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Natasha A. Kelly

AFROKULTUR

»der raum zwischen gestern und morgen«

 

 

 

 

U N R A S T

 

 

 

 

Für Zaphena

 

 

meine heimat

 

ist heute

 

der raum zwischen

 

gestern und morgen

 

die stille

 

vor und hinter 

 

den worten

 

das leben

 

zwischen den stühlen

 

 

 

May Ayim, auskunft, 1997

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

 

 

 

Natasha A. Kelly: Afrokultur

eBook UNRAST Verlag, Mai 2018

ISBN 978-3-95405-032-1

 

© UNRAST Verlag, Münster

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Umschlag: UNRAST Verlag, Münster,

unter Verwendung eines Bildes von

Professor John Jennings. Dept of Art and Visual Studies.

University at Buffalo SUNY

Satz: Andreas Hollender

Inhalt

1. Einleitung

2. Schwarze Wissensre_produktionen in Deutschland

2.1 W. E. B. Du Bois als »ideology broker«

2.2 Audre Lorde als »culture broker«

2.3 May Ayim als »change agent«

3. Deutschland Postkolonial

3.1 Zur postkolonialen Forschung in Deutschland

3.2 Dekolonialität als (Zukunfts-)Perspektive

4. Koloniale Ent_Wahrnehmungsgeschichte(n)

4.1 Sprachliche Kolonialität: Entnennen und Ent_Erwähnen

4.2 Visuelle Kolonialität: Entsehen und Ent_Visualisieren

4.2.1 Dis_Kontinuitäten in kolonialen Bildre_produktionen

4.2.2 Exkurs: Die Schwarze Frau im visuellen Kolonialdiskurs

4.3 Kognitive Kolonialität: Entäußern und Ent_Innern

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Ein afrikanisches Sprichwort sagt, dass Wissen wie ein Garten ist: wenn es nicht gepflegt wird, dann kann es nicht geerntet werden. Der Bedeutung nach, sollte Wissen nicht als gegeben angenommen, sondern immer hinterfragt werden: Wer hat welches Wissen, wann, in welchem sozialen, politischen und/oder kulturellen Kontext produziert? Wer hat welches Wissen wann und wie reproduziert? Warum wissen wir das, was wir wissen und nichts anderes? Wie und wann kann Nichtwissen in Wissen überführt oder falsches Wissen korrigiert werden?

Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen von deutschen Schulbüchern belegen, inwieweit gängige Unterrichtsmaterialien koloniale Afrikabilder re_produzieren[1] und rassistisches Gedankengut in die Gegenwart transportieren (vgl. Hamann 2010, Marmer/Sow 2013). Sie bestätigen die Überpräsenz rassistischer Konstruktionen Afrikas und gleichsam die Unterpräsenz von Wissen über oder eine Auseinandersetzung mit dem Reichtum von afrikanischen Gesellschaften und den dort lebenden Menschen. Vor allem aber Wissen, welches selbstbestimmt aus Schwarzer[2] Perspektive re_produziert wird, findet in deutschen schulischen wie akademischen Kontexten nur sehr selten Beachtung. Die Tatsache, dass afrikanisch-deutsche Geschichte(n)[3] bis ins 12. Jahrhundert zurückreicht/-reichen, wird gänzlich ausgeblendet (vgl. Lorde 2008, Oguntoye et al. 1991). Stattdessen beginnt eine verkürzte Geschichtenerzählung erst mit der Kolonialisierung des afrikanischen Kontinents.

Dass es schon lange vor den eurozentrischen Wissenschaften und Wissensvermittlungsformen Geschichte(n) in und über Afrika gab, mit denen Schwarze Menschen selbst ihre sozialen Realitäten erklärten, wird nicht als gegeben angenommen (vgl. Arndt 2001: 34ff.). Ebenso wenig gehören symbolische Bildre_produktionen, mit denen Regeln für das tägliche Leben in afrikanischen Gemeinden ausgehandelt und Emotionen zum Ausdruck gebracht werden, zu den Erkenntniswelten europäischer Gelehrter (vgl. Goertz 2003: 310ff.). Mit Blick auf die institutionalisierte Schriftsprachlichkeit des Westens, die in deutschen Schulen als Grundkompetenz gelehrt und gelernt wird, werden vielmehr afrikanische Stadt- und Dorfgemeinschaften nach eurozentrischer Vorstellung als schriftlose Gesellschaften verhandelt, die ausschließlich in Oralität entscheiden würden, was gut ist und was böse, was schön oder hässlich, richtig oder falsch. Dementsprechend herrscht in Europa die weitverbreitete Ansicht, dass afrikanisches Wissen ausschließlich in verbalen Kommunikationsprozessen ausgehandelt wird, weshalb es eurozentrischen Wissensformationen untergeordnet wird.

