© 2016 Sascha Rauschenberger
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.
Verlag: BoD - Books on Demand GmbH Norderstedt
ISBN: 978-3-7481-1483-3
Dieses Buch ist der fünfte Teil der Reihe SPQR.
Teil 1 ISBN: 978-3-7528-9377-9
Teil 2 ISBN: 978-3-7528-9378-6
Teil 3 ISBN: 978-3-7528-9379-3
Teil 4 ISBN: 978-3-7528-9380-9
Teil 6 ISBN: 978-3-7528-9382-3
Titelbild: © Luca Oleastri - Fotolia.com
Illustrationen: © scusi (Fotolia.com), Sascha Rauschenberger Korrektorat: Windsor Verlag
Umschlaggestaltung: Julia Evseeva
Layout: Julia Evseeva
Für Mohammad Bashir-Basharat
Brigadegeneral der Afghan National Army
Kommandeur OCC-P Kunduz

Ich lernte General Bashir im Oktober 2009 kennen, als ich die Stelle des Senior-Mentors beim OCC-P Feyzabad antrat. Das Operational Coordination Center – Provincial, ein Stabselement bestehend aus Armee, Polizei, Geheimdienst und, als Besonderheit nur in der Provinz Badakhshan, Grenzpolizei, wurde geschaffen, um den Informationsaustausch zwischen den Sicherheitskräften zu intensivieren, ein besseres Lagebild zu konsolidieren und so über die regional arbeitenden OCC-R dem Innenministerium in Kabul zeitgerecht ein Gesamtlagebild zur inneren Sicherheit Afghanistans zu geben.
Alle OCCs werden jeweils von einem Armeeoffizier im Generalsrang geführt und umfassen ca. 30–40 Offiziere bis zum Dienstgrad Oberst und ein Sicherungselement von 40 Soldaten:
General Bashir war ein ehemaliger Brigadekommandeur in den Streitkräften von Ahmed Schah Massoud, dem Helden aus dem Kampf gegen die russischen Besatzer schlechthin, der als Verteidigungsminister am gleichen Tag einem Attentat der Taliban zum Opfer fiel, als in New York die Flugzeugattentate stattfanden.
Viele ehemalige Kommandeure von Massoud sind heute hohe Offiziere in den Sicherheitskräften oder bekleiden Gouverneurs- und Ministerposten.
General Bashir ist in meinem Alter und wurde eher durch Zufall Soldat. Er wollte eigentlich sein Leben mit Lernen verbringen. Wissen erlangen. Daher studierte er zunächst den Koran. Er kam sieben Kapitel weit. Dann wurden er und seine Freunde eines Abends bei einem Treffen vom damaligen Geheimdienst festgenommen, drei Tage lang eingesperrt und gefoltert. Der Verdacht, zum Widerstand zu gehören, bestätigte sich nicht.
Doch kaum wieder in Freiheit, beschloss er sofort, zu den Mudschahedin nach Pakistan zu gehen, um sich für den Kampf gegen das Regime ausbilden zu lassen.
Es war eine schwere Zeit für ihn, da er ständig von seiner jungen Frau getrennt war und sie kaum versorgen konnte. Sie waren so arm, dass sein Sohn als kleiner Junge die abgelegten Kleider seiner älteren Schwester tragen musste. Bashir belastet bis heute, dass der Spott seiner Altersgenossen den Jungen geprägt hat. Er ist aggressiv, unbeugsam und duldet keinerlei Respektlosigkeit ihm gegenüber, was den Umgang mit ihm nicht gerade leicht macht. Darum hatte General Bashir, der in Kunduz wohnte, ihn oft bei sich im OCC-P in Feyzabad.
General Bashir ist ein verantwortungsbewusster Mann, der zwei Frauen und drei Kinder hat. Mehr Kinder wollte er auch nicht, da er der Überzeugung war, sich die Ausbildung für mehr als drei Kinder nicht leisten zu können, zumal er auch zwei Haushalte (Ehefrauen haben in AFG immer eigene Haushalte …) zu versorgen hatte.
Er fragte mich einmal nach meiner Meinung, ob er sich noch eine dritte Frau nehmen sollte, die nun Witwe geworden war. Er kannte sie seit seiner Kindheit und mochte sie schon immer. Man muss an dieser Stelle wissen, dass Bashir Frauen sehr zugetan war, was durch seine Erscheinung und sein Auftreten auch nicht unerwidert blieb. Nur ist er der festen Überzeugung, dass man „einer Frau nur nah sein kann“ (so die Umschreibung …), wenn man sie auch heiratet. Das würde der Anstand fordern; wohlgemerkt: der Anstand an sich, nicht die Religion!
Ich riet ihm ab und verwies auf die bestehenden Probleme mit den zwei Haushalten, der Eifersucht seiner Frauen und er ließ es bleiben. Dennoch kümmerte er sich danach um die Witwe, die es alleine sonst schwer gehabt hätte – ohne Schutz in unruhiger Zeit …
Im fast zwanzigjährigen Kampf wurde er fünfmal verwundet. Er erzählte, dass er einmal in den Bergen getroffen wurde. Die Kugel ging durch die rechte Achselhöhle, den gesamten oberen Brustkorb hindurch und trat am Hals wieder aus. „Ich fiel um und sah mein rotes Blut in den blauen Himmel spritzen, und ich dachte es wäre nun aus.“ Doch seine Mitkämpfer brachten ihn über mehrere Tage tragend zurück nach Pakistan, wo er sich erholte. Seitdem kann er den rechten Arm nicht über Schulterhöhe heben und hat Probleme bei Kälte. Der Winter 2009/10 war für ihn eine große Belastung. Das ständige Frieren, die nasse Kälte in der Stadt und den Gebäuden gaben der Sehnsucht nach seinen Kindern und seinen Frauen oft Vortrieb und er meldete sich dann bei mir für eine Woche nach Kunduz ab. Ich sagte ihm, dass er als General und Kommandeur machen könne, was er wolle, ich sei nur der Berater, doch solle er bitte daran denken, dass seine Offiziere und Soldaten ähnliche Probleme hätten und er Vorbild sei. Dann hielt er in der Regel noch ein paar Tage länger aus. Entschuldigte sich dann aber und sagte, dass er seine Familie zu sehr vermissen würde. Da ich um deren Situation im Krieg wusste, verkniff ich mir alle weiteren Vorschläge und sagte im Stab, nach kurzer Absprache mit den zwei Stellvertretern, die ihre Familie aber in der Stadt hatten, dass der General dienstlich nach Kunduz müsse. Das wurde dann der übliche Sprachgebrauch. Selbst gegenüber den höheren Kommandoebenen. Oder dem eigenen PRT gegenüber, wo man gerne mal nachfragte, wo denn General Bashir sei.
Ich deckte ihn wo immer es ging mit zeitweise recht blumigen und weitschweifenden Ausführungen, die alles oder nichts besagten, keinen richtigen Hinweis boten und ansonsten alles vage ließen. Bei meinen Vorgesetzten im PRT kam das eher schlechter an. Doch das passte schon. Man kann es nicht jedem recht machen …
Bashir selbst legte auch nicht besonderen Wert auf Beliebtheit.
