Über dieses Buch:
Auf den ersten Blick könnten sie nicht unterschiedlicher sein: Mavie, das einstige Glamour-Girl, und die bodenständige Sarah, die gerade erst in die Großstadt gezogen ist. Aber eins haben die beiden gemeinsam: Weil die Männer an ihrer Seite erfolgreiche Sportler sind, müssen sie sich die Bezeichnung »Spielerfrauen« gefallen lassen … jedenfalls bis zu dem Tag, an dem sie ohne Vorwarnung gegen jüngere, schnittigere Modelle ausgetauscht werden. Das wollen die beiden natürlich nicht auf sich sitzen lassen – Klatschpresse und blöde Machomänner können bleiben, wo der Pfeffer wächst! Denn irgendwo da draußen, das wissen Mavie und Sarah ganz genau, wartet das große Glück darauf, endlich von ihnen gefunden zu werden …
Anneke Mohn über »Nachspielzeit in Sachen Liebe«: »Ein Buch mit Herz, Witz und viel Atmosphäre, das ich gar nicht mehr aus der Hand legen konnte. So sollen Liebesromane sein!«
Über die Autorin:
Meike Werkmeister, geboren 1979 in Münster, lebt mit ihrer Familie in Hamburg. Sie arbeitet als freie Autorin für verschiedene große Magazine. In der Frauenzeitschrift »Maxi« erscheint seit 2010 ihre Kolumne »Soviel zum Thema«. »Nachspielzeit in Sachen Liebe« ist ihr erster Roman.
Die Autorin im Internet: www.meikewerkmeister.de
Die Autorin auf facebook: www.facebook.com/werkmeister.meike
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Originalausgabe März 2016
Copyright © 2016 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Redaktion: Renate Kunstwadl
Titelbildgestaltung: Maria Seidel, www.atelier-seidel.de, unter Verwendung von istockphoto/Tinatin1 und IvicaNS
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN 978-3-95824-502-0
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Meike Werkmeister
Nachspielzeit in Sachen Liebe
Roman
dotbooks.
Dass Karlo sie verlassen hatte, bemerkte Sarah daran, dass eine andere Frau sein Mittagessen kochte. Diese stand in einem aufreizend kurzen Minikleid in ihrer Küche und hatte sich Sarahs alte Kochschürze umgebunden, die ihre Mutter ihr einmal aus Mangel an Kreativität zu Weihnachten geschenkt hatte.
Sarah roch den würzigen Geruch von angebratenen Zwiebeln, als sie am späten Vormittag in ihr Haus im Münchner Nobelstadtteil Grünwald trat. Ganz kurz fragte sie sich, ob Karlo etwa selbst kochte, aber sie verwarf den absurden Gedanken schnell wieder. Und als sie dann von der Diele in die große offene Küche trat, die an ein immenses Wohnzimmer angrenzte und an einen noch immenseren Garten, der von hohen Hecken und einem Sichtschutzzaun umgeben war, sah sie die andere.
Sie hatte lange, fast schwarze Haare, verbrachte offensichtlich viel Zeit unter einer Sonnenbank und hatte ihren schlanken, kurvenreichen Körper in beeindruckend wenig Kleidung gezwängt.
Sarahs fassungsloser Blick fiel sofort auf den riesigen Busen, der aus dem Schürzenlatz hervorquoll und ganz offensichtlich nicht einer Laune der Natur, sondern den geschickten Händen eines Schönheitschirurgen zu verdanken war.
Noch bevor Sarah sich nur annähernd erklären konnte, wer diese merkwürdige Erscheinung war und was sie ausgerechnet in ihrer Küche zu suchen hatte, öffnete diese ihre pluderigen, perlmuttglänzenden Lippen und sagte: »Du musst Sarah sein.« Ihre dunkle Stimme passte so gar nicht zu ihrem Erscheinungsbild, aber an ihr passte auch sonst nichts richtig zueinander, fand Sarah. Sie selbst stand dort mit ihren notdürftig zum Zopf gebundenen Haaren, ihrer Jeans in Bundweite 32 und einem Baumwoll-Sweatshirt, auf dem »Rock it, Baby« stand, und kam sich merkwürdig farblos neben der aufgetakelten Tussi vor.
»Was tun Sie in meiner Küche?«, fragte sie schließlich und hörte selbst, dass ihre Stimme panisch klang.
Die Sonnenbank-Braut griff nach ihrem Salzstreuer und salzte energisch das, was in Sarahs Pfanne munter vor sich hin brutzelte und auf den ersten Blick nach Hackfleisch-Soße aussah. »Ich soll dir von Karlo sagen, dass er erst mal keinen Bock mehr auf dich hat. Er ist noch beim Training, und wenn er nach Hause kommt, will er dich hier nicht mehr sehen.« Sie sah Sarah mit hochgezogenen, zu schmal gezupften Augenbrauen an. »Sorry, ich bin nur der Überbringer schlechter Nachrichten, erschieß mich nicht, okay?«
Sarah wusste nicht, was sie in diesem Moment mehr schockierte: die Überbringerin oder die Nachricht. »Und wer bist du?«, brachte sie dennoch hervor.
»Sherry«, sagte das Wesen, kam einen Schritt auf Sarah zu und hielt ihr eine Hand mit glitzernden falschen Fingernägeln entgegen. Sarah hätte sich später dafür ohrfeigen können, aber sie war nun mal ein höflicher, freundlicher, gut erzogener Mensch. Also nahm sie die Hand voller Plastik und drückte sie kurz, wobei ein Geräusch entstand, als ob man zwei Playmobilmännchen aneinanderrieb. Ein »erfreut« konnte sie sich gerade noch verkneifen.
Sherry verschränkte vor Sarahs Schürze, vor ihrem massiven Busen, ihre dünnen Arme und legte den Kopf schief. »Ich bin ’ne Freundin von Karlo, und in der Not sind Freunde füreinander da. Mehr kann ich zu der Sache nicht sagen, nur, dass du weg sein sollst, wenn er nach Hause kommt.«
Einen kurzen Moment standen die beiden ungleichen Frauen noch unschlüssig voreinander. Sarah fragte sich, ob das die Art und Weise sein würde, wie sie von ihrer ersten und bisher einzigen Liebe Abschied nehmen würde. Eine andere Frau in ihrer Küche, die ihr sagte, dass er sie nicht mehr sehen wollte. Nach zehn Jahren Beziehung hatte Karlo nicht einmal den Mut gehabt, selbst Schluss zu machen. Und weil er ohne sie aufgeschmissen wäre, war schon die Nächste eingezogen.
Ohne ein weiteres Wort machte Sarah sich auf den Weg ins Schlafzimmer, um ihre Sachen zu packen. Sie erlaubte sich nicht, sich selbst zu fragen, wie sie sich dabei eigentlich fühlte. Sie befürchtete, dann auseinanderzufallen wie eine brüchige Gipsstatue. Sie wurde nur noch von hauchdünnen Fasern zusammengehalten, und sie musste alles dafür tun, dass sie nicht zerrissen, denn es gab etwas in ihr, das unter keinen Umständen herausfallen durfte.
