DAS KRÄUTERWISSEN DER
BAUERNDOKTOREN IN DEN ALPEN
Impressum
Gedruckt mit Unterstützung der Abteilung Deutsche Kultur über das Südtiroler Kulturinstitut,
der Autonomen Region Trentino-Südtirol und der Stiftung Südtiroler Sparkasse
2. Auflage
© Edition Raetia, Bozen 2016
Lektorat und Korrektur: Ex Libris Genossenschaft, Bozen
Grafik und Umschlaggestaltung: Philipp Putzer, www.farbfabrik.it
Mit freundlicher Unterstützung der Neuner’s Gesundheit & Wellness GmbH, www.neuners.com
ISBN Print: 978-88-7283-534-0
ISBN E-Book: 978-88-7283-563-0
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Bei Fragen und Anregungen wenden Sie sich bitte an info@raetia.com
Die Angaben zu den Kräutern in diesem Buch wurden sorgfältig geprüft. Autor und Verlag lehnen jedoch jegliche Haftung für allfällige Schäden, die sich aus dem Gebrauch oder Missbrauch der hier vorgestellten Informationen ergeben, ab. Die in diesem Buch enthaltenen Ratschläge ersetzen nicht eine ärztliche Therapie.
Zum Gebrauch dieses Buches:
Die in diesem Buch vorgestellten Heilpflanzen wurden nach ihrem wichtigsten Anwendungsgebiet in der Volksheilkunde kategorisiert. Jedoch können die meisten Pflanzen gegen mehrere Krankheiten und körperliche Beschwerden eingesetzt werden. Die beigefügten Rezepte dienen als Beispiele für eine praktische Anwendung. Als solche wurden sie den einzelnen Kräutern zugeordnet. Drei Register im Anhang führen Krankheitssymptome, Rezepturen und Heilpflanzen und erleichtern die Suche.
I bin der Hans vom greanen Wald,
i grab die Wurzeln jung und alt.
I hau sie aus, i bau sie aus
und mach a guate Salbn daraus.
Reiftanzspiel aus St. Georgen in der Steiermark
Lass es dich nicht gereuen,
auch beim gemeinen Manne nachzufragen,
ob ein Ding zum Heilmittel geeignet sei.
Hippokrates, 4. Jahrhundert v. Chr.
DIE BEWOHNER DES Alpenraumes haben trotz unterschiedlicher Sprachen und häufig wechselnder Landschaften hinsichtlich ihrer Lebensumstände sehr viele Gemeinsamkeiten. In diesem wenig städtisch geprägten Raum sind die Wege oft lang und beschwerlich. Anders als in flachen Gebieten war man in früheren Zeiten notgedrungen auf sich selbst angewiesen und dadurch eigenständiger.
Diese mitunter sehr beschwerlichen Lebensumstände sind für die Erforschung alter Weisheiten heutzutage ein Segen. Denn vieles wurde in Ermangelung an Alternativen bewahrt, was anderorts bereits viel früher aufgegeben wurde. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass es vor allem entlegene Täler sind, in denen das Kräuterwissen bis ins 20. Jahrhundert bewahrt wurde.
Die Kräuterkunde ist dabei nur Teil eines ganzen medizinischen Heilverständnisses, das im Groben im gesamten Alpenraum auf denselben Grundvorstellungen beruhte und im Kern bereits seit der Antike existierte. Grundlage für die Behandlung war die Säftelehre. Hier wurde ein Gleichgewicht der vier menschlichen Säfte Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Schleim als Grundvoraussetzung eines gesunden Lebens gesehen. 2.000 Jahre lang war die Säftelehre die zentrale Vorstellung in der Heilkunde Europas. Die Volksheilkunde des Alpenraumes war somit Teil einer traditionell europäischen Medizin. Man nennt diese Laienheilkunde heute Volksmedizin, Traditionelle Heilkunde oder Volksheilkunde und grenzt sie somit von der etablierten wissenschaftlichen Medizin, der sogenannten Schulmedizin oder auch Allopathie, ab.
In der Antike gab es noch keine Trennung zwischen Schulmedizin und Volksmedizin. Ärzte sammelten Erprobtes und Bewährtes in ihren Schriften und schafften es so, dieses Wissen zu bewahren. Im Mittelalter kam es dann zum Bruch zwischen gelehrtem und populärem Heilwissen. Das hat auch mit der christlichen Erklärung von Krankheit und Leid zu tun. Im Mittelalter herrschte nämlich die Sichtweise vor, dass Kranke durch Buße Gesundheit erlangen und Krankheit im Allgemeinen eine Strafe Gottes sei. Zusätzlich beriefen sich die Ärzte in Mitteleuropa auf Werke der berühmten antiken Gelehrten, die fast alle aus dem Mittelmeerraum stammten und dementsprechend vorwiegend mediterrane Pflanzen in ihren Werken als Heilmittel beschrieben hatten. Die einfache Bevölkerung in den Alpen und nördlich davon benutzte aber heimische Heilpflanzen, die diesen Werken oft unbekannt waren. Dieser scheinbar unbedeutende Sachverhalt scheint bis heute nicht vollständig beseitigt, werden doch auch heute heimische alpine Heilpflanzen, wie beispielsweise der Wurmfarn, mit jahrhundertelanger volksmedizinischer Tradition nicht oder nur spärlich erforscht.
Die europäische Medizin war bis ins späte Mittelalter sehr dezentral. Außer der christlichen Kirche gab es keine überregionale Kraft, die Regeln und Gebote in Bezug auf Heilung aussprechen konnte. Das änderte sich ab dem 16. Jahrhundert maßgeblich. Universitäten lenkten nun immer zentraler das Wissen um die Heilkunde, und die weltliche Autorität versuchte zunehmend – auch durch Scharlatane und Betrüger dazu veranlasst – die Heilkunst zu regulieren und nur staatlich geprüften Personen zu erlauben. Durch eine in zunehmendem Maß verbesserte medizinische Versorgung und neu entdeckte Heilmittel wurden bis dahin gebräuchliche Heilmittel aus der Schulmedizin verdrängt und nur noch in der Volksheilkunde verwendet. Des Weiteren entfernte sich die gelehrte Medizin zunehmend von der Säftelehre und konzentrierte sich stattdessen immer mehr auf die Behandlung einzelner kranker oder schmerzender Organe und Körperteile. Die Krankheit an sich wurde auf einen bestimmten Körperbereich eingegrenzt und auf anatomische Veränderungen reduziert. Die Schulmedizin verabschiedete sich so von einer ganzheitlichen Behandlung, in welcher der harmonische Zustand der vier vermeintlichen Körpersäfte des Menschen angestrebt wurde. Somit setzte sich in der Medizin zunehmend ein sogenanntes mechanistisches Weltbild durch. In diesem aufkommenden Maschinenzeitalter sah man auch den menschlichen Körper zunehmend als eine Ansammlung von maschinellen Funktionen und Bauteilen, in der der kranke Teil einfach kuriert werden muss, damit sich der Mensch wieder gesund fühlt. Diese Vorstellung wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts durch verbesserte chirurgische Techniken und den Siegeszug der Antibiotika sogar noch verstärkt. Die Volksmedizin war aber sogar noch in dieser Zeit in der Säftelehre fest verankert – so musste es zu einer Trennung zwischen Volks- und Schulmedizin kommen.
