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AUS DEM ENGLISCHEN
VON ANNE EMMERT

EDITION NAUTILUS

Inhalt

Babys machen

Wikinger-Nacht

Blue Monday

Das Tötungsglas

Kleine Gnaden

Praktische Magie

Hush

Wie man seine Gefühle isst

Das Haus der Unterwerfung

Pretty Whispers

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Die Erzählung »Babys machen« erschien erstmals auf Deutsch im KULTUR SPIEGEL, April 2015.
Die Erzählung »Blue Monday« erschien erstmals auf Terraform, motherboard.vice.com, 22. Oktober 2015.
Die Erzählung »Das Haus der Unterwerfung« erschien erstmals unter dem Titel »Das Haus des Rückzugs« in der Übersetzung von Michael Ebmeyer im Freitag, Nr. 52/53 2015.
Alle weiteren Erzählungen werden hier erstveröffentlicht.

Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg Schützenstraße 49 a · D - 22761 Hamburg
www.edition-nautilus.de
Alle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus 2016
Erstausgabe des vorliegenden Buches März 2016
Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg
www.majabechert.de
1. Auflage
ePub ISBN 978-3-96054-001-4

Babys machen

Annie kam schlecht gelaunt und in einem übergroßen Morgenmantel die Treppe herunter, Tommy auf der Hüfte. »Ich setze Kaffee auf«, sagte sie. »Dann müssen wir reden.«

»Lass mich den Kaffee machen.« Simon sprang auf und hantierte an der Maschine herum, die in seinen Augen viel komplizierter war als nötig. Wie alles andere in diesem Haushalt schien sie mit der Zeit immer komplexer zu werden.

Annie liebte raffinierten Kaffee, und Simon hatte ihr diese Maschine von seinem ersten anständigen Gehalt zum Hochzeitstag gekauft. Sie war silbern und schlank und doppelt so groß wie die Mikrowelle, und Annie vergötterte sie. Trotzdem war sie ihr nicht gut genug. Ständig bastelte sie daran herum. Hier ein Extra, mit dem sich die Sahne um zusätzliche drei Grad vorwärmen ließ, dort eine Vorrichtung, die das Mahlwerk während des Betriebs abkühlte, damit die Bohnen nicht verbrannten. Das war eine der Begleiterscheinungen des Zusammenlebens mit einer Robotikingenieurin. Nie konnte sie aufhören herumzubasteln. Nichts war je endgültig fertig. Nichts war ihr gut genug.

Nun rankte sich also ein Wirrwarr aus zusätzlichen Drähten und Kabeln um die Kaffeemaschine, und egal wie oft Annie es ihm zeigte – sieh mal, es ist ganz einfach, du drückst nur siebzehn Sekunden lang den kleinen blauen Knopf hier, so –, Simon bekam es nie richtig hin.

Heute schaffte er fast jeden der Handgriffe, während Annie das Baby in den Hochstuhl schnallte. Sie machte leise Gurrlaute, wie damals, erinnerte sich Simon, als sie für ihn gurrte, in jenen magischen Monaten, als sie frisch verliebt waren, bevor sie ihre Doktorarbeit begonnen hatte.

Dem hinteren Teil der Kaffeemaschine entwich ein unheilvoller Zischlaut. Annie bedachte Simon mit einem enttäuschten Blick wie einen süßen Welpen, der seinen Haufen auf den Läufer gesetzt hat, und kümmerte sich selbst um die Maschine. Wieder einmal.

Als der Kaffee fertig war, reichte Simon ihr das dampfende Getränk, dunkel und süß, der braune Zucker genau richtig dosiert. »Danke«, sagte sie, als hätte sie ihn nicht so gut wie allein gemacht. Er warf ihr ein Lächeln zu, dieses breite kerngesunde amerikanische Lächeln mit den beiden Grübchen, eins auf der Wange und eins am Kinn, die sie so liebte. Geliebt hatte. Immer noch liebte.

»Also«, sagte Annie. »Ich möchte gern mit dir darüber reden, was gestern passiert ist.«

Die Geradlinigkeit, mit der sie immer direkt zur Sache kam, hatte er früher an ihr geliebt. Mittlerweile schien es unweigerlich um Sachen zu gehen, die er verpatzt hatte. Eine neue Enttäuschung, die er ihr bereitet hatte.