Im Flur sah sie die Tasche. Sie war pink und glitzernd und offensichtlich nicht nur für eine Nacht gepackt. Sie gehörte ohne jeden Zweifel Sherry.
Wo sie hingehen würde, wenn sie die wenigen Dinge, die hier wirklich ihr gehörten, in einem Koffer in ihren alten Opel Corsa geworfen hatte? Sarah hatte keine Ahnung.
***
Der Tag, an dem Serge Mavie verließ, war einer, an dem der Himmel strahlend blau war und es gleichzeitig aus ein paar dicken, dunklen Wolken regnete.
Mavie stand am Fenster und blickte auf die Dachterrasse mit den vertrockneten Geraniennestern darauf, die sie seit langem hatte entsorgen wollen. Sie spürte die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht, hörte das Prasseln des Regens auf den Steinfliesen draußen, sah den Regenbogen hoch über der Stadt, der mit seinen leuchtenden Farben den Eindruck zu erwecken versuchte, dies sei ein Tag für Lila, Orange, Gelb und Rosa.
Serge stand einige Meter hinter ihr, sie hatte kurz verdrängt, dass er hier war, so sehr hatte sie sich auf das Naturschauspiel draußen konzentriert. Sie hörte, wie er mit seinen Schuhspitzen sachte gegen den Velourssessel stieß, wie er schwer ein- und ausatmete, mit seinen gepflegten Fingern sein unrasiertes Kinn massierte.
»Mavie, willst du denn gar nichts dazu sagen?«, fragte er schließlich, mit seiner dunklen, melodischen Stimme, auf seine typische, liebevolle Art.
Man hätte meinen können, er hätte ihr einen Heiratsantrag gemacht und ihr nicht soeben mitgeteilt, dass er nach 14 Jahren Ehe im Begriff war, seine Sachen zu nehmen und zu gehen. Aber das war eben seine Art – selbst die schlechten Dinge auf eine schöne Weise anzusprechen. Fürs Streiten war Serge nicht gemacht. Er wollte das hier sauber und friedlich zu Ende bringen.
Mavie konnte nicht antworten. Wenn sie jetzt ein Wort sagen würde, würde vielleicht der riesige Korb voller Schmutzwäsche umkippen, den sie beide sich so viele Jahre lang geweigert hatten, auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Auf den Mavie bei jeder Demütigung ein neues Wäschestück gequetscht hatte, bis sie das Gefühl hatte, er fülle sie bis oben hin aus und sie könne seinetwegen nicht mehr atmen. Sie fürchtete, sie würde schreien und toben, wenn der Korb endlich zerbarst. Vielleicht würde sie ihre schönen roten Locken zerzausen, ihr akkurates Make-up verschmieren oder die teuren Pumps mit den roten Sohlen an ihren Füßen, die Serge ihr erst vor wenigen Wochen von einer Geschäftsreise mitgebracht hatte, ausziehen und nach ihm werfen. Sie würde das stumme Einvernehmen, in dem sie gelebt hatten, zerstören. Sie würde sie beide in eine Situation bringen, die ihnen sehr unangenehm wäre und von der sie sich nie wieder erholen würden.
Also drehte sie sich einfach nur um, ging wie ferngesteuert auf Serge zu, drückte ihm einen sanften Kuss auf die kratzige Wange, roch sein herbes Aftershave, von dem sie auf den Cent genau wusste, was es kostete, weil sie es jahrelang für ihn gekauft hatte, und hauchte »Leb wohl«. Dann ging sie, die Hüften schwingend, auf ihren hohen Schuhen, in ihrem perfekt sitzenden Etuikleid, mit ihrem perfekten 38-jährigen Körper, der anscheinend nicht mehr jung genug, nicht mehr perfekt genug für Serge war, Richtung Wohnungstür und hinaus in den sonnigen Regen.
Wenn sie später zurückkam, würde er seine wichtigsten Besitztümer in erstaunlich kurzer Zeit zusammengeräumt haben und mit ihnen aus ihrem Leben verschwunden sein. Sie war sich sicher, er würde dabei ein paar Tränen vergießen und sich mit einem wehmütigen, aber wohligen Gefühl von ihrem gemeinsamen Zuhause und ihrem gemeinsamen Leben verabschieden. Er hatte so viel Neues, Aufregendes vor sich, er würde nicht lange zurückblicken.
Vor ihr lag: nichts.
Mavie fühlte sich an Serges Arm wie eine Prinzessin. Das hatte sich in den Jahren, in denen sie nun mit ihm lebte, nie geändert. An seiner Seite einen Raum voller erwartungsvoller, staunender Blicke zu betreten, war niemals weniger aufregend geworden als beim ersten Mal. Und noch wie damals, bei jenem ersten Ereignis, an dem sie seine Prinzessin sein durfte, die er stolz in seine Welt einführte, bereitete Mavie sich akribisch darauf vor. Sie wusste: Von Serge erwartete man, dass er charmant war, dass er staatsmännisch lachte und ein paar Anekdoten aus seiner aktiven Fußballerzeit erzählte. Von Mavie erwartete man lediglich, dass sie gut aussah.
An diesen simplen Mechanismen im Profifußball war die Emanzipation spurlos vorübergegangen, und Mavie hatte sich kampflos in ihr Schicksal gefügt. Was Generationen von dauergewellten Spielerfrauen ertragen hatten, würde sie nicht über Nacht ändern. Und so warf sie sich mehrmals im Jahr in eine Prinzessinnenrüstung und verkleidete sich als die Frau, um die Serge für einen Abend glühend beneidet werden konnte.
Heute bestand diese Rüstung aus einem dunkelblauen Abendkleid, dazu tannengrünen Jimmy-Choo-Peeptoes und auberginefarbenen Nägeln (die zu ihrem hellen Teint sehr edel aussahen) sowie einem Make-up, das von Laien für das Werk einer Visagistin gehalten wurde, das Mavie aber eigenhändig über die Jahre perfektioniert hatte. Sie trug winzige Perlenohrringe und eine schmale Perlenkette, doch ihr größter Schmuck war wie immer ihr Haar. Es war leuchtend kupferrot und fiel in Tausenden kleinen Kringeln über ihre stolzen Schultern. Eine solche Naturkrause bedeutete wahnsinnig viel Arbeit, aber ihre Wirkung war magisch. Wo immer Mavie auch hinging, klebten die Blicke an ihren Haaren. Das war schon so gewesen, als sie ein kleines Mädchen gewesen war, und bis heute verging kein Tag, an dem nicht mindestens eine fremde Person auf der Straße sehnsüchtig auf ihre Locken sah und sagte: »Sie haben unfassbar schönes Haar.«
Manchmal, in ganz schwachen Momenten, fragte Mavie sich, ob Serge sie damals wegen ihrer Mähne ausgesucht hatte. Sie garantierte ihm auf jedem Sportlerball, auf jedem Oktoberfest, auf jedem roten Teppich den perfekten Rahmen für seinen Auftritt. Wenn die Fotografen noch gar nicht bemerkt hatten, dass da gerade Serge Leinemann, der berühmte ehemalige Fußballspieler und Weltmeister von 1990, aus einer Limousine gestiegen war, hatten sie Mavie längst entdeckt. Sie leuchtete wie ein riesiger Pfeil auf ihn: Schaut her, hier kommt Serge Leinemann mit seiner schönen jungen Frau.
