Kampf um die begehrtesten neuen Sterne am Firmament also gewonnen“, sagte er und kam um den Schreibtisch herum, um den Mädchen ebenfalls die Hand zu schütteln. „Es ist eine Ehre, Sie bei uns zu haben, meine Damen.“

Elli und Rebecca lächelten verlegen. Ein bisschen was von einem verrückten Wissenschaftler hat er schon, dachte Rebecca, als sie sein krauses Haar betrachtete.

Der Dekan wies auf die bequem aussehenden Sessel vor seinem Schreibtisch und nahm wieder auf seinem eigenen Stuhl Platz.

„Na, dann wollen wir mal.“

*

Schweigend saß Gill an seinem Schreibtisch und starrte auf das Comicheldenposter, das an der Wand hing. Shadowcat, wie sie durch eine Wand lief, als wäre sie kein Hindernis. Er schaukelte gedankenverloren auf dem Drehstuhl hin und her. Das schmale Bett in seinem Rücken war ordentlich gemacht, so wie sein Vater es von ihm verlangte. Die Gardinen waren aufgezogen und hingen in ihren Haltern. Bücher standen im weißen Regal gegenüber dem Bett und reichten exakt bis an die Kante.

Gill wandte sich um und ließ seinen Blick durch den schmalen Raum schweifen. So ordentlich und sauber wie es hier war, kam einem das Zimmer wie ein Schauraum vor. Gill suchte nach dem Gefühl von Geborgenheit und Zuhause, das er früher empfunden hatte, als dies noch Marys Zimmer gewesen war. Ein winziger Hello Kitty-Aufkleber am Fuß einer Leiste hinter Gills Bett war die einzige Hinterlassenschaft seiner kleinen Schwester. Nach all den Jahren nach Marys Tod, in denen er in ihrem Zimmer gelebt hatte, war von der Wärme des kleinen Mädchens nichts mehr geblieben. Gills Beziehung zu diesen Wänden war genauso steril und unpersönlich wie der Raum selbst.

Seufzend nahm er den Rucksack auf, der an einem Bein seines Schreibtischs lehnte und schulterte ihn. Das bisschen Wäsche, das er eingepackt hatte, wog nicht viel. Er sah auf die Tischplatte, auf der eine Kopie seiner Einschreibung bei der britischen Armee und die letzten Holzsplitter seiner Gitarre, die John zerschmettert hatte, lagen. Dann wandte er sich ab und zog die Tür hinter sich zu. Er ging zwischen dem Treppengeländer und der Tür seines Bruders vorbei, an der ein grellgelbes „Betreten verboten“-Schild hing. Früher hatte Gill zusammen mit Brian dort in einem Stockbett geschlafen. Aber das war lange her.

Ohne sich noch einmal in seinem alten Zimmer umzusehen, sammelte Gill im Badezimmer, gegenüber dem Treppenaufgang, seine Zahnbürste ein und steckte sie in den Rucksack. Die dunkelbraune Keramik machte den Raum kleiner als er war und biss sich mit dem zarten Mintton der Fliesen und Handtücher, die akkurat gefaltet auf ihren Stangen hingen, als wäre erst vor einer Minute ein Zimmermädchen vorbeigekommen.

Als Gill zurück in den Flur ging, fiel sein Blick ins Schlafzimmer seiner Eltern. Die Tür stand offen. Die Patchworkdecke, die Gills Mutter, Hester, selbst genäht hatte, lag straff auf den Leintüchern des Doppelbetts, jeweils zwei Kissen standen aufrecht an den Kopfteilen.

Ein schweres Gewicht legte sich auf Gills Brust und mit gesenktem Blick ging er in das Zimmer und trat zum Nachttisch auf Hesters Bettseite. Auch wenn sie schon lange nicht mehr dort schlief, standen auf dem Tisch daneben noch die gleichen Fotos wie früher und in der Schublade lagen noch immer „Die Rose von England“ und ihre Lesebrille.

Gill berührte seine Lippen mit den Fingerspitzen und legte sie auf das Abbild des Gesichts seiner Mutter. Auf dem Foto strahlte sie glücklich und hielt ihre drei lachenden Kinder im Arm.

Er wandte sich ab und ging die Stufen hinunter. Gegenüber der Treppe im Erdgeschoss befand sich eine doppelflügelige Schiebetür, die ins Wohnzimmer führte. Bücherregale füllten die hintere Wand aus. Akkurat standen die Rücken an der Kante und schon an den Einbänden konnte man sehen, dass sie thematisch geordnet waren. Ein dunkelgrünes Sofa stand unter dem Fenster, der passende Ohrensessel gleich daneben. Stumm starrten die Möbel zum alten Röhrenfernseher.

