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KOBE
BRYANT

DER BESTE DER NBA

ROLAND LAZENBY

Aus dem Englischen von
Robert Steiner und Alison Flint Steiner

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Impressum

© 2016 by Full Court Press, Inc.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel „SHOWBOAT“ im Oktober 2016 bei Little, Brown and Company, New York.

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© der deutschsprachigen Ausgabe:

egoth verlag GmbH, 2020

Untere Weißgerberstr. 63, A-1030 Wien

ISBN: 978-3-903183-40-7

ISBN E-Book: 978-3-903183-81-0

Übersetzung aus dem Englischen: Alison Flint-Steiner und Robert Steiner

Lektorat: Lisa Krenmayr

Grafische Gestaltung und Satz: Dipl. Ing. (FH) Ing. Clemens Toscani

Coverbild: Larry W. Smith / EPA / picturedesk.com

Printed in the EU

Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Rechteinhabers.

1. Auflage im September 2020

Gewidmet Schwarz und Weiß und all den
wunderbaren Schattierungen dazwischen
sowie Ella Mae Austin und Roger Davis, Doc Foster und
Estella Hampton und allen,
die uns so viele wertvolle Lektionen auf so viele verschiedene
Arten lehren,
sowie meiner wunderbaren, jahrelangen
Wegbegleiterin Karen, die nicht mit Gold
aufzuwiegen ist,
und meinen Kindern Jenna, Henry und Morgan sowie
meinen Enkelsöhne Liam und Aiden.
In liebender Erinnerung an Jeanie Lazenby Masten.

Inhalt

VORWORT: ONLY THE LONELY

Teil 1: JELLYBEAN

DIE FESTNAHME

VATERSCHAFT

SPASS AM SPIEL

PAM UND JELLY

DAS BOMBEN-KOMMANDO

Teil 2: WUNDERKIND

KOBE BEAN

DER HOFNARR

ITALIA

DAS ROTE FAHRRAD

LOWER MERION

THE VIBE

Teil 3: DER AUSERWÄHLTE

SUMMER LOVE

DER AUFSTIEG

EIN BÖSER, BÖSER JUNGE

ALLES FÜGT SICH ZUSAMMEN

TEAM BRYANT

ZU DEN STARS

Teil 4: CALIFORNIA STARS

PACIFIC PALISADES

DAS MÄRCHEN GEHT WEITER

CHAOS-THEORIE

CALIFORNIA STARS

HOCHZEITSGLOCKEN UND ANDERE SCHWIERIGKEITEN

GEBROCHENE KNÖCHEL, ZERBROCHENE HERZEN

Teil 5: MAMBA

ROCKY MOUNTAINS

DER SCHADEN

AUFSTIEG

VERMÄCHTNIS

DER BOSS

NACHRUF

DANKSAGUNG

DER AUTOR

Anfangs kam er als lebenslustiger Junge rüber. Doch das war er nicht. Kobe Bean Bryant musste immer hart arbeiten, um zu zeigen, dass ihm nichts und niemand etwas anhaben konnte. Speziell in seiner allerersten Saison in der NBA.

Damals, im Dezember 1996, war ich live dabei im Charlotte Coliseum, als er seinen ersten Wurf des Spiels – einen Dreipunkter – verwertete.

Nach dem Spiel tänzelte er gut gelaunt in die Umkleidekabine und klatschte mit mir ab. Er wusste gar nicht, wer ich war. Nur wieder so ein Typ mit einem Notizbuch und einem Diktiergerät. Doch er war begierig darauf, sich der Welt zu zeigen.

Etwas später in der Saison saß ich zusammen mit ihm in einem leeren Umkleideraum in Cleveland, während er auf seinen Auftritt beim Slam Dunk-Wettbewerb anlässlich des 50jährigen Jubiläums des NBA AllStar-Wochenendes wartete und die Zeit bis dahin totschlagen musste.

Wir sprachen über seine Rolle als das Gesicht einer Generation neuer Talente, die es in die NBA geschafft hatte – eine sehr junge Generation. Es war sogar die jüngste Gruppe an Spielern, die es jemals in die Topliga geschafft hatte. Er sprach über die Schwierigkeiten, Erwartungen, Risiken und die vielen Versuchungen, die auf einen erst 18-jährigen Spieler in dem Moloch, der sich Los Angeles nennt, lauerten.

Er erzählte, welchen Einfluss es auf ihn – einen damals 13-Jährigen – gehabt hatte, als Magic Johnson 1991 mit seiner HIVInfektion an die Öffentlichkeit trat und wie er später selbst alle Versuchungen mied, die Johnson nach eigener Aussage dazu verleitet hatten, mit drei- bis fünfhundert Partnern im Jahr Sex zu haben.

„Für mich ist das recht einfach“, meinte Bryant damals zu mir, „es gibt nämlich so viele Dinge in meinem Leben, die ich erreichen möchte.“

Nur ein paar Minuten später stand er auf und verließ die Kabine und unser tiefsinniges Gespräch und gewann den Slam Dunk-Wettbewerb mit einer meisterlichen Vorstellung. Ein Sieg, der seinen schon damals brennenden Ehrgeiz noch weiter anheizte.

Im Jahr darauf wurde er als Starter ins All-Star-Team gewählt, obwohl er bei den Lakers die meiste Zeit nur von der Bank aus zum Einsatz gekommen war. Dem folgte eine durchwachsene Saison, in welcher Lakers-Besitzer Jerry Buss ein Team mit Riesentalenten, bei dem jedoch nichts zusammenzulaufen schien, auseinanderbrach. Mitten in diesem Chaos in seiner dritten Saison wirkte der 21jährige Bryant recht verloren, einsam und frustriert.

„Ich will einfach der Superstar sein“, erzählte er mir und bestätigte damit wieder seine Ambitionen, zum besten Spieler der NBA zu avancieren. „Ich weiß nur nicht, wie ich es schaffen soll. Ich muss einfach einen Weg finden.“ Und das tat er, obwohl dieses Ziel damals fast unerreichbar schien. Im Jahr 2016, gegen Ende seiner aktiven Karriere, konnte Bryant auf die Statistik von 20 Saisonen zurückblicken und sagen, dass er sich einen Platz am Tisch mit den Größten dieses Sports verdient hatte. Ein Jahr zuvor hatte er sein großes Idol Michael Jordan von Platz drei der ewigen Bestenliste der NBA-Topscorer verdrängt und lag nun direkt hinter Kareem Abdul-Jabbar und Karl Malone. Was aber noch wichtiger war, war die Tatsache, dass er den Lakers zu fünf NBA-Titeln verholfen hatte, 18 Teilnahmen im All-Star-Team verzeichnen konnte und zwei olympische Goldmedaillen gewonnen hatte.