Tommy saß im Hochstuhl und schlug mit der leeren Schnabeltasse auf den unbenutzten Teller. An der Stirn hatte er einen winzigen Kratzer, der ihn aber offenbar nicht weiter störte.

»Erklär mir doch bitte noch mal, warum du den Kindersitz auf Plop hast stehen lassen.«

Plop war ihr Auto, ein Honda, den sie in den frühen Jahren ihrer Ehe gebraucht gekauft hatten und der dank Annies technischem Geschick immer noch lief. Die letzten drei Buchstaben des Nummernschildes waren PLP. Sie hatten in diesem Auto tolle Zeiten erlebt – wenn er es sich genau überlegte, waren sogar phantastische Zeiten dabei gewesen. Und dann, gestern …

»Ich habe die Einkäufe im Kofferraum verstaut«, sagte Simon langsam.

Er musterte Annies schmales kluges Gesicht, die dunklen Augen, denen nichts entging. »Das Baby habe ich für die Zeit auf dem Autodach abgestellt. Ich bin eingestiegen. Habe den Motor gestartet. Ich hatte ganz vergessen …«

»Du hattest vergessen, dass das Baby noch auf dem Dach war.« Er wünschte, sie hätte nicht diesen verdammt freundlichen Ton am Leib, wie ein Priester, der die Beichte abnimmt.

»Und ich bin angefahren, und da ist der Kindersitz vom Dach gerutscht und auf den Asphalt gefallen.«

Richtig unheimlich war, dachte Simon, dass Tommy nicht geweint hatte. Keinen Laut hatte er von sich gegeben. Simon hatte Plop mit einer Vollbremsung zum Stehen gebracht, und da war Tommy: Er hing kopfüber in seinem himmelblauen Autositz und strampelte mit den pummeligen kleinen Armen und Beinen. Simon sah immer und immer wieder nach, ob ihm etwas zugestoßen war, ob er unter Schock stand, aber da war nichts, nur dieser kleine Kratzer, dort, wo das Baby mit der Stirn auf den Asphalt geknallt war. Keine Schwellung, kein Blut.

Natürlich. Wie auch.

»Es war keine Absicht. Ich habe einfach nicht aufgepasst.«

»Ich weiß, du hast nicht aufgepasst. Genau das ist das Problem, dass du nicht aufpasst«, sagte Annie ruhig. »Wenn die Dinge anders gelagert wären, hätte Tommy schlimme Verletzungen davontragen können. Er hätte sterben können.«

»Aber er ist eben kein richtiges Baby!« Simon stand auf.

Annie blinzelte.

Eine schreckliche Sekunde lang sah sie ihn nur an.

»Vielleicht nicht für dich«, sagte sie schließlich, »aber für mich ist er ein richtiges Baby. Er ist unser Baby.«

»Er ist nicht unser Baby! Er ist dein Baby! Du hast ihn gemacht, nicht ich!«

Das würde er noch bereuen. Aber er konnte einfach nicht an sich halten. Sein Magen verkrampfte sich, und er spürte die Worte blubbernd in der Kehle aufsteigen wie Kotze.

»Er ist eine Maschine. Ein Gerät.«

Annie stand auf und schnappte sich Tommy. Die leere Schnabeltasse fiel krachend zu Boden.

»Daddy meint das nicht so«, flüsterte sie und vergrub ihr Gesicht in Tommys nussbraunen Locken, eine wie die andere aus beständiger Glasfaser gefertigt. »Daddy ist müde und gestresst. Er hat es nicht so gemeint.«

»Ich habe es so gemeint«, sagte Simon gefasst. »Wir hätten ein normales Kind bekommen können, wie normale Leute, aber von mir ist nichts drin in diesem – in diesem …«

Annie hob die Hand. »Halt«, sagte sie. Simon schloss den Mund.

»Sieh ihn dir an, Simon«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. »Sieh ihn dir doch nur an.«

Annie hielt ihm das Baby hin wie eine Opfergabe. Tommy schenkte ihm sein zahnloses Lächeln. In seinem winzigen Gesicht bildeten sich zwei Grübchen, eins auf der Wange und eins auf dem Kinn.