Wissensvermittler_innen[4], wie beispielsweise die griots aus Westafrika, die in der Erzählform des story-telling das reglementieren, was als Wissen angenommen oder als Nichtwissen abgelehnt wird, werden den europäischen Schriftgelehrten nicht gleichgestellt (vgl. Kamara 2007: 61ff.). Dennoch entscheiden sie als Behüter_innen der Vergangenheit, Wärter_innen der Gegenwart und Beschützer_innen der Zukunft, aus welcher Perspektive Geschichte(n) erzählt wird/werden und damit einhergehend aus welcher sozialen Positionierung Wissen re_produziert wird. Gleichsam legen sie in ihren spezifischen Kontexten fest, inwieweit sie sich als Wissensre_produzent_innen un-/kritisch verorten. Und obwohl dieses Wissen nur marginal in den Mainstream der eurozentrischen Wissensgesellschaft gelangt, so gehören afrikanische Legenden und Erzählungen, Deutungen und Dichtungen zu einem globalen Schwarzen Wissensarchiv, das noch heute Gültigkeit besitzt (vgl. Eggers 2005: 18ff.) – auch in Deutschland.

Während der Versklavung beispielsweise wurden Schwarze Kommunikationsformen hervorgebracht, die tief in den Kulturen und Traditionen des afrikanischen Geschichtenerzählens verwurzelt sind. Mittels spezifischer Kommunikationsmuster entstand ein spezifisch Schwarzes Wissenssystem, das nicht nur das Über_Leben innerhalb des Sklaven- und Kolonialsystems sicherte, sondern zudem die Bildung von Schwarzen Communitys weltweit ermöglichte. Demgemäß wurden zum einen selbstbestimmte Deutungsmuster in spirituals und blues ausgehandelt und zum anderen eigene Interpretationen des weißen[5] Herrschaftswissens angefertigt (vgl. hooks 1994: 204ff., Eggers 2005: 18ff.), sodass afrikanische und europäische Diktionen synkretisiert und Geschichte(n) aus Schwarzer Perspektive erzählt werden konnte(n). Bereits der Schwarze US-amerikanische[6] Philosoph, Soziologe und Vertreter der Bürgerrechtsbewegung W. E. B. Du Bois verweist in The Souls of Black Folk (1903/2003) auf die Bedeutung von v. a. Musik, die er als spezifische Kommunikationsform der Schwarzen Kultur verhandelt (vgl. Du Bois 2003: 177ff.) und legt damit die ideologischen Rahmenbedingungen für das Konzept ›Afrodeutsch‹. So ist es kein Zufall, dass Schwarze Wissensre_produzent_innen der Gegenwart, wie die Schwarze deutsche Poetin, Aktivistin und Wissenschaftlerin May Ayim in ihrem Gedichtband blues in schwarz weiss (1995/2005), nicht nur die überlieferte Ausdrucksform des Blues wählen, um dem gelebten Kolonialrassismus in Deutschland Ausdruck zu verleihen (vgl. Ayim 2005: 82f.). May Ayim setzt ebenso verschiedene Adinkra Zeichen der Aschanti ein, wie das Sankofa Symbol[7], womit sie ihr Lesepublikum der Bedeutung entsprechend einlädt, ihr afrikanisches Erbe zu erkennen, in die Gegenwart zu holen und als Quelle für die Deutung der Zukunft zu verstehen (vgl. Ayim 2005: 129, Goertz 2003: 306f.).

Für May Ayim, deren persönliche Adoptionsakten zerstört wurden, bedeutete die Suche nach ihrer Vergangenheit das Finden einer globalen Identität, die in der afrikanischen Diaspora verortet werden kann. Ihre zahlreichen Essays, Gedichte und Vorträge zeugen von einer Konnektivität zwischen ihrem Lebensmittelpunkt in Deutschland und ihren familiären Wurzeln in Ghana (vgl. Ayim 1997). In einem »garten« (Ayim 1995: 40), der den sichtbaren Platz zwischen zwei Welten symbolisiert, sucht die Poetin sich selbst zwischen schriftlichen und mündlichen Überlieferungen der eurozentrischen und afrozentrischen Diskurse zu verorten. In einem vermeintlichen Zwischenraum – einem Raum zwischen gestern und morgen – re_produziert May Ayim Wissen, das auf W.E.B. Du Bois‘ soziologischen Vorstellungen von racial identity zurückgeführt werden kann. Vorstellungen, die nicht zuletzt durch seinen zweijährigen Studienaufenthalt in Deutschland geformt wurden. W. E. B. Du Bois, der von 1892 – 1894 (während der Blütezeit des deutschen Kolonialismus) an der Humboldt Universität zu Berlin (damals Friedrich-Wilhelms-Universität) studierte, erlebte Deutschland als »culture in search of a nation« (Du Bois 1940/2007: 136), was nicht nur Deutschlands soziale Struktur zu Ende des 19. Jahrhunderts beschreibt, sondern gleichsam Du Bois‘ gelebte Marginalizierung als Schwarzer Mann in den Vereinigten Staaten von Amerika reflektiert (vgl. Adams 2005: 211, Berman 2005: xi).