Eines Morgens kam ich ins OCC-P, begrüßte die Kameraden, griff die neusten Meldungen ab und trank eine Tasse grünen Tee. Bei den Gelegenheiten erfuhr man dann auch immer das, was offiziell nie erwähnt wurde. So war am Vorabend General Bashir zum Essen eingeladen gewesen. Anwesend war fast alles, was im Sicherheitsapparat von Feyzabad Rang und Namen hatte, wenn es darum ging, „nicht wirklich nur vom Gehalt leben zu wollen“. Und da Bashir gern mal lauter verkündete, dass Korruption schlecht und Betrug am Volk sei, war er eingeladen worden, um die Wellen zu glätten. Zumal auch der deutsche Kommandeur des PRT durch die Stadt wieselte und mit jedem und allen Gespräche über Korruption führte, was gemeinhin zu „Verstimmungen“ geführt hatte.
Bashir ist ein Soldat. Politiker eher nicht. Darum war seine kurze Ansprache an dem fraglichen Abend eher kurz und knapp. Sie ließe sich so zusammenfassen: „Ihr seid doch alle korrupt. Da hilft hier auch kein Reden. Was ihr tut, ist schlecht für Afghanistan. Es ist gegen den Willen Allahs. Und eigentlich seid ihr alle Verbrecher.“
Als ich davon hörte, ging ich zu Bashir und fragte, ob das so stimme. Überrascht schaute er mich an und fragte, ob das denn nicht stimmen würde? – Klar. Stimmte alles. Nur brachte man gemeinhin die, die anderer Meinung waren und das öffentlich kundtaten, auch gern mal um. Also verbrachte ich die nächsten zwei Wochen damit, den einen oder anderen dieser „empfänglichen Menschen“ zu besuchen und die Sache etwas abzuschwächen. Gewürzt mit der Aussage, dass ISAF die Entwicklung sehr genau beobachten würde, ich aber sicher sei, dass Badakhshan auf gutem Wege sei, wenn wir uns alle weiter so bemühten, die Zukunft friedlich zu gestalten …
Bashir bekam das mit, sagte kein Wort dazu und bedankte sich bei meiner Verabschiedung dann dafür, dass ich ihm geholfen habe. Manchmal war das alles recht kompliziert einfach …
General Bashir war der Meinung, dass Sicherheit nur wachsen könne, wenn das Volk immer auch informiert sei, was die Sicherheitskräfte erreichen wollen. Warum sie dies oder das taten. Und dass man mit den Leuten reden müsse. Aktiv. Und als mein Vorschlag in diese Richtung ging, das OCC-P mit einer Art Marketing-Kampagne durch Informationsteams bekannter zu machen, war das der Beginn zu etwas, was bis dahin einmalig in AFG war. Es wurden in den größeren Städten der Provinz Informationsveranstaltungen abgehalten, wo die Würden- und Funktionsträger über die OCC-P-Organisation, deren Ziele und deren Anspruch informiert wurden. Dann wurde den deutschen Patrouillen ein Verbindungselement des OCC-P beigestellt; mit dem Ziel, in naher Zukunft selbst Patrouillen rauszuschicken, die dann von deutschen Verbindungselementen begleitet werden sollten; unter Führung des OCC-P. Auch das war neu und führte zu einer unglaublichen landesweiten Presseresonanz. Doch so aufgeschlossen General Bashir neuen Ideen gegenüber war, so unversöhnlich stand er den Taliban und Pakistan gegenüber. Aus Erzählungen von ihm weiß ich, dass nicht alles, was er im Krieg gemacht hat, dem entsprach, was das Kriegsvölkerrecht als richtig ansehen würde. Gelinde gesagt. Ich riet ihm sogar, niemals so etwas in Gegenwart von anderen Europäern zu erzählen, was er erst nicht verstand, da das alles doch üblich gewesen war.
In seiner Zeit, wo er als Mudschahedin immer mal wieder nach Pakistan zurück musste, um Verwundungen auszukurieren, Nachschub zu holen oder schlicht um auszuruhen, wurden er und seine Kameraden von den Pakistani drangsaliert, beraubt und erniedrigt. Das hat kein Afghane je vergessen. Bashir erst recht nicht. Wenn irgendwer auf seiner Menschenbildskala noch unter einem Pakistani stehen konnte, dann nur noch die Taliban, die er als Tiere bezeichnete.
Tiere deshalb, weil sie allen Geboten Allahs spotteten, indem sie stahlen, raubten, wahllos mordeten und Frauen vergewaltigten, wann immer es ihnen passte. Letzteres führte bei ihm zu einem Hass, der kaum (be)greifbar war. Selbst meine afghanischen Offizierskameraden sahen dann betreten aus, und die waren viel gewöhnt.
Bashir ist sehr religiös. Er betete regelmäßig, ohne auch nur ein Gebet auszulassen. Selbst im Winter, als ihm die Kälte zu schaffen machte, und wenn er krank war, raffte er sich für das Gebet auf. Als das Wetter besser wurde, betete er auf dem Rasen des OCC-P mit allen, die mitbeten wollten.
Als ich einmal unseren Militärpfarrer mitbrachte, tat mir der gute Mann fast leid, als Bashir mich nach der Bedeutung der Schulterklappe des Pfarrers fragte. Sofort wurde dieser in Beschlag genommen und mit religiösen Fragen bombardiert. Am liebsten hätte er ihn gar nicht mehr fortgelassen. An dieser Stelle mag deutlich werden, dass bei aller Gläubigkeit er immer bestrebt war, sein Wissen an der Realität und im Gespräch mit anderen zu messen, zu hinterfragen und zu vergrößern. Auch – oder sogar gerade –, wenn es um religiöse Dinge ging.
Bashir hatte so ziemlich alle Krankheiten und Beschwerden, die man sich vorstellen konnte. Seine Krankenakte vom PRT gab er mir zur Aufbewahrung, und ich musste ihm erklären, was das ein oder andere zu bedeuten hatte; so z. B. auch, dass ein Cholesterinwert von 525 alles andere als gut war, wenn 200 normal ist. Das stimmte ihn besorgt, denn Zucker in Afghanistan bedeutet den Tod. Er sorgte sich um seine Kinder, wenn er Diabetes bekommen würde, auch wenn er inzwischen ein vermögender Mann war. Man sagte, dass ihm in Kunduz drei Tankstellen gehörten.
Dennoch ging er nun regelmäßig ins PRT zur Kontrolle, wo er durch seinen Anstand dem weiblichen Personal auffiel. Die Ärztinnen und Schwestern, die teilweise nur mit T-Shirts bekleidet waren und ihrem oft sehr stressigen Dienst nachgingen, beklagten sich darüber, dass er sie nie direkt ansah oder sonst wie beachtete. Ich musste ihnen erklären, dass gebildete und achtbare Männer das auch nie tun würden. Sie würden ihnen dadurch Respekt erweisen, auch weil sie eben nicht verschleiert waren. Durch das Nichtansehen würde ihre Ehre gewahrt bleiben.