Doch an diesem Abend in Cleveland meinte er, dass er nicht wüsste, wie er es an die Spitze schaffen sollte, und so gab er sich selbst eine Antwort auf diese Frage, die er wahrscheinlich bereits die ganze Zeit über gekannt hatte. Er würde sich seinen Weg an die Spitze hart erarbeiten müssen. Das würde ihm auch gelingen und ihn zu einem der dominantesten Spieler machen, da er einfach härter arbeitete als alle anderen. Die Stationen seiner Karriere – bis heute unerreichte 20 Jahre bei einem einzigen NBA-Team – zeigen, dass Bryant, unnahbar und unnachgiebig, genial und voller Selbstvertrauen sowie eines der faszinierendsten Rätsel im amerikanischen Profibasketball ist. Er ist wahrscheinlich der am meisten getriebene Athlet in der Geschichte dieses Sports, jemand der sich über viele Saisonen hinweg unter Insidern dieses Sports einen Ruf für das minutiöse Studium von Gegnern und die intensive Vorbereitung aufbaute. Jemand, der jedes noch so kleine Detail genau analysierte. Im Gegenzug produzierte sein Leben Konflikte wie am Laufband – eine Nebenerscheinung seines Strebens, der Beste des Sports zu sein.

Abend für Abend, Tag für Tag, zwei Jahrzehnte lang, durch Verletzungstiefs und private Turbulenzen, durch zerbrochene Beziehungen – es gab keinen Preis, den er nicht zu zahlen bereit gewesen wäre, um der Größte zu sein.

Dabei wurde er zu dem, was man ihm immer wieder nachsagen würde: dem am meisten polarisierenden Spieler der NBA, unter Basketballfans gleichermaßen geliebt und verhasst. Schon als Kind begann sein Vater, der ehemalige NBA-Spieler Joe „Jellybean“ Bryant, ihm übermäßiges Selbstvertrauen einzuimpfen. Und das sollte auch zu seinem Markenzeichen werden.

Dieser undurchdringliche, unerschütterliche Glaube an sich selbst war die eine Eigenschaft, mit welcher Bryant all seine Zeitgenossen um ein Vielfaches überragte, sagt der Psychologe George Mumford, der ausgiebig mit Michael Jordan und Bryant zusammenarbeitete. „Das ist es, was ihn zu einer Klasse für sich macht.“ Der Grund dafür, dass dieses Selbstbewusstsein so unerschütterlich war, lag darin, dass Bryant nichts an sich heranließ, was es ankratzen hätte können, erklärt Mumford. „Er setzte sich nie mit Ansichten auseinander, die den seinen nicht entsprachen.“

Das half Bryant vor allem in seinen ersten Jahren in der NBA, Probleme zu bewältigen, half ihm durch seine Auseinandersetzungen mit Mitspielern und Trainern, durch die Vergewaltigungsvorwürfe 2003, durch die Probleme mit und die Entfremdung von seinen Eltern und später, als er sich immer wieder von schweren Verletzungen zurückkämpfte. Dieses Selbstvertrauen war auch die Basis für sein 81-Punkte-Spiel, seine unzähligen Würfe, die das Match zugunsten der Lakers entschieden, seine MVP-Auftritte und dass er nie ein schlechtes Gewissen gegenüber seinen Mitspielern hatte, auch wenn er wieder die meisten Würfe im Spiel verzeichnete. Es war auch der Grund, warum es sich Bryant während seiner Karriere zur Gewohnheit machte, auch mit Schmerzen zu spielen, die andere auf die Verletztenliste brachten, sagt Mumford. Dieses Selbstvertrauen war allerdings auch für ein anderes wichtiges Thema in seinem Leben verantwortlich, nämlich die Kluft zwischen ihm und seinem Teamkollegen Shaquille O’Neal, trotz der drei NBA-Meisterschaften, zu denen sie die Lakers gemeinsam von 2000 bis 2002 geführt hatten. Seine Beziehung zu dem hünenhaften Center beschrieb in vielerlei Hinsicht den Spannungsbogen seines von Ehrgeiz geprägten Weges; ein Weg, der Bryant immer wieder neue Konflikte bescherte und fast in jeder Phase seines Lebens präsent war.

„Showboat“ war O’Neals Spitzname für Bryant, als sich dieser als NBA-Neuling immer wieder mit Slam Dunks und seiner Sprungkraft in den Vordergrund schob.

Bryant hasste diesen Spitznamen zutiefst. Er fühlte sich damit zu jemandem degradiert, dem es an Ernsthaftigkeit und Kampfgeist fehlte, ein Vorwurf, der seinem Vater während dessen aktiver Zeit als Basketballprofi oft gemacht worden war. Andererseits steht dieser Spitzname auch für die ungeheure Liebe zu diesem Sport, die Bryant mit seinem Vater teilte und die Freude daran, Basketball zu einer Show zu machen.

„Das lag mir bereits als Kind im Blut, da mein Vater schon Basketball spielte“, erklärte Bryant. „Ich liebte Basketball. Zwar übte ich auch andere Sportarten aus, doch bei keiner hatte ich so viel Spaß wie beim Basketball.“ Als Kind verbrachte Kobe viele Stunden damit, seinem Vater dabei zuzusehen, wie dieser sein Können in der italienischen Liga, in der er nach dem frühzeitigen Ende seiner Profikarriere in Amerika spielte, zum Besten gab.

„Es war großartig zu sehen, wie die Zuseher auf seine Tricks und spielerischen Einlagen sowie seine Persönlichkeit reagierten, wenn er spielte“ erzählte mir Bryant. „Irgendwie wollte auch ich dieses Gefühl kennenlernen. Es war einfach cool, ihn spielen zu sehen. Er war eben Jellybean Bryant.“

Sam Rines, Bryants wichtigster Coach in der Amateur Athletic Union, sah die gleiche brennende Leidenschaft in Joes Teenager Sohn. „Er liebte Basketball, er atmete den Sport regelrecht“, sagt Rines. „Er war ein unglaublicher Showman, wenn es darum ging, das Publikum zu unterhalten.“ Das Alter Ego zu „Showboat“ ist die „Schwarze Mamba“ – ein Spitzname, den sich Bryant selbst gab, um der Kritik der Öffentlichkeit im Zuge der Anschuldigungen wegen sexueller Nötigung entgegenzutreten. Bryant bediente sich dieser tödlichen Schlange aus einem Quentin Tarantino Film, da sie seiner Meinung nach die perfekte Verkörperung seines vermeintlich grenzenlos ehrgeizigen Charakters darstellte.

Später beschrieb er diesen Prozess als das Akzeptieren „des Bösewichts“ als Teil einer äußerst ehrgeizigen Persönlichkeit. Als er in der HBO-Sendung Real Sports mit der Aussage seines früheren Teamkollegen Steve Nash konfrontiert wurde, in der dieser ihn als „verdammtes Arschloch“ bezeichnete, begann er herzlich zu lachen. Die Beschreibung traf es auf den Punkt, gab Bryant zu.