Während der Zeit der Bürgerrechtsbewegungen profitieren Schwarze US-amerikanische Aktivist_innen und Wissenschaftler_innen wie Audre Lorde u. a. von den gesellschaftlichen Veränderungen, die auf der Grundlage von W.E.B. Du Bois‘ Wissensformationen in den Vereinigten Staaten institutionalisiert wurden. Die Schwarze Feministin, Lesbe, Mutter und Kriegerin (wie Audre Lorde sich selbst bezeichnete) generierte beispielsweise als Folge des racial turns im Kontext der aufsteigenden US-amerikanischen Frauenbewegung das Konzept des global feminism mit dem Ziel, nicht nur innerhalb der USA, sondern weltweit sozialen, politischen und kulturellen Wandel auch in der bis dato vermeintlich homogenen weißen Frauenbewegung zu bewirken (vgl. Lorde 2008: 175). Durch eine Gastprofessur an der Freien Universität in Berlin verweilte auch sie – viele Jahrzehnte nach W. E. B. Du Bois – in Deutschland und nahm Einfluss auf die hiesigen sozialpolitischen Entwicklungen.

Während ihres Aufenthalts stellte sie fest, dass es weder Forschungen zur Geschichte Schwarzer Menschen noch eine Schwarze Community in Deutschland gab. Dies veranlasste sie, mehrere Schreibworkshops durchzuführen, die vor allem ihre Schwarzen Student_innen dazu inspirierten, Wissen zu hinterfragen und ihre Geschichte(n) aus einer selbstbestimmten Perspektive aufzuschreiben. In zweijähriger Arbeit wurden autobiografische Texte von Schwarzen deutschen Frauen verschiedener Generationen, Gruppendiskussionen und Poesie zusammengestellt und mit der Diplomarbeit von May Ayim mit dem Titel Afro-Deutsche. Ihre Kultur- und Sozialisationsgeschichte auf dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderung (1986) verbunden, womit die Vielfalt von Afrodeutschen und die lange Geschichte der Afrikaner_innen in Deutschland erstmals aus Schwarzer Perspektive thematisiert wurde. Das Standardwerk Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte (1986) (kurz: Farbe bekennen) entstand und lieferte einen der ersten deutschsprachigen Beiträge zur Kritik Schwarzer Frauen am deutschen Kolonialismus. Indem Audre Lorde Schwarze Frauen in Deutschland dazu anregte, hinter den Schleier der kolonialen Vergangenheit zu blicken (oder um es mit den Worten von Du Bois zu sagen: »Leaving, then, the world of the white man, I have stepped within the veil, raising it that you may view faintly its deeper recesses (…)« (Du Bois 1903/2003: 3)) waren sie in der Lage, eine aktive Rolle in der Dekonstruktion von binären Oppositionen und Hierarchien einzunehmen.

Durch die Publikation von Farbe bekennen wurde – wenn auch mit Verzögerung – ein postkolonialer Diskurs in der deutschen Wissenschaft und Politik weitläufig eröffnet und gleichzeitig neue Formen der Wissensre_produktion eingeführt, die in der heranwachsenden Wissensgesellschaft einer neuen Wissensordnung bedürfen. So erschienen nach der Publikation von Farbe bekennen pädagogische, psychologische, literatur- und kulturwissenschaftliche sowie historische und politische Arbeiten von Schwarzen Autor_innen in deutscher und englischer Sprache, die eine Dis_Kontinuität in der Schwarzen Wissensre_produktion in und aus Deutschland belegen und in der öffentlichen Diskussion den Zusammenhang zwischen der Geschichte des Kolonialismus und der Konstruktion von Identität und Zugehörigkeit im deutschen Kontext schrittweise aufzeigten. Gut ein Jahrhundert nach W.E.B. Du Bois Aufenthalt in und seinen Analysen über Deutschland wurde durch Farbe bekennen Deutschland als eine Nation beschreibbar, die ihre Kultur (wieder-)entdeckt und mit Afrika in Beziehung bringt.

In eben dieser Überlieferung ist auch die vorliegende Arbeit zu verstehen. Mit Afrokultur. ›der raum zwischen gestern und morgen.‹[8] reihe ich mich als Schwarze Frau in Deutschland in die Tradition jener Schwarzen Autor_innen und Schwarzen Wissenschaftler_innen ein, die bemüht sind bzw. waren, den Hinterlassenschaften ihres geistig kulturellen Erbes in der afrodeutschen Gegenwart Bedeutung beizumessen. Aus postkolonialer Beobachtungsperspektive, was als Intervention in die bestehende vermeintlich ›objektive‹ Ordnung des deutschen Wissen(schafts)systems zu verstehen ist, wird der Versuch unternommen, vergangene und gegenwärtige Formen kolonialrassistischer Gewalt zu überwinden, die als »dualistic framework« (Mama 1995: 14) des deutschen Kulturprogramms[9] fungieren. Da bestimmte kulturelle Muster Möglichkeiten der Hegemonie und Dominanz eröffnen, andere jedoch nicht, wird untersucht, inwieweit kulturelle Muster mit Ohn_Machtbeziehungen innerhalb von Wissenskulturen verbunden sind, aber auch, inwieweit diese Räume alltägliche Handlungsfähigkeit markieren – oder nicht. Auf dieser Grundlage werden Wissensre_produktionen und -findungen in ihren jeweils spezifischen historischen und politischen Kontexten auf globaler Ebene bzw. in der Verwobenheit von bestimmten Räumen (entangeled histories) gedeutet (vgl. Conrad/Randeria 2002: 17). Die Analyse von postkolonialen Geschichten und Diskursen kann somit etwas über gesellschaftlich relevante Prozesse und Handlungen in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Deutschlands aussagen und gleichzeitig neue Kommunikationsperspektiven und -prozesse in der deutschen Kommunikationswissenschaft und darüber hinaus zulassen. Darüber hinaus verfolgt die vorliegende Arbeit das Ziel, neue Prägungen der Wissensformation aufzuzeigen und den akademischen Kanon an Schwarzer Wissensre_produktionen im deutschen Kontext fortzuführen und anschlussfähig zu machen.