Gewiss war ihr Haar nicht das Einzige, was an Mavie schön war, damit allein hätte Serge sich sicher nicht zufriedengegeben. Sie hatte genau die richtige Mischung aus Zartheit und Kurven und einen makellosen, elfenbeinfarbenen Teint, der im Sommer von einigen Sommersprossen unter den Augen und auf der Nase geschmückt wurde. »Du bist eine Ehefrau zum Angeben«, hatte Serge einmal zu ihr gesagt, und Mavie wusste, dass er damit nicht ihr Einser-Abitur und ihre Kenntnisse in Japanologie und Mathematik gemeint hatte.
»Auf in den Kampf, Schnäuzchen«, sagte Serge an diesem Abend augenzwinkernd zu ihr, und sie stiegen aus der Limousine auf den roten Teppich.
Sofort wurden sie vom Blitzlichtgewitter verschluckt. Mavie kannte die Posen, die von ihr erwartet wurden. Ein Bein angewinkelt nach vorne, ein Ellenbogen keck auf der Schulter ihres Mannes, ein freundlicher Blick vorbei an feuerroter Haarpracht, aber immer ein Stück im Hintergrund, denn die Hauptperson war Serge.
Heute hatte man diese Hauptperson zum Sportlerball eingeladen, damit er eine Rede über die Fußballweltmeisterschaft von 1990 hielt. Mavie hatte diese Rede schon unzählige Male gehört, Serge hatte sie schon sehr oft gehalten, aber die Menschen wurden nicht müde, sie einzufordern. Serge war noch immer ein Star, denn Weltmeister ist man bekanntlich für immer. Egal, was er in seinem heutigen Leben machte – der Pokal strahlte immer heller als alles andere. Mavie wusste, dass viele Mannschaftskameraden von damals daran zerbrochen waren, dass das Größte, was sie je erreichen würden, bereits unwiderruflich hinter ihnen lag. Sie versuchten krampfhaft, ihrem Dasein einen weiteren Sinn zu geben, und fanden ihn nie.
Aber Serge war kein Typ, der zum Hadern neigte. Er sonnte sich noch immer gern im Ruhm vergangener Tage, arbeitete als Berater für aktive Spieler, war ein gefragter TV-Experte und lächelte auf jeder Katzenkirmes sein berühmtes, charismatisches Serge-Grinsen, für das seine Fans ihn seit drei Jahrzehnten verehrten.
Der spannende Teil des Abends war auch heute mit dem Posieren auf dem roten Teppich vorbei. Danach wurden unzählige Hände geschüttelt, unzählige Smalltalks gehalten, wurde unzählige Male gelächelt, genickt, gekichert. Auch wenn Mavie ein alter Hase auf diesem Gebiet war, ermüdeten diese Abende sie schnell. Sie konnte verstehen, dass Serges erste Frau Ulla damals mit dem Rummel um ihren Partner nicht gut zurechtgekommen war. An der Seite eines solchen Mannes zu leben, bedeutete Luxus und Aufmerksamkeit, aber es bedeutete nicht selten auch die vollständige Selbstaufgabe.
»Was macht Ihr Sohn Karlo, können wir ihn bald im deutschen Trikot bewundern?«, fragte gerade ein junger Mann, dessen Gesicht Mavie irgendwo im Ordner »Moderator, Fernsehen« abgespeichert hatte.
Serge lachte gönnerhaft auf, und Mavie zeigte instinktiv ihre makellosen Zähne. »Karlo lebt sich prächtig in München ein«, sagte Serge mit Enthusiasmus in der Stimme. »Ich bin mir sicher, die Nationalmannschaft ist der nächste logische Schritt.«
Mavie nickte euphorisch. Sie wusste: Sein Sohn Karlo, 25 Jahre alt und ebenfalls Profifußballer, war Serges ganzer Stolz. Ihm widmete er von seinen Klienten als Berater die meiste Zeit, und er plante seine Karriere akribisch und mit viel Ehrgeiz. Leider mochten Mavie und Karlo sich nicht besonders, doch sie hatten über die Jahre eine Art Friedenspakt geschlossen, der es ab und an ermöglichte, an Sonntagen ohne größere Eklats gemeinsam zu essen.
Nachdem Serge unter tosendem Beifall seine Rede beendet hatte und die gesamte Gästeschar ein erlesenes Drei-Gänge-Menü mit dem Thema »Runde Freude« verspeist hatte (Knödel in jeder Form, wie originell), fürchtete Mavie, vom vielen Lächeln einen Krampf im Unterkiefer zu bekommen. Sie beschloss, ihre Gesichtsmuskulatur auf dem WC ausschütteln zu gehen, der Abend war schließlich noch lange nicht zu Ende.
Auf der Damentoilette ließ sie erleichtert ihre Mundwinkel fallen und atmete seufzend aus. Dann spritzte sie minutenlang kaltes Wasser über ihre Handgelenke. Sie wusste, dass viele Frauen sie glühend um Events wie dieses beneideten. Auf einen Sportlerball voller berühmter Menschen zu gehen, an der Seite eines berühmten ehemaligen Profifußballers, der offiziell als Sexsymbol galt – es gab viele, die gern mit ihr getauscht hätten. Mavie aber wäre jetzt lieber durch die laue Spätsommernacht gelaufen und hätte in gemütlich erleuchtete Wohnzimmer geschaut. Oder hätte gern ein Buch gelesen, den Kopf auf Serges Schoß gebettet, der irgendeine Aufzeichnung eines Länderspiels von 1982 ansah und dazu Kommentare abgab, auf die er von ihr keine Reaktion erwartete.
»Sie sehen hinreißend aus, ist das Kleid von Victoria Beckham?«, riss eine Frauenstimme Mavie aus ihren Gedanken. Eine große Blondine stand vor ihr, in einem ziemlich naiv wirkenden, pastellfarbenen Hängerchen, das mindestens eine Nummer zu klein für ihr sportliches Kreuz schien.
»Danke«, sagte Mavie matt, sie hatte ihr Ballgesicht noch nicht wiedergefunden. »Es ist von Chloé.«
Die Blondine musterte Mavie interessiert. Sie kam ihr nicht bekannt vor, sosehr sie auch in ihren geistigen Ordnern kramte. Wahrscheinlich war sie eine junge Schwimmerin oder als Begleitung hier und neu in diesen Kreisen, sonst würde sie sich etwas zurückhaltender gebärden.
»Gefällt Ihnen mein Kleid?«, fragte die junge Frau, und Mavie bemerkte, dass die andere zu viel Rouge aufgetragen hatte. Unter der dicken Schicht Puder durfte die Kleine höchstens Mitte 20 sein.
