Der Koffer der tausend Zauber

 

 

 

Für die kleine No,

die häufiger mal in einem Koffer wohnt,

und für die Straßenkinder von Madagaskar,

vor allem für Tafitasoa

neben dem Müllhaufen

Kapitel 1 Der Koffer

Ich schwöre, er ist verschwunden.

Ich war nur kurz weg, kurz habe ich ihn allein gelassen, dort in der Nacht, er lag in der schmalen Gasse zwischen den hohen schwarzen Dunkelhäusern, ganz still. Vielleicht war er schon tot.

Er war erst fünfzehn. Vier Jahre älter als ich.

Ich wollte Hilfe holen, und als ich wiederkam, war er nicht mehr da.

Da war nur noch der Koffer. Ein großer, uralter, dunkelbrauner Lederkoffer mit Rollen.

Ein Koffer voller Geheimnisse.

 

Aber beginnen wir mit dem Beginn.

Es war mitten in der Zeit der Kälte, als alles begann.

In einer dieser Nächte, in denen der Nebel dick in den Straßen hängt, in denen die Häuser auf den Hügeln der Stadt noch dichter zusammenzurücken scheinen. In denen jeder froh ist um ein Dach über dem Kopf oder eine Decke.

Ich hatte eine Decke. Oder eigentlich einen Stofffetzen, braungrau mit rotem Muster, ich hatte ihn vor einer Woche gefunden und einen Kampf darum gekämpft.

Wir kämpften viele Kämpfe in den Straßen der Stadt.

Denn wenn man kein Bett hat und keine Mutter, die einem einmal am Tag eine Schale Reis vorsetzt, dann muss man kämpfen: um eine weggeworfene Banane, die man noch essen kann. Um eine leere Flasche, die man verkaufen kann. Um einen kleinen Geldschein, den ein feiner Herr fallen lässt, um uns Bettelkinder los zu sein.

Ich bin elf Jahre alt und ein bisschen zu klein und zu dünn für mein Alter, selbst für ein Bettelkind, und ich bin nie ein guter Kämpfer gewesen. Auch kein guter Bettler.

Nicht wie Ndrema.

Ndrema, hieß es, konnte sich schon mit zwei Jahren so fest an die Hosenbeine von reichen Leuten klammern, dass er bis zu zehn Metern mitgeschleift wurde, wenn sie ihm kein Geld gaben.

Jetzt, mit fünfzehn, war er der Anführer der Bettelclique der Kinder und hatte es nicht mehr nötig, sich an Hosenbeine zu klammern, er war groß und stark und drehte jede Menge krumme Dinger. Die anderen bewunderten ihn. Ich nicht.

Ich bewunderte Koto.

Koto war so alt wie Ndrema. Er war nicht Teil der Clique, er strich allein durch die Straßen, und eine Menge Leute sagten, er wäre seltsam. Zum Beispiel war er immer sauber angezogen. Er wusch seine Sachen unten in den Reisfeldern, die zwischen den Hügeln der Stadt liegen, grüne Kleckse, durch die auf einem Damm die Straße führt. Wir anderen badeten dort ab und zu, bis uns die Reisbauern wegjagten, aber Koto zog sich tatsächlich aus und wusch sein Hemd, er schrubbte die Flecken mit Seife und einer alten Zahnbürste heraus. Nachts. Ich weiß nicht, woher er die Seife hatte.

Er nannte uns die Graubraunen, und so sahen wir wohl aus; so sieht man aus, wenn man auf der Straße lebt: bedeckt von dem roten Staub und dem schwarzen Ruß, der ständig in der Luft hängt in der Stadt der Städte.

Einmal habe ich ihn sagen hören: »In der Stadt der Städte, Rabé, kann man zwei Dinge tun: den Tod der Tode sterben oder das Leben der Leben leben. Hörst du Rabé: das beste und großartigste aller Leben. Du musst dich entscheiden.«

Rabé, das bin ich. Und damals hat er mit mir gesprochen. Ich war unglaublich stolz darauf. Wir saßen zusammen auf einer bröckeligen Mauer neben einer der Müllhalden, auf denen man manchmal etwas zu essen findet.

»Wie soll ich etwas Großartiges tun, wenn ich doch nichts habe?«, fragte ich.

Da stand er auf und sagte: »Das musst du selbst herausfinden. Werd nicht wie die anderen. Die Graubraunen. Werd nicht wie sie, Rabé, sonst steckst du dein Leben lang hier fest.«

Und dann nahm er seinen Koffer und ging, die Straße entlang, davon. Wie ein Reisender, der nur zufällig neben einem Müllhaufen gesessen hatte. Er ging aufrecht, den Kopf hoch erhoben, und man hätte meinen können, er würde direkt zu einem Hotel marschieren mit seinem Koffer, einem Ungetüm von einem Koffer übrigens, uralt und riesengroß, mit glänzenden Messingbeschlägen, die er ab und zu polierte.

Man hätte meinen können, er sei ein junger Herr.

Wenn da nicht seine nackten, schmutzigen Füße gewesen wären, und die Löcher in seinem Hemd. Und wenn er nicht so mager gewesen wäre.

Ich wusste nicht, wohin er ging. Oder was er dort tun würde. Ich wusste, es hatte keinen Zweck, ihm zu folgen, er würde irgendwann einfach im Gewimmel der Stadt verschwinden. Einmal hat er gesagt, er müsse allein sein, um nachzudenken.

»Worüber denn nachdenken?«, habe ich gefragt.

»Über meinen Plan«, hat er gesagt und in die Ferne gelächelt, die Ferne über den Hügeln und der Abgasglocke der Stadt. »Den Plan, wie ich hier rauskomme.«

Und er hat mir ganz kurz über den Kopf gestreichelt, wie ein großer Bruder, aber dann hat er mich, wie immer, stehen lassen.

Koto war mein Held. Mein Vorbild. Mein Gott.

Ich wollte damals sein wie er, und einmal klaute ich deshalb ein Stück Seife, um mein Hemd zu waschen, aber ich wurde erwischt und verhauen. Die anderen Graubraunen guckten zu und lachten.

Aber viele von ihnen, glaube ich, bewunderten Koto heimlich, genau wie ich.