Gill verschwendete keinen Blick auf das leblose Zimmer. Er wandte sich nach rechts. Still und verlassen lag der Flur da. Die blumigen Tapeten waren ein bekannter Anblick. Trotzdem hatte das Haus für Gill nichts Vertrautes mehr an sich. Hesters fliederfarbener Lodenmantel hing wie immer an der Garderobe. Daneben stand eine polierte Kommode, über der ein einfacher Spiegel hing. Ein zerzauster Junge starrte Gill daraus an. Mit weißen Knöcheln klammerte er sich an seine Rucksackträger, Schatten unter seinen stahlgrauen Augen. Gill wandte den Blick ab und trat zur Garderobe, um den Lodenstoff des Mantels zwischen den Fingern zu fühlen.

Seine Mutter hatte diesen Mantel geliebt, und nachdem sie gestorben war, hatte sein Vater ihn an der Garderobe hängen lassen. Brian hasste es, jeden Tag daran erinnert zu werden, dass Hester tot war, aber Gill rechnete es John hoch an, dass er Hester nicht einfach aus ihrem Leben gestrichen hatte wie Mary. Kälte und Leere kroch seine Beine hinauf und bevor sie ihm in die Glieder dringen und ihn von innen zerfressen konnte, nahm er seine Jacke vom Haken und ging.

2

Sechs Jahre und elf Monate vor Ausbruch

Als der Zeiger auf viertel vor sechs sprang, schreckte Rebecca durch das aufbrandende Geräusch von raschelndem Papier und murmelnden Stimmen auf. Resigniert beendete der Dozent seinen ungehörten Satz und raffte seine Unterlagen zusammen, um sie in seiner Ledertasche zu versenken. Rebecca blinzelte über das abrupte Ende der Vorlesung und ärgerte sich darüber, dass sie unaufmerksam gewesen war. Sie starrte auf die Papiere, die sie über ihr kleines Pult verteilt hatte, und biss sich auf die Unterlippe. Anstatt die Theorien, die der Professor über seinen Zuhörern ausgeschüttet hatte, zu notieren, war sie in die Konstruktionspläne ihrer Nanobots vertieft gewesen. Auf jedem noch so kleinen Zettel fanden sich Zeichnungen und Gekritzel, die sie in einem klaren Moment wahrscheinlich selbst nicht entziffern konnte. Dabei hatte sie über die Weihnachtsferien und Silvester genug Zeit gehabt, sich ihren Forschungen zu widmen. Die Vorlesungen hatten schließlich gerade erst wieder begonnen.

Da sollte ich im Stande sein, den Lehrkörpern mehr Respekt entgegen zu bringen, als in ihrem Unterricht in Grübeleien zu verfallen.

Sie zerwühlte sich die schwarzen Locken und schob die Papiere zusammen. Als sie aufstand, hielt sie überrascht inne. Ein Student stand an den offenen Türen des Hörsaals und sah zu ihr herüber. Er hatte blondes Haar, das ihm strähnig ins Gesicht hing, wie bei einem hippen High-Schoolschüler und sah überhaupt unverschämt gut aus. Sie kannte ihn vom Sehen. Abgesehen davon, dass sie beinahe die gleichen Vorlesungen besuchten, arbeitete er im selben Unilabor, in dem Rebecca ihre gesamte Freizeit verbrachte, um an ihrem Projekt zu tüfteln.

Als sie sich zwischen den Sitzplätzen hindurchkämpfte und unauffällig ihre zerwühlten Haare glatt strich, lächelte er ihr entgegen.

„Hi“, sagte er und folgte Rebecca aus dem Hörsaal Richtung Labor.

„Hi“, erwiderte sie etwas verspätet. Er grinste frech, als fände er ihren irritierten Blick lustig.

„Ich bin Henri, stellte er sich vor und bot Rebecca die Hand an. Unschlüssig, wegen des unordentlichen Papierhaufens in ihren Armen, blieb Rebecca stehen.

„Warte“, sagte Henri und half ihr, das Durcheinander zusammenzufassen, damit sie eine Hand frei hatte.

„Rebecca“, sagte sie höflich.

„Ich weiß.“

„Wer nicht?“, murmelte sie und ging weiter. Die besondere Begabung der Zwillinge war den Studenten der Privatuni nicht lange verborgen geblieben und so waren die Mädchen schnell zu unangenehmer Berühmtheit gelangt. Zumindest Rebecca fühlte sich unter den kritischen Blicken der Kommilitonen und Professoren unwohl.