Trotz der Tatsache, dass er dieses Image einer schwierigen, ehrgeizigen Person pflegte, ging er es in der komplett durchwachsenen Saison 2015/16 ruhiger an. In diesem Jahr steckten die Lakers in einer spielerischen Krise und Kobe nutzte die Auswärtsspiele bereits als Abschiedstournee durch die Arenen der Liga. Doch gerade Bryants letztes NBA-Spiel im April 2016 zeigte wieder einmal, wie sehr er diesen Sport und seine Unterhaltungselemente liebte, indem er, der Erschöpfung nahe, noch einmal ein Ausrufezeichen in seiner Karriere setzte und Korb um Korb warf. So erzielte er allein 60 Punkte in diesem Spiel und führte seine Lakers nach einem Rückstand noch einmal zu einem grandiosen Sieg über die Utah Jazz. Oberflächlich betrachtet war dieses Spiel der bedeutungslose Abschluss einer für beide Mannschaften enttäuschenden Saison, in der beide Teams die Playoffs verpasst hatten. Doch die Enttäuschung über die Saison verwandelte sich in diesem Moment wie von Zauberhand in ein Freudenfest der Liebe, welche die Fans in Los Angeles für Bryant und seine Magie auf dem Parkett empfanden.

Lange Zeit war er der Mann in der Stadt gewesen, wenn es um Basketball ging. Mit seinem unglaublichen Können, von dem bereits viel verloren gegangen war, schaffte er es, das finale Kapitel mit einer bühnenreifen Vorstellung zu beenden, sich noch einmal als dieser einzigartige und überwältigende Entertainer in der Stadt, in der schauspielerisches Talent wohl am meisten geschätzt wird, zu präsentieren. Was nun folgt, ist mein Versuch, seine faszinierende Story, die in vielerlei Hinsicht vielleicht auch ein warnendes Beispiel ist, einzufangen.

Bryant, der 2016 zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser Biografie erst 38 Jahre alt ist, hat wahrscheinlich eine erfolgreiche Zukunft nach seiner aktiven Zeit vor sich. Er ist der stolze Besitzer mehrerer Medienunternehmen in der Hoffnung, nach seiner Basketballkarriere eine Laufbahn als Autor oder Produzent einzuschlagen. Doch welchen Weg er auch immer in den kommenden Jahren gehen wird, sein Ehrgeiz, sein Mut sich wichtigen Momenten furchtlos zu stellen und die Verbissenheit, mit der er seine Ziele verfolgt, werden wahrscheinlich weiterhin ein Markenzeichen von ihm bleiben. So hoffe ich, dass er seine neuen Unternehmungen genauso beginnen kann wie damals den Abend in Charlotte, an dem er seinen ersten Korb in der Profiliga warf. Mit Abklatschen und diesen großen leuchtenden Augen, deren Blick in die Zukunft gerichtet war.

Roland Lazenby

August 2016

VORWORT

ONLY THE LONELY

Philadelphia

15. Juni 2001

Alle Zutaten seines Triumphes finden sich hier inmitten dieses klebrig süßen Sprühregens aus teurem Champagner. Es ist das Jahr 2001, in seinen Armen hält er die glitzernde Trophäe der National Basketball Association für den Gewinn der Meisterschaft. Ein Preis, den Kobe Bryant so liebt wie keinen anderen, die ultimative Belohnung für alle zwanghaft ehrgeizigen Athleten und Alphatiere, die sich zu diesem amerikanischen Profisport hingezogen fühlen. Über dem Teamlogo ziert der Schriftzug „Champions“ in gelbgoldenen Lettern die brandneue offizielle Los Angeles Lakers-Basketballkappe auf seinem Kopf.

Obwohl es Juni ist und er sich in einem vor Schweiß dampfenden Umkleideraum befindet, trägt er eine mehrfärbige Lederjacke – eine Spezialanfertigung mit Aufnähern jedes einzelnen der unzähligen Titel des L.A. Franchise – um damit zu zeigen, dass auch er sich nun, im zarten Alter von 22 Jahren, seinen Platz unter all den Größen dieses Teams erspielt hatte.

Er hat auch allen Grund, seinen Blick gen Himmel zu richten und zu lachen und diesen einzigartigen Moment zu genießen, den er an keinem anderen Ort als in Philadelphia, seiner Heimatstadt, erlebte. Bryant hatte den Lakers gerade zu einer 15-1 Siegesserie in den Playoffs verholfen und damit zum zweiten Mal hintereinander den NBA-Championship Titel nach L.A. geholt und das mit 4-1 Siegen in der Finalserie über die Philadelphia 76ers und seinen Erzfeind Allen Iverson.

Man bedenke, dass selbst die ehemalige – von Basketballfans geliebte und verehrte – Lakers-Legende Jerry West nur einen einzigen Titel in seiner 14jährigen Profikarriere holen konnte. Und nun stand ein junger Kobe Bryant bereits mit zwei Titeln hier. Mit Höchstgeschwindigkeit auf der Überholspur unterwegs, um seine Träume und Ziele zu erreichen, jeder große Erfolg nur ein vorbeirauschendes Straßenschild. Kobe wurde in einer Familie groß, die tief im Basketballsport verwurzelt war, in einer Familie, die sowohl ihn als auch die hohen Erwartungen an seinen bevorstehenden Erfolg nährte. Seine Mutter, Pam Cox Bryant, verehrte ihn von klein auf, genauso wie sie es schon Jahre zuvor bei ihren basketballspielenden Brüdern getan hatte. Wie eine enge Freundin der Familie einmal anmerkte, erinnerte sie Kobe Bryants Kindheit an eine alte Episode der TV-Serie The Twilight Zone – Unwahrscheinliche Geschichten, die von einem Kind handelte, das so sehr von seiner eigenen Familie verehrt wurde, dass sie jeden Tag seinen Geburtstag feierten. Doch es wurde kein verwöhntes und verhätscheltes Kind aus ihm wie in der Serie. Das Verhalten seiner Eltern hatte das genaue Gegenteil zur Folge und half ihm dabei, seinen Traum von klein auf zu verfolgen. Seit seinem ersten Erscheinen als Teenager auf öffentlicher Bühne im Jahre 1996 stand Bryant als intelligenter junger Mann in der Öffentlichkeit, höflich und formvollendet, allerdings mit einem Selbstvertrauen, das von einer anderen Welt zu stammen schien und eine beinahe abstoßende Wirkung auf viele hatte. Dieser unerschütterliche Glauben an sich selbst gründete sich teilweise auf die Bemühungen seines Vaters, Joe „Jellybean“ Bryant, das Selbstvertrauen seines Sohnes Schritt für Schritt aufzubauen – nachdem seine eigene, vielversprechende NBA-Karriere in den turbulenten 1970er Jahren vor seinen Augen zerbrochen war.

Seit seiner Jugend war Kobe Bryant ausgesprochen dreist, wenn er meinte, er würde einmal der beste Basketballspieler aller Zeiten werden. Jedes Mal begegnete man dieser Aussage mit Kopfschütteln und hochgezogenen Augenbrauen, denn solch ein Traum ist doch lächerlich und könnte niemals in Erfüllung gehen. Doch da ist er nun am Weg zu Ruhm und Reichtum, wie es einst seine Großmutter prophezeit hatte: nämlich, dass es zumindest ein Familienmitglied einmal dazu bringen werde.