Es erübrigt sich zu erwähnen, dass dort sehr viele eher nicht gebildete Afghanen ein und aus gingen, die fast sabbernd jeder Frau immerzu nachgafften. So fallen Unterschiede recht schnell auf. Wenn Bashir allerdings im San-Bereich des PRT war, dann achteten die Leute meist auf das, was um ihre Füße herum anzusehen war …
Was das Essen anging, war General Bashir durch die Hungererfahrung des Krieges eher bereit, alles zu essen, was essbar war, als religiösen Geboten hinterherzulaufen. Unsere EPAs mochte er und aß regelmäßig bei uns im Container mit. Viele seiner afghanischen Kameraden fanden das befremdlich, doch andererseits war ich dafür bei ihnen sehr oft zu Gast.
Zum Thema Alkohol hatte Bashir auch eine klare Meinung. Er brauchte ihn, um etwas zu tun, das er „refresh myself“ nannte. Ich brachte ihm dazu hin und wieder einen Karton mit Weinen aus dem PRT. Und im Bürocontainer waren immer ein paar Dosen Bier für ihn im Kühlschrank eingelagert, auch wenn er nicht oft von der Möglichkeit Gebrauch machte.
Eigentlich fühlte er sich abends nur einsam in seinem angemieteten Haus nahe des OCC-P. Dann dachte er an seine Familie und fragte sich, warum er die Stelle in Feyzabad überhaupt angenommen hatte. Er tat es, um wieder in den Rang eines Generals befördert zu werden, da unter dem Einfluss von ISAF die obere Kommandostruktur ziemlich zusammengestrichen und er auf Oberst zurückgestuft worden war.
Finanziell zahlte er dabei drauf. Er verdiente 700 Dollar im Monat, musste aber für das Haus in Feyzabad 550 Dollar Miete zahlen. Ohne Tankstellen in Kunduz wäre das ein Problem geworden.
Er lud mich oft ein, bei ihm zu übernachten, doch waren meine Vorgesetzten wenig erbaut über den Gedanken, auch wenn die Leibwache des Generals für Sicherheit gesorgt hätte. Jedenfalls wurde daraus nichts. Über die Ideen von ihm, mal ein „paar Tage“ zusammen loszuziehen, damit er mir das Grabmal von Massoud zeigen, mich seiner Familie und Freunden in Kunduz vorstelle könne und wir mal ein paar Discos (!) in Tadschikistan besuchen sollten, wo wir dann mal gemeinsam „refreshen“ könnten, habe ich im PRT nie erwähnt. Besser war das.
Bashir beneidete mich um all die Bücher, die ich gelesen habe, um mein Studium und um all die Gelegenheiten, Museen zu besuchen und Wissen zu erlangen. Er fragte mir nahezu zu allen Themen Löcher in den Bauch. Auch zu Themen, die offiziell für ISAF-Soldaten – oder Deutsche – verboten waren. Wir redeten über Glaubensfragen genauso, auch kontrovers, wie über Hitler und den Völkermord an den Juden, den er erst so gar nicht verstand, da Juden zu töten letztlich eine gute Tat war. So denken fast alle Afghanen. Und sechs Millionen zu töten war etwas, was fast Begeisterung ausgelöst hatte. Weniger bei Bashir, wohl aber bei den anderen Offizieren. Erst meine Erklärung, dass man sie nicht im Kampf getötet hatte, sondern eher industriell organisiert wie Vieh abgeschlachtet, vergast hatte, führte zu Betroffenheit und der Einsicht, dass das eben nicht so gut war.
Bashir nahm das ruhig und nachdenklich auf, dann drückte er meine Schulter und sagte, dass das nun vorbei sei und man zusehen müsse, dass man das besser anders macht. Er würde das Thema nicht mehr anschneiden und es täte ihm leid, dass er danach gefragt habe. Was er meinte, war aber, dass es ihm leidtat, mich mit meiner ehrlichen Antwort belastet zu haben. Nicht den Mord an den Juden.
Bashir und ich haben uns nie angelogen. Auch dann nicht, wenn einer von uns dadurch gegenüber Vorgesetzten Nachteile hatte. Wir hatten sehr schnell festgestellt, dass unsere Vorgesetzten oft in anderen Welten lebten als in der, wo das richtige Leben spielte. Das PRT wollte immer gern nach oben mit „Haben-wir-auch-gemacht-Häkchen“ glänzen und die afghanische Führungsmentalität war mitunter auch oft recht suspekt. Wir hatten es schwer, unsere – zum Teil gegensätzlichen – Befehle unter einen Hut zu bringen. Dadurch stieg unser Beliebtheitsfaktor bei diesen Vorgesetzten nicht gerade in astronomische Höhen und so mancher Anschiss war vorprogrammiert. Doch wir waren fest davon überzeugt, das Richtige zu tun, darum taten wir es.
Das sollte eigentlich eine dieser üblichen Widmungen werden. Kurz. Sie wurde länger. Mohammad und ich konnten uns nur über Dolmetscher unterhalten. Ich hatte verdammt gute ehemalige Lehrer, die auch passabel Deutsch sprachen. Unsere Gespräche wurden aber Englisch-Dari-Englisch geführt, da das Englischvokabular der Dolmetscher besser und von ISAF auch noch geschult worden war.
Wenn irgendein Mensch mir jemals so nah wie ein eigener Bruder stand, dann war das wohl Mohammad. Er sagte dazu, dass „unsere Herzen im Einklang schlügen“. Wir gingen Hand in Hand durch Feyzabad, besuchten so offizielle Empfänge und zeigten so jedem in Feyzabad, wie wir zueinander standen. In Afghanistan gehen Männer händchenhaltend in der Öffentlichkeit, um allen ihre tiefe Freundschaft zu zeigen.
Als ich ihm von der europäischen Bedeutung erzählte, lachte er nur und schüttelte den Kopf. Dennoch erschienen wir auch so im PRT … Um ehrlich zu sein: mir war es scheißegal, was andere dachten.
Als ich im Mai 2010 nach fast 200 Tagen in Feyzabad ging, war das kein fröhlicher Tag. Es war uns beiden klar, dass man sich wohl kaum wiedersehen würde. Zumindest nicht in diesem Leben.
Über die Feldpost habe ich ihm noch zweimal Pakete schicken können. Mit Süßstoff, Vitamintabletten, Zahnpasta und all dem Zeug, von dem ich wusste, dass es in AFG knapp war oder überhaupt nicht gab. Sechs Pakete kamen mit dem Hinweis zurück, dass die Feldpost keine Pakete an afghanische Adressaten zustellen würde, auch nicht über das deutsche OCC-P-Element. – Manchmal wird schnell klar, warum das ISAF-Projekt scheitern musste …
Das Internet ist auch nicht machbar, da es in AFG wenig Internet gibt. Dann ist da das Sprachproblem. Immerhin tauchte sein Name ein paarmal im Netz auf.