Henri schlenderte neben Rebecca her und warf ihr hin und wieder einen interessierten Blick zu. Es war nicht das erste Mal, dass einer der Studenten sie ansprach, doch abgesehen von Lilly und Karl hatten die meisten ihre Versuche, sich in Rebeccas Licht zu sonnen, eingestellt, als ihnen klar wurde, dass sie hauptsächlich in ihrer eigenen Gedankenwelt lebte.

Lilly hatte Medizin studiert und war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni. Sie interessierte sich für Genetik und hatte Rebecca einige interessante Denkanstöße gegeben. Karl steckte seit Jahren in seinem Studium mit Spezialisierung auf Mikrotechnik. Er war so sehr mit seinen Ideen und Plänen beschäftigt, dass er keine Zeit fand, den Abschluss zu machen. Rebeccas Nanobots überstiegen sein Verständnis, aber sie hatte von seinen Kenntnissen profitiert und ihm dafür bei seinen eigenen Problemen weitergeholfen. Er war auf seine verschrobene Weise brillant, aber unglaublich neurotisch.

Rebecca und Henri kamen beim Labor an und nahmen sich zwei Kittel aus den Schränken, die im Flur davor standen.

Henri hielt ihr die Tür auf und als Rebecca zu ihrem Arbeitsplatz ging, hatte sie das Gefühl, dass sich die hasserfüllten Blicke von mindestens zwei Laborassistentinnen in ihren Rücken bohrten. Sie legte ihre Papiere auf eine freie Ecke ihres Schreibtisches. Als sie sich dem Platz mit den technischen Geräten und dem verschlossenen Projektschrank zuwandte, schrak sie zurück. Henri war nicht zu seinem eigenen Arbeitsbereich gegangen, sondern lächelte amüsiert zu ihr hinunter. Er war ein ganzes Stück größer als sie, wie ihr jetzt erst auffiel.

Er hat ausgezeichnete Zähne, stellte Rebecca fest, die kaum eine Hand breit von ihm entfernt stand.

„Hör auf damit“, tadelte sie ihn.

Eine Laborantin ging hinter Henri vorbei und warf Rebecca einen abschätzigen Blick zu.

„Ich mach doch gar nichts“, sagte er und trat einen Schritt zurück. „Du bist einfach schreckhaft.“

Ja, dachte Rebecca und zählte die schmachtenden Blicke im Raum, aber dein Nichtstun reicht anscheinend, nicht nur mich aufzuwühlen.

Sie wandte sich ab und holte den Schlüssel für ihren Projektschrank aus ihrer Tasche.

Henri lehnte sich gegen die Tischkante und quittierte Rebeccas Kontrollblick, ob er dabei auch ja nicht gegen eines der teuren Geräte stieß, mit einem belustigten Schnauben. Die Apparaturen gehörten der Uni und im Gegensatz zu den meisten anderen Studenten hier hatte ihr Vater nicht das nötige Kleingeld, um demoliertes Arbeitsgerät zu ersetzen.

„Hör mal“, sagte Henri schließlich, „wegen des Projekts in Biologie, das in Partnerarbeit gemacht werden soll…“

Rebecca knirschte mit den Zähnen, als er den Kurs erwähnte, den sie aus reiner Neugier begonnen hatte. Damals hatte sie sich einiges davon versprochen, sich mit der Aufzucht und Beschaffenheit von bestimmten Pflanzen zu beschäftigen, um an ihnen Experimente mit ihren Nanobots durchzuführen. Leider hatte sich herausgestellt, dass sie eher über einen schwarzen als einen grünen Daumen verfügte, und der Biologiekurs war der einzige, in dem sie für ihre Begriffe richtig schlecht war. Elli machte sich schon lustig über sie, weil sie ihn nicht einfach hinschmiss, doch Rebecca führte Sachen, die sie begonnen hatte, zu Ende.

„Warum willst du das Projekt mit mir machen?“ Sie konnte ihre Überraschung nicht verbergen. „Es gibt eine ganze Handvoll anderer, die wesentlich besser sind.“

„Wer sagt denn, dass ich dich fragen wollte, ob wir das zusammen machen?“ Er versuchte wohl, sie zu ärgern.

Rebecca sah ihn abwartend an. Sie war sich absolut sicher, dass er sie genau das fragen wollte und würde sich von ihm garantiert nicht aufs Glatteis führen lassen.

Ein berechnender Ausdruck trat in sein Gesicht. „Doch nicht so unbedarft“, stellte er fest.