Die Volksmedizin bekam eine stark untergeordnete Rolle, die mal belächelt, mal als zu gefährlich, jedenfalls als vernachlässigbare Anhäufung von Aberglauben und bestenfalls unwirksamen Heilmitteln abgetan wurde. Aus diesem Grund befasste sich die moderne Schulmedizin im Allgemeinen kaum mit dem medizinischen Wissen des Volkes. Dennoch gab es immer wieder Fürsprecher der Volksmedizin wie Ärzte, die erkannten, dass das volksmedizinische Wissen zunehmend verschwindet und in dieser Tradition mehr als unnütze Ratschläge stecken.
Einer der Ersten war der Rostocker Arzt Georg Friedrich Most, der 1843 die „Encyklopädie der gesammten Volksmedicin“ verfasste. Auch der Botaniker Heinrich Marzell forderte bereits 1925, dass man Volksmedizin ernst nehmen und nicht pauschal für unglaubwürdig halten solle. Dies unterstrich auch der in Graz tätige Hygieniker Josef Richard Möse, der 1958 auf die Bedeutung der Volksmedizin in der Antibiotikaforschung hinwies.
Besonderes Unverständnis bereitet bis heute vielen, dass sich die Volksmedizin neben pflanzlicher, tierischer und mineralischer Produkte auch zahlreicher „magischer“ Mittel, sogenannter Heilmittel aus der Volksmagie bedient. So unterteilte bereits der Medizinhistoriker Robert Jütte die Volksheilkunde in eine biologische, eine religiöse und eine magische Heilkunde.
Dass sich magische und religiöse Handlungen und Rituale in der Volksmedizin wiederfinden, hat gleich mehrere Gründe. So gehen viele dieser heutzutage als Aberglauben belächelten Anwendungen auf den Versuch zurück, Krankheit und Gesundheit zu erklären. Nennen wir beispielsweise Bakterien und Viren, die Auslöser diverser Infektionskrankheiten: Vor 200 Jahren noch waren dies Dämonen, die von einem Infizierten zum nächsten übersprangen. Diese Dämonen, die auch für andere Krankheiten und vor allem Schmerzen verantwortlich gemacht wurden, galt es zu bändigen und zu verjagen. Man personifizierte sozusagen die Krankheit. Nach dieser Vorstellung ist es nur mehr als verständlich, dass man die Krankheit beispielsweise durch Sprüche vertreiben wollte. In Liezen in der Steiermark versuchte man beispielsweise noch im 19. Jahrhundert mit folgendem Spruch Fieber zu senken, indem es an einen Nussbaum übergeben werden sollte:
Nussbaum! Ich komm zu dir,
nimm die 77erlei Fieber von mir,
ich will dabei bleiben.
Grabner, 1985
Zum anderen galt Heilung stets als etwas Geheimnisvolles, nicht Verständliches. Rituale scheinen diesem unverständlichen Vorgang gerechter zu werden als eine einfache Verabreichung eines Heilmittels. Auch heute besteht vielfach die Erwartungshaltung, etwas Fremdes, Exotisches müsse stärker wirksam sein als etwas Bekanntes. Während etwa die Traditionelle Chinesische Medizin in ihrem Ursprungsland eher von der ärmeren Bevölkerungsschicht angewandt wird, ist es in Europa genau umgekehrt – das Einfache, Naheliegende überzeugt einfach nicht. In dem aus dem 11. Jahrhundert stammenden Lehrgedicht aus Salerno heißt es gleichsam:
Heilmittel, die man teuer kauft, die nützen,
kriegt man sie gratis, bleibt die Krankheit sitzen.
In den Ergebnissen der noch in den Kinderschuhen steckenden Placeboforschung könnte die Lösung dieses jahrtausendealten Glaubens stecken. Placebos nennen wir heute Scheinmedikamente oder auch Handlungsweisen, die aus der Erwartungshaltung des Patienten bereits zu einem positiven Effekt führen. Es gibt auch Nocebos, bei denen eine negative Erwartungshaltung zu einer negativen Auswirkung führt. Placebo- beziehungsweise Nocebowirkungen können Scheinmedikamente, aber auch Gespräche, Rituale oder einfach nur die Farbe des verabreichten Heilmittels auslösen.
So zeigt sich heute eindeutig, dass rituelle Gesten für sich allein bereits Heilungserfolge hervorrufen können. Schmerzen können gelindert, Schwindelattacken eingedämmt und Infektionen schneller überwunden werden. Natürlich sind erfolgreiche Heilmethoden im Volk weitertradiert, verändert und auch auf andere Beschwerden übertragen worden. So ist es zu dieser Fülle an Ratschlägen aus der magischen Heilkunde gekommen, die in der heutigen aufgeklärten Welt häufig belächelt werden. Heute verkennen wir dagegen vielfach die Tatsache, dass es sowohl Placebo- als auch Nocebowirkungen gibt, und behandeln unseren Körper, als sei er eine Maschine, der man nur ein passendes Arzneimittel einflößen muss, um die Funktionen wiederherzustellen. Dass bereits im Gespräch und in der Aufmerksamkeit, die man dem Patienten zukommen lässt, vielfach ein Teil der Heilung steckt, kommt in der durch Zeitdruck geprägten westlichen Schulmedizin oft zu kurz. Die wenigsten Therapien werden auch hinsichtlich einer psychologischen beziehungsweise ganzheitlichen Komponente durchgeführt und der menschliche Körper wird fast nur in alternativen Heilrichtungen als Ganzes betrachtet. Bei Erkrankungen, wie stressbedingtem Burn-out oder Allergien, die vielfach systemischen Ursprungs sind und sich also nicht wirklich räumlich begrenzen lassen, stoßen wir mit einer rein mechanistischen Betrachtung des menschlichen Körpers an Grenzen. Neu entstehende Disziplinen wie die Psychoneuroimmunologie, in der das Zusammenspiel von Psyche und Immunsystem im Zentrum steht, sind zwar vielversprechend, stecken jedoch noch in den Kinderschuhen.