Annie wollte nie schwanger werden. Das ist so eine Sauerei, sagte sie, und die Scherereien und der Schmerz, und was, wenn etwas schiefging? Sie hatte ja Recht. Immerhin war es nicht Simon, der das Kind neun Monate im Bauch tragen musste, und es war nicht Simon, der sich mit Übelkeit, geschwollenen Beinen und schmerzhaften Wehen herumschlagen musste. Aber er wusste, dass noch mehr dahintersteckte.

Annies Mutter war nach der Geburt in tiefe Trauer verfallen. Die Depression hatte die Familie jahrelang im Würgegriff gehabt. Eine von Annies ersten Erinnerungen war, wie sie versuchte, ihre Mutter zum Aufstehen zu bewegen, das warme Wirrwarr ihrer Laken, seit Wochen ungewaschen, der Geruch nach warmem Schweiß und ranzigen Milchteeresten in Henkelbechern, auf denen in rosa Cartoon-Lettern die Worte »Junge Mutter« prangten.

Es brach ein sonnenreiches Jahr an, ein Jahr mit Zoobesuchen und Marmeladebroten im Park; Annies Mutter ging es besser, und sie konnte wieder arbeiten gehen, sie liebte ihre Arbeit in der großen Grafik-Design-Firma, vielleicht war es auch ein Software-Unternehmen – Simon vergaß das immer. Dann hatte sich Annies Schwester angekündigt, und die Traurigkeit war zurückgekehrt und hatte sich über alles gelegt wie ein dickes Kissen, das einem sanft aufs Gesicht gedrückt wird, diesmal endgültig. Vor ein paar Jahren hatte Annies Schwester bei der Geburt ihrer Zwillinge dasselbe erleben müssen. Postnatale Depression. Alles Licht, alle Freude, alle Energie waren aus ihrem Leben gewichen, als hätte jemand tief in ihr einen Stöpsel herausgezogen, und sie könnte nur noch hektisch danach tasten, um ihn zu finden, ehe der letzte Tropfen versiegt war.

Ich will nicht, dass mir das passiert, hatte Annie gesagt. Und es passiert bestimmt.

Simon hatte sich gefügt. Die Nächte, in denen sie erst bei Tagesanbruch ins Bett gekommen war oder auch gar nicht, völlig erfüllt von der Aufgabe, Mikrochips zu löten, einer kleiner als der andere, und Mechanismen zu optimieren, die dafür sorgten, dass die Zähne des Babys zur richtigen Zeit durchbrachen, dass die Augen reibungslos blinzelten, dass Sprech- und Sprachmuster erkannt wurden, damit das Kind wachsen und lernen konnte, genau wie ein normales Baby. Nur, dass Tommy nie krank werden würde wie ein normales Baby. Er würde Annie nie traurig machen wie ein normales Baby. Er war ihr größtes Projekt.

Und wer ein großes Projekt hat, nimmt es ernst. Babys bringt man im Krankenhaus zur Welt, also machten sie das. An einem Freitagabend gingen sie in die Notaufnahme, ein Chaos aus Körpern und Schreien unter grellen Leuchtstoffröhren, und schmuggelten Tommys Teile in einer Decke hinein. Mit strahlenden Augen und rosigen Wangen, Schweißperlen auf der Stirn, drehte Annie die letzte Schraube fest. Bei Tommys erstem Schrei stürzte ein Assistenzarzt ins Wartezimmer, und sie brachten Tommy schnell nach Hause, in seiner rosa Flauschdecke, an der statt einer Geburtsurkunde eine offizielle Verwarnung hing.

Alle freuten sich für sie. Alle spielten mit. Annies Schwester brachte die Zwillinge zum Spielen vorbei, Freunde und Kolleginnen aus dem Labor schenkten ihr kistenweise Bio-Babybrei, den Tommy nie brauchen würde. Sogar Annies Mutter, stumm und abgehärmt wie ein Bleistiftstrich auf vergilbtem Papier, kam zu Besuch und ließ sich das mechanische Kind auf den Schoß setzen, wo es nach ihrer klobigen Halskette grapschte.

Sie machten jede Menge Fotos von Tommy und stellten sie auf Facebook und Instagram. Tommy wirkte immer leicht überbelichtet, das Gesicht ein wenig zu glatt, zu unempfänglich für Schatten. Bilder vom Spielplatz, von Picknicks und Zoobesuchen. Badewannenfotos waren nicht dabei. Tommy war nicht wasserfest.