„Also, warum fragst du mich?“

„Warum nicht?“, gab er zurück. „Du bist zuverlässig und pünktlich. Im Team bringst du dich ein und du arbeitest strukturiert. Das schätze ich und, mal ehrlich, die meisten anderen in dem Kurs sind die Hälfte des Tages mit der Planung der nächsten Party beschäftigt.“

Rebecca hob die Hände. „Ist ja gut. Schluss mit der Charakteranalyse.“

Er lehnte sich lässig zurück, was ihm einen weiteren kritischen Blick einbrachte. „Also?“

„Ja, meinetwegen machen wir das zusammen“, sagte sie. Das würde ihr die Mühe ersparen, selbst jemanden aufzutreiben. „Aber du machst die Drecksarbeit und ich kümmere mich um die Details mit Stift und Papier.“ Es würde ihrem Projekt nur schaden, wenn Rebecca Hand an Samen oder Pflanzen legen würde.

„Prima“, sagte Henri und nickte. Sie machten ein Treffen in drei Tagen für die frühen Morgenstunden in der Cafeteria aus, um einen Arbeitsplan zu entwerfen. Dann ging Henri zu seinem Laborbereich und überließ Rebecca ihren eigenen Forschungen. Vielleicht würde das Arbeiten mit ihm nicht so nervig werden, wie sie gedacht hatte. Er schien arbeitswillig und organisiert und nicht durch und durch der Sonnyboy zu sein, nach dem er aussah.

*

Mit klopfendem Herzen lauschte Gill dem Tuten im Hörer des öffentlichen Telefons, das an der Ecke eines rechteckigen, grauen Truppenquartiers stand. Sein Atem stieg in kleinen Wolken auf. Er warf einen Blick auf die Truppe in Tarnkleidung, die vollbewaffnet und mit schweren Rucksäcken über den Übungsplatz marschierte. Dahinter waren der Wald und der Parcours zu sehen, durch den sich verschwitzte Gestalten quälten. Vor drei Stunden war Gill selbst noch über die Hindernisse gesprungen und hatte einen Kameraden aus dem Schlamm gezerrt.

„Hallo?“, meldete sich eine unfreundliche Stimme am anderen Ende der Leitung.

Gill schreckte aus seinen Gedanken hoch und wusste im ersten Moment nicht, was er sagen sollte. Immer wieder hatte er aus falschem Pflichtbewusstsein zu Hause angerufen und jedes Mal war es das gleiche triste Gespräch gewesen.

„Hallo Brian“, sagte Gill höflich. „Frohes neues Jahr.“

„Was willst du?“, fragte sein Bruder. Als ob Gill ein einziges Mal um etwas gebeten hätte.

„Ich wollte mich nur melden und sagen, dass ich noch lebe“, sagte Gill seinen Spruch auf und wartete auf das übliche „Zu schade.“

Brian sprach die Worte monoton aus, wie einen auswendig gelernten Text. Zwischen den beiden Brüdern existierte nichts mehr, nicht einmal Hass. Wie auch, wenn Brian seinen ganzen Hass auf seine Mutter richtete, die ihre Söhne mit dem herzlosen Vater alleine gelassen hatte. Vielleicht war der Zorn auf Hester das einzige Gefühl, das Brian noch spürte, denn mit der Zeit war er ebenso versteinert wie ihr Vater.

„Ist John da?“, fragte Gill und biss sich auf die Zunge.

Wieso tue ich mir das jedes Mal an? Reicht es nicht, dass ich Brian kurz Hallo sage?

Brian wohnte noch im elterlichen Haus und arbeitete neben seinem Wirtschaftsstudium im Betrieb des Vaters. Er hätte John also einfach mitteilen können, dass der unliebsame, jüngere Sohn noch nicht tot war.

„Wieso? Ist dir das Geld ausgegangen und deine Junkie-Freunde schleifen dich nicht weiter mit?“, fragte Brian, der genau wusste, wo Gill sich befand. Sein Lachen klang aufgesetzt.

Was Originelleres für meinen Verbleib als die Straße, Huren und massenweise Drogen ist dir nicht eingefallen?