2. Schwarze Wissensre_produktionen in Deutschland

Um dem Aufruf zur Dekolonialisierung von Wissen und der Infragestellung epistemologischer und ontologischer Machtverhältnisse Folge zu leisten (vgl. Grosfoguel 2008: 1ff.), wird in der vorliegenden Arbeit Postkolonialismus als Beobachtungsinstanz in die traditionsbewusste Disziplin der Kommunikationswissenschaft eingeschrieben, sodass eine (weitere) Schwarze Perspektive auf das institutionalisierte und strukturalisierte Gesellschafts-phänomen des Kolonialrassismus verstetigt werden kann. Auf diese Weise ist es möglich aufzuzeigen, inwieweit die europäische Wissenschaft auf einer eurozentrischen Weltanschauung beruht, wonach Afrika als Gegenkonstrukt zu Europa verhandelt und afrikanischen Wissensformationen eine wissenschaftliche Gültigkeit abgesprochen bekommen (vgl. Kilomba 2008: 26ff.). Es wird deutlich, inwieweit bereits die Wissenschaftlichkeit des Westens diskursiv hergestellt wurde, um Europa und als weiß homogenisierte europäische Personen als Subjekte zu konstituieren, während außereuropäische Positionen einer epistemischen Gewalt (epistemic violence) ausgesetzt sind (ebd.) und folglich Schwarze Wissensre_produzent_innen und Schwarze Wissensre_produktionen im eurozentrischen Wissenschaftssystem durch aktive Konstruktionsprozesse ent_wahrgenommen[10] werden.

»Die koloniale Diskursanalyse als wichtiger Teil postkolonialer Theorie repräsentiert einen neuen Weg Kolonialgeschichte zu lesen, werden hier doch sowohl kulturelle als auch ökonomische Prozesse als sich bedingende Formationen des Kolonialismus betrachtet. Eines der Ziele solcher Analysen ist deswegen, über die Untersuchung der Überschneidungen von Ideen und Institutionen – etwa Wissen und Macht im Sinne Foucaults – den Blickwinkel kolonialer Studien zu erweitern« (Castro Valera/Dhawan 2005: 24).

Die vorliegende Arbeit ist daher um eine Re_Historisierung des Kolonialismus im deutschen Kontext auf der Grundlage von Schwarzen Wissensre_produzent_innen und Schwarzen Wissensre_produktionsprozessen bemüht und verfolgt das Ziel, Rassismus als andauernden Machteffekt des Kolonialimus sichtbar wie auch den Prozess der Rassifizierung erfahrbar zu machen. Denn wenngleich die Existenz von biologischen ›Menschen-Rassen‹ wissenschaftlich widerlegt wurde, wirken unberührt vom racial turn in den Vereinigten Staaten und dem Bestreben der Schwarzen global community biologische ›Rassenideologien‹ bis in die gesamtdeutsche Gegenwart fort (vgl. Arndt 2011: 185ff.). In Schwarze Deutsche. Der Diskurs um »Rasse« und nationale Identität 1890–1933 (2001) zeigt die Schwarze deutsche Historikerin Fatima El-Tayeb bereits, wie der Verlauf und die Ergebnisse der Auseinandersetzung um die sogenannten ›Mischehenverbote‹ im Deutschen Kaiserreich dazu führten, dass sich der Begriff ›Schwarze Deutsche‹ bis in die Gegenwart hinein für einen großen Teil der Öffentlichkeit als Oxymoron darstellt. Obgleich seit dem 15. Jahrhundert Schwarze Menschen im deutschsprachigen Raum leben, die, laut El-Tayeb, interessant genug waren, um zum »Studienobjekt« (ebd. 16) der ersten deutschen ›Rassenforscher_innen‹ zu werden – beispielsweise Sömmerling, der Leichen Afrodeutscher für seine Anatomiestudien schändete –, seien Schwarze nie zu einem akzeptierten oder auch nur wahrgenommenen Teil der deutschen Bevölkerung erwachsen. Ziel dieser ersten deutschen ›Rassenforscher_innen‹, so El-Tayeb weiter, war es, die Umwelttheorie zu widerlegen, welches die Existenz eines angeborenen ›Rassencharakters‹ bestritt. Indem Körper vermessen und kategorisiert wurden, entstand ein Katalog physischer Merkmale, auf dessen Grundlage die Menschheit hierarchisiert wurde. Dabei stellten Weiße den Menschen in seiner höchsten Ausprägung dar, während Schwarze ihn in seiner vermeintlich primitivsten Form verkörperten (vgl. Martin 1993: 46ff, El-Tayeb 2001: 16ff.).