Der medizinische Fortschritt wird somit nicht vollends ausgenützt und rein auf seine „technische“ Komponente reduziert. Verbunden mit einem schlechten Lebensstil, mit falscher Ernährung und wenig Bewegung kommt es dadurch trotz gesteigerter Lebenserwartung im Durchschnitt nur zu einer geringen Zunahme von Jahren, in denen Menschen gesund und vital sind.
Was im Hinblick auf Gesundheit nicht außer Acht gelassen werden sollte, ist die Abhängigkeit, die man schafft, wenn man fundamentalste Kenntnisse über einfach verfügbare Hausmittel verliert. Man gibt einen wesentlichen Teil seiner Selbstständigkeit auf. Wenn man nicht weiß, wie man sich bei kleineren gesundheitlichen Problemen, die jeden Menschen von Zeit zu Zeit erfassen, verhalten und darauf reagieren sollte, wird man, beeinflusst von Werbemaßnahmen, zum Konsumenten von Lehrmeinungen und Produkten degradiert. Ein Sprichwort im 19. Jahrhundert lautete demgemäß:
Der ist wohl am besten dran,
der sich selber helfen kann.
Das Stiefmütterchenkraut ist seit dem Mittelalter ein beliebtes Heilmittel in der Kinderheilkunde. Früher wurde es auch bei Hautkrankheiten und Epilepsie verwendet.
BIS INS 19. JAHRHUNDERT fanden die Geburt, die Behandlung der Kranken sowie die Altersversorgung und das Sterben im eigenen Haus statt. Die Behandlung und Pflege im Krankenhaus etablierten sich erst im letzten Jahrhundert. Da es im Alpenraum lange an universitär gelehrten Ärzten, Wundärzten und Hebammen sowie an handwerklich ausgebildeten Badern fehlte, gab es hier einen starken Sektor an Laienmedizinern. Dies waren neben der eigenen Familie in erster Linie sogenannte Bauerndoktoren, aber auch Viehdoktoren, Zahnreißer, Wanderheiler und Geistliche, die die Leidenden bzw. Kranken pflegten und behandelten.
Grundlage für ihre Tätigkeit war von der Antike bis ins vorige Jahrhundert die Humoralpathologie, die sogenannte Säftelehre. Die im antiken Griechenland entstandene und durch den römischen Arzt Galen im 2. Jahrhundert n. Chr. systematisch geordnete Säftelehre wurde bis ins späte Mittelalter als gängige Gesundheitslehre propagiert. Sie besagt, dass der Körper nur dann im Einklang – gesund – sei, wenn die vier menschlichen Säfte Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle im Gleichgewicht (Eukrasie) zueinander stehen. Ungleichheit (Dyskrasie), d. h. ein Überhang von einem oder mehreren dieser Säfte, ist demnach der Ausgangspunkt für Krankheit. Den vier Säften wurden auch die vier Eigenschaften warm, trocken, feucht und kalt zugeordnet. Menschen hatten je nach Charaktereigenschaft von Geburt an einen Hang zu einem bestimmten Ungleichgewicht. Ein bestehendes Ungleichgewicht wurde mit Heilmitteln, Diät oder diversen Ausleitungsverfahren wie Schwitzkuren, Aderlass, Schröpfen, Brechmitteln oder Einläufen behandelt. Dabei musste die gewählte Therapie dem jeweiligen Ungleichgewicht entgegenstehen. So musste beispielsweise zu viel Kälte mit Wärme behandelt werden, zu viel Feuchtigkeit musste getrocknet werden. Die Säftelehre war eine Medizinlehre, in der der Mensch ganzheitlich gesehen wurde, in der also nicht nur Symptome behandelt wurden. So wurden beispielsweise beim Lackmüller in Verdings Ausschläge und Asthma mit harntreibenden Mitteln behandelt, weil man als Ursache für die Erkrankung schlechte Säfte vermutete.
In der Volksheilkunde hielt sich die Säftelehre teils bis ins 20. Jahrhundert. Die Ragginer, eine Familie von Bauernärzten aus Lüsen bei Brixen in Südtirol, wandten bis 1890 die Säftelehre sowohl zur Diagnosefindung als auch zur Therapie an. Auch sie versuchten meist durch Ausleitungsverfahren wie Aderlass, Abführmittel und Brechmittel eine Verbesserung des Verhältnisses der Körpersäfte zu erreichen. Man findet bis heute zahlreiche Reste der Säftelehre in der Volksheilkunde wieder. Ohrenringe gelten noch immer als Heilmittel gegen rheumatische Erkrankungen sowie Augen- und Ohrenerkrankungen. Durch die künstliche Öffnung des Ohrringes sollten schlechte Säfte abfließen können – eine These, die bereits im alten Ägypten nachweisbar ist. Auch in der Basentherapie und in der Behauptung, Leber und Darm gehören „entgiftet“ und der Körper „entschlackt“, stecken bis heute Reste der Säftelehre.
In vielen Bauernstuben sind auch heutzutage noch zahlreiche alte medizinische Bücher und Rezeptsammlungen erhalten, die den Menschen bei Krankheiten eine Hilfestellung boten. Meist wurden diese Bücher allerdings nicht von den Bauern selbst verfasst, sondern waren gekauft und von einer Generation zur nächsten weitergegeben worden. Teilweise wurden sie durch eigene Kenntnisse ergänzt. Die ursprüngliche Herkunft dieser Bücher ist heute jedenfalls meist sehr schwer festzustellen. Meist dürften diese aber aus dem 18./19. Jahrhundert stammen. Auch Nachdrucke berühmter Kräuterbücher, die es im Laufe der Zeit aus den Klosterbibliotheken in die Bauernstuben schafften, ergänzten das Kräuterwissen vieler Heilkundiger. So wurde im Jahr 1595 Christoph Gostner aus Sexten wegen Kurpfuscherei angeklagt und gab an, neben dem „Albertus Magnus Kräuterbuch“ auch „Der Frauen Rosengarten“ und das medizinische Nachschlagewerk „Theophrastus Paracelsus – Wund und Arzneibuch“ zu besitzen.