Immer wenn ich im Kölner Dom bin – ich mache dafür auch Umwege –, stelle ich eine Kerze für ihn auf. Die haben da inzwischen ganz gut an mir verdient …
Natürlich nicht mit einem Gebet, denn im Gegensatz zu Mohammad bin ich völlig ungläubig, was er als Makel ansah. Er bat mich inständig, diese „Einstellung“ zu überdenken …
Ergo wird die Kerze eher mit klarer Befehlsgebung nach oben aufgestellt. „Sieh zu, dass Mohammad nichts passiert. Er ist ein guter Mann. Wenn es dich gibt und ihm passiert etwas, sehen wir uns irgendwann und dann unterhalten wir uns mal, du Gott du …“
Ich weiß, das könnte man auch anders machen. Nur heucheln will und kann ich auch nicht. Aber wenn es denn diesen Gott gibt, dann werde ich mich mal mit diesem Typ ernsthaft unterhalten. Und über seine komische Einstellung, wirklich gläubige und gute Menschen zu beschützen!
Brigadegeneral Mohammad Bashir-Basharat wurde Ende 2014 bei einem Selbstmordanschlag auf den Gouverneur in Kunduz als Befehlshaber des OCC-P Kunduz erneut schwer verletzt.
Ich hoffe, es geht ihm wieder gut. Inshallah! Aber ich weiß es nicht.
Und ich vermisse ihn. Jeden Tag seit ich Afghanistan verlassen habe …
Köln, 14.04.2016 Sascha Rauschenberger
Sascha Rauschenberger
OTL d. Res.
Römisches Imperium, Rom, New Rome, Capitol, 24.06.2481 22:20 LPT
CDie Sonne war gerade untergegangen und es wurde schnell dunkel. Die beiden Soldaten in der nachtschwarzen Uniform der Commandos zogen schon von Weitem die Blicke aller Anwesenden an. Vor allem, weil eine der Soldaten eine Frau war, was in Rom seltener vorkam. Und bei den Commandos eher gar nicht. Doch der geschmeidige, fast wiegende Gang der beiden zeigte deutlich, dass da mehr als bloße Schreibtischsoldaten kamen, die Commandos im Stab spielten. Und wenn ein Vorbeigehender den beiden einen neugierigen Blick zuwarf, dann war dieser spätestens beim eisigen Blick des blaugrauen Augenpaares der Frau beendet. Die große blonde Frau und der etwas kleinere Mann hatten etwas an sich, das sie wie eine Wolke einhüllte und jedem Tod und Verderben versprach, der dämlich genug war, in ihren Einflussbereich vordringen zu wollen.
Die beiden Commandos waren nicht wütend. Nicht aufgebracht oder auch nur etwas mies gestimmt. Sie waren nur Commandos, die müde waren. Müde von der Reise und extrem müde vom letzten Job. Eigentlich wollten sie nur noch die Meldung loswerden und dann gar nichts mehr machen. Zumindest keinen von diesen Idioten vom Oberkommando mehr sehen. Oder von diesen Eierköpfen vom Geheimdienst. Sie wollten, wenn sie an MARS dachten, nur Mars schmecken, wenn sie auf einem Schokoriegel dieser Marke kauten.
Die Frau ging auf den Seiteneingang des Capitols zu, der etwa hundert Meter westlich der großen Portaltreppe zum Haupteingang des Capitols entfernt war und zumindest auf den ersten Blick nicht bewacht wurde. Sie drückten die Tür auf, was ihnen auch nur gelang, weil die Capitol-KI die beiden Commandos schon seitdem verfolgt hatte, als ihre ICs sie bei Anruf der KI automatisch angemeldet hatten und sie als befugt und ausreichend sicherheitsklassifiziert eingestuft worden waren. In allen anderen Fällen wäre die Tür einfach verschlossen gewesen.
Doch unmittelbar hinter der Tür stand ein Terminal. Und dahinter ein Sicherheitsdroide. Aber eine Kampfversion, die nicht nur blöd rumstehen würde, wenn etwas schieflief.
Der Droide scannte die beiden Commandos und drehte ihnen seinen sensorgespickten und gepanzerten Kopf zu.
Die beiden Commandos ignorierten ihn einfach, und die Frau trat an das Terminal. Sie legte eine Hand in das Sensorfeld und wurde augenblicklich via Genscan als die identifiziert, die sie war: Sub-Zenturio Francine Randall von den Commandos. Ihr Begleiter legte im Anschluss seine Hand in das Sensorfeld und wurde als Optio Hiro Towada identifiziert. Ebenfalls von den Commandos. Und ebenfalls von der Falkengarde der Domäne Falkenberg zur Dienstleistung bei den Commandos abkommandiert.
Unaufgefordert steckte der Sub-Zenturio einen Codezylinder in eine dafür passende Buchse, was nach Verifizierung sofort die KI des Capitols umfänglich aktivierte.
Ein sich aufbauendes Hologramm, das einen autoritär blickenden Mann zeigte, fragte: „Was kann ich für dich tun, Sub-Zenturio Randall?“
Francine Randall wirkte eine Sekunde unsicher, doch dann sagte sie militärisch knapp: „Missionsbericht für Mission KNOWLEDGE. – Bestätige das!“
Die KI prüfte augenblicklich eine entsprechende Sicherheitsdatei in ihrem Kernspeicher, las die entsprechenden Weisungsträger heraus und stellte fest, dass der Imperator persönlich die Mission KNOWLEDGE autorisiert hatte. Dann ging sie die Team- und Meldeliste durch, verifizierte Randall und Towada als zugehörige Teammitglieder, scannte beide nochmals und verglich die Daten nun auch noch mit den Domäneneinträgen auf der Domäne Falkenberg, dem Medo-Zentrum der Domäne und denen der Commandos, der Personalstelle der Legionen, den MARS-Registerkarten und den Scanneraufzeichnungen der letzten verifizierten Sichtungen vor ihrem Aufbruch zur Mission. Das passierte alles innerhalb einer Nanosekunde. Dann sandte die KI dem Wachdroiden einen Freigabecode, was diesen veranlasste, wieder geradeaus zu sehen und den Raum zu scannen.
„Bestätigt, Sub-Zenturio. Der Weg wird dir in deine VR-Brille eingeblendet werden. Die Sicherheitsfreigabe ist erteilt.“
„Danke“, sagte Francine und setzte ihre VR-Brille auf. Towada blickte nur mehr oder weniger interessiert und behielt aber den Droiden im Blickfeld.
„Gehen wir“, sagte Francine und ging voran, während Hiro ihr folgte und dabei die Hand immer in der Nähe des Griffes seiner schweren Blasterpistole hatte, was bei ihm aber völlig natürlich wirkte und daher kaum auffiel.
Den Prätorianern jedoch, die auf so etwas achtzugeben ausgebildet waren, fiel es auf. Doch sie wurden augenblicklich von der KI darüber informiert, dass die Besucher überprüft und klassifiziert worden waren, was jedem Posten als ein grünliches Holo um die Personen herum in ihre jeweiligen Brillen, Sichtscheiben und Bildschirme eingeblendet wurde. Dennoch wären sie nicht Prätorianer gewesen, wenn sie sich damit zufriedengegeben hätten. Aufmerksam wurde der Marsch der beiden durch die Gänge des Capitols verfolgt. Auch wenn sie an keiner Stelle auch nur für eine Sekunde aufgehalten wurden.
