Karlheinz Stierle, einer der besten Kenner der Paris-Literatur, schlägt in seinem neuen Buch den großen Bogen vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Dabei setzt er neue Schwerpunkte: die Geburt des Stadt-Romans im Paris der Julimonarchie, das Phantastische der großen Stadt, die Spuren von Paris im Werk Georges Perecs. Stierle verfolgt den Mythos von Paris weiter und eröffnet ihm eine neue Dimension, indem er auch die bildende Kunst einbezieht. Von der impressionistischen Malerei, die Zola inspirierte, über Honoré Daumier, Giacomettis »unendliches Paris« bis zu Sempé erschließt er uns die vielfältigsten Zeichen und Bilder dieser Stadt, die eine Überzeugung verbindet: Paris ist einzigartig.

 

 

Karlheinz Stierle

 

Pariser Prismen

 

Zeichen und Bilder der Stadt

 

 

Carl Hanser Verlag

 

À Paris, lumière du

monde civilisé.

 

 

ISBN 978-3-446-25211-0

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2016

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München

Motiv: Charles Meryon: Le stryge, 1853

© The Trustees of the British Museum

Satz: Angelika Kudella, Köln

 

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Inhalt

Einleitung

 

I.  Geist und Stein. Paris oder der Wille zur Stadt

 

II.  Die Stadt als »Ganzes der Erfahrbarkeit«

1.  Hugo, Balzac und die Geburt des Stadtromans im Paris der Juli-Monarchie

2.  »Fourmillante cité, cité pleine de rêves«. Das Phantastische und die Stadt

3.  Blickrausch. Zolas Paris und die Krise der Lesbarkeit

4.  Unlesbare Spuren. Das Paris Georges Perecs

 

III.  Die gezeichnete Stadt

1.  Baudelaires Theorie der Stadtzeichnung

2.  Unschuld des Auges: Honoré Daumier

3.  Epiphanien der Leere: Giacomettis »Paris sans fin«

4.  Der Zeichenstift als Menschenfreund: Sempés »Un peu de Paris«

5.  Stadtzeichen und Stadtzeichnung

 

Vertiefende Studien des Verfassers

Weiterführende Literaturhinweise

Abbildungsnachweis

Einleitung

Paris lebt in der farbigen Brechung seiner Selbsterkundungen. Aus ihnen ersteht die Physiognomie einer in ewiger Agilität sich fortentwerfenden und dennoch fest in sich gegründeten Stadt. Seit dem Mittelalter ist Paris die europäische Stadt, die das hellste Bewusstsein von sich selbst gewonnen hat. Doch sind es nicht die Philosophen, Soziologen, Historiker oder Urbanisten, die diesem Bewusstsein ihre Stimme geben, sondern die philosophisch gestimmten Stadtflaneure, die Liebhaber, Feuilletonisten, Essayisten, Literaten jeder Art, aber auch eine neue Spezies von Stadtzeichnern, deren Blick plötzlich auf das noch nie Wahrgenommene fällt. Es gibt keinen eigenen Diskurs der Paris-Erfahrung. Die Darstellung der Stadt kennt keine vorgängige diskursive Ordnung. Sie erfindet sich gleichsam immer wieder neu. Mögen andere Städte wie London, Berlin oder New York, Petersburg, Moskau, Wien oder Mailand eine eigene Stadtliteratur hervorgebracht haben, keine andere Stadt hat wie Paris über Jahrhunderte hinweg so beharrlich und intensiv das Projekt verfolgt, sich der eigenen Wirklichkeit zu vergewissern. Die Pariser Innovationen der Stadtdarstellung werden daher auch immer wieder zum Modell, an dem eine internationale Stadtliteratur sich orientiert.

Am Anfang dieser Prismen, die dem prismatischen Pariser Stadtbewusstsein folgen, steht der Versuch, die erstaunliche Triebkraft darzustellen, mit der Paris sich seit seinen mittelalterlichen Anfängen immer wieder neu entworfen hat, in dem unbedingten Willen, sich den großen Städten der Vorzeit an die Seite zu stellen. Paris ist das neue Jerusalem, das neue Athen, das neue Rom, aber auch das neue Babylon. In seiner Architektur wie in den Zeugnissen seines Selbstbewusstseins wird der Mythos der Stadt zur Gestalt.