Eine Besonderheit in vielen dieser Bücher ist das große Feld an magischen Ratschlägen. Die enthaltenen magischen Regeln, die an genau festgeschriebenen Tagen diverse Tätigkeiten empfahlen und absonderlichste Rituale beschreiben, verweisen auf eine Zeit, in der die Aufklärung noch in den Kinderschuhen steckte. Wichtig ist in diesem Zusammenhang das 1849 verfasste Rezeptbüchlein „Das sechste und siebente Buch Mosis“, aber auch das häufig fälschlicherweise Albertus Magnus zugeschriebene Werk „Bewährte und approbierte sympathetische und natürliche ägyptische Geheimnisse für Menschen und Vieh“. Dass es sich hier nicht um heimische Volksheilkunde, sondern um das Resultat eines neuzeitlichen Aberglaubens handelt, liegt auf der Hand. Scheinen doch viele der Anwendungen nicht antiken Vorstellungen geschuldet, sondern wild zusammengewürfelt, frei nach dem Ansatz „je ausgefallener und exotischer, desto stärker wirksam“. Es war allgemeiner Volksglauben, dass diese Rezeptbücher magische Handlungen und Zauberei ermöglichten. Da bis ins späte 19. Jahrhundert nur ein Bruchteil der Bevölkerung schreiben und lesen konnte, kam es zu zahlreichen Legenden und Sagen. Dies steigerte natürlich die Ehrfurcht vor diesen Büchern und führte zu einem verstärkten Aberglauben.
Die Heiligen Kosmas und Damian mit Harnschauglas
und Salbenbüchse, aus dem „Feldtbuch der
Wundtartzney“ von Hans von Gersdoff (1540)
Derartige Bücher schaffen es heutzutage immer wieder in die Medien, wobei oftmals vollkommen aus dem Kontext gerissen nur ein Bruchteil dessen vermittelt wird, wofür sie ursprünglich geschrieben wurden. Das Obermoar Rezeptbuch aus St. Jakob im Ahrntal in Südtirol ist ein derartiges Beispiel. Um gestohlene Wertsachen wiederzufinden, sollte man zum Beispiel ein Totenkreuz vom Grab eines jung Verstorbenen an den Ort des Diebstahls bringen und die Sachen würden wieder auftauchen.
Man darf Volksmedizin aber nicht nur auf die Anwendung von Magie reduzieren. Natürlich erregten magische Rezepte seit jeher eine größere Aufmerksamkeit und fanden infolgedessen Verbreitung. Tatsächlich waren die Mehrzahl der Behandlungen aber rationale Mittel aus der Kräuterkunde – selbst im sehr abergläubischen 17. Jahrhundert. So ist aus den Prozessakten des 1610 wegen Kurpfuscherei angeklagten Südtiroler Bauerndoktors Wolfgang Mitterhofer ersichtlich, dass bei 13 von ihm getätigten Behandlungen nur in fünf Fällen magische Amulette zum Einsatz kamen. In den anderen acht Fällen waren Ratschläge aus der Kräuterkunde Grundlage der Therapien.
Generell war die Diagnostik in der Volksheilkunde bis ins 20. Jahrhundert eher einfach gehalten. Man kannte schlichtweg nicht sehr viele unterschiedliche Beschwerden. Auch die Hingabe, mit der man sich der Therapie der verschiedenen Krankheiten widmete, war sehr unterschiedlich. So wurden vor allem Krankheiten, die die Arbeitskraft der Menschen minderten, von den Volksheilern behandelt. Denn in einer vorindustriellen Zeit war eine ausfallende Arbeitskraft mitunter existenzbedrohend für die gesamte Familie. Wunden, Gelenkserkrankungen, Fieber, ansteckende Krankheiten, Magen- und Hautprobleme galten als die problematischsten Erkrankungen. Dagegen wurden Nervenerkrankungen kaum beachtet und wohl oft auch nicht als behandelbare Krankheit angesehen.
Natürlich war die Diagnosefindung aufgrund fehlender Nachweismethoden auch vom Aberglauben vergangener Jahrhunderte geprägt. Oft galt es nur abzuklären, ob es sich um eine Strafe Gottes handelte oder ob die Krankheit von Dämonen ausgelöst wurde. Margarethe Ruff (2003) zufolge erklärte etwa Peter Schoder, ein Heiler aus Vandans in Vorarlberg, Krankheiten wären die Strafe Gottes für unsere Sünden und kämen von bösen Lüften, die die bösen Geister vergiftet hätten.
Die Harnschau (Uroskopie) war eine von der Säftelehre abgeleitete Denkschule. Von der Antike bis weit in die Neuzeit galt die Harnschau neben der Pulsdiagnostik und allgemeiner Befindlichkeit als wichtigste Diagnosemöglichkeit. Vor allem im Mittelalter galt sie als das wichtigste diagnostische Hilfsmittel. Man vermutete, dass das durch die Säftelehre propagierte Ungleichgewicht, das letztlich zur Krankheit führt, im Harn ersichtlich wird. Der Patient musste zu diesem Zweck den Morgenurin in einem runden, durchsichtigen Harnglas sammeln und dem Heiler bringen. Dieser stellte aufgrund der Farbe, Konsistenz und möglicher Niederschläge die Diagnose.
Die oberste Schicht entsprach dem Kopfbereich, die zweite dem Brustbereich, die nächste der Bauchgegend und die unterste Schicht dem Unterleibs- und Geschlechtsbereich. Dabei galt es 20 verschiedene Farbtöne und fünf verschiedene Konzentrationsgrade zu unterscheiden. Hilfestellungen boten sogenannte Urinspiegel, mit deren Hilfe man auch festzustellen versuchte, wo im Körper das Ungleichgewicht war. Manchen „Beschauern“ sagte man sogar nach, dass sie aus dem Urin Alter und Geschlecht des Patienten ablesen konnten. So existieren gleich mehrere Legenden, in denen der Arzt bzw. Volksheiler den Urin eines vermeintlich älteren Patienten als den Urin einer schwangeren jungen Frau enttarnte. Denn durch den untergejubelten Urin eines falschen Patienten sollte das Können des Heilers widerlegt und dieser bloßgestellt werden.