»Ja, niedlich«, log Mavie. Warum wollte die Unbekannte das von ihr wissen? Sie wendete sich ab, um keinen Zweifel darüber aufkommen zu lassen, dass diese Konversation beendet war, und kontrollierte ihren Lippenstift im Spiegel. Sie bemerkte, dass die junge Frau sie noch immer musterte.
»Ich muss Ihnen etwas gestehen«, sagte die Blonde plötzlich und fingerte am Metallhenkel ihrer Handtasche herum. Und dann sagte sie einen Satz, der in Mavies Ohren schmerzte wie Fingernägel, die an einer Kreidetafel entlangschrabben. »Ich habe es nur für Ihren Mann angezogen.«
Mavie hielt für einen winzigen Moment inne, bis der erste Schock sich verflüchtigt und sie die Kontrolle über ihre Gesichtszüge zurückerlangt hatte. Dann machte sie dort weiter, wo sie vor diesem Satz aufgehört hatte. Mit ruhigen Bewegungen zog sie ihren Lipliner nach. Sie würde sich von dieser kleinen Schlampe nicht aus der Fassung bringen lassen, egal was sie im Begriff war, ihr zu offenbaren.
»Ich bin in Ihren Mann verliebt«, fuhr die Frau fort, ein leichtes Zittern in der jugendlichen Stimme. »Wir haben eine Affäre. Er weigert sich, Ihnen das zu sagen, aber ich halte dieses Versteckspiel nicht länger aus. Ich denke, Sie verdienen die Wahrheit.«
Mavie entfernte behutsam einen kleinen Klumpen Wimperntusche von ihrem rechten Augenlid, fuhr mit gekonnten Bewegungen zweimal durch ihre Haarpracht und schloss dann mit einem entschlossenen Schnappen ihre Birkin Bag, ein Geschenk von Serge zum zehnten Hochzeitstag.
»Es tut mir leid, dass ich Sie damit so überrumpele«, sagte die Frau jetzt mit einem Anflug von Trotz, »aber ich musste die Gelegenheit einfach nutzen.«
Und dann tat Mavie das, was sie in jahrelanger Schwerstarbeit einstudiert hatte. Sie drehte sich vom Spiegel weg und verließ den Raum mit geradem Rücken und zurückgeschobenen Schultern, ohne die Blondine auch nur eines Blickes zu würdigen. Sie verhielt sich, als wäre die andere gar nicht da, als hätte ihre Offenbarung nicht stattgefunden.
Die junge Frau hielt sie nicht auf, aber Mavie konnte ihr Erstaunen in der Luft hängen spüren, als sich die Tür zur Damentoilette hinter ihr schloss.
Mit hämmerndem Puls begab Mavie sich zurück an ihren Platz neben Serge. Er sprang auf, zog ihren Stuhl zurück und strahlte sie mit seinen rundum renovierten Zähnen an. Als sie saß, griff er nach ihrer Hand und küsste sie geräuschvoll an der Innenseite, woraufhin ein Raunen am Tisch erklang.
»Ihr zwei, verliebt wie eh und je«, sagte ein ehemaliger Skispringer, dem Mavie schon des Öfteren bei Veranstaltungen dieser Art begegnet war.
Sie zwinkerte ihm zu, was er dankbar erwiderte.
»Alles klar, Schnäuzchen?«, flüsterte Serge von der Seite. Sie strahlte ihn mit ihrem Tausend-Watt-Lächeln an. Wenn dieser Mann sie wirklich kennen würde, dachte sie in ihrem orkanrasenden Inneren, würde er sehen, dass nur ihr Mund lächelte und ihre Augen so matt waren wie die Eiswürfel in seinem Campari. Wenn er sie kennen würde, würde ihm auffallen, dass die perfekt manikürte Hand, die er hielt, die seinen Ehering trug, manisch in seiner zitterte.
***
Dass ihr Freund Karlo als Nationalspieler nominiert war, erfuhr Sarah kurz vor Ladenschluss in der Hygiene-Abteilung eines Drogeriehandels. Sie wollte gerade eine Maxi-Packung Tampons in ihren prall gefüllten Einkaufskorb werfen, als ihr Mobiltelefon klingelte. Wie immer fand Sarah das Handy in ihrer riesigen bunten Stofftasche nicht auf Anhieb, und sie wühlte und wühlte, bis sie es endlich in ihren Fingern hielt.
»Hallo«, sagte sie möglichst leise in das kleine Gerät, sie hasste es, in der Öffentlichkeit zu telefonieren. Es konnte eigentlich sowieso nur Karlo sein, der sie wahrscheinlich bitten wollte, auf dem Heimweg ein halbes Grillhähnchen oder eine Pizza Hawaii mitzubringen.
»Spreche ich mit Sarah Klein?«, fragte am anderen Ende der Leitung eine charismatische, volle Frauenstimme.
»Ja.« Sarah versuchte vergebens, sich eine braune Haarsträhne hinters Ohr zu klemmen, die aufgrund ihres Polyesterschals elektrisiert in Richtung Decke zeigte.
»Wunderbar«, sagte die Frau an der anderen Seite. »Mein Name ist Herms. Ich rufe Sie vom Magazin Fame an.«
Sarah kannte die Zeitschrift, sie berichtete in pinkfarbenen Großbuchstaben über Stars, Sternchen und dralle Hausfrauen mit blauem Lidstrich, die behaupteten, Hansi Hinterseers uneheliche Tochter zu sein. Manchmal schaute Sarah sie sich an, wenn sie beim Zahnarzt oder Friseur warten musste. Sie hatte wirklich kein Interesse an einem Abonnement und rüstete sich innerlich schon einmal fürs Abwimmeln, was leider keine ihrer Stärken war.
Die Frau am Telefon fuhr fröhlich fort: »Ich habe da eine ganz besondere Anfrage für Sie, Sarah: Wir möchten Ihnen vorschlagen, ob Sie bei unserem Spielerfrauen-Shooting mitmachen möchten. Sehr viele Damen haben bereits zugesagt, und wir dachten, wo Ihr Lebenspartner erstmals für die Nationalmannschaft nominiert ist, sollten Sie nicht fehlen.«
Tausend Gedanken schossen Sarah gleichzeitig durch den Kopf. Erstmals nominiert! Karlo war also anscheinend für die Nationalmannschaft nominiert worden. Wie wunderbar, das hatte er sich so lange gewünscht. Er galt schon seit einigen Jahren als großes Talent, doch erst, als ihn diese Saison Bayern München gekauft hatte, hatten sie sich ernsthaft Hoffnungen gemacht, dass er bald mit zu einem Länderspiel durfte. Sarah jubelte innerlich. Gleichzeitig ärgerte sie sich, dass er ihr das nicht selbst erzählt hatte, sondern sie es zwischen Tamponpackungen von einer Boulevard-Reporterin erfahren musste. Woher hatte die eigentlich ihre Nummer?