Der Begriff ›Rasse‹ geht nach dieser Verstehens- und Lesart mit der Kategorisierung und Hierarchisierung von Menschen einher, an deren Spitze Weiße gestellt werden. Damit werden Versklavung und Kolonialisierung von Schwarzen Menschen seit jeher gerechtfertigt, was schließlich im Nationalsozialismus zum propagierten ›Rassenkampf‹ führte (Moore 2008: xif). Vor diesem Hintergrund wird in der Gegenwart die Forderung laut, den Begriff ›Rasse‹ ersatzlos aus dem Grundgesetz zu streichen. Gründe hierfür mögen darin liegen, dass die Existenz von ›menschlichen Rassen‹ widerlegt wurde und zudem nachweisbar ist, dass (Haut-)Farbe kein biologisches ›Rassenmerkmal‹ ist (vgl. Kelly 2008: 66). Die Nichtverwendung des ›Rassebegriffs‹ führt jedoch lediglich dazu, dass die Bedeutungsgeschichte des Wortes nicht in historische Kontinuität zum Kolonialismus gebracht wird (vgl. Arndt 2011: 187) und folglich der Kolonialrassismus und seine Kontinuität als Alltagsrassismus ent_wahrgenommen werden. Aus diesem Grund wird nachfolgend weniger für die Nichtverwendung des Begriffs ›Rasse‹ plädiert, sondern vielmehr für seine Re_Konzeptualisierung als soziale (und nicht als biologische) Kategorie, sodass zum einen keine Gesetzeslücke entsteht und zum anderen nicht ausschließlich politische und wirtschaftliche Fragen, sondern auch Alltagserfahrungen analysiert werden können.

»The main task facing racial theory today, in fact, is no longer to problematize a seemingly ›natural‹ or ›common sense‹ concept of race – although that effort has not been entirely completed by any means. Rather our central work is to focus attention on the continuing significance and changing meaning of race. It is to argue against the recent discovery of the illusory nature of race; against the supposed contemporary transcendence of race; against the widely reported death of the concept of race; and against the replacement of the category of race by other, supposedly more objective categories like ethnicity, nationality, or class« (Omi/Winant 2005: 3).

Wie der weiße Sozialpädagoge Rudolf Leiprecht veranschaulicht, werden in aktuellen Politdebatten anstatt ›Rassenvermischungen‹ ›Kulturvermischungen‹ als Diskriminierungen verhandelt und der Kulturbegriff als »Sprachversteck für ›Rasse‹« (Leiprecht 2001: 170) verunmöglicht. So werde beispielsweise auf ›fremde Kulturen‹ verwiesen, die mit der ›deutschen Kultur‹, die es zu schützen gilt, unvereinbar seien. Die Tatsache, dass hegemonial rassistische Bedeutungsmuster festlegen, welche Gruppen jeweils als ›fremd‹ konstruiert und demnach sozial hergestellt werden, da Menschen an ihrer Re_Produktion beteiligt sind, wird m.E. ebenso ent_wahrgenommen. Der Grund hierfür, so Leiprecht weiter, liegt in einer Tabuisierung des Wortes ›Rasse‹, was er als Folge des Nationalsozialismus bewertet (vgl. Leiprecht 2001: 170ff.). Gleichsam werden der Kolonialismus und damit auch der Kolonialrassismus entnannt und aus den aktuellen Rassismusdiskursen herausgeschrieben. Die Konsequenz dieser Entwicklung ist, dass Schwarze Menschen, die aufgrund von Kolonialrassismus als ›Rasse‹ konstruiert sind, erneut in die Un_Sichtbarkeit geraten und ent_wahrgenommen werden, wenngleich sie rassistischen Diskriminierungen aufgrund ihrer vermeintlichen ›Rassenzugehörigkeit‹ ausgesetzt bleiben. Die bloße Nichtverwendung des Begriffs ›Rasse‹ lässt demnach den biologisierten Kolonialrassismus in Deutschland nicht verschwinden (vgl. Balibar 1989: 373f, Leiprecht 2001: 170ff.). Vielmehr muss im Sinne des weißen Medienphilosophen Siegfried J. Schmidt Kultur als Programm definiert und entsprechend angeglichen werden, sodass kulturelle Phänomene (wieder-)erkannt und positiv bewertet werden können (vgl. Schmidt 2003: 38ff.).

