1 Kirschkern und Räuberwurst

Ssssssst. Ein schrilles Zischen zerriss die Stille am Morgen im Räuberwald. Der kleine Räuber Rapido drehte den Kopf und rieb sich die Augen. Etwas Kleines, Rundes sauste mit Karacho auf ihn zu. Es kam näher. Und näher. Er konnte sich gerade noch wegducken – da schlug es hinter ihm ein.

»Autsch!«, rief Störenfried und fasste sich an den Po. »Räuberangriff von rechts!« Mit einem Satz verschwand der kleine Waschbär hinter einem Baum.

Rapido grinste und bückte sich. »Runkel-Rüben-Räuber-Unsinn!«, sagte er und hob einen Kirschkern auf. »Da übt nur jemand Weitspucken.« Suchend schaute er sich um. Hinter einem Stapel Baumstämme entdeckte er einen dunklen, wuscheligen Haarschopf. »Hab ich’s mir doch gedacht …«, murmelte er und rief laut: »Zap-Zerap! Komm raus!«

Hinter den Stämmen tauchte ein Räubermädchen mit dunklen, blitzenden Augen auf. »Gurken-Grütze noch mal!«, fluchte sie. »Woher wusstest du, dass ich das war?«

»Erstens haben deine Haare hervorgeschaut. Zweitens trifft keiner so gut wie du. Und drittens gibt es niemanden in der ganzen Räuberbande, der überhaupt so weit spucken kann.«

»Stimmt«, sagte Zap-Zerap.

»Was machst du überhaupt hier, um diese Uhrzeit?«, schimpfte Störenfried, der immer noch ein bisschen wütend war.

Zap-Zerap sah den kleinen Waschbären verwirrt an. »Ich will in die Schule. Und ihr?«

»Pünktlich?«, fragte Rapido erstaunt. Denn normalerweise war er der einzige kleine Räuber, der morgens zum Stundenbeginn im Klassenraum saß. Räuber hielten nämlich nicht so viel von Pünktlichkeit. Die kamen, wann sie wollten. Die sagten auch nicht »Entschuldigung«, wenn sie eine Stunde später durch die Tür schlurften. Nein, ein richtiger Räuber motzte, müffelte und machte ordentlich Rabatz. Der dachte nicht lange nach. Über saubere Ohren und Füße. Oder so etwas wie Höflichkeit. Richtige Räuber überlegten eigentlich überhaupt nie. Da ging es Rutz-Putz-Räuberschmutz zur Sache. Und zwar mit Attacke!

»O Maaann, Rapido!« Zap-Zerap stöhnte und verdrehte die Augen. »Heute stellt uns Lehrer Lumpus doch die neue Aufgabe für den Räuberwettkampf! Schon vergessen?«

Natürlich hatte Rapido das nicht vergessen. Der Räuberwettkampf war eine große Sache. Da konnte man eine Räuberwurst gewinnen. Und somit beweisen, dass man richtig räuberisch war. Und das musste Rapido unbedingt.

Denn niemand in der ganzen Räuberhorde glaubte, dass er das Zeug zu einem echten Räuber hatte. Selbst sein Vater, der wilde Räuberhauptmann Rigoros, zweifelte daran. Manchmal saß er nach einem langen Räubertag mit hängenden Schultern am Abendbrottisch und murmelte: »Wie soll aus diesem unräuberischen Jungen nur jemals ein Räuberhauptmann werden …« Und er sah dann ganz unglücklich aus, wenn er seine abgeknabberte Wildschweinkeule schwungvoll hinter sich warf.

Das machte Rapido immer sehr traurig. Er wollte doch, dass sein Vater Rigoros glücklich war. Dass er stolz auf ihn sein konnte. Und dass er irgendwann einmal, wie alle Räuber aus der Rrrr-Sippe, selbst zum Räuberhauptmann werden würde. Er gab sich wirklich riesengroße Räubermühe. Er hatte sogar den ersten Wettkampf um die Räuberwurst gewonnen!

Allerdings mit List und Tücke. Und mithilfe eines Buches. Nicht mit Lospoltern und Draufhauen. So, wie Räuber das normalerweise machten.

Darum musste er jetzt auch unbedingt die zweite Räuberwurst gewinnen. Dann wäre nämlich auch dem letzten rüpeligen Räuber klar, dass Rapido so richtig rabaukenmäßig räuberisch war. Dann wäre auch sein Vater glücklich. Und dann wäre endlich alles gut.

»Haha!«, riss Störenfried ihn da aus seinen Gedanken. Der kleine Waschbär hatte sich mächtig vor Zap-Zerap aufgeplustert. »Du Kirschkern-spuckendes Räubermädchen glaubst wohl, du kannst diesmal die Räuberwurst gewinnen?«

»Könnte sein!«, antwortete Zap-Zerap und funkelte Störenfried streitlustig an.