Dann erschauderte sie. Spielerfrauen-Shooting! Für so etwas war sie nicht gemacht. Sarah kannte die anderen Spielerfrauen aus dem Fernsehen und aus Illustrierten. Sie wusste, dass sie allesamt blond und groß und mager waren. Die meisten davon waren aktive oder ehemalige Models, sie trugen riesige Ohrringe und noch riesigere Sonnenbrillen und verströmten aus jeder Pore Glamour. Nichts davon konnte man über Sarah sagen. Sarah war eher klein, hatte eine ordentliche Portion Hüftspeck und feine, braune Haare. Sie hatte weder ein Händchen noch Interesse für Mode, und sie war alles andere als glamourös. Fotografiert werden fand Sarah in etwa so angenehm wie die halbjährliche professionelle Zahnreinigung. Beim Gedanken an ein Shooting wurde ihr flau im Magen.
»Sarah, sind Sie noch da?«, fragte die Frau im Telefon.
»Ja«, sagte Sarah. »Entschuldigen Sie, ich musste mich kurz sammeln.« Sie drehte sich einmal um ihre eigene Achse, um sicherzugehen, dass niemand in ihrer Nähe das Gespräch belauschte. Dabei fegte sie mit ihrer Tasche ein paar extragroße Kartons mit Nachtbinden auf den Boden, die dort geräuschvoll übereinanderpurzelten. »Ähm, ich müsste mit meinem Freund sprechen«, sagte sie, ihr Kopf mittlerweile tiefrot. »Was für ein Shooting wäre das denn?«
»Sprechen Sie mit Ihrem Freund!«, sagte die Frau. »Ich bin mir sicher, ihm und Ihnen wird unsere Idee gefallen. Ich habe Bilder von Ihnen gesehen, Sie würden da mit Ihrem dunklen Teint toll reinpassen.«
Sicher, dachte Sarah bitter, sie wäre ein willkommener Farbtupfer zwischen den echten und falschen Blondinen.
»Im Ernst«, sagte die Reporterin, »das Styling wäre wie für Sie gemacht.«
Dann beinhaltete es wohl Kartoffelsäcke, dachte Sarah zynisch. Laut sagte sie: »In welche Richtung geht es denn?«
Während die Dame in der Leitung antwortete, kam ein so schrilles Fiepen über die Lautsprecher des Drogeriehandels, dass Sarah vor Schreck ihren Einkaufskorb fallen ließ. »Jenny, bitte an die Sechs«, sagte jemand viel zu laut, gefolgt von einem weiteren ohrenbetäubenden Fiepen.
»’tschuldigung, hier ist es sehr laut«, rief Sarah überflüssigerweise in den Hörer.
»Haben Sie mich verstanden?«, fragte die Reporterin.
»Jenny, bitte an die Sechs«, tönte es erneut über die Lautsprecher. Sarah warf vor Schreck ein paar weitere Nachtbinden-Packungen herunter.
»Nein«, sagte sie. »Hier war es gerade so laut, was sagten Sie?«
»Es handelt sich um ein Shooting in sexy Dessous«, hörte sie die Dame von Fame sagen.
Dann brach die Leitung zusammen.
***
Am Morgen nach dem Sportlerball erwachte Mavie früh mit Kopfschmerzen. Sie hatte nachts noch eine Schlaftablette genommen, ohne die sie nicht zur Ruhe gekommen wäre. Serge lag nicht mehr auf seiner Bettseite neben ihr. Vorsichtig setzte sie sich auf, ihre Schläfen hämmerten, ihr Mund war trocken. Im Badezimmer trank sie ein Glas Leitungswasser und betrachtete ihr ungeschminktes Gesicht.
Für ihre 38 Jahre sah sie noch erstaunlich jung aus. Ohne Make-up wirkte ihre Nase noch feiner, ihr Teint noch durchsichtiger und zarter. Lediglich um ihre grünen Augen legten sich allmählich die ersten Lachfältchen, die auch dann nicht mehr verschwanden, wenn Mavie tagelang nicht lachte. Und dann gab es da diese steile Furche auf ihrer Stirn. Sie war immer dann besonders tief, wenn Mavie morgens aus dem Bett stieg. Direkt nach dem Aufwachen sah sie aus, als habe sie gerade furchtbar ernste Gedanken gewälzt. Und genauso war es auch. Was Mavie tagsüber verdrängte, schlich sich nachts ungewollt in ihre Träume und suchte sie wie riesige, furchteinflößende Monster heim.
Sie fuhr mit ihrem frenchmanikürten Zeigefinger über die Stirnfalte. Demnächst musste sie endlich einen Termin bei diesem Hautarzt machen, den ihre Freundin Ditta ihr empfohlen hatte. Eine Injektion Botox würde den Spuk morgens beenden, auch wenn sie die bösen Gedanken nicht vertreiben konnte. Bisher hatte Mavie sich immer gegen solche Hilfsmittelchen gewehrt, aber langsam kam sie in ein Alter, in dem es in ihren Kreisen nicht mehr ohne ging.
Auf leisen Sohlen schlich Mavie barfuß zum riesigen Wohnzimmer ihres Penthouse. Sie und Serge wohnten in einer exklusiven Appartementanlage direkt am Englischen Garten im Münchner Stadtteil Bogenhausen. Die ersten Sonnenstrahlen tauchten alles in sanftes Licht. Auf dem hellen Velourssofa entdeckte Mavie Serge. Er hatte sich im Bademantel auf der Chaiselongue ausgestreckt und las den Sportteil der Süddeutschen Zeitung. Unter dem weißen Frottee ragten ein paar kräftige, braungebrannte Männerwaden hervor. Auch wenn Serge schon lange kein Fußball mehr spielte, trieb er immer noch viel Sport und hatte für Anfang 50 einen beeindruckend athletischen Körper. Da Serge unglaublich eitel war, ging er nicht nur ins Fitnessstudio und in Begleitung seines persönlichen Physios joggen, sondern auch unter ein Solarium, das im hinteren Bereich ihres Penthouse untergebracht war, zu chemischen Peelings, zur Maniküre und zu regelmäßigen, ausufernden Einkaufsbummeln.
Fast alle Leute, bei denen jeder Schritt von der Öffentlichkeit verfolgt wurde, entwickelten sich so, hatte Mavie beobachtet, auch an sich selbst.
Serge war so vertieft in seine Lektüre, dass er Mavie, die in der Tür stehen geblieben war, nicht bemerkte. Sie betrachtete nachdenklich seinen flackernden Blick, der über das Papier huschte. Sie sah seine graumelierten Haare, die ungekämmt in alle Richtungen zeigten und für sein Alter noch bemerkenswert voll und glänzend waren. Sie sah seine kräftigen, gepflegten Hände, die mit einer gewissen Anspannung das Papier umklammerten. Und sie wusste: Sie würde ihm wieder verzeihen. Letztendlich war es egal, ob die junge Frau gestern Abend die Wahrheit gesagt hatte oder nur ein Fan mit Wahnvorstellungen war. Mavie hielt es für glaubhaft, darauf kam es an. So glaubhaft, dass sie es lieber verdrängte, als Serge darauf anzusprechen. Sie liebte ihn einfach, sie hatte ihn immer geliebt. Seit jener ersten Begegnung vor 16 Jahren, als Mavie noch eine kleine, naive Studentin gewesen war und er das erste Mal mit seinen stechend blauen Augen in ihre gesehen hatte, liebte sie ihn. Sie hatte die Hoffnung aufgegeben, dass sich daran jemals etwas ändern würde.