Wahrscheinlich hatte John die schlimme Nachricht schon in der ganzen Nachbarschaft herumerzählt. Er hatte ja immer schon gesagt, dass aus dem Jungen nichts Anständiges werden konnte. Gill hatte einfach zu viele Flausen im Kopf und kam zu sehr nach seiner Mutter. All diese Hirngespinste von einer Karriere im Musikbusiness. Nur ließ John bei seinen Erzählungen über die Nutzlosigkeit seines Jüngsten gerne aus, dass Gill mit fünfzehn Jahren bereits einen Plattenvertrag in der Tasche gehabt hatte. Er hatte all sein Taschengeld für eine Gitarre gespart und mit seinem Schulfreund ein Demoband aufgenommen. Natürlich bei seinem Freund zuhause, da sich Gill denken konnte, was John von seinen Bemühungen halten würde. Das hatte er dann erfahren, als er die Einwilligung seines Vaters gebraucht hatte, um seine Karriere zu beginnen. Gill hatte nicht einmal vorgehabt, die Schule zu schmeißen und in einem verkifften Tourbus zu leben, wie John es ihm entgegen geschrien hatte, nachdem er wutentbrannt die Gitarre zerschmettert hatte.

„Ist er da oder nicht?“ Gill schüttelte die Erinnerungen ab und hoffte, dass Brian Nein sagen würde. Ein Klacken und Schaben dröhnte durch den Hörer, als Brian das Telefon weiterreichte. Stille trat ein und Gill wartete vergebens darauf, dass sein Vater sich meldete.

„Hallo John“, sagte er schließlich. „Frohes neues Jahr.“

„Du warst nicht bei Millis Hochzeit“, antwortete sein Vater. „Du warst ausdrücklich eingeladen.“

„Ich kann hier nicht rein und rausspazieren, wie es mir gefällt“, sagte Gill.

„Sonst noch etwas?“, fragte John, wartete aber nicht auf eine Antwort und legte auf.

Gill hielt sich noch einen Moment lang den Hörer ans Ohr. Dann legte er auch auf und lauschte dem Geräusch der fallenden Münzen im altertümlichen Telefonkasten. Von dem kurzen Gespräch vollkommen ausgelaugt und froh darüber, für heute mit dem Dienst fertig zu sein, machte er sich auf den Weg zurück auf sein Zimmer.

Auf den Fluren im Gebäude waren andere Rekruten unterwegs. Gill nickte dem einen oder anderen zu und ignorierte das nervige Quietschen, das seine Stiefelsohlen auf dem Linoleumfußboden machten. Die Türen, die in die Schlafräume führten, sahen alle gleich aus und als Gill sein Zimmer im dritten Stock erreichte, das er sich mit fünf anderen Rekruten teilte, starrte ihm die uniforme Einrichtung entgegen. An einer Wand standen Metallspinde, die sich nicht einmal durch persönliche Gegenstände im Inneren voneinander abhoben. In der Grundausbildung sollte man sich nicht von Individualität ablenken lassen.

Die Stockbetten standen an den übrigen freien Wandplätzen verteilt. Die Decken waren peinlichst genau drapiert und faltenlos. Das dürfte wohl das Einzige sein, was John am Militär schätzen würde - genauso sehr wie Gill dieser Drill zuwider war. Aber wo hätte er hingehen sollen? Das hier war die einzige Möglichkeit, der Mann zu werden, der er sein wollte. Was waren da schon die paar Jahre, die er mit den Gegebenheiten klarkommen musste, wenn er dafür studieren konnte, was er wollte, und später endlich seinen Traum wahrmachen würde?

Außer den Spinden und den Betten standen drei quadratische Tische unter der Fensterfront. Die dazugehörigen Stühle waren ordentlich darunter geschoben. Gill nahm sich einen und setzte sich ans Fenster. Er konnte von hier aus das Übungsgelände und den Wald sehen. Die Baumwipfel wiegten sich leicht im Wind. Er seufzte und träumte von der Gitarre, die er sich zulegen würde, sobald er wieder etwas anderes haben durfte als seine Uniform und Stiefel. Er merkte gar nicht, wie er seine Hände so drapierte, als hätte er das Instrument auf dem Schoß. In seinen Gedanken erklang eine Melodie und er spielte sie auf der Luftgitarre. Jeder Griff saß und es war, als hätte er all die Jahre jeden Tag geübt. Leise summte er die Melodie und genoss das Gefühl, singen zu können, ohne darauf lauschen zu müssen, ob Schritte die Treppe heraufkamen. Wie oft hatte er heimlich in seinem Zimmer gesessen und verstohlen gespielt, immer in der Angst, John könnte seine Gitarre finden und ihm wegnehmen.

„Where trouble melts like lemon drops. High above the chimney tops that’s where you'll find me, oh.” Er wurde etwas lauter in der Gewissheit, dass niemand ihm das Singen verbieten konnte. „Oh, somewhere over the rainbow way up high. And the dream that you dare to, why, oh why can't I? I hiii?”