Eigentlich sollte er von Freunden, Familie und Spielern seines alten HighschoolChampionshipTeams umringt sein. Kurz zuvor hatten seine Teamkollegen bei den Lakers die feuchtfröhlichen Feierlichkeiten damit begonnen, die hymnischen Textzeilen des Rappers DMX anzustimmen: „Y’all gon’ make me lose my mind, / Up in here, up in here, / Y’all gon’make me go all out, / Up in here, up in here.“ Diese Worte, die etwa so viel bedeuten wie „Ihr bringt mich alle um den Verstand hier drin, ihr bringt mich dazu, mich wie ein Narr zu benehmen“, sind die Versinnbildlichung von Bryants Leben. Doch anstatt groß mitzufeiern, hat er sich still und heimlich zurückgezogen. Er sitzt in einer sterilen Toilettenkabine des Umkleideraums. Das Gesicht in die Hände gestützt, sein Blick auf den Fliesenboden gerichtet, einfach ins Leere starrend. Er ist komplett verloren und allein, überwältigt und hin- und hergerissen von einer Welle an Emotionen, die sich in den Monaten zuvor aufgestaut hatte. Bereits in jungen Jahren bestand Bryants Existenz fast ausschließlich aus dem beinahe unmenschlichen Bestreben, es bis an die Spitze zu schaffen. Millionen von Schulkindern seiner Generation träumten davon, einmal so erfolgreich wie Michael Jordan zu werden, doch nur einer unter diesen Millionen Kindern hatte auch den eisernen Willen und die Motivation, so viel dafür zu tun wie Kobe Bryant. Schon als Teenager fiel er den Leuten bei Adidas auf und sie sagten ihm, dass sie ihn zum nächsten Michael Jordan machen würden. Das passte natürlich wunderbar zu seinen eigenen Plänen und innerhalb weniger Monate hatte er diese Rolle bereits perfekt einstudiert, obwohl er damals erst 17 war. Seine Verwandlung war unglaublich, erinnert sich Sonny Vaccaro, damals Sportmarketing Manager bei Adidas und Königsmacher in der Basketballindustrie.

Doch jetzt, in diesem Moment des großen Triumphs, bestätigte Bryants Gesicht, dass es keinen Preis gibt, den er nicht bereit war zu zahlen, kein Opfer, das er nicht bereit war zu bringen, um der Größte zu werden, der Spieler, der das Spiel dominiert. Erst kurz zuvor hatte er seine Familie diesem Ziel geopfert. Eine Familie, die weithin als Modell für Erfolg und Zusammenhalt bewundert wurde und vor deren Scherben er nun als Resultat seines unbeirrbaren Wunsches steht. Bald darauf würde er sich seines Agenten entledigen, seines Sportschuhausstatters und in naher Zukunft auch seines Trainers, Phil Jackson und seines Co-Stars Shaquille O’Neal. Doch jetzt waren es einmal seine Mutter und sein Vater sowie seine beiden Schwestern, die er ohne Vorwarnung und mit beinahe chirurgischer Präzision aus seinem Leben verbannte. Familienmitglieder erzählten Bekannten von gesperrten Kreditkarten, Autos, die ihnen wieder abgenommen wurden, Jobs die plötzlich gestrichen wurden, von unbeantworteten Anrufen, einer geräumten Familienresidenz und abgebrochenen Beziehungen.

„Es ist eine Tragödie, was da passiert ist“, meint Gary Charles, ein New York AAU-Coach und Freund der Familie. Eine Meinung, die auch von anderen Freunden und Bekannten der Familie immer wieder geäußert wurde. „Nach jedem AAU-Spiel war Kobe sofort zu seinem Vater gelaufen, hatte ihn umarmt und gefragt: ‚Hast du gesehen, was ich da gemacht habe?‘ und Joe antwortete, ‚Ja, klar hab ich das gesehen.‘ In der ganzen Zeit, die ich mit ihnen damals verbrachte, gab es nie einen Moment, in dem er seinen Vater nicht respektierte.“

Doch der riesige Erfolg, der über ihn hereinbrach, der Wunsch nach noch mehr und die unglaublichen Summen an Geld in Bryants Leben als Profibasketballer hatten irgendwie einen Keil in die Familie getrieben, einen Keil, der jeden, der sie näher kannte, überraschte.

In jener Nacht im Spectrum, Philadelphias Basketballarena, ist Chubby Cox, sein Onkel mütterlicherseits, sein einziges engeres Familienmitglied in der Arena. Als Cox und seine Frau abseits der Party und der Medien den jungen Lakers-Star treffen, bricht schließlich alles aus Bryant hervor. „Joe Bryant erzählte mir von dieser Nacht“, erinnert sich Gary Charles. „Als Kobes Onkel und Tante sich mit ihm trafen, umarmte er die beide und brach in Tränen aus. Er weinte und weinte.“

Dieses leise Schluchzen und der Schmerz auf seinem Gesicht an diesem Abend zeigten, wie tief der Verlust seiner Familie und seine Entfremdung von ihnen bei ihm saß. Trotzdem hatte es der entschlossene und willensstarke Jungstar für unumgänglich gehalten, seinen Pfad ohne seine Liebsten weiterzugehen. „Es ist hart, ein Star zu sein“, sagt Mo Howard, ein alter Freund der Bryants. „Es ist traurig, richtig traurig“, meint Anthony Gilbert, ein weiterer Freund aus Philadelphia, der Bryants Leben und Karriere genau verfolgte. „Es ist wie F. Scott Fitzgerald einst sagte: Hinter jedem strahlenden Helden verbirgt sich eine Tragödie.“

Teil 1

JELLYBEAN

„Ich hatte immer das Gefühl, dass ihn niemand ernst nahm, dass alle immer dachten, Joe Bryant wäre einfach der Spaßvogel.“

— Paul Westhead

Kapitel 1

DIE FESTNAHME

Philadelphia

5. Mai 1976

Der weiße Sportwagen fuhr langsam, beinahe lautlos, auf die Beamten im Polizeiwagen zu. Diese schienen es auch nicht besonders eilig zu haben und lauschten den Meldungen im Polizeisprechfunk, während sie langsam dahinrollten. Als der Sportwagen an ihnen vorüberfuhr, sahen sie einen großen farbigen Mann über das Lenkrad gebeugt.

Es war Anfang Mai 1976 im Fairmount Park und der Mann im Wagen war Joe Bryant, ein 21jähriger Rookie bei den Philadelphia 76ers. Bekannt als der lebenslustige Jellybean war er eine Art Held in der lokalen Basketballszene. Angeblich ging Joes Spitzname auf seine leichtfüßige Art Basketball zu spielen zurück.

„Ich glaube, die Jungs in Südphiladelphia nannten ihn Jelly“, erinnert sich Howard. „Sie nannten ihn so aufgrund seiner geschmeidigen, beweglichen Art zu spielen. Er bewegte sich ein wenig wie ein Wackelpudding.“

Andererseits naschte Bryant auch gerne diese süßen Geleebohnen. „Das war Sein’s, Jelly Beans“, lacht Howard. „Damals gab es diese Geleebohnen nur zu Ostern. Doch Joe hatte immer welche dabei.“ Später würden dann einige Leute behaupten, dass er diesen Spitznamen bekam, als ihn einige Fans an der Seitenlinie während eines Spiels mit Jelly Beans versorgten.