Wie durch Zauberhand öffneten sich versteckte Türen, die Abkürzungen ermöglichten. Oder auch, dass ihre Anwesenheit nicht von zu vielen bemerkt wurde.
„Weißt du wirklich nicht, an wen wir melden müssen?“, fragte Hiro mit leiser Stimme.
„Zum hundertsten Mal. – Nein!“ Francine war nicht wirklich genervt, verstand auch, warum Hiro fragte, doch nur der Tribun hatte gewusst, wem er melden musste.
Der Codezylinder war nur für den Notfall gedacht gewesen. Der leider nun auch eingetreten war. Und daher war es nicht erstaunlich, dass Hiro dauernd fragte. Sie, als stellvertretende Teamführerin, sollte es eigentlich wissen. Doch dem war nicht so. Und daher verstand sie Hiro. Sie hätte auch dauernd gefragt …
„Das wird hier immer nobler“, stellte er nun leise fest. Und auch Francine merkte, dass sie nun im Palastbereich des Capitols waren.
Der Richtungspfeil im Sichtfeld der Brille zeigte nun nach links. Als sie um die Ecke bogen, folgten sie einem kurzen Gang, der auf eine Tür zuführte, die sich automatisch öffnete. Dahinter war ein kleiner, aber behaglich ausgestatteter Besprechungsraum. Ein paar sehr komfortable Massagesessel gruppierten sich um einen kleinen Tisch.
Hinter ihnen schloss sich die Tür und Francine stellte fest, dass es noch eine Tür gab. Automatisch wählten sie ihre Sessel so, dass sie beide Türen im Auge behalten konnten.
Als die Tür aufging, durch die sie den Raum betreten hatten, hatten beide ihre Hand automatisch ganz nah am Blaster. Doch es kam nur ein Servicedroide rein, der ein Tablett mit Erfrischungen und ein paar Knabbereien brachte und gleich wieder verschwand.
Hiro griff sich ein paar der „Knabbereien“ und stellte fest: „Ofenfrisches Baguette mit Meersalzbutter und Kaviar …“ Er biss hinein und stopfte den Rest gleich nach. „Und guter dazu …“, kam es mit vollem Mund. „Muss ein höheres Tier sein, dem wir das Desaster melden.“
Francine blickte den kleinen Mann nur an, dem man, wenn man ihn so fressen sah, denn essen konnte man das nicht nennen, nie zutrauen würde, dass er zwei Doktortitel in Kybernetik und IT hatte. Er war der Information-Warfare-Experte des Teams gewesen.
Sie selbst war der Nachrichtenoffizier des Teams. Das erklärte aus ihrer Sicht, warum sie noch lebten. Denn sie waren außerhalb des Ziels gewesen, als alles schiefging. Die Tür öffnete sich und ließ beide augenblicklich aus den Sesseln hochschießen und Haltung annehmen.
„Ave, Imperator!“, sagte zumindest Francine, als sie beide mit erhobenem rechten Arm Julius Maximilianus grüßten. Hiro versuchte lediglich so schnell und unauffällig wie möglich das Baguettestück hinunter zu würgen, was ihm nicht recht gelang.
„Bitte behaltet Platz.“ Er setzte sich selbst den beiden gegenüber, während Francine irritiert nach einem Leibwächter suchte. Es kam aber keiner. Julius, der den Blick bemerkt hatte, beugte sich vor, schob den Teller mit „Knabbereien“ lächelnd in Richtung Hiro, der knallrot wurde, und sagte zu Francine: „Zenturio. Wir sind alleine, weil das, womit ich Tribun Dupont beauftragt hatte, keine weiteren Zeugen braucht.“ Er presste die Lippen aufeinander. „Ich nehme an, dass er tot ist. Sonst wärst du nicht hier.“ Er blickte sie fragend an.
„Imperator. Du hast recht. Wir sind die einzigen Überlebenden. Doch – wir waren wohl erfolgreich. Das hoffe ich zumindest. Ich habe einen Datenkristall für – dich wohl, wie mir scheint.“ Sie hatte kurz gezögert und dann in ihre Tasche gegriffen und einen kleinen Datenkristall herausgeholt, den sie dem Imperator reichte.
Julius nahm den Kristall mit zusammengepressten Lippen entgegen und lehnte sich dann, den Kristall zwischen den Fingern drehend, in den Sessel zurück.
Sofort begann dieser mit seiner Massagefunktion. Überrascht stellte sie fest, dass der Imperator Tränen in den Augenwinkeln hatte, als er sie einen Augenblick später direkt ansah. Er steckte dabei blind den Kristall in einen Datenslot in der Sesselarmlehne und die ihnen bekannte KI meldete sich: „Soll ich abspielen?“
„Ja, Capitol. Tu das bitte.“
„Sofort. Es ist ein kurzes Video. Mehr nicht. – Ich spiele es ab.“
„Für alle, bitte“, wies der Imperator an.
Sofort erschien für jeden im Raum ein Hologramm, das das Video vor seinen Augen abspielte. Hätte jemand eine VR-Brille aufgehabt, wäre das Video dorthin projiziert worden.
Man sah von erhöhter Position, wie jemand genau unter der Kamera auf einen Thron zuging, auf der Sitzfläche zwei Datenkristalle niederlegte und diese dann mit etwas einsprühte, bevor er wieder ging. Dann fiel der Fokus kurz auf etwas hinter dem Thron an der Wand. Die Kamera bewegte sich auf das Etwas zu und fokussierte es in der Dunkelheit. Schaltete dann einen Restlichtverstärker hinzu, sodass das Etwas als ein junges Mädchen erkennbar wurde, das dort halb nackt angekettet war und schlief.
Die Kamera rührte sich nicht. Dann sah man eine Dolchklinge, die sich kurz und schnell über den Hals des Mädchens bewegte, das sich noch nicht einmal rührte, als es starb.
Dann sagte der Kameraträger, den man die ganze Zeit nicht gesehen hatte: „Auftrag ausgeführt! – Melden uns ab.“ Dann richtete sich die Kamera auf den Eingang des Raumes, auf den der Träger der Kamera nun zuhielt. Rechts und links davon lagen zwei tote Wachen. Und zwei weitere Schatten glitten ins Licht, das durch die sich öffnende Tür fiel, und sicherten nach außen hin. Offensichtlich Teammitglieder des Kameraträgers. Dann brach die Sendung ab. Die Holos verschwanden und Francine sowie Hiro blickten etwas unschlüssig zum Imperator. Es war ihnen deutlich anzusehen, dass sie damit nicht gerechnet hatten und nun befürchteten, dass es ein Donnerwetter hagelte. Doch sie wurden enttäuscht.