»Die Räuberwurst gewinnt man aber mit Köpfchen – und nicht mit Kirschkernen!«, stänkerte der kleine Waschbär weiter.

»Hört auf! Wir sollten lieber die da im Auge behalten!«, mischte sich nun Rapido ein und deutete mit dem Kinn zum Dorfplatz.

Von dort kam nämlich der fiese Schurkan herangestapft, der Sohn des Ersatzhauptmanns Schufterus. Und mit ihm seine gemeinen Kumpel.

Zap-Zerap zog verächtlich einen Mundwinkel hoch. »Pfff! Glaubt dieser Blödräuber wirklich, dass er diesmal gewinnen kann?«

Störenfried zog seine kleine Waschbärenstirn in Sorgenfalten. »Na ja. Er will nicht nur die Räuberwurst gewinnen, er will ja sogar mal Räuberhauptmann werden!«

Rapido seufzte. »Stimmt. Und darum, fürchte ich, wird es diesmal noch schwerer, die Räuberwurst zu gewinnen.«

Und damit hatte er leider recht.

2 Beben im Räuberwald

Das hatte es im Räuberlager noch nie gegeben: Alle kleinen Räuber saßen auf ihren Bänken, als Räuberlehrer Lumpus in den Klassenraum stapfte. Fassungslos rieb Lumpus sich den Schlaf aus den Augen. »Zum Puffotter-Pups noch mal! Was ist denn hier los?«, motzte er. »Sind hier plötzlich alle vom wilden Räuberfloh gebissen worden? Wieso seid ihr pünktlich?« Drohend schwenkte er seine Faust. »Jetzt sagt bloß noch, ihr habt euch gewaschen!«

»Iiiih! Waschen!«, brüllten alle kleinen Räuber. Bis auf Rapido. Der hatte am Morgen nämlich tatsächlich einen Waschlappen benutzt. Und die Zähne geputzt.

»Bäh! Sauber machen! Doch nicht freiwillig!«, grölte Schurkan.

»Na, da habt ihr aber Glück gehabt«, brummelte der Lehrer. »Sonst hätte ich mich gleich auf meinen Stinkefüßen umgedreht und wär zurück in meine Höhle gekrochen.«

»Wir wollen unsere neue Aufgabe für den Räuberwettkampf!«, grölte Schurkans bester Kumpel Unhold und haute mit der Faust auf den Tisch.

»Schon am frühen Morgen soll ich überlegen?«, polterte der Räuberlehrer los. »Für diese unverschämte Bemerkung bekommst du drei sternige Fettflecke ins Klassenbuch. Weiter so, du Nervensäge!« Dann ließ er sich auf seinen Lehrerstuhl plumpsen und legte die Füße auf das Pult. »Also. Eine räuberische, tückische, fiese Aufgabe …«

In dem Moment begann der Boden zu beben. Die Tische und Hocker zitterten. Bücher purzelten aus dem wackeligen Regal. Sand rieselte aus der Hüttendecke. Und der ganze Wald wurde von einem schrecklichen Dröhnen erfüllt.

»Die Welt geht unter«, quietschte Störenfried. Mit einem Satz sprang er unter Rapidos Tisch und drückte sich an dessen Beine. Rapido legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich glaube nicht«, flüsterte er Störenfried beruhigend zu. Obwohl er sich da nicht so ganz sicher war. Denn solche Geräusche hatte auch er noch nie gehört.

»Ratten-rasch-raus aus der Bude!«, brüllte Räuberlehrer Lumpus. »Rennt!«

Die kleinen Räuber sprangen über Tische und Bänke. Aus dem Fenster und hinaus auf den Dorfplatz. Da schlug der alte Halunki schon die Alarmglocke. Die großen Räuber und Räuberinnen stürmten aus ihren Höhlen. Andere sprangen nackig aus dem Matschloch. Es war ein Rennen und Schubsen. Alle brüllten und grölten durcheinander. Jeder wollte wissen, was passiert war!

»Das ist bestimmt ein Drache!«, schrie Unhold.

»Die gibt es doch gar nicht mehr«, polterte Schurkan.

»Sicher?«, fragte sein Kumpel Mobsi, dem der Angstschweiß von der Stirn triefte.

»Hey!« Zap-Zerap knuffte Rapido in die Seite. »Bevor hier jetzt wieder alle die Riesen-Räuber-Diskussion starten, sollten wir der Sache lieber auf den Grund gehen. Kommst du mit? Oder hast du Schiss?«

»Unken-Unsinn«, entgegnete Rapido. Aber er musste sich ganz schön anstrengen, dass seine Stimme nicht zitterte. Hoffentlich hatte Zap-Zerap das nicht gehört. Darum gab er schnell lieber ein bisschen an: »Für mich klingt das sowieso nur wie eine Monstermaschine von den Normalos.«

»Stimmt!« Zap-Zerap sah ihn anerkennend an. »Wie bist du so schnell darauf gekommen?«