Es lag ein Geheimnis über ihm und über seinem Koffer. Es gab die verschiedensten Geschichten darüber, wie er an den Koffer gekommen war. Er weigerte sich, ihn zu verkaufen, er schlief nachts darin, wenn der Koffer aufgeklappt war, und transportierte tagsüber seine Schätze darin: Schätze, die keiner kannte.

Manche sagten, er hätte den Koffer gestohlen. Manche sagten, er hätte ihn an einem Ort gefunden, zu dem kein normaler Mensch Zutritt hatte, einem Geisterort. Manche sagten, er hätte den Koffer bei einem Toten gefunden, und manche sagten, ein mysteriöser Fremder hätte ihm den Koffer auf seinem Sterbebett vermacht.

Tatsache war: Der Koffer war das Wertvollste, was je einer von uns besessen hatte.

Das heißt, nein: Für mich war das Wertvollste die Erinnerung daran, wie Koto meinen Namen gesagt hatte. Wie er gesagt hatte: »Werd nicht wie sie, Rabé.« Als wäre ich nicht nur irgendein Junge ohne Eltern mit dreckstarrem Haar und graubraunen Kleidern. Als wäre ich etwas Besonderes.

In der Nacht, von der ich erzählen will, lag ich wach, weil es zu kalt war, um zu schlafen. Ich lag in meinen Stoff gewickelt und sah in der Ferne neben einer Müllkippe die Glut eines Feuers, das nicht das meine war. Hörte die Worte einer Familie, die nicht die meine war und die sich gegenseitig warm hielt. Ich sah Licht in einem Fenster, oben in einem dritten Stock, und die Schatten eines Erwachsenen und eines Kindes.

Und ich wünschte mir, auch eine Familie zu haben, egal, ob sie hinter einem Fenster oder neben einer Müllkippe lebte, oh, wie sehr ich mir das wünschte!

Da hörte ich die Schritte. Jemand rannte die steile Straße hinauf, rannte auf die Hausecke zu, wo ich mich zusammengerollt hatte, und dann sah ich, dass es Koto war. Er bog um die Ecke, ohne mich zu bemerken, der halbe Mond am Himmel klebte ihm einen blassen Schatten an die Füße, und ich spürte etwas Beunruhigendes: Angst.

Koto hatte Angst.

Ich sprang auf und sah ihn an der Kreuzung abbiegen, in eine steile Gasse, die wieder hinunterführte, und dann war da das Auto, ganz plötzlich, es kam von der Kreuzung und fuhr nach unten, und ich dachte, das ist aber ein Zufall, dass nachts ein Auto hier fährt und gerade die Abbiegung nimmt, die Koto genommen hat.

Koto sprang zur Seite, doch er sprang zu spät, das Auto erfasste ihn, er flog durch die Luft, und ich dachte, mein Herz bleibt stehen – und das Auto fuhr weiter den Hügel hinunter, der Fahrer gab Gas.

Der hatte auch Angst, dachte ich; Angst, dass jemand gesehen hat, wie er einen Jungen überfahren hat. Deshalb jagte er sein Auto den Hügel hinunter. Es war ein schwarzer SUV, Allradantrieb und ein Riesenkofferraum, ein Auto für reiche Leute.

Beide Rücklichter funktionierten, was nicht häufig ist bei Autos in der Stadt der Städte, ich sah sie kleiner werden, rot wie zwei Blutstropfen.

Und dann sah ich Koto auf dem Asphalt liegen.

Und ich rannte. Doch er kam auf die Beine, ehe ich bei ihm war, sah sich um, als würde er verfolgt, und taumelte in einen schmalen Durchschlupf zwischen den Häusern: eine Gasse, die weiter unten zu einer Treppe wurde, ich kannte sie gut. Sie gehörte zu einem Labyrinth aus Verbindungsstufen, Schleichwegen und Pfaden, die die Hügelstraßen in der Stadt der Städte verbinden und die nur wir Graubraunen kennen.

Ich fragte mich, wer Koto verfolgte. Ein anderer Straßenjunge vielleicht, dachte ich, mit dem er gestritten hatte, oder ein Erwachsener, dem er etwas geklaut hatte. Aber da war niemand. Die Familie am Feuer war weitergezogen, der Platz neben dem Müllhaufen leer.

»Koto!«, rief ich leise. »Koto!«

Er taumelte weiter, wie einer der Schmetterlinge, die sich manchmal aus den Gärten der Reichen herauswagen und dann umhertorkeln, betrunken von den Abgasen in den ständig verstopften Straßen.

Vor der Treppe brach der Schmetterling zusammen, kniete jetzt vornübergebeugt auf dem Boden, hustete, rang nach Luft. Und mir wurde schlecht vor lauter Angst, aber ich dachte: Ich muss ihm helfen, ich muss!

Dann war ich neben ihm, flüsterte seinen Namen, und diesmal bemerkte er mich.

In der Ferne hörte ich den Motor des SUVs. Er wurde wieder lauter, und das war komisch: Der SUV fuhr den Hang hinauf. Er kam zurück. Kam näher … fuhr an der Einmündung unserer Gasse vorbei. Ich spürte, wie Koto aufatmete.

»Verdammt«, flüsterte er, »was, wenn sie noch mal zurückkommen? Ich muss hier weg!«

»Wer?«, flüsterte ich. »Wer sind die?«

Und ich begriff, wer Koto verfolgt hatte, es war das Auto gewesen, das Auto selbst.

Er presste eine Hand auf seine Brust und rang nach Luft. »Weg!«, wiederholte er.

Ich nickte.

Und ich legte einen seiner Arme um meinen Hals und wuchtete ihn auf die Beine, aber er war viel größer als ich, und er konnte sich kaum halten, er stöhnte, es war schrecklich. Irgendwie kamen wir die Treppen hinunter, bis zu einem Absatz in einer Kurve. Dahinter stand ein hoher, ziemlich kaputter Bretterzaun, durch den man leicht durchschlüpfen konnte. Auf der anderen Seite war eine Baustelle, ein Haus, das erstens noch nicht fertig und zweitens schon wieder in sich zusammengefallen war. Und dort, zwischen Müll und Gras, unter einem Busch mit weißen Blüten, lag der Koffer.

Koto ließ sich daraufsinken, als wäre er angekommen. Zu Hause.

Eine Weile atmete er nur mühsam, röchelnd, dann hob er den Kopf und sah mich an.