„Wisst ihr, worum es ging?“
„Wir sollten dem Sultan eine Nachricht überbringen. Und dafür sorgen, dass die römischen Bürger nicht weiter leiden müssen, die dort gefangen gehalten wurden.“ Francine sagte das mit selbstbewusster Stimme. Auch wenn man ihr deutlich ansah, dass sie es nicht mehr war.
„Und das war alles, was aus dem Topkapi-Palast übermittelt wurde?“
„Jawohl, Imperator. Mehr wurde nicht gesendet. – Oder besser: Mehr konnte ich nicht empfangen, bevor die Datenübertragungen der Kameraden abrissen. Keine andere Sendung wurde zur Weitergabe übermittelt, bevor es dann die Explosion unter der Kaserne der Palastgarde gab.“ Optio Hiro Towada sagte das mit absoluter Sicherheit, sodass Julius sofort von weiteren diesbezüglichen Fragen absah.
Er schloss ein paar Minuten die Augen und rührte sich nicht. Beide Commandos warteten einfach nur ab. Was sollten sie sonst tun?
„Erzählt mir von der Nacht“, forderte der Imperator leise und blickte Francine ruhig an. „Ich möchte alles wissen. Jede Einzelheit. Lass nichts aus. Ich möchte wissen, wie Joshua und die anderen gestorben sind. Ich will wissen, ob es das wert war.“
Francine straffte die Schultern und wagte zu sagen: „Du hast uns doch beauftragt. Du solltest doch wissen, ob es das wert war.“
Julius schaute sie traurig an und sagte: „Mir war bewusst, dass ich den Folgen einer notwendigen Entscheidung ein paar weitere gute Leute hinterherwerfen würde. Das wart ihr. Es war mir klar, dass die Aussicht, das Maximalziel zu erreichen, minimal war. Und wenn, dass ihr dabei sehr wahrscheinlich getötet werden würdet. Ich war bereit, euch zu opfern, damit ein paar andere erlöst werden konnten. Und der, der ihr Leiden verursacht hat, nun weiß, dass man ihn auch hätte erreichen können. Ich wollte ihm diese Botschaft überbringen. Dazu hatte ich euch losgeschickt.“
„Um ihm zwei Datenkristalle auf den Thron zu legen?“, fragte der Optio fast ungläubig.
Julius lächelte bloß. „Nur einer war von mir.“
„Und der andere?“ Francine blickte verständnislos.
„Der andere Kristall war wohl von jemandem, der das auch sehr persönlich genommen hat.“ Er schüttelte leicht den Kopf. „Ich werde wohl mit ihr reden müssen …“
Die beiden Commandos wussten zwar nicht, wer diese sie war, doch irgendwie hatten sie den deutlichen Eindruck, dass diejenige nicht unbedingt mit Ärger zu rechnen hatte.
„Manchmal sind solche subtileren Nachrichten besser geeignet, nachdenklich zu stimmen, als eine Flotte im Orbit. Manchmal regt eine solche Botschaft eher zum Umdenken an als ein direkter Schlag, der sehr wahrscheinlich gar nicht geglückt wäre.“
Julius dachte wieder kurz nach.
„Und jetzt berichte mir alles. Vom Tag an, als ihr auf Mekka gelandet seid.“
„Das kann aber dauern …“, wagte Francine zu einzuwenden.
„Ich nehme mir die Zeit. Das bin ich euch allen schuldig.“
Francine schaute dem Imperator in die Augen und wusste, dass es die Opfer wert gewesen war. Denn sie sah, dass er litt. Niemals hätte sie gedacht, dass der Imperator, das Oberhaupt von über 7 Milliarden Römern und weiteren 15 Milliarden Bürgern, die von Rom abhängig waren, darunter litt, was er Einzelnen davon antat. Oder auch antun musste.
Joshua hatte recht gehabt, als er vor Beginn seiner letzten Mission gesagt hatte, dass es für das Ideal Roms wahrlich wert wäre zu sterben. Er hatte es lächelnd und ernst zugleich gesagt. Und nun wusste Francine auch, warum. Sie glaubte nun auch daran. Fest sogar.
Und so begann sie dem Imperator, ihrem Imperator, davon zu berichten, wie, wobei, wann und wo ihre Kameraden gefallen waren, als sie ihr Leben für Rom gegeben hatten. Dabei sah sie vor ihrem inneren Auge das alte Zitat von Horaz, das in den Giebel der Marshalle eingehauen war: „Dulce et decorum est pro patria mori.“
IMPERIUM KARTE

Römisches Imperium, Transfersystem Templesea-Salomon, JP Templesea, an Bord SDS-DD-69 Patton, 18.07.2481 13:40 GST
Die Patton, ein System-Combat-Zerstörer der Mars-Klasse, glitt hinter dem Jump Point von Templesea in Position und wartete fast treibend darauf, dass seine Transportmöglichkeit nach Salomon und dann weiter über Nirwana und Eden nach Nizza ankam, wo der angeschlagene Zerstörer instandgesetzt und grundüberholt werden sollte.
Die Patton war Teil eines Sicherungsverbandes gewesen, der die zum unerforschten Raum hin offene Flanke des Imperiums und des Outer-Rim-Paktes überwachen sollte. Dabei war der Zerstörer vor vier Wochen durch eine Kollision mit einem mittleren Asteroiden, der urplötzlich aus dem Ortungsschatten eines viel größeren Brockens heraus gedriftet war und den Zerstörer steuerbord am Bug erwischt hatte, stark beschädigt worden. Fünfzehn Tote und zweiundzwanzig Verletzte waren das Resultat der Übung gewesen, die eigentlich das Ziel gehabt hatte, einen Asteroidengürtel unter Gefechtsbedingungen zu durchstoßen. Jetzt war die Patton nur noch bedingt einsatzbereit und der Befehlshaber des Sicherungsverbandes Task Force 6.6 hatte entschieden, den Zerstörer zurückzuschicken, da er mit den Mitteln des Tenders der Task Force nicht mehr zu reparieren gewesen war.
Die Patton hatte bei der Kollision fast die Hälfte ihrer Raketenrohre eingebüßt. Entweder weil sie direkt zerstört worden waren oder dadurch, dass strukturelle Schäden die anderen so in Mitleidenschaft gezogen hatten, dass diese unbrauchbar geworden waren. Auch war einer der vier Turbolaserzwillingstürme, eben der an Steuerbord, abgerissen und das Massegeschütz steuerbord war an der Mündung verbogen worden. Alles Schäden, die ein Werkstattteam eines Flottentenders nicht beheben konnte. Für die es auch keine Ersatzteile gab. Ergo hatte der Kommodore entschieden, die Patton zurückzuschicken. Mit Minimalbesatzung.
Dadurch konnte er mit den restlichen drei Zerstörerbesatzungen seiner zugeteilten Halbflottille einen turnusmäßigen Landgang organisieren, ohne die nun freien Besatzungsteile zu verlieren. Bekanntlich schluckte die stark anwachsende Flotte alles Personal, was auch nur zwei Minuten lang untätig rumstand. Dem hatte der altgediente Task Force Commander vorgebeugt – zumal abzusehen war, dass die Werftzeit des Zerstörers mehr als drei Monate betragen würde.