Simon bemühte sich, ihn zu lieben, und als ihm das nicht gelang, bemühte er sich, vorsichtig mit ihm umzugehen. Er hatte Angst, Tommy zu beschädigen. Da er keine Ahnung hatte, wie diese oder jene Mechanik funktionierte, ging er lieber auf Nummer sicher. Der Fehler vom Vortag war ungewöhnlich. Annie hatte ihn gefragt, warum er das Baby auf dem Autodach vergessen hatte wie einen Sack Kartoffeln. Die Wahrheit war: Er wusste es nicht. Die Wahrheit war: Er hatte es satt. Er hatte es satt, so zu tun als ob.

Und da stand nun also Annie vor ihm und hielt ihm das Kind hin wie eine Opfergabe. Simon zwang sich, die Arme auszustrecken, zwang sich, das Baby mit beiden Händen zu nehmen. Das Baby gab ein mechanisches Gurgeln von sich, die Muskelbewegungen seines Gesichts waren zu glatt, ihnen fehlte die Unbeholfenheit eines menschlichen Kindes. Beim Lächeln verzog sich der winzige Kratzer auf der makellosen Silikonhaut.

»Dada«, sagte Tommy.

Simon sah das Baby an.

»Dada«, sagte Tommy noch einmal.

Simon sah Annie an. »Das erste Wort?«

»Äh, ja«, sagte Annie. »Es ist das häufigste erste Wort.« Sie räusperte sich und fuhr sich mit den Fingern durch das dunkle Haar. »Es lässt sich viel leichter aussprechen als ›Mama‹. Liegt am Gaumensegel. Ich fand, es sollte authentisch sein.«

»Und wann hast du das einprogrammiert?«

»Gestern Abend.«

»Ich dachte, da warst du sauer auf mich.«

»War ich auch.« Sie zuckte die Schultern.

In einer einzigen Bewegung setzte Simon das Baby vorsichtig in den Hochstuhl und nahm seine Frau in beide Arme. Er küsste sie, sie öffnete den Mund, um den Kuss zu empfangen, und zwirbelte mit den Fingern seine Haare.

Schnelle, hektische Bewegungen, ihr Atem an seinem Hals, ein Keuchen, während sie ihm das Hemd von den Schultern schob, sie wollte ihn, er wollte sie. Simon spürte, wie sich sein Körper bereit machte, in den vertrauten drängenden Rhythmus zu gleiten wie eine gut geölte Maschine. Er nahm Annies Gesicht in beide Hände und küsste sie wieder, ein tiefer Kuss, als wollte er sie mit Haut und Haaren verschlingen.

In diesem Moment begann Tommy zu schreien.

Er schlug mit den weichen Silikonbeinchen gegen den Hochstuhl und forderte kreischend ihre Aufmerksamkeit.

»Er muss sein Bäuerchen machen«, murmelte Simon. »Ich weiß nicht, warum du die Funktion dringelassen hast.«

»Muss so sein, damit … alles … mmhm … authentisch …« Annie verstummte, als Simon sie wieder küsste, vom Nacken bis zum Schlüsselbein, und sie sanft in die Schulter biss.

Tommy schrie wieder.

»Ich mache das«, seufzte Simon und zog die Hand aus dem Hosenbund seiner Frau.

»Nein«, sagte Annie und hielt seine Hände fest. »Warte – ich will nur …«

»Aber das Baby schreit.«

»Nur dieses eine Mal«, sagte Annie und warf ihm einen schelmischen Blick zu. Ihre dunklen Augen funkelten verschmitzt.

»Du hast gesagt, das dürfen wir nicht«, sagte Simon.

»Ich weiß«, sagte Annie. »Nur dieses eine Mal.«

Sie wand sich aus seinen Armen und beruhigte ihren Sohn. Sie streichelte ihm die weichen Locken und gurrte sanft, während Tommy unbeirrt weiterschrie.

Dann fasste sie unten an den Kopf des Babys und legte einen kleinen verborgenen Schalter um.

Tommys blaue Augen wurden trübe und schlossen sich flatternd. Sein kleines Gesicht entspannte sich, und er sank in sich zusammen.

»Gut«, sagte Annie. »Für ein paar Stunden müsste er Ruhe geben.«

Sie warf Simon die Arme um den Hals.