»Be«, sagte er. So nennen mich die meisten. »Du vergisst nicht, was ich dir gesagt habe?«

»Dass … dass man etwas Großartiges … machen kann mit seinem Leben?«, flüsterte ich.

Ich hörte, dass ich heulte, es war mir peinlich, doch ich konnte nichts dagegen tun.

»Ja, das auch«, wisperte er, die Worte stockend und mühsam. »Aber … das andere. Dass ich an einem Plan … arbeite. Hier rauszukommen und …«

Er war jetzt zu leise, und ich beugte mich nahe zu ihm.

»Du brauchst einen Arzt«, sagte ich.

»Wir wissen beide, dass es keinen Arzt gibt«, wisperte er. »Nicht für … solche wie uns. Hör zu. Be.« Er packte meinen Arm und zog mich zu sich. »Der Koffer! Er hat zehn Jahre lang mir gehört. Jetzt gehört er dir. Die anderen werden … darum streiten, aber sie kriegen ihn nicht. Mazaba? Klar?«

»Mazaba«, sagte ich und wischte meine Tränen mit dem Ärmel weg. »Koto, aber ich will den blöden Koffer nicht! Ich will dir helfen! Du hattest diesen Plan, hier rauszukommen … Du musst wieder gesund werden!«

»Ich … schaffe es nicht«, wisperte Koto. »Aber du, du schaffst es, Be.« Er lachte, nur ein wenig, wie die Leute in meinem Land immer lachen, wenn alles am schlimmsten ist. Und dann legte er den Kopf auf den Koffer, der zehn Jahre lang sein Zuhause gewesen war, und schloss die Augen. »Glaub nicht alles, was sie sagen«, flüsterte er; ganz, ganz leise.

Danach sagte er nichts mehr.

Ich spürte, dass er atmete. Flach und zu schnell. Und ich sprang auf und schlüpfte durch die Lücke im Zaun, rannte die Stufen hinauf, zurück zur Straße. Jemand musste mir helfen, egal wer.

Ich rannte bis hinauf zur Kreuzung, dorthin, wo vier steile Straßen zwischen den hohen Häusern zusammenstoßen, aber niemand war dort. Eisiger Nachtwind fegte über den Asphalt. An einer Seite der Kreuzung ragte das große Hotel auf, und ich hämmerte mit den Fäusten gegen die riesigen Scheiben, hinter denen die Vazahas, die Weißen, morgens sitzen und frühstücken: Kaffee und Erdbeermarmelade und kleine Kuchenstücke, ich habe ihnen ein paarmal zugesehen, bis mich der Wächter verjagt hat.

Jetzt wünschte ich den Wächter herbei.

»Hallo!«, rief ich. »Hilfe! Bitte!«

Doch die gläserne Schwingtür blieb verschlossen, und der Wächter saß irgendwo dahinter und schlief. Ich rannte über die Straße, zu der alten Kirche. Auch das Tor in der Mauer um den Kirchhof war verschlossen.

»Jesus Maria!«, keuchte ich. »Warum bist du nie da, wenn man dich braucht? Wozu bete ich einmal die Woche, verflucht?«

Aber dann sah ich, dass jemand auf der Mauer stand, dort vor dem wolkenzerrissenen Halbmondhimmel. Ndrema. Der Chef der graubraunen Kinder.

Er stand dort und sah zu mir hinab.

Er und Koto waren Feinde, seit Ewigkeiten. Aber jetzt, dachte ich, wo es um Leben und Tod ging, war das wohl gleichgültig?

»Hilf mir!«, rief ich. »Ich muss jemanden finden, der Koto ins Krankenhaus bringt! Er hatte einen Unfall, er …«

Da sprang die Gestalt von der Mauer, nach innen, auf den Kirchhof. Ich hörte, wie ihre Schritte sich entfernten. Und dann war alles still. Nur noch die Nachtzikaden zirpten.

Ndrema kam nicht wieder. Vielleicht hatte ich ihn mir überhaupt nur eingebildet.

Und schließlich ging ich zurück: die Straße hinunter, die kleine Gasse entlang, die Stufen hinab, und dann kroch ich durch den Zaun. Ich würde bei Koto bleiben, bis der Morgen kam, und dann, dann würde ich jemanden finden, der half. Der halbe Mond beschien die halbe Baustelle hinter dem Zaun, und er beschien den Koffer, der dort zwischen Abfall und Blumen lag. Aber niemand hatte seinen Kopf auf den Koffer gebettet.

Koto war verschwunden.

 

Lange, lange stand ich dort neben dem Koffer und lauschte in die Nacht, zitternd, verwirrt.

Dann ging ich los und suchte; in dem unfertigen Haus und um das Haus herum, bei der Treppe und in der Gasse, doch nirgends war eine Spur von Koto.

Und schließlich setzte ich mich auf den Koffer, hob den Stofffetzen mit den roten Punkten auf und drückte ihn an mein Gesicht, um meine Tränen zurückzuhalten.

»Er hat sich aufgelöst«, flüsterte ich, obwohl niemand da war, der mich hörte. »Er ist tot, und sein Körper hat sich einfach aufgelöst.«

Ich strich mit einer Hand die glatte Lederfläche des alten Koffers entlang. Es war tröstlich, das Leder zu fühlen.

Ich kniete mich vor den Koffer und ließ den Verschluss aufschnappen, sodass die Kofferhälften vor mir lagen wie eine aufgeklappte Muschel.

Darin lagen eine dünne Wolldecke, ein Messer mit abgebrochener Spitze, ein Schreibheft und zwei sehr kurze Bleistifte.

Als ich das Schreibheft öffnete, sah ich, dass jemand krakelige Buchstaben hineingemalt hatte. Ich konnte nicht lesen, aber es war klar, dass es Buchstaben waren, lange Reihen von Buchstaben.

Er hatte geübt. Koto hatte versucht, schreiben zu lernen.

Ich arbeite an einem Plan, hier rauszukommen …, hörte ich ihn wieder sagen.

Ich kroch in den Koffer und rollte mich dort zusammen, unter der Wolldecke, unter meinem Kopf das gepunktete Tuch als Kissen.