Der kommissarische Kommandant des Zerstörers war der dafür extra ernannte ehemalige taktische Offizier im Stab des Task Force Commanders, der zum Ersten Offizier des Zerstörers ernannt worden war. Da der schwer beschädigte Zerstörer raumtauglich, aber nicht gefechtsbereit war, hatte der Kommodore entschieden, unter einer sehr eigenwilligen Auslegung der Vorschriften, andere sprachen von extrem gedehnt, dass für die Überführung unter Minimalbesatzung auch nur minimale Präsenz von Offizieren nötig wäre. Und da besagter taktische Offizier die letzten 27 Monate damit verbracht hatte, Flottenerfahrung in verschiedenen Positionen zu sammeln, die ihn auf weiterführende Verwendungen besser vorbereiten sollten, hatte sich der Kommodore gedacht, dass diese Erfahrung als Überführungskommandant nur nützlich sein konnte, zumal das Ende der Flottendienstzeit des Burschen sowieso anstand.
Er hatte sich gut gehalten, alles anständig erledigt, eine Menge mehr gelernt als er auch unter den optimistischsten Erwartungen gedacht hatte und – das hatte dann den Ausschlag gegeben – er hatte den Jungen gemocht, der jetzt mit dem Rangabzeichen eines Zenturios auf Probe das Kommando über die Patton und ihre 70 Mann Restbesatzung hatte. Landratte hin oder her. In den über zwei Jahren war aus dem Schlammhüpfer ein brauchbarer Matrose geworden.
Der junge kommissarische Kommandant allerdings sah das etwas anders. Er sah in der angeschlagenen Patton kein waidwundes Schiff, das in den sicheren Hafen kroch, sondern ein Schiff, das noch genügend Restkampfkraft hatte, um als vollwertiges Kriegsschiff angesehen zu werden. Daher überraschte es keinen an Bord, der ihn kannte, dass immer noch alle Bordroutinen eisern befolgt wurden. Auch die Waffenstationen bemannt waren und seit zwei Wochen auch Übungen gefahren wurden, die darauf abzielten, mit eben der Restbesatzung die unterschiedlichsten Szenarios zu meistern. Inklusive von Gefechtsübungen, die mit den bis auf eine Salve entladenen Raketenmagazinen theoretisch spielten, wie das der Kommandant nannte. Da auch die Energie- und Projektilbewaffnung der Patton stark eingeschränkt war, waren diese „Spiele“ mehr als fordernd, zumal er der Schiffs-KI erlaubt hatte, weiter mit realen Piraten-, Raider- und Islamistenschiffen zu agieren. Mit deren üblicher Taktik, was zwar löblich, aber der Kampfkraft der Patton nun wirklich nicht angemessen gewesen war. Dennoch musste selbst der skeptischste Dekurio zugeben, dass sie sich enorm verbesset hatten. Die Patton war wirklich wieder zu so einer Art Kampfschiff geworden. Ein Kampfschiff, das durchaus ein oder zwei Scimitars gefährlich werden konnte. Nur traten diese meist im Zahlenbereich Dutzende auf …
„Fluktuationen im Jump Point“, meldete die Ortung.
„Danke. – Ruder: Bereithalten zur maximalen Beschleunigung.“ Die Kommandos kamen ruhig.
„Jawohl, Zenturio“, bestätigte der ergraute Senior-Dekurio am Ruder, der mit seiner Erfahrung dem jungen Kommandanten zur Hand gehen sollte. Doch bisher hatte sich dieser alles andere als wirklich unerfahren gezeigt. Oder gar inkompetent. Sicher. Es gab da ein paar Punkte, an denen man feilen konnte und wohl auch sollte. Doch als so junger Offizier hielt er sich geradezu anormal gut. Er wartete ständig darauf, dass der Zenturio mal so wirklich in die Scheiße griff. Aber das war bisher ausgeblieben. So lächelte der Senior-Dekurio vor sich hin und wartete auf das Auftauchen des angekündigten Transportträgers, der sie bis nach Nirwana mitnehmen sollte.
„Sprungsignatur direkt voraus 623,6 Kiloklicks“, meldete die Ortung.
„IFF meldet Hanse-Transportträger Duvallier der Sato-Reederei auf Rom. Antriebssignatur stimmt mit unseren Daten überein.“
„Danke. – Ruder: Beschleunigung jetzt!“
Die Patton machte einen Satz und hing dem mit 0,24 c aus dem Jump Point brechenden Schiff fast schon an den Schubdüsen.
„Signal: Melde unsere Ankunft in 45 Sekunden an ihrer Backbordseite und frage nach, ob wir in Halterung 4 können.“
„Jawohl, Zenturio“, bestätigte der Signaldekurio den Befehl und nahm sofort Kontakt zur Duvallier auf.
„Der Kapitän, Zenturio …“, meldete er und das Bild des Handelskapitäns der Duvallier tauchte auf dem Hauptschirm auf.
„Hier ist die Patton. Willkommen im System, Kapitän.“ Der Zenturio grinste in die HoloCam, während der Kapitän nicht wusste, ob er erleichtert oder böse dreinschauen sollte. Er entschied sich, gutmütig zu sein.
„Schön zu sehen, dass unsere Jugend noch weiß, wie man sich am Jump Point in Hinterhalte legen kann. Sei froh, dass ich nicht mehr einen alten Kilo kommandiere, sonst hätte ich dich jetzt weggeblasen. Aus reiner Vorsicht, versteht sich …“
„Da bin ich aber froh, dass du keinen Kilo hierhergebracht hast, sonst hätte ich dich für einen Islamisten gehalten und zuerst weggeblasen.“
Der Kapitän lachte lauthals. „So ist es recht, Junge. Dazu seid ihr schließlich hier draußen. Und jetzt leg an. Halterung 4 ist schon vorbereitet. Da könnt ihr notfalls auch sofort nach vorne raus wieder abschwirren.“
„Aber nicht doch, Kapitän. Das hört sich so an, dass du uns da dauerhaft festmachen willst. Doch ich beabsichtige, während des Transfers An- und Ablegeübungen zu machen.“
„Mit diesen Schiffsschäden“, fragte der Kapitän überrascht.
„Die Patton mag angekratzt sein, doch ist sie immer noch ein imperiales Kriegsschiff, das einsatzbereit ist.“
„Einsatzbereit“, echote der Kapitän und lachte wieder. „Bei allen Göttern der dunklen Nacht! Ich mag deine Einstellung. Aber wenn du mir auch nur eine Delle in mein Schiff schlägst, dann schieß ich dich und deine Patton ab. Und wenn ich dazu mit meiner Jagdflinte aus der Personalschleuse rausschießen muss.“
„Na, ich hoffe doch, dass dir die Imperial Roman Hanse etwas mehr mitgegeben hat als nur das.“
„Das schon, Zenturio. Doch wäre das für dein ach so einsatzbereites Schiff Munitionsverschwendung.“ Er lachte wieder.