Als im 18. Jahrhundert zunehmend chemische Verfahren in der medizinischen Diagnostik entwickelt wurden, war dies in der Schulmedizin das Ende der Harnschau. In der Volksmedizin traf man die Harnschau aber bis ins 20. Jahrhundert an. Die Ragginer wandten im 19. Jahrhundert neben der klassischen Harnschau auch bereits einfache chemische Verfahren an. So beschreiben Asche/Schulze (1996) die folgende Aufzeichnung durch Sebastian Ragginer: „Wie man ein Nierenleiden erkennt. Man nimmt ein wenig Urin in ein enges Fläschchen, hält es über eine Flamme, bis der Urin kocht, gibt dann etliche Tropfen Essigsäure dran, bildet sich dann eine weiße Wolke, so ist Eiweiß drin, also Nierenleiden.“
Ein zusätzliches diagnostisches Verfahren war lange Zeit das Messen des Verhältnisses von Körpergröße zu Körperbreite. Dabei stellt man sich vor, dass ein Mensch, der krank ist, auch äußerlich das „rechte Maß“ verloren hat. Nach Plinius dem Älteren (23-79 n. Chr.) sei dies für einen gesunden Menschen „die Länge des Menschen vom Scheitel bis zum Fuß gleich der Breite, gemessen mit ausgebreiteten Armen über der Brust von Hand zu Hand“. Auch das Bild des sogenannten vitruvianischen Menschen von Leonardo da Vinci, das um 1490 entstand, beschreibt im Grunde dieses bereits in der Antike vorherrschende Bild der idealen Verhältnisse. Je größer der Unterschied zwischen den beiden Maßen, desto kränker der Patient bzw. desto weiter fortgeschritten war die Krankheit. Auch Hildegard von Bingen (1098–1179) beschrieb im 12. Jahrhundert diese Art der Diagnostik. Beispielsweise untersuchte man hiermit bei Patienten mit Tuberkulose (Schwindsucht), die durch starke Abmagerung und Verfall gekennzeichnet waren, wie weit die Krankheit bereits fortgeschritten war. Laut Margarethe Ruff (2003) verweist das frühmittelalterliche „Oratio bona ad deum“ des Klosters Muri-Gries bei Bozen, man möge sogar vor der Messe den Körper der Menschen ausmessen.
Der vitruvianische Mensch von Leonardo da Vinci (um 1490)
Diese Sichtweise war noch lange im gesamten Alpenraum bei Bauernärzten anzutreffen. Der Spanner Peter aus Haslach im Mühlviertel in Oberösterreich soll noch im 20. Jahrhundert Krankheiten diagnostiziert haben, indem er mit seinen Fingern den Körper ausmaß. Und in Redewendungen, wie „das rechte Maß“, „maßlos sein“ und „Maß und Ziel verloren“, findet man Reste dieser Praxis bis heute.
Eine weitere bereits in der Antike bekannte Methode war die Pulsdiagnostik. Hier versuchte man aufgrund der Art des Pulses auf ein eventuelles Ungleichgewicht bzw. eine Erkrankung im Körper zu schließen. Anders als bei der Harnschau, bei welcher der Zustand der Körpersäfte untersucht wurde, galt es, mittels der Pulsdiagnostik ein mögliches Ungleichgewicht des Energieflusses zu entdecken.
Beginnend mit der Beschreibung des Blutkreislaufs durch William Harvey 1628, verabschiedete sich die Schulmedizin in den darauffolgenden Jahrhunderten nicht nur von der Säftelehre, sondern zunehmend auch von der Pulsdiagnostik. Doch in der Volksheilkunde überlebte auch diese Art der Diagnostik einige Jahrhunderte länger. So bediente sich laut Bernd Mader (2005) der in Kleinpreding in der Steiermark tätige Bauernarzt Müllerhansl noch im 18. Jahrhundert neben der Harnschau der Pulsdiagnostik.
Und die Kranken, denen sie die Hände auflegen,
werden gesund werden.
Markusevangelium
Viele volksmedizinische Handlungen entspringen dem festen Glauben an Magie und übersinnlichen Kräften. Bei der Frage, weshalb Menschen Krankheiten erleiden, hatte man oft einfach keine bessere Erklärung als Dämonen oder schwarze Magie. Der Glauben daran war lange Zeit alltagstauglich und fester Bestandteil der Volksfrömmigkeit. Viele Redewendungen und Handlungen bezeugen dies bis heute. Krankheiten wurden regelrecht personifiziert, das heißt, man sah im körperlichen Leiden einen bösen Geist, den es wieder zu entfernen galt. Bis heute sind Redewendungen wie etwa „die Krankheit zehrt an mir“, „hat mich gepackt“, „wirft mich nieder“, „bringt mich um“ und „Fieber muss man austreiben“ in unserer Sprache vorhanden. Dabei dachte man, die Krankheiten könnten durch einen Schuss („Hexenschuss“), einen bösen Blick, ein Nahrungsmittel oder durch Anhauchen in den Körper gelangen. Beim Gähnen hält man sich bis heute die Hand vor den Mund. Dies hat nichts mit gutem Benehmen zu tun, sondern man glaubte früher, dass sonst die bösen Geister in den Körper gelangen.
Einen besonders beängstigenden Dämon sah man im sogenannten Wurm. Dieser, so der Volksglauben, löse vor allem pulsierende und stechende Schmerzen hervor. Der Wurm diente zur Erklärung mehrerer Krankheitsbilder. So löste der Fingerwurm die Nagelbettentzündung aus, der Herzwurm ist als Gastritis zu deuten und der Zahnwurm war für Zahnschmerzen verantwortlich. Die auch heute noch gebräuchliche Redewendung „da ist der Wurm drinnen“ bezieht sich auf diese Vorstellung. Auch der Begriff „Ohrwurm“ ist bis heute noch erhalten geblieben, allerdings nicht mehr in Zusammenhang mit pochenden Schmerzen, sondern vielmehr als harmlose Erscheinung.