Gill fuhr zusammen, als Applaus ertönte. Er sah zur Tür, die weit offen stand und erkannte seinen Stubenkameraden und drei Rekruten aus den Nebenzimmern.

Trevor lachte laut und schlug den anderen die Tür vor der Nase zu, als er das Zimmer betrat. Er war ein großer, gut trainierter Kerl mit hagerem Gesicht, das von Windpockennarben gezeichnet war. „Wow, Mann!“ rief er aus und schlug Gill auf den Rücken. „Jetzt weiß ich, warum du ein Musikstudium machen willst. Wozu noch der Psychologiequatsch? Wozu bist du überhaupt hier, du Megastar?“

Gill sah Trevor mild lächelnd an.

„Nee, im Ernst, Alter. Was machst du hier? Ich versteh nicht viel von Musik, aber das war krass“, beharrte Trevor.

Verlegen kratzte sich Gill am Kinn. „Mein Vater war nicht sonderlich begeistert von meiner Idee, ins Musikgeschäft zu gehen“, gestand er und machte ein zerknirschtes Gesicht.

„Scheiß auf deinen Alten, Mann“, rief Trevor aus, hob aber im selben Moment die Hände. Er wollte Gill nicht auf die Füße treten. Immerhin wusste er nichts über die Familienverhältnisse. „Du bist volljährig und kannst tun und lassen, was du willst.“

„Schon klar“, erwiderte Gill und stand auf. Zeit, in die Kantine zu gehen. „Aber versuch das mal, wenn dein Vater drei Jahre damit verbracht hat, sich auf deinen achtzehnten Geburtstag vorzubereiten.“

Und John hatte seine Arbeit gründlich getan. Er hatte gewusst, dass es für Gill kein Halten mehr gegeben hätte, sobald er selbst für sich entscheiden konnte und eine zertrümmerte Gitarre konnte das nicht ändern. Also nutzte Gills Vater all seine einflussreichen Kontakte, um diese Wege für seinen Sohn unbegehbar zu machen. Niemand wollte einen Jungstar mit den Voraussetzungen, die John ihm mit allen Mitteln angedichtet hatte. Wie Gill dieses Hindernis überwinden sollte, wenn er erst einmal mit seinem Studium fertig war, wusste er nicht genau. Deshalb auch der „Psychologiequatsch“. Vielleicht konnte er mit einem handfesten Beruf genug Geld verdienen, um seine eignen Platten zu produzieren. Selbstgeschriebene Songs hatte er genug und der große Ruhm musste es gar nicht sein, solange er Musik machen konnte.

„Träume sind etwas für Dummköpfe“, hallten Johns Worte in Gills Kopf wieder, wie eine trotzige Erinnerung daran, dass er noch so weit weglaufen konnte und doch niemals frei sein würde. Er wischte diese Gedanken beiseite und sah Trevor an.

„Lass uns was essen gehen, bevor die besten Sachen weg sind.“

Trevor grinste und legte einen Arm um Gills Schultern, als sie hinausgingen. „Klar. Und nebenbei reden wir mal über meine Rolle als dein Manager.“

*

Rebecca saß auf dem Tisch neben dem aufgeklappten Laptop ihrer Schwester und ließ die Beine baumeln. Das Zimmer, das sie sich teilten, war, abgesehen vom Preis der Einrichtung - - teure Möbel aus Edelhölzern und moderne Regale aus Metall und Glas - eine typische Studentenbude. Fotos und Poster gaben dem Raum eine persönliche Note. Auf Rebeccas Seite hingen Familienbilder und lustige bunte Motive, wie ihr geliebtes Rock Star Scientists Plakat, auf Ellis Seite waren die klassischen Gencode-Tafeln angebracht und jede Menge Fotos von Elli selbst mit angesehenen Wissenschaftlern oder Sehenswürdigkeiten irgendwo außerhalb von Deutschland. Über den Schreibtischen waren zahlreiche bunte Zettel angepinnt, auf denen überall Post-its hafteten. Es sah aus, wie eine kubistische Kollage.

Eduardo hätte sich die teure Ausstattung nicht leisten können. Sie stammte von reichen Sponsoren, die hartnäckig darum bemüht waren, den Lohn für die genialen Ideen der Zwillinge einzustreichen. Jedes Projekt, das Elli und Rebecca begannen, fand schnell Unterstützung und finanzielle Zuschüsse. Firmen, die über die nötigen Mittel verfügten, verfolgten jeden Schritt der beiden hochbegabten Mädchen und scheuten nicht davor zurück, ihre Kommilitonen, deren Eltern und die Dozenten fürs Spitzeln zu bezahlen. Immer wieder kam es vor, dass die Zwillinge von völlig fremden Menschen in Anzügen auf der Straße angesprochen wurden. Wie Bienen um die süß duftende Blüte, kreisten die Reichen und Ehrgeizigen um die Mädchen.