»Koto«, flüsterte ich. »Koto, ich wohne jetzt in deinem Koffer, hörst du? Wie du die letzten zehn Jahre. Ich werde ihn überallhin mitnehmen. Und vielleicht male ich ein paar Buchstaben in das Heft. Ich mache weiter, was du angefangen hast. Ich gebe mir Mühe. Aber was war dein Plan?«

Ein Windstoß bewegte die Zweige über mir, die weißen Blüten gossen ihren süßen Duft auf mich – und es war wie eine Antwort. Als sagte mir Koto mit diesem Duft: Alles kommt in Ordnung. Eines Tages wirst du verstehen, was geschehen ist.

»Geht es dir gut, da, wo du jetzt bist?«, wisperte ich. »Geht es dir besser, Koto?«

Ja, sagte der Duft der Blüten, es geht mir gut. Mach dir keine Sorgen um mich. Und dann schlief ich ein.

 

Aber mitten in der Nacht wachte ich auf, weil das Tuch unter meinem Kopf verrutscht war und ich auf etwas Unbequemem lag. Etwas Kleinem, Hartem.

Ich tastete. Ein Riegel. Ein Metallriegel am Rand des Koffers, so ein Riegel wie die, mit denen man eine Klotür verschließen kann. Bisher hatte eine Stofflasche ihn verborgen, irgendwie hatte ich sie im Schlaf verschoben.

Der Riegel befand sich in einer Ecke des Koffers und war kaum größer als mein halber kleiner Finger. Da war noch einer, in der gegenüberliegenden Ecke.

Ich stieg um in die andere Kofferhälfte und schob die beiden Riegel nach außen. Nichts geschah. Ich schob sie nach innen. Auch nichts. Vielleicht waren sie nur zur Zierde da. Aber wer bringt zwei Riegel in einem Koffer zur Zierde an? Das war ungefähr so sinnvoll, wie eine Bananenschale hineinzunähen oder eine Steckdose einzubauen.

Ich schüttelte den Kopf. Das Metall der Riegel war alt und abgegriffen. Koto musste ebenfalls versucht haben, die Riegel zu verschieben. Hatte er herausgefunden, wozu sie da waren? Ich schob sie in unterschiedliche Richtungen. Zog an den Enden. Nichts.

Und dann tat ich etwas völlig Bescheuertes, ich drückte darauf, wie auf zwei Knöpfe.

Und da klickte es, und etwas sprang auf.

Ich fuhr zurück vor Schreck.

Der Boden des Koffers war jetzt an drei Seiten lose.

Mit zitternden Fingern klappte ich ihn zurück. Der Koffer besaß noch ein Fach. Ein Geheimfach. Einen doppelten Boden unter dem eigentlichen Boden.

Und einen Moment lang dachte ich, Koto wäre dort. Doch natürlich war er das nicht.

Stattdessen lag dort ein großes steifes Papier, mehrfach gefaltet, voller Linien und kleiner Zeichen und Wörter. Dann waren da ein paar dünne Papiere mit unregelmäßigen Kanten, als hätte jemand sie aus etwas herausgerissen, und ein dicker Umschlag.

Ich hielt eines der Papiere ganz nah vor mein Gesicht. Von dem Papier, aus einem Foto heraus, sah mir ein kleines Mädchen mit großen dunklen Augen entgegen, ihr schmales Gesicht umrahmt von nachtschwarzem Haar. Sie sah ernst aus, aber einer ihrer Mundwinkel lächelte, als hätte sie ein wunderbares Geheimnis, das sie niemandem verraten würde. Nur vielleicht mir. Wirklich, das Mädchen sah so aus. Als könne sie mich sehen.

Und mehr noch: als könne sie in mich hineinsehen. In mein Herz.

Als wüsste sie Dinge über mich, die nicht einmal ich selber wusste.

Zum Beispiel, wer meine Eltern gewesen waren, an die ich mich nicht erinnern konnte. Oder wie ich es schaffen konnte, etwas Großartiges mit meinem Leben zu tun.

Ich legte das Bild von dem Mädchen behutsam zurück in den Koffer und nahm den Umschlag heraus. Er war nicht zugeklebt. Ich griff hinein – und schnappte nach Luft.

Der Umschlag war voller Geldscheine. Das war selbst in dem schwachen Licht klar; das Papier hatte genau die Labberigkeit, die Geldscheine haben, und es waren nicht nur Hunderter oder Zweihunderter, für die man fast nichts bekommt, sondern große Scheine: Zwanzigtausender. Ein dickes, fettes Bündel.

Ich war reich.

Wenn der Morgen kam, würde ich mir ein Frühstück kaufen, an einem der Verkaufsstände: einen ganzen Berg voll warmem weißem Reis, mit Fleisch und Bohnen.

Hatte Koto von dem Geld gewusst?

Ich sah das große, steife Papier noch einmal an, und auf einmal begriff ich, was die Linien bedeuteten. Es war eine Karte. Eine Karte, wie sie in manchen Ämtern im Eingang hing. Ndrema hatte mir einmal erklärt, dass man darauf die Landschaft von oben sah, mit allen Straßen. Aber, hatte er gesagt, man müsse sehr schlau sein, um eine Karte lesen zu können.

»Du«, hörte ich Koto wieder sagen, »du schaffst es.«

An einer Stelle der Karte hatte jemand einen Kreis gemalt, mit dickem Stift. Das musste das Ziel des Menschen gewesen sein, dem der Koffer einmal gehört hatte. Vor Koto.

Aber was war dort?

Ich dachte an die Geschichten, die die größeren Kinder manchmal erzählten, wenn wir zusammensaßen, Geschichten von den Piraten, die es früher auf unserer Insel gegeben hatte, von vergrabenen Edelsteinen und Gold und Karten, die zu ihren Verstecken führten. Karten, auf denen der richtige Ort eingekreist war. Und da wurde ich ganz aufgeregt.

»Ein Schatz«, flüsterte ich. »Irgendwo da draußen liegt ein Schatz und wartet darauf, gefunden zu werden …«

Schließlich legte ich alles zurück, und die Riegel-Knöpfe oder Knopf-Riegel schnappten ein, und ich zog die Wolldecke wieder über mich. In der Baustelle raschelte es, vermutlich waren es Ratten, oder die Geister der Ahnen, die nachts herumgingen.

Doch ich hatte keine Angst. Ich lag in meinem Koffer und fühlte mich rundherum beschützt.

Und kurz ehe ich schlief, dachte ich: Koto ist nicht tot.