Warum war aber der Mensch von früher empfänglicher für magische Vorstellungen als heute? Der Grund liegt darin, dass sich der Mensch noch als Teil der Natur sah und damit war er für Wechselwirkungen innerhalb der Natur viel empfänglicher als heute. So schrieb bereits der Philosoph Empedokles im 5. Jahrhundert v. Chr. „Gleiches wird von Gleichem erkannt“. Der Grundsatz der Magie ist die Vorstellung, dass alles miteinander verbunden sei. Maßgebliche Grundsätze jedes magischen Heilversuches sind deshalb laut Margarethe Ruff (2003) das Prinzip der Ähnlichkeit, jenes des Gegensatzes und der Berührung. Dabei stammen diese Vorstellungen aus einer sehr lang vergangenen Zeit. Bereits in der Antike wurden zahlreiche Schriften hierzu verfasst und gedeutet. Aus der Ähnlichkeit und dem Gegensatz, so Plinius, nimmt auch die Heilkunst ihren Ursprung. Viele der im Folgenden beschriebenen Rituale sind heute verschwunden. Der Grundgedanken der Ähnlichkeit – Gleiches wird mit Gleichem behandelt – lebt aber in der Homöopathie, die im 19. Jahrhundert durch Samuel Hahnemann begründet worden war, weiter.
Das Heilen mit Worten im Sinne von Zaubersprüchen oder Gebeten findet sich rund um den Globus in vielen, wenn nicht sogar den meisten Kulturen und ist fester Bestandteil vieler Heilungsriten. Neben dem Handauflegen zählt es zu einem der ältesten Heilrituale überhaupt. Bereits in Homers Odyssee (8. Jahrhundert v. Chr.) wird davon berichtet. So besangen die Söhne des Autolykos die Wunde des Odysseus, als dieser sich bei der Jagd verletzt hatte.
Beim mehrmaligen Beschwören der Formel
„Abracadabra“ sollte durch das Weglassen von je
einem Buchstaben die Krankheit verschwinden
Der viel zitierte und bekannte Zauberspruch „Abracadabra“, wie er bereits bei Serenus Sammonicus (ca. 200 n. Chr.) erwähnt wird, diente ursprünglich dazu, Krankheiten zu heilen. Während man mehrmals diese Formel beschwor, sollte durch das Weglassen von je einem Buchstaben auch die Krankheit bzw. das körperliche Leiden auf gleiche Weise verschwinden. Die Krankheit sollte es sozusagen den Worten gleichtun. Ein anderer noch heute bekannter magischer Spruch ist „Hokuspokus“. Das Wort geht ursprünglich auf die bei der katholischen Messfeier gesprochenen Worte „Hoc est corpus Christi“ (Das ist der Leib Christi) zurück. Da die katholischen Messen vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil in Latein abgehalten wurden und die Besucher vieles nicht verstanden, wurde aus „Hoc est corpus“ „Hocus Pocus“.
Worte spielen bis heute in der Volksheilkunde eine große Rolle. Im Alpenraum sind es vor allem die Abbeter und Wender, die ähnlich schamanischen Ritualen meist nur mit Worten und Berührungen heilen. Die Sprüche wandelten sich im Laufe der Jahrhunderte und sind entsprechend der christlichen Prägung des Alpenraumes religiös aufgeladen. Meist wird am Schluss der Behandlung sogar ein Vaterunser gesprochen. Anfangs wurden diese Sprüche von der Kirche toleriert, ja sogar selbige in Gebetsform an die Gläubigen verteilt. Während der Zeit der Inquisition und der darauffolgenden Hexenverfolgung im 15. Jahrhundert wurden sie allerdings zunehmend als Aberglauben und Zauberei angesehen. In den Hexenprozessen Tirols des 16. und 17. Jahrhunderts wurde schließlich sogar explizit nach Heilsegen gefragt und diese den Beschuldigten zur Last gelegt. Ein solcher Spruch eines steirischen Abbeters aus dem Ennstal lautet:
Auf meine Kraft muaßt du vertraun, därfst auf eig’ne Hülf nit bauen, sonst könnt ich mein Ziel verfehln, darfst nur mi zum Helfer wähln. Blitz, Gott, Dunner, oli Heiligen, mög’n sich bei mein Werk beteiligen. Kriz, Kreiz, nebenfahl, jetzt sei dir geholfen und allewal.
Reiterer, 1896
In Altaussee in Oberösterreich heilte im 20. Jahrhundert ein Herr Schrammel sogar Brüche mittels Abbeten. Nach seinen Aussagen konnte dies aber nur bei abnehmendem Mond an Freitagen mit Erfolg durchgeführt werden. Karfreitag sollte dafür besonders geeignet sein.
Gebete wurden auch bei Blutungen gesprochen. Der im Südtiroler Passeiertal tätige Bauerndoktor Michele-Luis soll sich durch das Besprechen seiner Wunde bei einem Jagdunfall sogar selbst vor dem Verbluten bewahrt haben.
Die hierfür nötigen Blutsegen sind zahlreich und waren im gesamten Alpenraum zu finden. Auch wenn die Sprüche sehr unterschiedlich sind, deuten sie aber meist auf einen Analogiegedanken (Gleiches heilt Gleiches) hin.
Darstellung eines mittelalterlichen Krankenhauses
Beinamputation aus dem „Feldtbuch der Wundartzney“ von Hans von Gersdorff (1540)
In einem geringeren Ausmaß wurden neben Blutungen auch Hauterkrankungen wie Warzen und Hühneraugen, aber auch Augenerkrankungen und Schmerzen besprochen. Ein Spruch aus dem Obermoar Rezeptbuch gegen das Erblinden lautet wie folgt:
Erkläret euch ihr Augen, durch den christlichen Glauben, erkläret euch ihr Augen am allermeisten durch den heiligen Geist, erkläret euch ihr Augen durch den heiligsten Mann, der die Marter und den Tod am Stamme des heiligen Kreize nahm, das ist unser lieber Herr Jesus Christ, der aller Welt ein Helfer ist, Amen.
Mit Sprüchen wurde aber auch versucht, Feuer zu löschen und Diebesgut wiederzubeschaffen. Laut Aussagen noch tätiger Heiler sei erwähnt, dass jeder Spruch allerdings nur von drei Personen gekannt werden durfte, ansonsten verliert er seine Wirkung.
Eine häufig in der Volksmedizin anzutreffende Methode, um diverse körperliche Leiden zu kurieren, ist jene des Verbohrens beziehungsweise des Verbannens. Hier wird die Krankheit symbolisch entweder auf eine Pflanze, ein Tier oder auch auf einen Gegenstand umgelenkt (Transplantatio morborum). Die Krankheit, die hier als böser Dämon gesehen wird, soll auf diese Weise den Patienten verlassen und so geheilt werden. Diese Glaubensvorstellung ist sehr alt: Im Markusevangelium wird etwa ein Kranker von Jesus geheilt. Dabei „verließen die unreinen Geister den Menschen und fuhren in die Schweine und die Herde stürzte sich von dem Abhang hinab in den See“ (Mk 5,13).