Sie trat einen Schritt in den Raum hinein, und Serge bemerkte sie. Er nahm die Zeitung herunter und richtete sich auf. »Schnäuzchen, hast du gut geschlafen?«, fragte er.
Sie nickte und setzte sich neben ihn auf die Kante des Sofas. Er küsste sie schmatzend auf den Mund und strich ein paar Locken aus ihrem Gesicht. Wenn man uns von außen sehen würde, würde man uns für ein Traumpaar halten, dachte Mavie bitter. Man würde nie auf die Idee kommen, dass dieser Mann mich seit Jahren immer wieder betrügt.
»Heute kommen Karlo und Sarah«, sagte Serge.
»Ja«, seufzte Mavie, sie erinnerte sich, einer dieser ihr unwillkommenen Besuche, auch das noch. »Ich ziehe mich eben an, und dann beginne ich mit dem Kochen.«
»Willst du nicht noch einen Moment warten mit dem Anziehen?«, fragte Serge grinsend und zog sie an seine kräftige Brust. Mavie musste an gestern Abend und die Blondine mit ihrem sportlichen Kreuz in dem pastellfarbenen Kleidchen denken. Auch wenn solche Situationen anscheinend der Deal für ein Leben an Serges Seite waren, brauchte sie doch mit jedem Mal länger, um sich davon zu erholen.
»Ich habe es nur für Ihren Mann angezogen.«
»Lieber nicht, ich schaffe es sonst zeitlich mit dem Essen nicht«, sagte sie und löste sich aus seinem Griff, während er den Satin ihres Nachthemdes durch seine Finger gleiten ließ.
»Danke, dass du dir immer so viel Mühe gibst«, sagte er und küsste sie noch einmal, diesmal unters Ohrläppchen.
Sie lächelte müde und verschwand Richtung Badezimmer. Heute würde sie mehr Make-up als üblich benötigen, um zu kaschieren, wie sie sich wirklich fühlte.
***
Als Sarah mit Karlo am späten Sonntagvormittag in seinem neuen Audi Coupé saß, das er bei seinem Antritt in München vom Sponsor vor die Tür gestellt bekommen hatte, fand sie endlich die Zeit, mit ihm über den merkwürdigen Anruf in der Drogerie zu reden. Als sie gestern von ihrem Einkauf zurückgekommen war, hatte sie Karlo in ihrem Haus im exklusiven Grünwald in einer Art Trance-Zustand vorgefunden. Er hatte in Boxershorts auf dem Sofa vor dem Fernseher gelegen und Playstation gespielt. Weil er Kopfhörer trug, hörte er nicht, dass Sarah das Haus betrat. Normalerweise störte sie ihn nie, bis er ein Level zu Ende gespielt hatte, weil sie wusste, dass er das Zocken als Ausgleich zu seinem anstrengenden Profialltag brauchte, aber heute hielt sie es nicht aus. Sie baute sich vor ihm auf und nahm ihm behutsam die Kopfhörer von den Ohren.
»Hey, spinnst du?«, fragte Karlo. »Ich bin gerade an einem ganz wichtigen Punkt im Spiel!«
»Das kann man wohl sagen«, sagte Sarah grinsend und ließ sich neben ihm aufs Sofa plumpsen. »Mensch, ich dachte, du rufst mich sofort an, wenn du die News erfährst.«
»Welche News?« Karlo sah in seinem Spiderman-T-Shirt und mit den mit Gel hochgezwirbelten dunkelblonden Haaren eher aus wie 18 als wie 25.
Ein Schwall Zärtlichkeit überkam Sarah, und sie griff nach seinem jugendlich weichen Gesicht, in dem er aus Faulheit ein paar helle Bartstoppeln hatte stehenlassen. »Na, dass du als Nationalspieler nominiert wurdest, du Nudel«, rief sie und wollte ihn küssen, doch er schüttelte sie ab.
»Bin ich das?«, fragte er. »Woher weißt du ...?« Mit diesen Worten war er aufgesprungen und hatte sich auf die Suche nach seinem Handy begeben.
Karlo war ziemlich chaotisch, und wenn Sarah nicht ständig hinter ihm herräumen würde, würden ihre Möbel schon bald unter einem Haufen getragener Trikots, Sportsocken und Fußballzeitschriften begraben sein. Er fand sein Handy schließlich mit Sarahs Hilfe in der Innentasche einer Bayern-München-Trainingsjacke, die über der Türklinke im großen Badezimmer hing. Darauf warteten 15 Anrufe in Abwesenheit und 27 SMS auf Karlo.
Er blickte Sarah mit fieberhaft aufgerissenen Augen an und öffnete die erste. »Digga, ich freu mich!«, schrieb sein alter Kumpel Jaro aus Mönchengladbach. »KL, du und ich werden das zusammen rocken«, textete ein Kollege von Bayern München, der schon länger in der Nationalmannschaft spielte. Zig weitere SMS von Freunden und Kollegen klangen ähnlich. Bis Karlo endlich zu jener allerersten SMS gelangte, die der Auslöser für diese Flut war. Sie war drei Stunden alt. Sie stammte von einer ihm unbekannten Mobilfunk-Nummer.
Der Text lautete: »Lieber Karlo, ich erreiche dich leider nicht telefonisch. Daher auf diesem Wege kurz persönlich, bevor du später die Pressemitteilung liest: Herzlich willkommen im Kreis der Nationalmannschaft. Ich freue mich, wenn du für unser Testspiel gegen Österreich zum ersten Mal dabei bist. Der Bundestrainer.«
Sarah konnte in Karlos Augen lesen, dass er an einen Scherz glaubte. Er ließ sein Handy sinken und rannte zurück zum Fernseher. Mit zittrigen Fingern wählte er im Videotext die Seite mit den Sportnews. Darauf: eine Meldung mit der aktuellen Nominierungsliste für die Nationalmannschaft. Darin: »offensives Mittelfeld: Karlo Leinemann.« Er checkte die Nachricht noch auf mehreren Internetseiten und sagte dabei kein einziges Wort. Sarah war sich zwischendurch nicht sicher, ob er noch atmete. Sie schaute ihm über die Schulter und wartete geduldig darauf, dass er wieder anfangen würde zu sprechen.
Irgendwann hatte er sie lange angesehen. »Sarah«, hatte er gesagt. »Baby, ich bin Nationalspieler.« Dann hatte er angefangen zu weinen wie ein Vierjähriger.
Den Rest des Abends hatte er hysterisch am Telefon mit Freunden herumgeschrien, irgendwann hatte er auch seinen Vater auf irgendeinem Sportlerball erreicht, der ihn gleich für heute Mittag zum Essen eingeladen hatte, um die Sensation gebührend zu feiern.