Er ist irgendwo.

Wenn ein Koffer einen doppelten Boden haben kann, unter dem sich so viel Geld verbirgt, wenn ein Mädchen von einem Bild in einen hineinsehen kann – dann kann auch ein Mensch verschwinden, ohne dass es eine Erklärung dafür gibt. Dann kann alles geschehen.

Und ich glitt in einen Traum, in dem ich mich selber sah, wie ich mit dem Koffer die Straße entlangwanderte.

Ich würde gehen.

Ich würde die Stadt der Städte verlassen.

Ich hatte ein Ziel, es war mit dickem Stift auf einer Karte eingekreist, und ich würde herausfinden, was dort auf mich wartete.

Kapitel 2 Die Reise beginnt

Als ich aufwachte, war es spät. Ich hatte unter Kotos Decke, in Kotos Koffer länger geschlafen als sonst, denn zum ersten Mal seit Langem hatte ich nicht gefroren. Ich setzte mich auf.

»Es ist jetzt meine Decke«, sagte ich zu mir selber. »Es ist jetzt mein Koffer.«

Und ich glaube, ich seufzte ein bisschen, denn ich war mir nicht ganz sicher, ob ich Kotos letzten Wunsch erfüllen konnte: fortzuführen, was er begonnen hatte.

Die Stadt zu verlassen. Hatte er die Karte gefunden? Aber wenn er sie gefunden hätte, hätte er auch das Geld gefunden, und warum war er dann nicht einfach gegangen?

Nein, auf einmal war ich mir sicher, dass Koto nichts von dem doppelten Boden im Koffer gewusst hatte. Sein Plan war einfach gewesen, schreiben und lesen zu lernen und irgendwo da draußen einen Job zu finden, an einem Ort, an dem es sich besser leben ließ.

Ich sah mir die Karte noch einmal an. Sie war außen blau und in der Mitte grün und braun mit einem Durcheinander aus feinen Linien.

Natürlich! Das Blaue war das Meer.

Das Grüne und Braune war das Land. Mein Land. Das Land der Länder.

Madagaskar.

Oder jedenfalls die Hälfte davon, die andere Hälfte war unten von der Karte gefallen. Und mitten in meinem Land gab es einen großen roten Fleck, von dem Linien nach allen Seiten führten, zu anderen roten Flecken.

»Straßen!«, flüsterte ich, und mein Herz schlug schneller. »Koto, ich fange an, die Karte zu lesen! Die Linien sind Straßen! Und der große Fleck ist die Stadt der Städte! Ist es so, lesen zu lernen? Auf einmal begreift man alles? Schau, der Kreis da rechts, der ist neben einer Straße, es ist ein Kreis nur so im Nichts, also keine Stadt … vielleicht liegt der Schatz mitten in einem Reisfeld, und keiner weiß es, weil keiner je so tief gegraben hat …«

Doch Koto war nicht da, um mir zuzuhören. Und das Mädchen auf dem Bild sah mich an und schwieg.

Ich war ganz allein.

Und ich wünschte mir, mehr denn je, einen Freund. Jemanden, der mit mir zusammen das Rätsel im Koffer entschlüsseln konnte.

Ich war nie gut gewesen im Betteln und im Kämpfen – und nie gut darin, Freunde zu finden.

Natürlich kannte ich all die anderen Kinder, die auf der Straße lebten, natürlich gehörte ich irgendwie zu ihrer Clique. Aber Freunde waren sie alle nicht.

Ich holte einen blauen Geldschein aus dem Umschlag. Zwanzigtausend Ariary. Zahlen konnte ich. Darunter waren mehr blaue Scheine … aber dann kamen andere.

Sie fühlten sich anders an und rochen anders, sie rochen nach einer Ferne, die jenseits des blauen Meeres lag.

Dies war ausländisches Geld. Es waren keine Dollar, Dollar hatte ich schon gesehen, und es waren keine Yen. Es musste Geld aus Europa sein. Vielleicht kam es aus Frankreich.

Ndrema hatte gesagt, früher hätte das Land den Franzosen gehört. Heute würde es den Madagassen selber gehören, aber die Franzosen würden immer noch glauben, sie wären die Herren, und deshalb wäre es okay, sie zu beklauen.

Ich wusste nicht, ob er recht hatte.

Ich steckte die Zwanzigtausender ein, es waren zehn – ein Vermögen. Das europäische Geld legte ich in den Umschlag zurück. Dann nahm ich Kotos Stift und Kotos Heft und sah mir die Straße auf der Karte an, die von der Stadt der Städte aus nach rechts führte – in Richtung des hineingemalten Kreises. Und ich malte den Namen der nächsten Stadt auf dieser Straße sorgfältig in das Heft, Buchstabe für Buchstabe, ich zeichnete die Buchstaben ab wie ein Bild.

Dann murmelte ich eine Entschuldigung an Koto, nahm sein Messer und schnitt die Seite heraus.

Eine halbe Stunde später war ich auf dem Weg. Dem Weg zu einem Schatz.

Und während ich den Koffer Stufe um Stufe in Richtung Straße hinaufwuchtete, sah ich meine Zukunft vor mir: Ich sah mich zurückkehren und aus einem nagelneuen Auto steigen, mit polierten Lederschuhen an den Füßen. Ndrema und die anderen Graubraunen würden sich um das Auto versammeln, und ich würde mein gegeltes Haar zurückstreichen und eine Handvoll kleiner Scheine auf sie hinabregnen lassen.

Und dann würde ich in eins der schicken Restaurants gehen und eine Unmenge Essen bestellen, während mein Chauffeur draußen im Wagen wartete, und alle Angestellten des Restaurants würden sich vor mir verneigen …

»Hey, Be!«, rief jemand, und ich sah auf. Ich hatte es gerade geschafft, den Koffer die letzte Stufe hochzuhieven, in die enge Gasse zwischen den Häusern.

Und vor mir, in dieser Gasse, stand Ndrema: breitbeinig, die Arme verschränkt.

Es war klar, ich würde nicht an ihm vorbeikommen. Hinter ihm standen ein paar der anderen, solche, die nicht älter waren als ich.

»Guten Morgen«, sagte ich höflich. Koto war immer höflich gewesen, höflich wie ein feiner Herr.