„Wir legen an. Patton aus“, sagte der Zenturio, trennte die Verbindung und gab dem ihn aus den Augenwinkeln beobachtenden Ruderdekurio ein Zeichen, dass er anlegen sollte.
„Jawohl, Zenturio. Halterung 4. Verstanden.“
Der Zenturio grinste vor sich hin. Die Patton mochte wirklich nicht mehr allzu schön aussehen. Doch war sie wirklich noch kein Opfer.
Ein paar Tage und gut ein Dutzend An- und Ablegemanöver später näherten sie sich mit 0,43 c dem Jump Point nach Salomon. Der Kommandant der Patton saß in seinem Kommandosessel und ging ein paar Routinen durch und machte Hausaufgaben, wie er es im Stillen nannte.
Der Senior-Dekurio am Ruder hatte ihn gebeten, sich das ein oder andere anzusehen. Und da der Zenturio Befehl hatte, sich das, was der Senior-Dekurio meinte, dass er sich anzusehen hatte, auch ansehen sollte, tat er das. Mitunter war es schon erstaunlich, was man alles herausfand, wenn man sich die auch noch so unwichtig erscheinenden Details ansah. Daher war er eher gespannt darauf, was der Senior-Dekurio Portus Field ihm so alles brachte, als böse zu sein, wieder „Hausaufgaben“ zu bekommen.
„Signal von der Duvallier, Zenturio!“
„Auf den Hauptschirm, Signal.“ Er wandte sich etwas überrascht an den sich dort besorgt zeigenden Kapitän. „Kapitän Howard. Was gibt es?“
„Junge. Ich glaub, dass wir Ärger bekommen.“
Der junge Zenturio, den es nicht störte, von dem über neunzigjährigen Mann mit „Junge“ angesprochen zu werden, kontrollierte mit einem Blick seine Statusschirme um den Kommandosessel herum: Entfernung zum Jump Point war 32 Lichtminuten oder noch etwas über 80 Minuten Flugzeit bis zum Sprung. Der Raum um die Duvallier war fast leer. Lediglich ein vor einer Stunde aus dem Jump Point kommender Frachter kam direkt auf sie zu und beschleunigte seinerseits zum Jump Point nach Templesea. Also alles normal, zumal sich der Frachter vor einer Viertelstunde selbst als Merchantman-Frachter Trading Star identifiziert hatte. Ein Schiff unter der Flagge der Reederei Yao & Fukima von Byzanz.
„Inwieweit, Kapitän?“, fragte er neugierig.
„Zenturio, ich traue dem Braten nicht. Ich kenne die Trading Star und auch ihren Kapitän Wei, der da eigentlich das Kommando haben sollte. Hat er aber nicht.“
„Der kann gewechselt haben, oder?“
„Er hält aber mit seiner Familie fünfzehn Prozent der Schiffsanteile …“
„Oh“, war alles, was der Zenturio dazu zu sagen hatte. Er wusste, wie jeder in der Flotte, dass Minderanteilseigner von Schiffen so gut wie immer auch die Besatzung stellten und zumindest als Kapitän mitfuhren. Das schien hier nun anders zu sein.
„Hast du das überprüft?“
„Warum ruf ich wohl durch? – Klar hab ich das. Die behaupten, dass Wei zurückgetreten wäre und ein anderes Familienmitglied auf Templesea das Kommando übernehmen würde.“
„Und?“
„Wei hat seine gesamte Familie außerhalb des Schiffes auf Karthago verloren. Wenn er also zurücktreten würde, dann würde wohl seine Nichte Joan das Schiff übernehmen, die dort als 2. Offizier mitfährt.“
Jetzt verengten sich die Augen des jungen Kommandanten zu schmalen Schlitzen, als er blitzschnell die Möglichkeiten durchspielte, die sich daraus ergeben mochten.
„Ganz sicher?“
„Definitiv, mein Junge.“ Der Kapitän blickte ihn ernst an. „Außerdem hat das Schiff dort auch ein paar Ausbuchtungen, die so gar nicht passen wollen. Nicht seit ich das Schiff zum letzten Mal in der Ortung hatte,“
„Entlang der Rumpflängsachse und dem Bug?“
Er lächelte schon fast wölfisch.
„Genau. Und es scheint ein paar zusätzliche Schlepper außen mitzuführen.“
„Sind die vielleicht auch ‚anders‘?“
„Kann ich nicht sagen, Junge. Wir sind noch zu weit weg und die gegenseitige relative Annäherungsgeschwindigkeit von fast 0,65 c verzerrt unsere Ortung. Wir haben schließlich keine Militärsensoren an Bord …“
„Hmm. Und unsere sind im Bugbereich auch ein wenig demoliert. Zumindest die Fernsensoren.“ Er wirkte nachdenklich. „Wenn das ein Q-Schiff der Islamisten ist, dann wäre das hier ideal positioniert. Es könnte jederzeit durch den dritten Jump Point in den unerforschten Raum, ins Outback, ausweichen und dort über Nebenstrecken sonst wohin verschwinden und wieder auftauchen.“
Der Kapitän nickte nur. Das sogenannte Outback war alles andere als unerforscht. Nur war es nicht offiziell besiedelt. Es gab dort draußen Koloniestationen, kleinere Ansiedlungen von Minenkonzernen und andere Nester von Individualisten und Abenteurern, die dort das große Glück suchten. Das Imperial Explorer Corps hatte dort schon viele neue Sprungpunkte kartografiert. Nicht zuletzt war es auch der neuen Politik des Imperiums geschuldet, sich näher mit dem zu befassen, was hinter der jenseitigen Grenze des Imperiums zum offenen Raum hin lag. Es war ja nun nicht so, dass die Ellipse der ehemaligen Terranischen Hegemonie alles war, was es gab. Wer immer wollte und genug Zeit mitbrachte, konnte den erforschten Raum über andere Wege komplett umrunden. Es hatte sich allerdings eingebürgert, das nicht zu tun. Denn wenn der Sprungantrieb ausfiel, dann konnten verdammt viele Jahre vergehen, bis mal wieder einer vorbeikam. Oder auch nie, wenn man zu weit draußen war …
Doch für Piraten war es das Paradies schlechthin. Beute wurde in den Randbereichen des kolonialisierten Raumes gemacht und dann in den wo auch immer befindlichen Stützpunkt in die wenig kartografierten und unbesiedelten Bereiche hinter den Outer Rim gebracht. Dort ausgeladen, zerlegt und verschachert. Auch an inoffizielle Händler und Aufkäufer mit wenig Gewissen, aber exorbitanter Gewinnerwartung. Selbst die Besatzungen verschwanden dort als Sklaven in unbekannte Minenkolonien. Und daher war das Transfersystem Solomon-Templesea als fast ideal zu bezeichnen, wenn es um die Absichten dieser Banden ging. Auch als Tarnung für Islamisten, die vorgaben, Piraten zu sein, und ganz andere Absichten hatten. Zum Beispiel die, dort Basen einzurichten, die dann als Ausgangspunkte für Operationen in den weichen, weil fast Mars-SCS-