Und hier saßen sie nun im Auto, auf dem Weg zur großen Familiensause. Karlo war seit dem Aufstehen sehr still, und Sarah fragte sich, was in seinem Kopf vorgehen mochte. Sie beide kannten sich jetzt seit zehn Jahren, fast genauso lange waren sie ein Paar, aber es gab immer noch Momente, in denen sie keine Ahnung hatte, was er dachte.
Vor ein paar Monaten waren sie gemeinsam nach München gezogen. Nachdem Karlo eine sensationelle Saison in seinem Heimatverein Mönchengladbach gespielt hatte, wurde er von Bayern München verpflichtet, und Sarah war mit ihm hierhergekommen, in die Villa nach Grünwald, die der Verein für sie ausgesucht hatte, in dieses fremde Viertel, diese fremde Stadt, diese fremde Welt.
Die letzten Monate waren nicht einfach gewesen, nicht für sie und nicht für Karlo. Die gute Nachricht über seine Berufung in die Nationalmannschaft kam genau zum richtigen Zeitpunkt.
»Wie geht es dir?«, fragte sie Karlo vorsichtig.
»Ich habe keinen Bock auf Mavie«, sagte der und spielte am Radio herum.
Mavie war die zweite Frau seines Vaters, der Grund, warum dieser damals Karlo und seine Mutter verlassen hatte, und Karlo hatte ihr dies auch 15 Jahre später noch nicht verziehen.
»Vergiss Mavie«, sagte Sarah. »Heute ist dein Tag.« Er lächelte sie etwas gequält, aber dankbar an. Sie konnte Karlo verstehen, sie war selbst nicht Mavies größter Fan, weil diese für sie der Inbegriff der Münchner Schickeria war – viel Show, wenig Herz. In Mavies Gegenwart fühlte sie sich jedes Mal wie ein plumpes, stilloses Mädchen aus dem Ruhrpott.
»Hör mal, ich habe gestern einen komischen Anruf erhalten«, sagte Sarah schließlich. Die Hip-Hop-Beats, die Karlo so liebte, wummerten so laut, dass sie kaum selbst hören konnte, was sie sagte. Sarah drehte die Lautstärke etwas runter. »So eine Frau hat mich angerufen, von Fame, diesem Promi-Magazin, die wollen, dass ich bei einem Spielerfrauen-Shooting mitmache.«
Karlo lachte laut auf. Sarah sah ihn verletzt an.
»Baby, nicht beleidigt sein, aber es ist einfach eine witzige Vorstellung für mich, dass du jetzt offiziell zum Kreis dieser Spielerfrauen gehörst.«
»Für mich auch«, sagte Sarah. »Was soll ich denn jetzt machen?«
Karlo kontrollierte an einer Ampel seine gegelten Haarspitzen im Rückspiegel und warf ihr dann sein charmantestes Lausbubenlächeln zu. »Ich wäre stolz auf dich. Aber lass uns gleich Serge fragen, was er dazu sagt.«
Serge war Karlos Vater, den er ungewöhnlicherweise bei seinem Vornamen nannte. Er hatte Sarah einmal erklärt, dass sein Vater als Profifußballer schon vor der Trennung von seiner Mutter kaum Zeit mit seinem Sohn verbracht hatte und ihre Beziehung einfach nie sehr innig gewesen sei. Auch heute war es hauptsächlich ein geschäftliches Verhältnis, denn Serge kümmerte sich als Berater um Karlos Verträge, Presseanfragen, Werbedeals.
»Mir ist das peinlich«, sagte Sarah kleinlaut, nachdem sie ihm auch gestanden hatte, um was für eine Art von Shooting es sich genau handelte. Aber Karlo zwinkerte ihr tröstend auf seine Lausbuben-Art zu, und sie verdrängte das Thema erst einmal. Hoffentlich würde Serge ihr später von dieser Sache abraten.
***
Mavie hatte zunächst Ewigkeiten im Bad und in ihrem begehbaren Kleiderschrank verbracht, jetzt stand sie schon seit geraumer Zeit in der Küche und bereitete den Rheinischen Sauerbraten zu, den Serge und Karlo so liebten. Die beiden, die genau wie Karlos Freundin Sarah ursprünglich aus Mönchengladbach stammten, verband ein nostalgischer Kult um ihre Heimat. Alles, was sie daran erinnerte, versetzte sie in Hochstimmung – und dazu gehörte auch dieses Gericht, aus dem Mavie selbst sich nicht viel machte, da sie kaum noch Fleisch aß.
Sie goss gerade ein letztes Mal Rosinen-Fond über den Braten, bevor er gar sein würde, als sie die Klingel vernahm. Serge eilte bereits zum Türöffner. Seit er gestern am späten Abend erfahren hatte, dass sein Sohn erstmals in der Nationalmannschaft spielen würde, war er nicht mehr zu bremsen. Den gesamten Vormittag hatte er am Mobiltelefon verbracht, auf Sport-Websites gesurft, Presseanfragen beantwortet und private Glückwünsche entgegengenommen. Karlo war Serges ganzer Stolz.
Leider konnte Mavie die Begeisterung für seinen erwachsenen Sohn nicht teilen. Karlo hatte außer fußballerischem Talent ungünstigerweise nicht viel von seinem Vater geerbt. Er war kleiner als Serge, hatte nicht dessen dunklen Teint, nicht dessen südländisch anmutenden Charme, nicht dessen staatsmännischen Sex-Appeal. Karlo war ein schmächtiges Kerlchen, hatte ein blasses Allerweltsgesicht, eine etwas krumme Nase und eine straßenköterblonde Fußballerfrisur. Meistens trug er übergroße Sweatshirts mit Totenkopf-Aufdrucken, weite Jeans, die am Po Blick auf die Boxershorts gewährten, und farbige Sneakers. Nein, leider war Serges Sohn nicht nach ihm, sondern nach dessen erster Frau Ulla geraten, die in Sachen Stil und Attraktivität auch eher der Regionalliga zuzuordnen war, weshalb sie wohl für Mavie hatte Platz machen müssen, als Serge damals als Weltstar seine aktive Karriere beendete.
»Hey«, begrüßte Karlo sie beiläufig, ohne ihr dabei in die Augen zu schauen.
Sie registrierte, dass er zur Feier des Tages ein riesiges T-Shirt mit Kermit-Aufdruck trug.
»Hallo, Karlo«, sagte Mavie bemüht freundlich und knipste ihr Tausend-Watt-Lächeln an. »Ich gratuliere dir herzlich zu deiner Nominierung, das sind ja ganz wundervolle Neuigkeiten.«
»In der Tat!«, schrie Serge, quetschte sich an ihr vorbei und klopfte Karlo auf die Schulter, der daraufhin kurz das Gleichgewicht verlor. »Wir sollten einen Schampus aufmachen, Schnäuzchen.«
»Ich bin schon unterwegs«, sagte Mavie, begrüßte noch flüchtig Karlos Freundin Sarah und verschwand dann hüftwackelnd auf ihren spitzen Pumps in Richtung Küche, um Champagner und Kristallgläser zu holen.