Simon zerrte an den Knöpfen ihres Hemds und fragte sich nicht zum ersten Mal, wie er nur hier gelandet war, in diesem kleinen Reihenhaus, bei dieser Verrückten. Warum er so ein Glück hatte.

»Ich fasse es nicht«, sagte er und senkte den Kopf zu ihrer linken Brust. »Ich fasse es nicht, dass du das Baby abgestellt hast.«

»Sei still, und küss mich.«

Wikinger-Nacht

Mit Spaß hat das nichts zu tun.

Als man dich fragte, ob du mitgehen willst zum Abendessen mit der schwedischen Kundin, hast du zugesagt, obwohl du weißt, dass du zu solchen Anlässen nur eingeladen wirst, weil die zahlungskräftigen Geschäftspartnerinnen gern einen hübschen Jungen in engen Hosen dabeihaben und die Vizepräsidentin gut dasteht. Aber eine solche Chance, Kontakte zu knüpfen, bekommst du nicht oft. Es ist dir egal, wenn sie dank dir gut dasteht.

Also kämmst du dir auf der Toilette sorgfältig die Haare. Und ehe das Taxi kommt, sprühst du dich noch einmal mit Deo ein.

Aber was sie nach dem Abendessen vorhaben – Wikinger-Nacht im Money Shot –, entspricht nicht gerade deiner Vorstellung von Spaß.

Du hättest dir so etwas nie ausgedacht. Es war Jades Idee. Jade mit der gestylten Frisur und den High Heels und dem lauten Lachen. Jade, die gleichzeitig mit dir eingestellt und bald schon befördert wurde, weil sie besser in die Unternehmenskultur passt. Im Restaurant pflanzt sich Jade neben die Vizepräsidentin und bestellt das Gleiche wie sie: frische Melone mit luftgetrocknetem Parmaschinken und ein Glas Prosecco.

Wenn du dich nur mit Prosecco anfreunden könntest. Dir steigen immer die Bläschen in die Nase.

Beim Essen betreibst du ein wenig Smalltalk, doch zwischendurch verschwinden die Ladys zum Nasepudern auf die Toilette und reden über Geschäfte, während du die Vorspeisen bewachst. Bei solchen Anlässen bist du immer der einzige Mann. Auch einer der Teilhaber ist ein Mann, wir sind ja nicht in den 1950er Jahren, aber Mr Lawrence muss immer früh gehen und sich um die Kinder kümmern, seit seine Frau nach Thailand abgehauen ist, wo sie die Ersparnisse mit Ladyboys durchbringt.

Bei dem Gedanken überkommt dich der unwiderstehliche Drang, eine Scheibe Parmaschinken vom Teller der Vizepräsidentin zu stibitzen.

Würde es jemand bemerken? Wahrscheinlich. Aber würde jemand etwas sagen?

All deine kleinen Akte der Rebellion sind so. Verstohlen und irgendwie surreal. Wie neulich, als du dich nach der Arbeit in die Damentoilette geschlichen und die Binden geklaut hast. Nicht, dass du jemals etwas damit anfangen könntest. Aber es gibt dir einen Kick, sie zu Hause in deinem winzigen Bad zu horten, neben dem Waschbecken, dessen Abfluss dauernd von den Haaren deiner Mitbewohnerinnen verstopft ist.

Du greifst nach dem Schinken, der glatt und glänzend ist wie die Zunge eines Menschen.

Da kommt Jade von der Toilette zurück.

»Hunger?«, fragt sie und lacht mit aufgerissenem Mund. »Du Frechdachs. Hör mal, wir wollen mit Elsa später noch einen draufmachen. Die Vizepräsidentin sagt, du sollst auch mitkommen.«

»Ich weiß nicht«, sagst du. »Ich bin ziemlich müde. Und ihr gefällt das vielleicht sowieso nicht.« Du hast gehört, dass in Schweden alles ein bisschen anders läuft, aber Jade hat davon natürlich keine Ahnung. Sie liest andere Blogs als du. Und sie liest den Telegraph, vor allem, weil sie sich für die typische Telegraph-Leserin hält.