Aber egal woher der Name kam, er passte zu Bryants Stil. Jellybean war ein umgänglicher Mensch mit einem breiten Zahnlückengrinsen. Ein Gesicht, das man sofort mochte, wenn man es sah.

„Das war schon immer so“, erinnerte sich Mo Howard. „Er hatte immer ein Lächeln im Gesicht, war immer gut drauf und zu einem Späßchen aufgelegt.“ Und sein Herz war ebenso groß wie sein Lächeln. Jahre später erinnerte sich ein ehemaliger Schulkollege an Joe Bryant als jemanden, der einem kleinen jüdischen Jungen zu Hilfe kam, als dieser von ein paar Rabauken bedrängt wurde. Im Nachhinein betrachtet erklärt diese Unbekümmertheit vielleicht auch warum Jellybean Bryant in dieser lauen Nacht Anfang Mai 1976 das Schicksal herausforderte.

Zu Bryants Verteidigung könnte man sagen, dass er einen emotional schwierigen Tag gehabt hatte, der mit dem Begräbnis der Mutter seines engen Freundes Gilbert Saunders begonnen hatte. Für Joe Bryant war sie wie eine zweite Mutter gewesen. Als Kind verbrachte er viel Zeit im Haus der Saunders Familie. Er liebte es bei ihr am Tisch zu sitzen und ihre üppigen Mahlzeiten zu essen. Joes Familie hatte nur sehr wenig Geld und es war meist Frau Saunders, die ihm immer wieder einmal ein paar Schuhe oder eine Jacke zusteckte, wenn er neue Sachen benötigte. Nach besagtem Begräbnis fuhr Bryant an diesem Tag zur Wohnung der Familie Saunders und zog den Gehaltsscheck hervor, den er von den 76ers erhalten hatte, um zu zeigen, wie weit er es gebracht hatte. „Verdammt noch mal“, staunte Mr. Saunders und traute seinen Augen nicht. Bryant hatte einen Rookievertrag über fast eine Million Dollar mit dem Team abgeschlossen – eine beinahe unvorstellbare Summe zu dieser Zeit. Gilbert Saunders – der zu dieser Zeit Basketball für Cheyney State spielte – hatte den Eindruck, dass Bryant den Scheck herzeigte, um der Familie eine Freude zu bereiten. „Er war Teil meiner Familie, er war immer willkommen bei uns. Es war seine Art, meinem Vater zu zeigen: Das ist es, was ich jetzt mache.“

Die Ereignisse und die damit einhergehenden Emotionen dieses Tages helfen vielleicht zu erklären, warum es Jellybean in den mitternächtlichen Fairmount Park verschlagen hatte und er das Schicksal herausforderte. Schließlich war eines der Rücklichter an seinem Wagen ausgefallen und er besaß keinen Führerschein, nur einen längst abgelaufenen Lernführerschein. Er hatte erst im vergangenen Herbst damit begonnen, Fahrunterricht zu nehmen, nachdem er seinen Rookievertrag bei den 76ers unterschrieben und sich zwei nagelneue Datsun 280 Z – einen für seine Frau Pam und einen für sich selbst – gekauft hatte. Bryant war in Südwest Philadelphia aufgewachsen, in einer Gegend, von der er gerne sagte, sie wäre das „Ghetto“, eine eigene kleine Welt, in der sich lokale Gangs an jeder Straßenecke bekriegten. Und da war er nun, der stolze Besitzer eines Datsun Z, einer Straßenrakete, jemand der noch nie zuvor ein Auto besessen hatte. Ausgestattet mit etwa 170 PS bei nur 1.300 kg konnten diese Zweisitzer mit Einspritzmotor jeden der hinter dem Steuer saß gleichzeitig in einen Geschwindigkeitsrausch und in Angst versetzen, speziell jemanden wie Jellybean, der kaum Fahrpraxis besaß.

Dazu kommt, dass Bryant sich in dieser Nacht wohl nicht nur von der Geschwindigkeit berauschen ließ – das lassen zumindest die beiden Ampullen mit Kokain und der stilvolle Dosierlöffel, die bei ihm im Wagen gefunden wurden, vermuten. Was das Ganze noch komplizierter machte, war, dass er zusammen mit Linda Salter, seiner Ex-Freundin und Schwester eines Teamkollegen seiner alten Schule, der John Bartram High, unterwegs war, während seine junge Frau und seine ein Monat alte Tochter in ihrem brandneuen Haus in einem von Philadelphias reicheren Vororten auf ihn warteten. Gleich zu Beginn der Ehe hatte seine Frau Pam das Kommando übernommen. Sie war von beeindruckender Schönheit, hatte aber auch eine recht unbarmherzige Seite. So bemerkten gute Freunde oft, dass, immer wenn eine Entscheidung getroffen werden musste, Bryant beinahe unterwürfig zu seiner Frau hinüberblickte. Selbst Familienmitglieder erzählten schmunzelnd, dass Jelly allein beim Gedanken daran, Pam zu verärgern, in Panik geriet. Und nun war er gerade dabei, sie so richtig zu verärgern und dabei in flagranti erwischt zu werden. Ganz egal in welcher Stimmung Bryant in dieser Nacht war, alles stürzte zusammen wie ein Kartenhaus, als er die blinkenden Polizeilichter, die ihm galten, bemerkte. Man kann verstehen, dass er in diesem Moment eine Reihe an Schwierigkeiten auf sich zukommen sah, nicht zuletzt, da er – ein Farbiger – am Steuer eines teuren Wagens saß und das spätnachts in einer von Bandenkriminalität und heftigen Rassenproblemen gebeutelten Stadt. Einige Monate zuvor war von seiner Vertragsunterzeichnung mit den 76ers als Schlagzeile in der Philadelphia Tribune zu lesen gewesen, gleich neben einem Artikel, der darüber berichtete, dass bereits mehrere Dutzend Afroamerikaner in den Monaten davor von der Polizei angeschossen oder erschossen worden waren. In den drei Jahren zuvor hatte die Polizei von Philadelphia 73 Personen erschossen und 193 weitere verwundet. Zu dieser Zeit war es für Polizeibeamte zur Routine geworden „Warnschüsse“ auf fliehende Verdächtige abzugeben. Während der vorangegangenen zwölf Monate waren fünf Polizeibeamte in Philadelphia ums Leben gekommen, unter anderem einer, der von einem 15-Jährigen vom Dach eines Sozialbaus aus kaltblütig erschossen worden war. Bei der Befragung meinte der Täter lapidar: „Ich wollte einfach einen Cop umlegen.“ Bryant brauchte keinen Zeitungsartikel, um zu wissen, wie es in der Stadt zuging. Kein farbiger Einwohner in der Stadt brauchte das.