So, wie sie heute gekleidet war – schmale Stoffhose, sandfarbener Cashmerepullover mit tiefem V-Ausschnitt, hohe Schuhe –, zog sie sich auch an, wenn sie ganz allein zu Hause war. Mavie brauchte diese Art von Kleidung, um sich vollständig zu fühlen. Wie Karlos Sarah würde sie nicht mal kurz nach einer OP auf einem Krankenhausflur gesichtet werden.
Sarah war Karlos Langzeitfreundin, und Mavie fragte sich insgeheim, wie viele Monate FC Hollywood (wie der FC Bayern wegen der Starallüren seiner Spieler und deren Präsenz in Boulveardmedien zu Recht genannt wurde) diese Verbindung überleben würde. Sarah war alles andere als glamourös. Auch heute trug sie ein einfaches Sweatshirt mit irgendeinem absurden Schriftzug, das nicht weit genug war, um die kleine Rolle Hüftspeck zu kaschieren, die aus ihrer zu eng sitzenden Jeans ragte. Wenn Mavie das richtig einschätzte, hatte Sarah sich heute nicht einmal geschminkt.
Mavie musste zugeben, dass die junge Frau mit ihrem olivfarbenen Teint und ihren dunklen Knopfaugen zu den Glücklichen gehörte, die nicht viel Make-up benötigten. Aber ein bisschen Wimperntusche, Lipgloss und eine ordentliche Frisur hätte sie für ein solches Mittagessen schon für angemessen gehalten.
Jedes Mal, wenn sie Sarah begegnete, ertappte sie sich bei inneren Gedankenspielen darüber, was man aus diesem eigentlich ganz niedlichen Mädchen mit der richtigen Kleidung, einem guten Fitnessprogramm und einem fähigen Friseur alles machen könnte. Aber Sarah schien es nicht im Geringsten zu stören, dass sie eine graue Maus war.
Mavie war sich sicher, dass Sarah schon bald anfangen würde, sich im schicken München unwohl zu fühlen und sich nach Mönchengladbach zurückzusehnen, wo sie mit ihrem Naturlook mangels Konkurrenz vielleicht einmal so etwas wie eine Schönheitskönigin gewesen war. Zwischen diesen beiden Orten lagen eben Welten.
Während die vier den Sauerbraten aßen und Champagner tranken, sprach eigentlich nur Serge. Er dozierte ununterbrochen über Karlos Karriere in der Nationalmannschaft, was man nun von ihm erwarten würde, was er jetzt beachten, was er leisten müsse, um wieder eingeladen zu werden, schließlich sei nächsten Sommer Europameisterschaft, und bis dahin müsse er sich »in die Mannschaft gespielt haben« (Fußballerdeutsch für: sich unersetzlich machen).
Karlo tat Mavie fast ein bisschen leid. Sollte der Junge sich doch erst mal freuen, bevor sein Vater ihm bereits zentnerschwere Erwartungen auflud. Sowohl Karlo als auch Sarah stocherten dementsprechend still in ihrem Essen herum.
»Es schmeckt hervorragend, Schnäuzchen«, sagte Serge mehrfach zwischendrin und strich Mavie unterm Tisch übers Knie.
Wem hast du in letzter Zeit noch übers Knie gestreichelt?, dachte sie. Wem hast du noch das Gefühl gegeben, die Frau zu sein, deretwegen für dich die Sonne scheint? Und wie kannst du hier jetzt schamlos sitzen und so tun, als wäre ich die einzige für dich? Keinen dieser Sätze sagte Mavie laut. Stattdessen nahm sie die Meissner-Porzellanschale mit den Salzkartoffeln und ging damit in die Küche. »Auffüllen«, sagte sie.
***
Unglücklicherweise war Serge begeistert von Sarahs Spielerfrauen-Shooting-Anfrage. Sarah hatte bis nach dem Nachtisch gewartet, bis sie sich endlich getraut hatte, von dem Anruf der Fame-Redakteurin zu berichten.
Serge hatte direkt in die Hände geklatscht. »Das ist wunderbar, Sarah, ganz wunderbar! Damit bist du dann offiziell in einen bestimmten Kreis aufgenommen. Das kann für Karlo nur gut sein.«
Sarah blickte betreten auf die leere Kristallschale vor sich, auf deren Grund Reste von Vanillepudding mit roter Soße trockneten. »Nun, es ist nicht irgendein Shooting«, sagte sie.
»Was für ein Shooting ist es denn?«, fragte Serge, während er sich mit überm Kopf verschränkten Armen in seinem cremefarbenen Designerstuhl zurücklehnte.
»Nun ...« Sarah schämte sich, vor allem vor Mavie, der gegenüber sie sich ohnehin immer wie ein Dorftrampel fühlte. Mavie ließ aber auch nie einen Zweifel daran, was sie von ihrer Quasi-Stiefschwiegertochter hielt. Mit jedem ihrer kritischen Blicke auf Sarahs Kleidung, Frisur oder Schuhe zeigte sie ihr, dass sie unter ihrem Niveau war. »Also ...«, setzte Sarah noch einmal an. Bis Karlo plötzlich losprustete. Sarah sah ihn alarmiert an.
»Komm schon, Baby, spuck es aus«, sagte ihr Freund lachend und erledigte es dann für sie: »Es ist ein Unterwäsche-Shooting. Ein Unterwäsche-Shooting!«
Serge stimmte sofort lauthals in sein Gelächter ein. Sarahs Gesicht glühte. Sie spürte, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten. Was für eine Demütigung!
»Nein, mal im Ernst«, sagte Serge, als er sich wieder gefangen hatte. »Ich finde, es spricht nichts dagegen. Du bist doch eine schöne junge Frau, du musst dich nicht verstecken.«
»Eben«, sagte Karlo und strich Sarah über ihr feines, braunes Haar.
Mavie räusperte sich. »Ich würde es an deiner Stelle nicht machen«, sagte sie und blickte Sarah ernst in die Augen. Es war der erste zusammenhängende Satz, den Mavie seit Stunden gesprochen hatte.
Sarah spürte die Tränen hinter ihren Augäpfeln pochen. Was meinte die blöde Kuh damit? Dass sie es sich nicht leisten konnte, weil sie nicht so schlank und perfekt war wie sie?
»So ein Shooting kann schwierig fürs Image sein«, sagte Mavie. »Du bist noch jung, an so etwas kann man sich leicht die Finger verbrennen. Diese Fotos werden für immer im Umlauf sein und hervorgekramt werden, wenn es irgendetwas über dich und Karlo zu berichten gibt. Ich glaube, gerade am Anfang wäre es klüger, sich bescheiden und besonnen im Hintergrund zu halten.«
»Papperlapapp«, wischte Serge den Einwand seiner Frau beiseite und hieb mit der Hand auf die Tischplatte. »Wie sieht das denn aus, wenn alle anderen Girls dabei sind und nur Karlos Partnerin nicht? Die Presse wird das als Zeichen werten, dass Karlo noch nicht richtig dazugehört und man seine Freundin nicht eingeladen hat. Sarah macht das Shooting, basta.«