»Ach, koooomm«, sagt Jade und stupst dich mit der Schulter an. Ihr Atem riecht nach Prosecco. »Du stehst doch auf so was? Deshalb mag dich die Vizepräsidentin ja auch.«

Dieser Job ist wichtig für dich. Du zwingst dich zu einem Grinsen, du zwingst dich zu einem Nicken, und du hältst dich an deinem halben Glas warmem Bier fest.

»Braver Junge«, sagt Jade, die drei Monate jünger ist als du. »Ich wusste, wir kriegen dich rum. Das wird lustig. Du wirst begeistert sein. Du bist doch praktisch eins der Mädels.«

Die Vizepräsidentin und die schwedische Kundin kommen an den Tisch zurück. Elsa Norling ist eine große Frau mit einer strengen, glatt nach hinten gekämmten Frisur, die ihre markante Stirn betont. Sie lächelt nicht, zumindest nicht richtig. Wenn die Vizepräsidentin einen ihrer Witze macht, zieht sie die Winkel ihres breiten Mundes hoch, spricht aber kaum ein Wort. Doch gerade als du ein Stück öliges Parmesanhähnchen auf die Gabel spießt, fragt sie dich, was du studiert hast.

»Äh«, sagst du überrascht. »Das war Neurobiologie.« Und heute machst du den ganzen Tag Tabellenkalkulation.

Sie nickt, offenbar erfreut. »Ich habe auch eine Naturwissenschaft studiert«, sagt sie. »Chemie. Ich hatte einige Kommilitonen wie Sie. In Schweden studieren viele junge Männer Mathematik und Naturwissenschaften. Bis zu den höchsten Abschlüssen.«

»Eine Menge schlaue Jungs arbeiten für unser Unternehmen«, stimmt ihr die Vizepräsidentin zu. »Ein Jammer, dass nicht mehr von ihnen die schwierigen Fächer bis zum Ende durchziehen.« Jade starrt düster auf ihr Tiramisu, aber die Vizepräsidentin lächelt dich an – das zweite Mal an einem Abend. Vielleicht reicht das ja, und du darfst früher nach Hause gehen.

Aber nein. Nach dem Dessert hat die Vizepräsidentin noch etwas mit euch vor. »Die jungen Leute hier zeigen Ihnen noch eine typische Attraktion unserer Stadt«, sagt sie. »Das geht aufs Unternehmen. Viel Spaß!« Sie drückt Jade ein Bündel Zwanziger in die manikürten Hände und verschwindet.

Es sind ja nur zwei Stunden, sagst du dir. Nur zwei Stunden, dann kannst du nach Hause gehen. Du musst weiß Gott einen guten Eindruck machen. Die Vizepräsidentin mag dich, hat Jade gesagt. Es ist wichtig, dass man dich mag. Es ist wichtig, dass du nett bist. Es ist wichtig, dass du Spaß hast. Wer hat nicht gern Spaß?

Es ist nur eine kurze Taxifahrt bis zum Money Shot. Du weißt genau, wo das ist, denn du hast um die Ecke gearbeitet, in einem ähnlichen Schuppen, nicht, dass du das Jade unter die Nase reiben würdest. Auch Studenten müssen ihre Rechnungen bezahlen. Du hast dir sogar überlegt zu bleiben, aber dein Vater fragte ständig nach deiner Arbeit, das wurde langsam peinlich – Dad, ich lasse mir die ganze Nacht von widerlichen alten Frauen Dollarnoten in den Sackhalter stecken –, und außerdem lag es dir sowieso nie so richtig im Blut.

Nur dieses eine Ding, das hattest du, von Geburt an. Das hat dich hervorstechen lassen und reichte aus, dir drei Jahre lang die Ramennudeln und die Rasierklingen zu finanzieren. Im Beruf war es allerdings keine Hilfe.

Trotzdem überrascht dich die lange Schlange. Die Fangemeinde muss in den letzten drei Jahren gewachsen sein.

Deine Freunde, die noch in der Szene aktiv sind, haben dir von Themenabenden erzählt – kitschige Kostüme mit allem möglichen Schnickschnack auf einer Skala von leicht rassistisch bis extrem rassistisch. Harajuku Boys, Maui-Nacht und einmal sogar Dschungelfieber. Die örtliche Presse hat darüber berichtet, und es gab haufenweise wütende Hashtags. Aber auch schlechte Presse ist gute Presse, denkst du, als du auf dem Weg zum VIP-Einlass an dem Schwarm Frauen und den vereinzelten nuttigen Boyfriends in engen Hosen vorbeikommst. Das Money Shot schadet niemandem, dir mittlerweile auch nicht. Stimmt’s?