Mit der Benennung meiner sozialen Positionierung, was als Ausdruck meines politischen Handelns bewertet werden kann, bin ich als Schwarze Frau, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland verortet, in der Lage, die hierarchischen Strukturen des Kulturprogramms, die meine individuellen Diskriminierungserfahrungen bedingen, aufzuzeigen. Darüber hinaus kann ich aus dieser Diskursposition heraus eine antirassistische Verortung vornehmen, sodass gegen ungleiche Machtstrukturen antirassistischer Widerstand geleistet werden kann. Folglich bleiben die rassistischen Strukturen der Gesellschaft nicht ›invisible‹ oder erscheinen ›farblos‹, sondern es wird wahrnehmbar, inwieweit Regeln, Gesetze, Werte und Normen aus einer vermeintlichen ›Farblosigkeit‹ heraus bestimmt werden. Da (Haut-)Farbe keine ›reale‹ Farbe ist, sondern eine soziale Konstruktion, die das Denken und Handeln in Form von Erinnerungen und Erfahrungen fortwährend bestimmt, wird mit dieser Selbstbenennung meine soziale Realität wahrnehmbar. Indem ich mich also als Schwarze Frau positioniere, bewirke ich zum einen, dass meine Schwarze(n) Geschichte(n) erfahrbar wird/werden und zum anderen, dass die gesellschaftliche Norm sichtbar wird, nämlich als weiß. Denn wenn es Schwarze Deutsche gibt, dann muss es auch weiße Deutsche geben und eine Geschichte von Weißen in Deutschland. Oder wird deutsche Geschichte oder Geschichte in Deutschland automatisch als eine Weiße gedacht? Was haben Schwarze Deutsche mit weißen Deutschen zu tun? Was ist ihre Beziehungsgeschichte? Wie und wann wird/wurden Schwarze deutsche Geschichte(n) geschrieben? Durch diese und andere Fragen wird die hegemoniale Funktion von rassifizierenden Markierungspraxen, die sonst unsichtbar erscheinen, durch den benannten ›Blickwechsel‹ beobachtbar, so auch im deutschsprachigen Raum. Denn mit Postkolonialismus als Beobachtungsinstanz kann der (Forschungs-)Blick in der deutschen Kommunikationswissenschaft nicht auf die Gruppe der Marginalisierten gerichtet werden, sondern von ihr ausgehen, sodass Identität nicht als verbindungsloses Einzelphänomen konstruiert wird (vgl. Lutz 2010: 115ff.), sondern als Prozess der Re_Signifizierung gedeutet werden kann, der keineswegs ausschließlich von linearen Entwicklungsgeschichte(n) geprägt ist.

2.1 W. E. B. Du Bois als »ideology broker«

Obgleich der heutige postkoloniale Diskurs sich, wie oben erwähnt, nur mit Verzögerung in Deutschland etabliert, ist es bereits der renommierte Panafrikanist W. E. B. Du Bois, der erste postkoloniale Gedanken für den hiesigen Kontext in seinen Arbeiten inkludiert. So behandelt er Themen rund um den Kolonialismus und das koloniale Problem von seiner Dissertation The Surppression of the African Slave Trade to the United States of America, 1638–1870 (1895) bis hin zu seinen letzten journalistischen Werken in The National Guardian (vgl. Rabaka 2003a: 8) immer mit Blick auf Hegel, Marx und/oder andere weiße, männliche, (nicht-)deutsche Philosophen. Folglich bieten seine Arbeiten gegenwärtig post- und dekolonialen Theoretiker_innen in Deutschland einen konzeptuellen Zugang zum antikolonialen Diskurs, der es erlaubt, auch die fundamentalen Eigenschaften des deutschen Kolonialismus zu analysieren (vgl. Rabaka 2006: 2).

Die grundsätzlichen Funktionen seiner Zeit reduziert Du Bois nicht ausschließlich auf die direkte Herrschaft oder wirtschaftliche Ausbeutung der Kolonialmächte, sondern berücksichtigt in seinem Konzept des »cognitive mapping«[11] das Ineinandergreifen von Kolonialismus und Kapitalismus und lehnt es zeitgleich ab, ökonomische Ausbeutung von rassifzierter und vergeschlechtlichter Diskriminierung zu trennen (ebd.), wie er in seinem Monumentalwerk Darkwater: Voices from within the Veil (1920) verhandelt. In signifikanter Weise verschiebt er eurozentrische und/oder monozentrische Metaerzählungen durch die konsequente Akzentuierung auf die Lebenswelten und gelebten Erfahrungen afrikanischer Menschen und nimmt darüber hinaus an einer (pro-)feministischen Politik teil, indem er nicht nur Schwarze Männer, sondern vor allem Schwarzen Frauen, die in einem feministischen Kontext zur Befreiung der Schwarzen weltweit beitgetragen haben, in seinen Essays Woman Sufferage (1915) und The Damnation of Woman (1920) u.a. in den Mittelpunkt stellt (vgl. Rabaka 2003a: 9).