Besonders der Holunder steht im Zentrum vieler sogenannter typischer Verbannungsrituale. Früher hängte man beispielsweise ein Hemd des fieberkranken Patienten an einen Holunderstrauch, um das Fieber auf diesen zu übertragen. Im steirischen Kainachtal wurde früher der Name des Patienten auf einen Zettel geschrieben, dieser Zettel anschließend in ein frisch gebohrtes Loch eines Holunderbaumes gesteckt und die Öffnung mit einem grünen, frischen Holzstift wieder verschlossen. Der Grund liegt in der großen Wertschätzung, die der Holunder in der Bevölkerung genoss. Er wurde kultisch verehrt, medizinisch vielfältig verwendet und ihm wurden mächtige Kräfte zugeschrieben. Diese Art der Verehrung ist bis heute in ganz Mittel- und Nordeuropa anzutreffen. In Dänemark wurde bis ins vorige Jahrhundert Milch auf die Wurzeln des Holunders gegossen, wenn dieser verletzt wurde. Dabei wurden folgende Worte gesprochen: „Mutter des Holunders, erlaube mir, deinen Wald anzuschneiden.“ Und bis heute heißt es in vielen Gebieten des Alpenraumes wie etwa in Kärnten: „Vor dem Holunder den Hut herunter.“
Eine weitere Möglichkeit, um den vermeintlichen Dämon loszuwerden, war das Vernageln. Hier wurde ein Nagel bzw. Holzpflock symbolisch an die erkrankte Stelle herangeführt und so mit dieser verbunden. Anschließend wurde dieser Nagel in einen Balken geschlagen und die Krankheit sollte auf diese Weise ebenfalls verschwinden. Dieses Ritual gab es nachweislich bereits im alten Rom. Hier wurde bei Seuchengefahr unter Abhaltung einer Zeremonie ein Nagel in einen Balken des Jupitertempels geschlagen.
Auch das Durchziehen durch natürliche oder geschaffene Öffnungen sei an dieser Stelle zu nennen. Hier wird beispielsweise ein Neugeborenes, das an Missbildungen leidet, durch eine Gabelöffnung eines Eichenbaumes gehoben und so symbolisch wiedergeboren und geheilt. Hans Vintler aus Südtirol beschrieb diesen Brauch im 15. Jahrhundert folgendermaßen: „So seynd etlich der Ammen, die selben nement die jungen kind. So sy erst geporn sind, und stoßen durch ein hole [Loch].“ Und auch Christian Caminada (1961) berichtet aus der rätoromanischen Schweiz, dass früher Menschen bei Krankheiten und vermeintlichen Verhexungen durch die Öffnung des sagenumwobenen Ahorns bei Trun schlüpften, um sich dieser zu entledigen.
Besonders oft werden bis in die heutige Zeit Warzen symbolisch entfernt. Bei einem der häufigsten Rituale werden Knöpfe in einen Faden gebunden. In Südtirol und im Montafon bindet man entsprechend der Anzahl von Warzen Knöpfe in einen Faden und dieser wird anschließend beispielsweise unter der Dachtraufe vergraben. In Vorarlberg und Tirol wird hierzu zusätzlich bei zunehmendem Mond in die Mondsichel geblickt, die Warze oder auch der Kropf berührt und Folgendes dreimal gesprochen: „Was ich sehe, soll sich vermehren, was ich streiche, soll sich verzehren im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.“ Selbiges Ritual wurde vor 1.500 Jahren bereits vom römischen Gelehrten Marcellus von Bordeaux beschrieben.
Das Umlegen eines Bandes oder auch eines Gürtels ist ebenfalls eine sehr alte magische Heiltradition. Man findet sie in sehr vielen Kulturen rund um den Globus. Es handelt sich dabei wohl um einen äußerst alten Glauben, nach dem durch das Umbinden des betreffenden Körperteils ein möglicher Krankheitsdämon eingedämmt werden sollte. Zusätzlich sollte durch das Umbinden und Wieder-Lösen des Bandes oder Gürtels ganz in der Tradition des Analogiegedankens – die Handlung ruft Paralleles hervor – auch das körperliche Leiden gelöst werden. Folgt man dieser Vorstellung, ist die Anwendung während der Geburt besonders nachvollziehbar. Hier wird der Gürtel des Mannes der gebärenden Frau umgelegt und wieder gelöst, um eine schwere Geburt zu beschleunigen. Die Verwendung bei Schwangeren wird auch in Bezug auf den Gürtel des Vitalis, der in der Stiftskirche zu St. Peter in Salzburg als Reliquie aufbewahrt wahrt wird, erwähnt. Die Äbtissin und Heilerin Hildegard von Bingen empfahl Schwangeren bei einer schweren Geburt ebenfalls das Umlegen eines Gürtels.
Unter dem Begriff „Umgürten“ ist an dieser Stelle auch das Anlegen einer Krone bzw. eines Eisenringes zu Heilzwecken zu verstehen. Dabei wird meist am Ende einer religiösen Zeremonie in der Kirche ein Eisenring bzw. eine Krone aufgesetzt. Dadurch sollen diverse Krankheiten kuriert werden, darunter beispielsweise Kopfschmerzen. Nach Elfriede Grabner (1985) wurde dieser Heilbrauch etwa in der Kirche St. Leonhard in Aich bei Gmünd durchgeführt. Bereits in der Antike hatten mehrere Schriftsteller, wie etwa Serenus Sammonicus und Aurelius Cornelius Celsus, berichtet, dass man durch das Umbinden des Kopfes Nasenbluten und Kopfschmerzen bessern kann.
Kränze und Gürtel werden gerne auch mit Heilpflanzen geflochten. Beifuß ist dabei besonders beliebt und wird immer wieder gegen Müdigkeit der Beine empfohlen, wenn man ihn um die Beine bindet. Zur Sommersonnenwende wurden Kränze aus Beifuß geflochten und ins Feuer geworfen. Dadurch sollte man das ganze Jahr über gesund bleiben.