»Morgen, Bébé«, sage Ndrema und spuckte aus. »Sag mal … ist dieser Koffer nicht ein bisschen zu schwer für dich ganz allein? Sollen wir dir helfen?«

»Danke, es geht«, sagte ich steif. »Es waren nur die Stufen.«

»Ach, nur die Stufen«, wiederholte Ndrema und grinste. »Aber es ist gar nicht dein Koffer, oder, Bébé?«

»Das ist Kotos!«, rief einer der anderen hinter ihm.

»Wo ist er?«, fragte der Kleinste, zwischen Ndremas Beinen hindurch, er war vielleicht vier.

Und fast war ich neidisch auf ihn, denn es musste doch schön sein, wenn man noch so klein war und einen Großen hatte, der einen beschützte und dem man vertraute.

Aber Ndrema, dachte ich dann, vertraute man besser nicht.

Und er nahm Geld fürs Beschützen, selbst von den Kleinsten.

»Wo ist Koto?«, wiederholte Ndrema.

Ich machte meine Augen schmal und sah ihn an. »Ich glaube, das weißt du. Du warst doch da. In der Nacht. Auf der Kirchmauer.«

»Auf welcher Kirchmauer?«, fragte Ndrema zurück. »Kirchen gibt es viele. Koto war also letzte Nacht mit dir in der Kirche?«

Die anderen lachten.

Ich sah zu Boden. »Er ist weg«, sagte ich leise.

»Was?«, fragte Ndrema und kam einen Schritt näher. »Du musst schon lauter reden, wenn du mit mir sprichst.«

Er streckte die Hand aus und hob mein Kinn, sodass ich ihn ansehen musste.

Ich sah ihn nicht gerne an. Er hatte ein fieses Gesicht. Und so ein nervöses Zucken unter einem Auge.

»Koto ist weg«, wiederholte ich, lauter. »Er hatte einen Unfall. Und er hat mir seinen Koffer gegeben.«

»So«, sagte Ndrema nachdenklich und ließ mich los. »So, so.« Und dann: »Er ist tot. Richtig?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich spürte, wie Tränen hinter meinen Augen aufstiegen, aber Ndrema sollte mich nicht weinen sehen, und ich hielt sie mit aller Macht zurück.

»Ich hab immer gesagt, das geht nicht gut, dass er so alleine lebt.« Ndrema nickte. »War klar, dass es ihn eines Tages erwischt.«

»Es war ein Unfall«, sagte ich.

»Oder er hat sich mit den falschen Leuten angelegt«, meinte Ndrema und zuckte die Achseln. »Den Koffer da, Be. Wir werden ihn auf dem Markt verkaufen und das Geld teilen. Gib ihn mir, ich mache das für dich, dich hauen sie doch nur übers Ohr.«

»Nein«, sagte ich. Der Ledergriff schien in meiner Hand zu glühen.

»Wir brauchen Geld«, sagte Ndrema.

»Ich habe Geld«, sagte ich und griff in meine Tasche. Ich spürte, wie die Augen der anderen an mir klebten, als ich den Schein herauszog und ihn Ndrema gab. Einen blauen Zwanzigtausender.

»Und jetzt lass mich vorbei.«

»Moment«, sagte Ndrema. »Woher hast du das?«

»Von Koto«, sagte ich, und ich sah, wie seine Hand auf mich zukam, weil er ahnte, dass da mehr war: mehr Geld, das er aus mir herausschütteln konnte. Ich schloss kurz die Augen.

Koffer, sagte ich im Geiste, du bist voller merkwürdiger Dinge, warum kann nicht genau jetzt etwas herauskommen, was mich rettet?

Und dann hörte ich Schritte und öffnete die Augen. Eine alte Frau kam die Gasse hinab, eine gebeugte Frau mit einem schwarzen Strohhut, die ein langes dunkelgraues Wolltuch um sich gewickelt hatte. Man sah ihr Gesicht nicht, ihre ganze Erscheinung hatte etwas Seltsames, etwas Dunkles, und ich sah, dass sie schwarze Schnürstiefel trug, die hätten laut klicken müssen auf dem Boden, aber ihre Schritte waren leise.

Ndrema und die kleinen Kinder wichen zurück an die Wand, um die Frau durchzulassen.

Und ich nutzte meine Chance. Ich hechtete voran, den Koffergriff in der Hand, und war ebenfalls vorbei an den Jungs. Rannte, den Koffer hinter mir herrollend, hinauf zur großen Straße.

»An diesem Koffer klebt Blut!«, rief Ndrema mir nach. »Wusstest du, dass Koto einen umgebracht hat, um den Koffer zu kriegen? Damit wirst du nicht glücklich! Denk an die Geister!«

»Denk an die Geister!«, riefen die Kleinen.

Aber da war ich schon oben auf der Straße, ich tauchte in den Sonnenschein ein, ins Gewusel der Menschen, in die Abgase der im Stau feststeckenden Autos. An der Ecke vor dem Hotel standen jetzt der Wachmann und die Frauen, die ihre Stickereien anbieten. Hier würde Ndrema nicht wagen, mich fertigzumachen. Ich atmete auf.

Woher war die Frau gekommen?

Denk an die Geister …

Ich schüttelte den Kopf und holte die Heftseite heraus.

Dann zog ich den Rollkoffer über die Straße, bis zu dem Hotelwachmann. Er war zu zweit, und beide hatten die Arme verschränkt und sahen von der Treppe auf mich hinab. Hinter den Glaswänden saßen die Vazahas und aßen Brötchen mit Butter und Marmelade und kleine Kuchen wie immer.

Eines Tages würde auch ich dort sitzen.

»Was willst du denn, Kleiner?«, fragte der jüngere Wachmann. »Ein Zimmer für die Nacht?«

Sie brachen beide in schallendes Gelächter aus.

»Nein«, sagte ich. »Vielleicht ein andermal. Aber könnten Sie so freundlich sein, mir zu sagen, was da steht?« Ich hielt ihm das Papier entgegen, mit dem Namen der Stadt, in deren Richtung ich musste.

»Wer hat das geschrieben?«, fragte der Wachmann.

»Ich«, sagte ich.

»Warte, du hast es geschrieben, und jetzt sollen wir es dir vorlesen?«, fragte der andere.

Ich nickte. »Es war im Koffer«, sagte ich.

»Alles klar«, sagte der ältere Wachmann.