Du Bois betont zudem die Konstituierung des Kolonialismus, nicht nur nach topografischen Aspekten, sondern schließt die Besonderheiten der präexistenten und präkolonialen Kulturen Afrikas in den Diskurs mit ein (vgl. Du Bois 1915/2007: 21ff.), indem er die Realität des Kolonialismus als eine gewalttätige Überlagerung von europäischer Geschichtlichkeit auf afrikanische Historizität wahrnimmt, und widerlegt damit zeitgleich Hegels Vorstellung, dass Schwarze Menschen keine geschichtlichen Wesen seien, was Hegel als Beweis für ihre vermeintliche Unterlegenheit anführt (vgl. Wright 2004: 67). Indem Du Bois afrikanische Geschichte(n) und Geschichtlichkeit in die Debatte einführt, ist er in der Lage, Kritik an seiner gelebten Schwarzen Gegenwart durchzuführen und zu gewährleisten. Auf diese Weise ermöglicht er es, das Schwarze Individuum nicht ausschließlich in einer nationalen, sondern innerhalb der Weltgeschichte zu lokalisieren. Diese Sicht bestimmt die Grundstruktur seiner Arbeiten (vgl. Rabaka 2006: 732ff.). Denn im Gegensatz zu den rassifizierten Annahmen der meisten Sozialwissenschaftler_innen seiner Zeit erkennt Du Bois, dass Rassismus nicht natürlich ist, sondern als neobiologisch und historisch verstanden werden muss, weshalb er das US-amerikanische ›Rassenproblem‹ in seinem kritisch historischen Kontext verortet, um das soziale Leben der Schwarzen Community verstehbar und erfahrbar zu machen. Der Schwarze britische Soziologe Stuart Hall beschreibt dies wie folgt:

»Race is a phenomenon which one only begins to understand when one sees it working within the different institutions, processes, and practices of whole societies, in their full complexity; societies in which race becomes a determining aspect of the social structure, of the way in which its relations work, and the way in which institutions are linked and connected with one another« (Hall 1981: 60).

Wie unten weiter ausgeführt wird, ist es bereits der weiße Gesellschaftstheoretiker Marx, der durch die Entnennung von ›Rasse‹ als sozialkonstruierte Kategorie eine Leerstelle aufweist, die Du Bois nutzt, um die soziale Realität der Schwarzen in den Vereinigten Staaten zu re_konstruieren. Wenngleich beide Theoretiker unterschiedliche Gesellschaftsstrukturen analysieren und im Zuge dessen das jeweilige Proletariat verschieden definieren, gelingt es Du Bois in Black Reconstruction in America 1860–1880 (1935) auf der Grundlage des Marx’schen Materialismus den Konflikt zwischen ›Rasse‹ und Klasse aufzuzeigen, der nur gelöst werden könne, wenn die Schwarzen, ebenso wie die weiße Arbeiterklasse, aus ihrem Elend befreit würden. Mit dieser Grundhaltung ist Du Bois in der Lage, Korrelationen zwischen historischen Momenten und mit ›Rassen‹ verbundenen Praktiken nachzuweisen, die diachronisch sind und ihre Form mit jedem neuen Moment verändern. Nur indem diese Momente erfasst würden, könne der Begriff ›Rasse‹ depersonalisiert werden, sodass faktisch und kritisch verstanden werde, was es bedeute, Schwarz oder weiß zu sein (vgl. Wilson 2002: 281).

Folglich wird ›Rasse‹ das Schlüsselelement von Du Bois’ Analysen. Er befasst sich sein Leben lang mit deren Bedeutungskonstruktion und entschlüsselt sie schließlich mit seiner Autobiografie Dusk of Dawn. An Essay toward an Autobiography of a Race Concept (1940). Du Bois setzt mit seinen »concept of race« (Du Bois 1940: 97) den globalen Prozess der Subjektivierung Schwarzer Menschen aus Schwarzer Perspektive in Gang und bringt die Vorstellung einer sozialkonstruierten Schwarzen Gesellschaftsposition hervor. Auf diese Weise kann der Schwarze Philosoph auf das sogenannte ›N-Problem‹ verweisen, das er als Produkt des weißen Logos versteht, das seiner Meinung nach von weißen US-Amerikaner_innen – auch denjenigen, die Sympathie für Schwarze hegen – hergestellt worden ist. Darüber hinaus stellt er eine Verbindung zur hegelianischen Philosophie her. Denn Hegels Weltanschauung bereitet neben den theoretischen Ansätzen von Marx den notwendigen Nährboden für Du Bois, um den Zusammenhang von Bewusstsein und Geschichtlichkeit herzustellen, woraufhin Du Bois die als universal geltenden, unmarkierten eurozentrisch maskulinen Annahmen Hegels modifizieren und auf seine eigenen Erfahrungen anwenden kann (vgl. Wright 2004: 73).