Oder auch wie Geier um Aas, wie Rebecca es zu nennen pflegte. Sie teilte die optimistische Sicht ihrer Schwester nicht, die die Bewunderung der fremden Menschen genoss. Elli wusste um ihre Talente und war durchaus damit zufrieden, dass andere ihr Genie ebenfalls bemerkten. Sie führte eine Mappe, in der sie die Visitenkarten der Bewerber sammelte, und kokettierte mit den Vertretern und Vorsitzenden, die sie für sich zu gewinnen versuchten. Graue Herren, die es darauf abgesehen hatten, ihre Zeit zu stehlen, sagte Rebecca immer wieder, wenn ihre Schwester sich ärgerte, dass sie einen Interessenten wegschickte.

„Sieh dir das an“, murmelte Elli, die wieder einmal ihre E-Mails durchsah. Andere wurden überschwemmt von Spam. Die Postfächer der Zwillinge mussten sich gegen eine andere Flut von Mails wehren.

„Alleine heute sind zehn neue Stellenangebote dabei. Und hier sind mehrere Angebote für die Finanzierung meiner neuen Studie.“ Elli klatschte in die Hände und drehte sich auf ihrem Bürostuhl einmal um die eigene Achse.

Rebecca seufzte. „Du weißt schon, dass der Teufel sich seine Dienste bezahlen lässt, nicht wahr?“

Elli runzelte die Stirn, während sie in ihrer Post schmökerte. Mehr Mühe war ihr der Pessimismus ihrer Schwester nicht wert. Sie fragte sich nicht, wie diese Fremden von ihrem Projekt erfahren hatten, das unter Verschluss in ihrer Schreibtischschublade ruhte und aus einer groben Ideensammlung bestand. Während Elli Ohs und Ahs entfuhren, verdrehte Rebecca die Augen und sah nach draußen.

Vor dem Fenster bewegten sich die kahlen Äste einer Kastanie im Wind. Goldenes Sonnenlicht glitzerte auf gefrorenen Tautropfen. Vom Tanz der Lichtpunkte hypnotisiert, hätte Rebecca die Welt um sich herum für den Moment vergessen können.

„Sieh mal hier“, riss Elli ihre Schwester erbarmungslos aus dem friedlichen Augenblick. Sie drehte den Laptop so, dass Rebecca die Mail sehen konnte, die Elli in Aufregung versetzte. Als Erstes fiel ihr das Firmenlogo ins Auge, das giftgrün in der oberen Ecke prangte. Ein kantiges G. Beim genaueren Betrachten stellte Rebecca fest, dass der Buchstabe aus der Doppelhelix eines DNA-Strangs bestand. Der Text unter dem Logo war nichts Aufregendes. Die Formulierungen hatte Rebecca schon tausendfach in den Anschreiben gelesen, die sie in ihrem eigenen Postfach fand. Als Rebecca jedoch zu der Stelle gelangte, an der das Gehalt in Aussicht gestellt wurde, stutzte sie. Es waren so viele Stellen, dass die Ziffern auf dem Bildschirm zu tanzen schienen. Rebecca rutschte vom Tisch und kauerte sich davor, um auf die Zahlenreihe zu starren.

„Das muss ein Scherz sein.“

Elli lehnte sich selbstzufrieden zurück, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass man ihr für ihre Mitarbeit solch einen Lohn zahlte, und nickte in Richtung Maus. Rebecca scrollte hoch und öffnete weitere Browserfenster, um ein paar Namen zu googeln. Fenster um Fenster öffnete sich und schüttete Daten und Bilder über den Mädchen aus, die konzentriert dem Informationsstrom folgten. Die Firma gab es tatsächlich und sie tauchte auch hin und wieder in den Nachrichten auf. Viele Insiderinformationen waren nicht zu finden, aber bei allen Mitarbeitern handelte es sich um hochrangige Wissenschaftler, die sich in der Forschung einen Namen gemacht hatten. Die Inhaber von Genetics waren Männer und Frauen mit Macht und Geld. Man munkelte, dass auch die Regierung ihre Finger im Spiel hatte und dass das umstrittene Klonprogramm an Genetics gehen sollte.