Amulette sind eine spezielle Art von Talisman. Mit ihnen versuchte man Krankheiten und Dämonen prophylaktisch fernzuhalten und Liebe sowie Glück anzuziehen. Im Alpenraum wurden sie meist in Form von zugebundenen Leinensäckchen um den Hals oder in der Nähe des Herzens in der Manteltasche getragen. Der Inhalt war je nach Krankheitsbild oder gewünschter Schutzwirkung sehr unterschiedlich. Er reichte von Schlangenköpfen oder beschriebenen Zetteln über Friedhofserde bis hin zu aromatisch riechenden Stoffen wie beispielsweise einer Baldrianwurzel.
Besonders beliebte Amulette waren im Mittelalter Alraunwurzeln und Eichenmisteln. So war laut den Aufzeichnungen des Stadtgerichtes Brixen im Nachlass der Katherine Larentz im Jahr 1542 eine Alraunwurzel, in dem der Brigitta Seidlin befand sich 1539 eine Eichenmistel an einer Schnur. Ein derartiges Amulett sollte vor Zauberei und Gespenstern schützen und Liebeskünste ermöglichen.
Bis ins 20. Jahrhundert glaubte man, dass viele Krankheiten durch schlechte, modrige Lüfte verursacht werden. Diese Vorstellung hatte eine lange Tradition. Schon Hippokrates (460–370 v. Chr.) versuchte, eine Pestepidemie in Athen mit rauchenden Notfeuern einzudämmen. Im Alpenraum räucherte man bis ins 20. Jahrhundert hinein vor allem bei ansteckenden Krankheiten und Seuchen Haus und Stall mit aromatischen Wurzeln und Kräutern. Johann Ragginer räucherte bei ansteckenden Tierkrankheiten den Stall mit Baldrian, Beifuß, Dost, Johanniskraut, Weinraute und Wermut. Geräuchert wurde auch bei Schadinsekten und Krankheiten unbekannten Ursprungs. Im Obermoar Rezeptbuch steht dementsprechend geschrieben, man möge, um giftige Tiere und Ungeziefer aus dem Stall zu vertreiben, diesen mit Baldrianwurzel räuchern. Dass dies von kritischen Zeitgenossen aber auch argwöhnisch betrachtet wurde, zeigt folgender Spruch, der an der Stalltüre des Gasserhofs in Saubach bei Barbian in Südtirol steht:
Versorg dein Vieh und schon es auch,
das ist der beste Hexenrauch.
Die Zeit spielt in der Volksheilkunde und im Speziellen in der Kräuterheilkunde eine überaus wichtige Rolle. Das beginnt bereits beim Sammeln der Heilpflanzen. Hier wird traditionellerweise auf die Tageszeit und auf den richtigen Jahreszeitpunkt geachtet. So wie dies der Spruch aus Kärnten in drastischen Worten verdeutlicht, werden Heilpflanzen eher am Morgen oder vormittags bis zur Mittagszeit gesammelt. Giftpflanzen und Pflanzen, denen man magische Wirkungen zuschreibt, wie beispielweise dem Farnsamen, werden dagegen eher nachts gesammelt.
Wann mi klaubst am Vormittag, hilf i dir, was i mag;
klaubst mi am Nachmittag, hilf i dir ins Grab.
Volksspruch aus dem Kärntner Nockgebiet
Zahlreiche Untersuchungen bestätigen, dass der Zeitpunkt die Qualität der gesammelten Heilpflanzen maßgeblich beeinflusst. Pflanzen enthalten natürlich je nach Jahreszeit und Ort unterschiedliche Wirkstoffkonzentrationen. Beispielsweise konnte in einer Arbeit von Richard Josef Möse bei Spitzwegerich eine höhere Wirkstoffkonzentration für den Frühsommer nachgewiesen werden. In den restlichen Monaten und vor allem im Herbst war diese schwächer ausgeprägt.
Während die Sonne eher beim Sammeln der Heilkräuter eine Rolle spielte, war der Mond in der Therapie der Krankheiten sehr bedeutsam. Manche Krankheiten, besonders jene, bei denen man etwas verringern bzw. zum Verschwinden bringen wollte, mussten bei abnehmendem Mond behandelt werden. Zu diesen typischen Leiden zählen beispielsweise Warzen, Kropf, Nierensteine und Geschwülste.
Ein Rezept des Zillertaler Bauerndoktors Kiendler gegen Nierensteine lautete dementsprechend: „Einen guten Brandwein, darin 4 bis 5 Knoblauchzehen einen Tag und eine Nacht, ehe der Mond neu wird, gut verschlossen. 1 Stunde bis 1,5 Stunden vor Neumond iss den Knoblauch und trink den Brandwein, iss darauf 10 oder 12 Wacholderbeeren, das mache alle Neumonde, faste darauf 4 Stunden.“ Die Behandlung von Krankheiten, die wie Tuberkulose (Schwindsucht) zu Abmagerung und Auszehrung führen, sollte dagegen nur bei zunehmendem Mond den gewünschten Erfolg bringen. Auch Entbindungen sollen bei zunehmendem Mond unproblematischer verlaufen. Dabei weiß man, dass bereits in der Antike Mond und Sternenbilder maßgeblich für weltliche Begebenheiten verantwortlich gemacht worden waren. Auch der berühmte Arzt Paracelsus (1493–1541) schenkte dem Mond große Beachtung. Er nannte die Anziehungskraft des Mondes sogar als eine Grundlage für Krankheiten. Nach Paracelsus gibt es sogenannte lunatici. Das sind Menschen, die äußerst stark vom Mond beeinflusst werden und all ihre Krankheiten im Grunde durch den Einfluss des Mondes bekommen.
In einer Zeit, als es noch keine sozialen Auffangnetze gab und ein guter Gesundheitszustand Grundlage für die täglich zu verrichtenden Pflichten war, ging man vorsichtiger mit sich um. Dementsprechend hatte auch in der Volksheilkunde der Alpen die Vorbeugung von Krankheiten beziehungsweise der Erhalt der Gesundheit einen sehr hohen Stellenwert. Dabei versuchte man, entsprechend der Säftelehre, durch eine Ausgewogenheit in der Lebensführung ein Ungleichgewicht zu verhindern. Dass dies auch in unserem Heilverständnis für ein gesundes Leben unabdingbar ist, steht außer Zweifel.
Wenn dir die Ärzte erspart bleiben sollen, dann mögen
dir diese drei als Ärzte dienen:
ein heiteres Gemüt, Ruhe und eine mäßige Diät.
Lehrgedicht der Schule von Salerno aus dem 11. Jahrhundert