Vielleicht war es wirklich nur eine einfache Routinekontrolle wegen eines kaputten Rücklichts, so wie es die Beamten später zu Protokoll gaben, doch der Gesamtkontext mutet doch merkwürdig an. Und es wurde noch merkwürdiger. Das wurde den Beamten spätestens dann bewusst, als sich der gut 2,10 m große Jellybean aus dem Fahrzeug schälte. Bryant versuchte ruhig zu bleiben, als ihm die Polizisten mit ihrer Taschenlampe ins Gesicht leuchteten. Er nannte sofort seinen Namen und entschied sich, dass es wohl das Beste wäre, den Polizisten gleich zu sagen, dass er keinen Führerschein besaß, um sich so eine Durchsuchung seines Wagens zu ersparen. Er gab ihnen seine Zulassung, doch die Beamten waren ob seiner Aussage keinen Führerschein zu besitzen verwirrt. Aus irgendeinem Grund geriet Joe Bryant immer mehr in Panik. Vielleicht war es die Angst vor seiner Frau, wenn sie das alles herausfinden würde, wie einige Leute später behaupteten. Vielleicht war es aber auch nur Angst vor der Polizei.

Was dann passierte, brachte nicht nur die Polizisten zum Staunen, sondern ganz Philadelphia einschließlich der damals noch sehr abgekapselten Szene der National Basketball Association der 1970er. Bryant drehte sich um und stieg in den Wagen. Zu diesem Zeitpunkt dachten die Beamten noch, dass er vielleicht doch seinen Führerschein aus dem Handschuhfach holen würde. Doch stattdessen startete er den Motor, legte den ersten Gang ein und brauste in seinem Z davon, sodass nur mehr der aufgewirbelte Staub und die ungläubigen Gesichter der Polizisten im Scheinwerferlicht zurückblieben.

Es dauerte einen Moment, bevor die Beamten realisierten, was da gerade passiert war und dass Joe Bryant gerade die Flucht ergriffen hatte. Kaum hatten sie sich gefasst, sprangen sie in ihren Wagen und nahmen die Verfolgung auf, während sie eine Fahndungsmeldung über Funk durchgaben. Schnell wurde ihnen bewusst, dass es zu gefährlich wäre, sich eine Verfolgungsjagd mit dem Sportwagen zu liefern. Joe Bryant war davongebraust und fuhr wie ein Verrückter mit gut über 160 Sachen nach Schätzung der Polizisten. Im Nu hatte er den Park verlassen und flog nun im Blindflug die Straßen Philadelphias hinunter. Ohne Licht.

Erst zwölf Minuten später wurde Bryant von einer anderen Streife gesichtet. Der Polizeibeamte Raymond Dunne schrieb in seinem Bericht, dass er gerade in westlicher Richtung auf der Cedar Avenue unterwegs war, als er im Rückspiegel einen sich schnell nähernden Sportwagen ohne Licht entdeckte. Der Fahrer hätte den Polizeiwagen wild angehupt, damit ihn dieser überholen ließ.

Was für eine Szene. Da war Jellybean Bryant auf dem Highway Richtung Hölle unterwegs und versuchte sogar noch zu überholen. Im letzten Augenblick scherte er aus und vermied eine Kollision mit dem Polizeifahrzeug. Dunne nahm sofort die Verfolgung auf, musste jedoch aufgeben, als die Geschwindigkeit gefährliche Ausmaße annahm. Später gab Dunne zu Protokoll, dass er Angst gehabt hatte, die Kontrolle über seinen Streifenwagen zu verlieren, wenn er Jellybean weiter verfolgt hätte. Nur wenige Minuten später bretterte Bryant in eine verkehrsreiche Kreuzung an der Baltimore Avenue, die von einem Fahrzeug blockiert wurde. Als Bryant versuchte dem stehenden Fahrzeug auszuweichen, verlor er die letzte Kontrolle, die er noch über seinen Wagen besaß. Zuerst fuhr der Z gegen ein Stoppschild, dann schlitterte er über die Farragut Street und nahm dabei ein Parkverbotsschild mit, bevor er wie ein Pingpongball die Straße hinunter von einer Seite zur anderen gegen parkende Autos prallte und danach wieder zurück auf die Fahrbahn und zu guter Letzt über den Bordstein sprang und gegen eine Mauer knallte.

Das hinterlassene Chaos erinnerte an einen kleinen Tornado. Bryant und seine Ex-Freundin saßen derweilen benommen in seinem komplett zerbeulten Wagen. Das war wohl auch der Zeitpunkt, an dem ihm bewusst wurde, dass er komplett vergessen hatte, das Kokain während seiner Flucht loszuwerden, welches die Polizei bei der darauffolgenden Durchsuchung des Wracks finden würde. Es war auch der Punkt, an dem Bryant seine letzte schlechte Entscheidung in dieser Nacht traf und einfach davonlief.

Dankenswerterweise gaben die Polizisten diesmal nicht den sprichwörtlichen „Warnschuss“ auf den fliehenden Jellybean ab. Abgesehen davon, dass er ein ausgezeichneter Basketballspieler war, war Bryant in der Highschool auch ein Star auf der Laufbahn. Trotzdem schaffte es einer der Beamten, Robert Lombardi, ihn nach ein paar Metern einzuholen. Als er ihn stellte, drehte sich Bryant um, bereit zuzuschlagen. „Er hob seine Faust, doch ich überwältigte ihn und legte ihm Handschellen an”, erinnerte sich Lombardi an den Vorfall. Dabei erlitt Bryant eine Platzwunde am Kopf, die mit sechs Stichen genäht werden musste. Jahrzehnte später erinnerte sich Gene Shue, Bryants damaliger Coach bei den Sixers, dass die Polizisten Bryant nicht gerade mit Samthandschuhen angefasst hatten. Nun hieß es für Joe Handschellen, Gefängnis und die fürchterliche Angst davor, seiner Frau gegenübertreten zu müssen.

In weniger als einer halben Stunde hatte sich das ganze Glück des jungen Joe Bryant in eine Welt aus Scherben verwandelt. Andererseits hatte es viele andere in Philadelphia gegeben, die für weit geringere Vergehen in der Leichenhalle gelandet waren. In dieser qualvollen Nacht in der Zelle hatte Jellybean eine kleine Offenbarung. Jahre zuvor hatte seine Großmutter prophezeit, dass es irgendwer in der Familie einmal zu großem Ruhm und Reichtum bringen würde. In dieser Nacht im Mai 1976 wurde Bryant zum ersten Mal klar, dass er wohl nicht diese Person aus der Prophezeiung sein würde.

Kapitel 2

VATERSCHAFT

Während seiner gesamten Jugend war Joe Bryants Basketballkarriere auch eine Art strahlendes Vehikel in seinem Leben. Eines, das ihn an Orte brachte, die vielen anderen Farbigen verwehrt blieben. Jellybeans Spiel unterschied sich von dem der anderen. Er hatte einen ganz eigenen Stil, der sich bereits während seiner Kindheit zeigte, in der er viel Zeit bei seiner Großmutter in West Philadelphia, gleich neben einem öffentlichen Basketballcourt verbrachte. Sie ließ ihn jeden Tag draußen spielen, außer sonntags, wo sie ihn schon so früh aus dem Bett warf, damit sie beide Punkt sechs Uhr früh die Wohnung in Richtung der New Bethlehem Baptisten Kirche verlassen konnten, wo sie dann den Rest des Tages verbrachten.