Die große Stadt ist ein Spannungsfeld von Erscheinung und Verweisung. Alles Erscheinende verweist in ihr auf die Übermächtigkeit des Abwesenden und wird so zum Zeichen. Paris ist par excellence ein solcher Zeichenort und eine beständige Herausforderung, die Stadt in der unendlichen Vielfalt ihrer Erscheinungen und urbanen Zeichenwelten zu Bewusstsein zu bringen oder aber imaginär zu überschreiten.

Jede Paris-Darstellung ist auf andere Weise ein Prisma, in dem sich die Vielfältigkeit der großen Stadt im Leben ihrer Erscheinungen und Verweisungen bricht. Victor Hugo und Honoré de Balzac entdecken die Stadt als Ganzes der Erfahrbarkeit und machen den Roman zu dessen Medium. Ihr Roman verknüpft eine Vielzahl von Prismen zu einem imaginären Ganzen. Notre-Dame de Paris und La Peau de chagrin leiten zu Beginn der Juli-Monarchie die große Tradition des Stadtromans ein, in dem die Stadt, die zuvor nur als Kulisse gedient hatte, selbst zum Helden wird. Damit gewinnt aber auch die Lesbarkeit der Stadt eine neue Dimension.

Das Ganze der Stadt ist immer nur in zeichenhaft vermittelten Annäherungen erfahrbar. An ihrem Horizont steht aber eine Grenze der Erfahrbarkeit, wo die Lesbarkeit der Stadt zusammenbricht und das Unerklärliche, das radikal Fremde, das Unlesbare, sich zu Gestalten verdichtet. Dies begründet eine spezifische Phantastik der Stadt, die oszilliert zwischen subjektiver Erfahrung und objektiver Struktur, die dem Zufallsgenerator der Stadt entspringt. Der Einbruch des Phantastischen wird als eine eigene Dimension der Stadterfahrung dargestellt.

Die Auslöschung der Zeichen, die Entzeichnung der Stadt als farbige Präsenz, ist der Traum jenes malerischen Paris-Impressionismus, der sich im Deuxième Empire unter Napoléon III und nach dessen Ablösung durch die Dritte Republik triumphal entfaltet. Ihm antwortet Émile Zola, der literarische Impressionist, der die aktuelle Stadt als Blickrausch erfahrbar macht und der doch im Medium Sprache der Auslöschung der Zeichen Grenzen zu setzen sucht.

In Georges Perecs vielgestaltigem Werk ist Paris die Stadt der ausgelöschten Zeichen. Dem einsamen Ich auf der Suche nach seiner traumatisch verschlossenen Vergangenheit antwortet kein Zeichen, das sie, wie in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu, als souvenir involontaire aufschließen könnte. So bleibt nur die melancholische Einsammlung sprachlos gewordener Bruchstücke, aus denen gleichwohl eine fremde, ungeahnte Wirklichkeit der Über-Nähe ersteht.

Paris hat nicht nur neue Formen der Stadtdarstellung hervorgebracht. Paris ist auch der Ort, wo die Stadtzeichnung zur ins Bild gesetzten Stadtphilosophie wird. Am Anfang des dritten Teils dieser Prismen steht der Versuch, Baudelaires ungeschriebene Theorie der Stadtzeichnung als avancierte Form moderner Stadtkunst zu rekonstruieren. Der Stadtzeichner folgt den Kraftlinien, wie sie ihm aus der wirklichen Stadt entgegentreten und als Innervation seine Hand führen. Die Liniengewebe der drei Paris-Zeichner Daumier, Giacometti und Sempé können dies exemplarisch vor Augen führen. Ihren Abschluss findet diese Darstellung mit der Frage nach Affinität und Differenz von Stadtzeichen und Stadtzeichnung.

Dem Blick, der von außen auf die schönste aller europäischen Kapitalen fällt, begegnet ein Kaleidoskop vertrauter Bilder, die den Sinn des Städteliebhabers in ihren Bann ziehen. Dagegen sollen die Pariser Prismen Bruchstücke einer Archäologie des Stadtbewusstseins vorstellen, in dem die Stadt als endlose Oszillation zwischen Erscheinung und Verweisung sich in sich selbst spiegelt.

I.
Geist und Stein.
Paris oder
der Wille zur Stadt