„Genau der richtige Verein, um für die Zukunft zu planen“, meinte Elli mit stolz geschwellter Brust und rief die Mail wieder auf. Ihre Augen hafteten an dem in Aussicht gestellten Gehalt. „Mit so viel Kohle könnte ich eine Menge anstellen und gegen die Ausstattung, die mich dort erwartet, sind die Unilabore ein Witz.“

Beunruhigt sah Rebecca ihre Schwester an. „Ich bin sicher, dass du den Job auch noch haben kannst, wenn du dein Studium abgeschlossen hast.“

Elli sah sie nicht einmal an. Das Funkeln in ihren Augen sprach Bände. „Hast du die Mail nicht gelesen? Ich hätte die Möglichkeit, an einem völlig neuen Programm teilzunehmen. So etwas hat es noch nie gegeben.“

Missmutig blickte Rebecca auf die Mail, die ihr wie eine verbotene Verlockung vorkam. „Es gibt immer wieder neue Erfindungen, die du in ihrer Entstehung begleiten kannst. Außerdem haben sie nicht einmal geschrieben, um was für ein Projekt es sich handelt. Woher willst du wissen, dass dich das überhaupt interessiert?“

Elli seufzte sehnsüchtig und riss sich mühsam von der Mail los. „Du glaubst doch nicht, dass firmeninterne Dinge über das Netz weitergegeben werden. So wie es aussieht, kommt Genetics an die ganz geheimen Projekte ran und macht hochbrisante Entwicklungen. Egal, was es ist, es wird mich interessieren.“

Rebecca konnte Elli nicht wiedersprechen. Sie war selbst neugierig. Allein die Namen der Mitarbeiter wirkten wie eine Liste olympischer Götter. Mit Menschen zu arbeiten, die ihnen an Intelligenz beinahe ebenbürtig waren, war ein Traum. Doch Rebecca war nicht naiv. Nichts war umsonst und die Gerüchte über die Mitwirkung von Genetics an den angestrebten Klonprogrammen waren ihr suspekt. In der Bevölkerung regte sich heftiger Wiederstand gegen die Gesetzesentwürfe zur Genehmigung, das Klonen auch auf Menschen auszuweiten und Rebecca schreckte selbst vor dem bereits genehmigten Klonen von Tieren zurück. Sie hatte ja schon Gewissensbisse, wenn sie eine Pflanze mit ihren Nanobots infizierte und an ihrem Gencode herumspielte.

„Sei nicht geknickt“, interpretierte Elli Rebeccas Schweigen falsch. Sie verstand einfach nicht, dass ihre kleine Schwester an der Uni zufrieden war und nicht danach strebte, noch mehr Anerkennung für ihr Genie zu bekommen.

„Vielleicht haben sie dich ja auch angeschrieben“, sagte Elli eifrig und öffnete Rebeccas Postfach. Es war leer und tadelnd klickte Elli auf die gelöschten Mails. Eine lange Liste ungeöffneter Post ratterte über den Bildschirm. Rebecca konnte sich einen Stich der Neugier nicht verkneifen, als ihre Schwester nach Post von Genetics suchte und ihre eitle Seite freute sich, als sie fündig wurde. Doch damit war die Sache für sie auch schon erledigt, denn ihr Studium würde noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Und sollte sie es so halten wie Karl oder Lilly, bliebe sie sogar noch viel länger an der Uni. Warum auch nicht? Die Welt da draußen hatte ihr außer Geld nicht viel zu bieten und würde sie wahrscheinlich bei lebendigem Leibe fressen.

„Darf ich?“, fragte Elli, wartete jedoch nicht auf eine Erlaubnis, die Mail zu öffnen. Mit einem leisen Lächeln überflog sie die Zeilen, doch dann wurden ihre Züge ausdruckslos.

Rebecca sah erst ihre Schwester an und dann den Laptop. Der Grund für Ellis Fassungslosigkeit fiel ihr gleich ins Auge. Die Summe, die Rebecca geboten wurde, um von der Uni abzugehen und sich dem neuen, geheimen Projekt anzuschließen, das auch Elli angetragen wurde, war um eine Zahl vor dem Komma länger.

Rebeccas Herz setzte einen Schlag lang aus. Dann fasste sie sich wieder und schloss verärgert das Postfach. „Komm schon, Elli. Das ist bestimmt ein Tippfehler. Wer würde uns schon solche Summen anbieten?“ Rebecca verspürte ein unangenehmes Kribbeln im Nacken, als Elli nicht antwortete. Sie richtete sich auf und blickte auf den Laptop, als wäre er ein satanisches Artefakt. „Wir haben hier genug Arbeit bis zum Abschluss. Lass uns das einfach vergessen.“