Der Knabe an der Tür lächelt dich an, als erkenne er dich, und das könnte auch sein, aber vielleicht empfängt er alle VIP-Party-Gäste so. Er trägt einen Helm mit gigantischen Plastikhörnern, und seine nackte Brust ist in der kühlen Nachtluft mit Gänsehaut überzogen.

»Hallo, Ladys«, sagt er. »Willkommen zu unserer Wikinger-Nacht. Bei uns ist heute Abend alles spitz!« Er tippt mit den Fingern auf die Hörner, für den Fall, dass der Witz nicht ankommt. Seine Pupillen sind riesig. Was immer er genommen hat, hättest du auch gern. Vielleicht fragst du ihn später, ob er dir was abgibt

Sobald du den Club betrittst, weißt du, dass es ein Fehler war, herzukommen.

Der Saal hängt voller Plastikäxte, Stoffbahnen wurden über die billige rote Einrichtung drapiert. Dein Tisch steht direkt vor der Bühne, und ein Kellner in einem Lendenschurz aus Kunstfell, auch er mit einem gehörnten Helm auf dem Kopf, bringt schon die Cocktailkarte. Die Bühne ist leer, der Saal voll. Jade grinst.

Die schwedische Kundin grinst nicht. Sie tut nicht einmal so, als gefiele es ihr. Eine kleine Falte gräbt sich in ihre breite schöne Stirn.

»Wissen Sie«, sagt sie. »Das entspricht wirklich nicht dem Bild, das wir uns in Schweden von unserer Geschichte machen.«

»Was?«, ruft Jade gegen den Lärm an.

Jade bestellt drei »Flaming Longboat« und schiebt dem Kellner einen Geldschein unter den Gürtel. Er zuckt zusammen, als sie ihn mit ihren langen Fingernägeln kratzt. Sie merkt es gar nicht. Du schon. Du kannst dich an dieses spezielle Jobrisiko ganz gut erinnern. Mitfühlend fasst du mit einer Hand an deine Hüfte.

Dann gehen die Lichter aus.

Der »Ritt der Walküren« schmettert blechern aus dem Soundsystem, und fünfzig Frauen kreischen, als ein junger Mann auf die Bühne wirbelt, mit einem langen schimmernden Umhang, unter dem der Oberkörper nackt ist.

Er ist ein Prachtstück, keine Frage. Wie die johlende Menge siehst du, dass unter den knapp dreißig Quadratzentimetern grünem Lamé sein Körper perfekt ist, eingeölt und durchtrainiert bis auf den letzten Muskel, wie aus feuchtem Gips geformt. Er lässt seinen glänzenden Bizeps spielen, schlägt den Umhang zur Seite und knurrt sein Publikum an.

Du weißt natürlich, wer das ist. Das ist Loki, der aus dem Marvel-Film. Er hat sogar Lokis langes schwarzes Haar, das sich bei genauerem Hinsehen als Perücke herausstellt. Loki vollführt Unsagbares mit seinem Stab der Macht, der einen unkonventionell geformten Knauf hat.

Die Schwedin hat ihr Getränk nicht angerührt. Sie spricht dich an. »So etwas zeigt man hier also seinen Geschäftspartnern?«

Sie sieht dich mit ihren seentiefen braunen Augen an, und du murmelst etwas vom Dienst am Kunden.

»Aber macht das Spaß, macht es dir Spaß?«, fragt sie.

An Spaß denkst du gerade nicht. Im Moment denkst du nur an dein Bett, in dem du seit Monaten keine acht Stunden am Stück mehr verbracht hast.

Aber du denkst auch – gib es nur zu –, dass Elsa Norling eine wirklich sehr gut aussehende Frau ist. Älter, ja, aber das hat dir ja schon immer gefallen. Mit einem Mutterkomplex hat das nichts zu tun, und Elsa Norling hat ja auch nichts Mütterliches an sich, mit ihrer tief ausgeschnittenen Bluse unter dem eleganten Hosenanzug, der wahrscheinlich mehr gekostet hat, als du in einem Monat verdienst.

Und das ist nicht alles.