»Da steht Andasibe«, sagte der jüngere.

»Danke«, sagte ich. »Und wo ist die Straße nach Andasibe?«

»Im Osten.« Er zeigte. »Ungefähr hier den Hügel runter, dann lange geradeaus bis zum Stadtrand und dann … Dann fragst du weiter.«

Ich nickte und nahm das Papier wieder an mich: Wie nützlich doch Buchstaben sein konnten!

»Sag mal, der Koffer«, meinte der ältere Wachmann, »das ist doch nicht deiner? Bringst du den für jemanden wohin?«

»Ja«, sagte ich rasch. »Das tue ich.«

Und dann machte ich, dass ich wegkam. Ich hörte sie hinter mir herrufen, vielleicht glaubten sie, ich hätte den Koffer gestohlen.

Wusstest du, dass Koto einen umgebracht hat, um den Koffer zu kriegen?, hatte Ndrema gesagt. Aber sicher war das gelogen.

Ich rannte die ganze Straße hinunter, doch die Bürgersteige der Stadt der Städte sind schmal und voller Verkaufsstände und Menschen und die Straßen voller Autos. Ich schlängelte mich mit meinem Koffer durch, entschuldigte mich ständig dafür, dass ich die Leute anrempelte …

Dann sah ich unten im Tal den See glänzen, blau und wunderschön, und ich sah, wie die Busse sich daran entlangschoben. Busse, die vielleicht nach Osten fuhren.

Und da setzte ich mich auf den Koffer und rollerte los.

Einem rollenden Koffer in voller Fahrt weichen die Leute eher aus als einem schmächtigen Jungen, der sich dauernd entschuldigt.

Der Fahrtwind blies mir ins Gesicht, und plötzlich fühlte ich mich unverwundbar.

 

Die Busse waren zu voll. Allesamt. Die Leute quollen hinten hinaus, da, wo man zusteigt und wo immer einer steht, der den Zielort ruft. Doch niemand rief den Namen meiner Stadt.

»Osten?«, fragte ich. »Andasibe?«

Aber als endlich einer der Busschaffner nickte, fuhr der Bus gar nicht nach Andasibe.

»Da brauchst du ein Taxi Be, so ein Überland-Ding«, sagte er. »Junge, die fahren hier nicht ab. Du kannst mit uns bis zum Sammelplatz der Taxi Be fahren.«

»Taxi Be«, murmelte ich. Als hätten sie das Taxi extra für mich gebaut.

Der Mann warf meinen Koffer aufs Dach, einem anderen zu, der ihn festzurrte. Dann wollte er mich mit sich in den Bus ziehen, doch ich schüttelte verzweifelt den Kopf. »Der Koffer!«, keuchte ich. »Mein Koffer!«

Und ich drückte ihm einen viel zu wertvollen Zwanzigtausenderschein in die Hand, damit er mich losließ, und kletterte die Leiter hoch. Da lag er, mein Koffer, das Leder glänzte in der Sonne. Neben ihm war eine Ziege festgebunden, und neben der Ziege ein Korb mit schwarzen Hühnern, die mich neugierig beäugten.

»Ich fahre nach Osten«, erklärte ich ihnen. »Ich finde dort einen Schatz.«

Irgendwie sahen die Hühner nicht aus, als nähmen sie mich ernst, aber Hühner sind dumm.

Ich war der König der Stadt.

Ich, dort über der hupenden, rauchenden Autoschlange.

Auch wenn der Thron, auf dem ich saß, nur ein alter Koffer auf einem Bus war. Ich sah den Rova, den alten Königspalast, oben auf seinem Hügel, und ich dachte an die Könige und Königinnen von früher und lächelte zu ihnen hinauf.

Sie hatten sich auf den Rücken von Sklaven herumtragen lassen, aber mein Bus war höher. Und außerdem waren sie tot und lagen irgendwo in ihren Grabkammern, ihre Knochen in weiße Tücher gewickelt, und was nützte es ihnen schon, dass es alle paar Jahre ein Fest gab und man sie in neue Tücher wickelte? Ich konnte alles erleben, und ich entschied ganz allein, wann ich mich in ein Tuch wickelte, weil ich fror.

Ich sah auch zum alten Palast des Präsidenten empor, und der Präsident lebte natürlich und hatte Macht, er konnte aus seinen Ministern so viel Geld herauspressen, wie er gerade brauchte, er erfand einfach irgendeinen Grund, und die Minister pressten es dann aus den einfachen Leuten heraus, das wusste jeder. Der Präsident hatte sicher ein schönes Leben mit all dem herausgepressten Geld.

Aber garantiert durfte der Präsident nicht auf dem Dach eines Busses fahren, sondern musste in einer langweiligen Limousine sitzen.

»Außerdem«, sagte ich zu ihm, »werde ich so reich sein wie Sie, wenn ich den Schatz gefunden habe. Und berühmt. Und dann werde ich wiederkommen, und Sie werden mich zu Tee und Kuchen einladen, und ich werde in meinen neuen feinen Kleidern am Tisch sitzen und sagen, ach, Tee, nein danke, ich nehme ein Glas Champagner

 

Doch an diesem Tag, an dem alles begann, aß ich keinen Kuchen.

Ich aß nur ein paar Löffel Reis und ein kleines Stück Fleisch. Obwohl ich einen großen Teller voll kaufte, mit Reis und Fleisch und Bohnen. Und es war bedeutsam, dass ich den Reis kaufte, denn sonst hätte ich nie meinen linken Vorderzahn verloren und wäre nie vor dem goldenen Tor gelandet und hätte nie den besten Freund kennengelernt, den ich je hatte.

Und ich hätte vermutlich nie herausgefunden, dass der Koffer noch ein weiteres Geheimnis barg.

Ich kaufte den Reis an einem kleinen Stand am Sammelplatz der Taxi Be, der Überlandbusse. Es war schon Nachmittag, denn durch den Stau in der Stadt der Städte zu kommen, dauert viele Stunden, und mein Magen knurrte unüberhörbar.

Ich musste sowieso warten, bis das nächste Taxi Be nach Andasibe abfuhr, denn es würde erst fahren, wenn es voll war, und noch war es leer.

Und da saß ich also mit meinem Teller in der Sonne, einem weißen Plastikteller mit aufgedruckten Rosen. Ich würde mich zum ersten Mal ganz und vollkommen satt essen, dachte ich, wie ein wahrer König.