Als er beinahe erwachsen war, zogen Bryant und seine Familie nach Südwest Philadelphia in ein heruntergekommenes Reihenhaus in der Willows Avenue, nicht weit vom Kingsessing Spielplatz, der sein neues Basketballzentrum wurde. Willows war ein hartes Pflaster, so wie viele Straßen in Südwest Philly. Doch sie war gesäumt von Bäumen, unter denen Jellybeans Vater, Big Joe, gelegentlich auf der Veranda saß und die Welt anlächelte. Und meistens lächelte die Welt auch zurück. Big Joe war groß und kräftig gebaut und viele Menschen in Philadelphia respektierten ihn aufgrund seiner Größe, Freundlichkeit und der Liebe zu seinem Sohn.

Dass er ein solches Ansehen in der Gemeinde besaß, war schon etwas Besonderes für einen Mann, der trotz äußerst widriger finanzieller Umstände drei Kinder großgezogen hatte. Noch Jahrzehnte später erinnerten sich Menschen aus den verschiedensten sozialen Schichten an Big Joe, oder Papa Bryant, wie ihn die Kinder aus der Umgebung nannten. Seinem Sohn beim Spielen zuzusehen, schien das Geheimnis hinter Big Joes Frohnatur zu sein. Er hatte große, kräftige Hände und ein rundes freundliches Gesicht, das fast immer lächelte. Doch seine Vorstellung von Disziplin war dann schon mehr von alttestamentarischer Natur. Einmal erzählte er Julius Thompson, einem Sportjournalisten aus Philadelphia, dass er seinen jugendlichen Sohn oft davor gewarnt hätte, „Tageslicht mit heimzubringen“, wenn dieser abends ausging. Anders gesagt, er sollte nicht zu lange ausbleiben und vor dem Morgengrauen heimkommen. Big Joe war eine imposante Erscheinung und fest entschlossen auf seinen Sohn aufzupassen. „Papa Bryant war immer dort, wo Joe war“, erinnert sich Vontez Simpson, ein Freund der Familie.

Als Big Joe älter wurde und sein Gewicht und Diabetes ihm gesundheitlich zu schaffen machten, nahm er sich einen Stock zum Gehen. Und selbst in dieser Zeit erfüllte ihn das Spiel seines Sohnes und danach das seines Enkels Kobe mit Energie. Wie gerne er die beiden spielen sah, war daran zu erkennen, dass er noch Jahre später, als sein Leben fast vollkommen von seiner Diabeteskrankheit bestimmt wurde, mit seinem Sauerstofftank im Schlepptau die Spiele seines Enkels besuchte.

Aus Georgia

Jellybeans Vater hätte wahrscheinlich viele traurige Geschichten erzählen können, doch er verschwendete selten Zeit damit, über die Vergangenheit zu sprechen. Er kam als Teil der großen Migrationswelle von Afroamerikanern, die aus dem Süden der USA in den Norden zogen, genauer gesagt aus dem sogenannten „Black Belt“1 im Bundesstaat Georgia, der sich entlang des Highway 41 durch den ganzen Bundesstaat zog.

Philadelphia war ein beliebtes Ziel. Vor allem Südwest Philly das aus ehemaligen Farmen, Landhäusern und botanischen Gärten im 19. Jahrhundert entstanden war, wurde zum Anziehungspunkt – erst für Migranten aus Europa, dann für Afroamerikaner, die Arbeit suchten. Um 1900 bestand die Bevölkerung der Stadt der brüderlichen Liebe, wie Philadelphia auch genannt wird, weitgehend aus Kaukasiern, doch das begann sich in den 1920ern, 30ern und 40ern rasch zu ändern, als Millionen von Schwarzen Richtung Norden zogen. Tagtäglich kamen Afroamerikaner in Zügen aus dem Süden in die Stadt, erzählt Julius Thompson, einer der ersten farbigen Sportjournalisten, die bei einer der großen Tageszeitungen an der Ostküste anheuerten. Nachdem es mit der Landwirtschaft in den 1930ern bergab gegangen war, packten viele Afroamerikaner ihr bisschen Hab und Gut zusammen und machten sich auf den Weg in die Städte des Nordens, um Arbeit zu finden und ein neues Leben zu beginnen. Diese Abwanderung wurde vor allem durch den Preisverfall landwirtschaftlicher Güter während der Depression begünstigt, die dem System des Pächterwesens ein jähes Ende setzte. Die Landwirtschaft war oft die einzige Möglichkeit für Afroamerikaner ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, in einem Land, in dem ihnen der Zugang zu Bildung lange verwehrt geblieben war.

Dazu kam die jahrzehntelange Gewalt weißer Lynchmobs gegenüber Farbigen, die die Migration beschleunigte. Brutale Vorfälle, die oft detailreich von den Tageszeitungen im Süden der USA beschrieben wurden. Mit dem Versprechen auf Arbeit während der Kriegsjahre in den Docks von Philadelphia und anderen Städten an der Ostküste in den 1940ern wurde die Verlockung in den Norden zu ziehen noch größer. Nach dem Krieg, als sich die Wirtschaft wieder komplett erholt hatte, wuchs die Zahl der Jobs sogar noch weiter.

In Georgia hatte Big Joe Bryant zusammen mit seinem Vater – der erste in einer Reihe von drei Joe Bryants – in der Landwirtschaft gearbeitet. Sechzig Stunden in der Woche für ein paar Cents am Tag. Alte Zensusaufzeichnungen belegen, dass Big Joes Großvater in den 1840ern in die Sklaverei geboren worden war und, so wie sein Sohn nach ihm, sein Leben auf den brutalen, gnadenlosen Feldern des Südens verbrachte. So wie viele andere war Big Joe Bryant ein Migrant, als er als junger Mann in Philadelphia ankam. Nachdem Big Joe den Umstieg vom Land- zum Stadtleben gewagt hatte, gründete er eine Familie. Zusammen mit seiner Frau hatte er drei Kinder, die er verehrte – vor allem seinen Ältesten, der seinen Namen trug.

Jellybean war schrecklich mager, doch aufgrund seiner Größe ließen ihn die älteren Jugendlichen, die die meisten Plätze für sich beanspruchten, bei ihnen mitspielen. Dafür war er immer dankbar. Wegen seiner schwächeren Statur lernte er an der Drei-PunkteLinie zu spielen. Diese Stunden mit den älteren Burschen auf den öffentlichen Basketballplätzen gaben ihm eine Identität. Er begann sich als Basketballer zu fühlen. Jahre später würde es seinem Sohn Kobe ähnlich ergehen. Ein Geschenk, welches die beiden miteinander teilten – ihre Liebe zum Basketball schon in frühester Jugend zu erkennen. „Er liebte das Spiel. Er spielte, damit er dieses Gefühl spüren konnte“, sagt Julius Thompson über Jellybean, obwohl er dasselbe über Kobe hätte sagen können.