Und dann sah ich, dass auf einem kaputten Autoreifen mitten im Gewimmel jemand hockte und mich beobachtete. Es war eine alte Frau mit einem schwarzen Strohhut. Eigentlich sah ich nicht wirklich, dass sie mich beobachtete, ich spürte es. Denn der Hut verbarg ihr Gesicht.

Alte Frauen mit Strohhüten gibt es viele, sagte ich mir, Madagaskar wimmelt nur so von ihnen.

Aber an den Füßen trug die Frau hohe schwarze Schnürstiefel.

»Die ist eine Zauberin«, wisperte der Mann neben mir, der ebenfalls Reis löffelte und zu ihr hinübersah: ein Lastkarrenzieher, neben sich den riesigen, klobigen Holzkarren. Der verdiente genug Geld, um jeden Tag einen Teller Reis zu essen. Einen Moment lang war ich neidisch. Dann dachte ich daran, dass ich bald reich sein würde, und da tat er mir leid mit seinen platt gelaufenen Füßen.

»Eine Zauberin«, wiederholte er leise, hustete und spuckte in den Staub. »Ich komm immer mittags, und seit ein paar Wochen seh ich sie ab und zu hier. Sie sitzt da, als würde sie hier auf jemanden warten. Jemanden, der nie kommt. Vielleicht wartet sie auf einen Toten. Einen Geist. Oder …« Er wurde noch leiser. »Oder sie ist selbst einer.«

Ich sah mir die Frau noch einmal an. Sie saß gekrümmt da, reglos, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Aber sie sah recht kompakt aus. Eigentlich nicht wie jemand, der tot ist.

»Was sagt sie denn, warum sie hier ist?«, fragte ich den Mann.

»Nichts«, wisperte er. »Sie ist stumm. Aber …«, und er rückte etwas näher zu mir, »aber es heißt, nachts nimmt sie den Hut ab, und dann singt sie. Einer will das mal gehört haben, und es ist ihm durch und durch gegangen. Das ist eine Schwarzmagierin, verstehst du, ihr Gesang bringt nichts Gutes. Sie sagen, wenn sie merkt, dass einer zuhört, der nicht zuhören soll, dann verschwindet sie aus der Gegend, ehe man sie zur Rede stellen kann, und taucht woanders wieder auf.«

»Aber auf wen, glauben Sie, wartet sie hier?«, fragte ich.

Er zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Vorhin hat sie deinen Koffer angeguckt. Was haste denn da drin?«

»Oh, nichts Besonderes«, sagte ich, und ich dachte: Diese alte Frau hat etwas mit dem Koffer zu tun. In der schmalen Gasse habe ich mir gewünscht, dass der Koffer mir hilft, und dann war plötzlich die Frau da.

Es überlief mich kalt. War auch der Koffer ein Instrument der schwarzen Magie?

Nein, sagte ich mir, die Sonne schien, und es gab keine Ahnengeister am Busbahnhof. Und übrigens war die Alte gar nicht mehr da, als ich wieder hinsah.

 

Ich konzentrierte mich wieder auf meinen Teller, löffelte Bohnen und ein Stück Rindfleisch auf – und plötzlich fiel ein Schatten auf mich.

»Guten Appetit auch«, sagte er. Es war Ndrema.

»Ich … ich … was machst du denn hier?«, stotterte ich und sprang auf. Der Karrenzieher hatte eben seinen Teller zurückgegeben und nickte mir zum Abschied zu, ehe er sich vor seinen Karren spannte wie ein Zebu-Rind und ihn davonzog, um irgendwo Ware auszuliefern. Verdammt, der würde mir nicht helfen.

»Ja, war eine ganz schöne Hetzjagd, mit den vielen Bussen«, sagte Ndrema und lächelte breit. »Du machst es einem nicht leicht, Bébé. Ts, ts. Einfach abzuhauen aus unserem Viertel! Ich bin der Chef. Schon vergessen?«

»Ich bin nicht mehr in deinem Viertel«, sagte ich und schluckte schnell die Bohnen hinunter. »Hier bist du nicht der Chef.«

»Oh, ich bin dein Chef«, sagte Ndrema. »Egal, wo du dich befindest.« Seine Stimme schnurrte. »Sieht gut aus, was du da hast.«

»Ich habe es bezahlt«, sagte ich und würgte ein Fleischstück hinter den Bohnen her, ohne es richtig zu kauen. Was ein Fehler war, es war zwar jetzt sicher in meinem Bauch, niemand konnte es mir mehr wegnehmen, aber mein Hals fühlte sich an wie der einer Schlange, die einen Affen verschluckt hat. Im Gegensatz zu mir hatte die Schlange allerdings zwei Monate Zeit, zu verdauen. Ich hatte zwei Sekunden.

»Das Geld«, zischte Ndrema. »Ehe du mein Viertel verlässt, zahlst du für die letzten zehn Jahre. Wir haben dich gefüttert, seit du laufen kannst, dich vor der Polizei geschützt, dir einen Schlafplatz gegeben. Die Clique war wie eine Mutter zu dir, als deine eigene unter die Räder gekommen ist.«

Und dann sprang er. Wie die Fossas, die ich nur von Bildern kannte, rundohrige, goldfellige, scharfzähnige Jäger, die in den Bäumen gelebt hatten, als es noch überall Urwald gab.

Ich sprang ebenfalls. Wie die Lemuren, wenn sie durch die Äste vor den Fossas fliehen.

Keiner von uns hatte je wirklich eine Fossa oder einen Lemuren gesehen, die schnellsten Tiere, die wir kannten, waren Autos mit Allradantrieb. Und doch waren wir wie diese Tiere, waren Räuber und Beute: Ich hechtete quer über den Platz, tauchte unter den Leuten durch und sauste auf das Taxi Be zu, das nach Andasibe fahren würde. Es war jetzt fast voll.

Ich war uneinholbar, ich war ein schwarz-weißer Ringellemur, wie die auf den Reklameplakaten für Touristen: wunderschön und geschmeidig … doch leider war ich ein Lemur mit Rollkoffer.

Ndrema warf mich kurz vor dem Taxi Be zu Boden. Er versuchte, in meine Tasche zu greifen, und ich schlug wie wild um mich, spuckte, kratzte.