Eines von Jellybeans frühen Idolen war Earl „the Pearl“ Monroe, der in den Sechzigern an der John Bartram High gespielt hatte. Monroe hatte seine eigene Art der Ballbehandlung und spielte unglaublich, als er Bartram 1963 zum Titel in der Philly Public League führte, vor den staunenden Augen des damals neun Jahre alten Joe Bryant. Es dauerte nicht lange, bis Earl Monroe auf die Winston-Salem State ging und danach bei den alten Baltimore Bullets und schließlich den New York Knicks landete. Für den jungen Joe Bryant und viele andere in den Generationen danach war Monroe ein leuchtender Stern am Basketballhimmel. So wie die Stars der 76ers aus der Saison 1966/67, als sie den NBA-Titel gewannen und Joe Bryant gerade einmal zwölf war – Spieler wie Wali Jones, Chet Walker, Hal Greer, Luke Jackson und Wilt „the Stilt“ Chamberlain. Kurz danach wurde Joe ein Fan von Kenny Durrett, dem Star an der La Salle University.

Joe war fasziniert von Durretts auffälligem Spielstil und verbrachte Stunden damit, den Ball zwischen seinen Beinen und hinter seinem Rücken hin und her zu dribbeln und blinde Pässe zu spielen. Alles Dinge, die kein großgewachsener Spieler damals auch nur ansatzweise ausprobiert hätte. Schon bald erkannten die Leute, dass es nichts gab, was JB – wie man ihn an der Shaw Junior High und dann später an der Bartram nannte – nicht mit einem Basketball tun konnte. Er hatte bereits ein natürliches Flair, ein spezielles Gefühl für die Showelemente dieses Sports, die nur wenige beherrschten – eine Mixtur aus Earl the Pearl, Bob Cousy, den Harlem Globetrotters und „Pistol“ Pete Maravich. Wo auch immer JB spielte, wurde er bestaunt. So große Typen wie er hatten normalerweise nicht diese Ballbehandlung.

Ärger an jeder Straßenecke

Als Jelly in die neunte Klasse kam, war er bereits knapp über zwei Meter groß. Dementsprechend lange waren auch seine Schritte, wenn er lief. Musste er irgendwo hingehen, begann er einfach zu joggen, um schneller dort zu sein. Das war eine Eigenschaft, die ihn besonders bei den Laufathletiktrainern der Stadt beliebt machte, aber auch bei den Talentsuchern im Basketball.

Oberflächlich betrachtet mag es so erscheinen, als ob Basketball im Philadelphia der späten 60er und frühen 70er Jahre eine schöne, nostalgische Geschichte gewesen wäre, hätte es da nicht ein großes Problem gegeben. Die Stadt war damals in einem dunklen Loch gefangen, in dem Straßenbanden an jeder Ecke lauerten und jungen Burschen, die dort aufwuchsen, Schwierigkeiten bereiteten. Die Philadelphia Daily News würde später einmal berichten, dass sich die Stadt im Würgegriff von 106 verschiedenen Gangs befand, jede davon mit ihrem eigenen Territorium und Mitgliedern die oft mit selbstgebauten, improvisierten Schusswaffen herumliefen. Die Territorialkämpfe unter den Banden, die sich sogar bis auf die Schulhöfe der Stadt erstreckten, forderten das Leben vieler junger Männer. Wie fest die Gangs Philadelphias Jugendliche im Griff hatten, zeigte sich daran, dass man es oft nur bis zur Schule schaffte – beziehungsweise man den Schultag überlebte – wenn man Mitglied in einer der örtlichen Gangs war. Nur in der Masse war man stark, allein blieb man auf der Strecke.

Allein im Jahr 1969, Joe Bryants erstem Jahr an der Bartram High, wurden 45 Morde im Zusammenhang mit Bandenkriminalität gezählt. Die Spannungen waren an allen Highschools der Stadt zu bemerken. So begannen Gangs bereits Burschen im Volksschulalter für sich zu rekrutieren. Doch irgendwie hatte Jellybean Bryant Glück. „Wenn du kein Sportler warst, dann warst du in Schwierigkeiten“, sagt Julius Thompson. „Diejenigen, die es schafften, hatten großen Rückhalt zu Hause.“

„Wenn ich so zurückblicke“, erinnert sich Gilbert Saunders, „ging es um Orientierung. Wie viele andere Kinder irrte auch Joe orientierungslos herum. Da brauchte es dann schon das sprichwörtliche Dorf, um Joe Bryant großzuziehen.“ Basketball war dieses „Dorf“ oder, besser gesagt, die Kraft, die alles zusammenhielt. Zusätzlich zu Big Joe, der immer ein Auge auf seinen Sohn hatte, dem Wohlwollen von Saunders’ Eltern und den Trainern and der Schule, war die Philadelphia Legende Sonny Hill und dessen BasketballLigen wohl der größte Faktor in Bryants Leben. Hill war so gut wie immer da, wenn es kritisch wurde und half Dinge, die schief gelaufen waren, wieder geradezubiegen.

Eine ähnliche Rolle spielte er im Leben vieler junger Spieler aus Philadelphia. Wie Gilbert Saunders schon sagte: „Sonny Hill hat mir buchstäblich das Leben gerettet. Und das Leben vieler anderer.“

Ein kleiner, drahtiger Guard, der in der alten Eastern League gespielt hatte, als die NBA aus nur zehn Teams und einer Handvoll Farbiger bestand, machte Sonny Hill Karriere als populärer Sportreporter sowie als Gewerkschaftsboss und Gemeinschaftsaktivist. Hill war selbst auf den Straßen Philadelphias aufgewachsen und wusste genau, welche Herausforderungen auf junge Spieler zukamen, sowohl in ihrem Leben als auch im Sport. Anfang der 1960er Jahre gründete Hill die Baker League, eine Sommerliga für Profis. Bald schon erreichte dieses Turnier einen hohen Bekanntheitsgrad, nachdem es Bill Bradley, der bei den New York Knicks unter Vertrag stand und sich ein Jahr Auszeit genommen hatte, geholfen hatte, sein Spiel wieder zu verbessern. Die Baker League Spiele im Sommer waren oft viel besser als die regulären Saisonspiele in der NBA damals, erklärt Dick Weiss, der lange Zeit als Basketballjournalist in Philadelphia tätig war. Es dauerte nicht lange, bis andere Spitzenspieler wie Wilt Chamberlain und Walt Frazier auf Hills Liga aufmerksam wurden und diesen Bewerb zum wichtigsten Sommerturnier machten, bevor die NBA ihre eigenen offiziellen Sommerligen einführte. Der Erfolg der Baker League spornte Hill an, 1968 ein weiteres Programm zu starten, dem Jahr in dem Joe Bryant die achte Klasse abgeschlossen hatte. Die Sonny Hill League bot einen strukturierten Spielplan für die besten Highschoolspieler der Region. Sie sollte das Markenzeichen von Hills Einfluss werden.

Die Spiele dieser Amateurliga fanden im Vorprogramm zu den Spielen der Baker League statt. „Die Hallen waren zum Bersten voll“, erinnert sich Weiss. „Die Spiele wurden zum Treffpunkt der afroamerikanischen Gemeinde.“