Dennoch soll nicht außer Acht gelassen werden, dass es die Vereinigten Staaten von Amerika sind, in denen Du Bois den Begriff ›Afrika‹ konzeptualisiert, um den ganzen Kontinent zu bezeichnen. Noch ehe der Begriff auf dem Kontinent selbst eine Bedeutung erhält, werden die versklavten Menschen, die nur vereinzelt ihre Herkunft kennen und zudem kein Wort für den gesamten Kontinent haben, in den Vereinigten Staaten als Afrikaner_innen bezeichnet.[12] Im Gegensatz dazu findet Wissen, welches in afrikanischen Ländern re_produziert wird, selten Eingang in den westlichen Wissenschaftsdiskurs, da es aufgrund der europäischen Tradition der Schriftsprachlichkeit nicht wahrgenommen bzw. ent_wahrgenommen wird. Vielmehr gelangen Schwarze Schriften meist in den europäischen Sprachen der kolonialen Machthaber_innen, als Über_Setzungen[13] auf den europäischen Markt, um die Bedürfnisse der weißen europäischen Leser_innenschaft zu bedienen (vgl. Ripken 2001: 329ff.).

Bis in die fünfziger Jahre hinein lehren zudem weiße europäische Interessenvertreter_innen die Geschichte(n) der jeweiligen Kolonialmächte an afrikanischen Hochschulen, sodass rassifiziertes Kolonialwissen alsbald gesellschaftliche Verbreitung auf dem gesamten afrikanischen Kontinent findet. Die Institutionalisierung einer von Europa unabhängigen afrikanischen Geschichte sowie die Anerkennung der präkolonialen Kulturen der diversen afrikanischen Völker, Regionen und Königreiche erfolgen erst im Zuge der weltweiten politischen Dekolonialisierung. In den jüngeren Debatten über Afrozentrismus und Eurozentrismus wird folgerichtig die Frage gestellt, wie denn eine ›neue‹ afrikanische Geschichte aussehen könne, wenn sie mit den Mustern der weißen europäischen Historiografie konzeptualisiert und seit dem 18. Jahrhundert in Europa durch Weiße entwickelt und standardisiert werde (vgl. Arndt 2001: 46ff.). Diese Argumentationslinie soll jedoch in der vorliegenden Arbeit nicht weiter ausdifferenziert werden, da sie genügend Raum für eine eigenständige Forschung bietet – auch im deutschsprachigen Raum. Vielmehr wird der Fokus darauf gelegt, dass Europa danach strebt, absolut und ontologisch zu werden (vgl. Gordon 2005: 1), weshalb eine Rationalisierung des weißen, europäischen Denkens auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens theoretisiert und systematisiert wird, während eine vermeintliche Unvollkommenheit zur sozialen Ausgrenzung der Schwarzen und zur Ablehnung von Schwarzen Wissensre_produktionen führt. W. E. B. Du Bois beschreibt das Wissen um dieses Phänomen als »double conciousness« (Du Bois 1903: 9), in der Schwarze das Bewusstsein darüber erlangen, von außen ausschließlich durch den weißen Blick gesehen und damit ent_visualisiert zu werden, wie nachfolgend aufgezeigt wird, während sie gleichzeitig im Innern erkennen, dass sie als Unmenschen kategorisiert sind und daher keinen subjektiven (Wissens-)Standpunkt einnehmen können bzw. dürfen:

»It is a peculiar sensation, this double-consciousness, this sense of always looking at one’s self through the eyes of others, of measuring one’s soul by the tape of the world that looks on in amused contempt and pity. One ever feels his two-ness, – an American, a Negro; two souls, two thoughts, two unreconciled strivings; two warring ideals in one dark body, whose dogged strength alone keeps it from being torn asunder« (Du Bois 1903/2003: 9).

Bereits Franz Fanon zeigt, dass Du Bois’ Konzept von double-conciousness nicht nur auf die Situation der Schwarzen US-Amerikaner_innen angewandt werden kann, sondern dass es ebenso die Lebensbedingungen der durch Europa Kolonialisierten bestimmt, was deutlich werden lässt, wie eng Rassismus in den USA und Kolonialismus auf dem afrikanischen Kontinent und in Europa durch die sozialprivilegierte Postion der Weißen miteinander verbunden sind (vgl. Black 2007: 393ff.). Nach Fanon besäßen die Schwarzen zwei Referenzrahmen, in denen sie sich verorten müssten – eine vermeintliche Objektivität auf der einen Seite, die zur Ent_Wahrnehmung der eigenen Subjektposition führt, und die Verortung in der »zone of non-being« (Fanon 1986: 10) auf der anderen Seite, die den Abjektstatus[14] der Schwarzen hervorbringt (vgl. Wright 2004: 76). Doch es sind v.a. die weißen Blicke, die sowohl Du Bois als auch Fanon als ursächlich für das (Selbst-)Bewusstsein der Schwarzen benennen, da dieses durch das Sehen und Gesehenwerden hergestellt wird. Dieses Zusammenspiel von Sehen und Denken bzw. Ent_Visualisieren und Ent_konzeptualisieren (wie später ausgeführt wird) wird in der vorliegenden Arbeit als Schwarze Erfahrung verhandelt, welche zu einer kollektiven Erfahrungsgeschichte der Schwarzen Communitys weltweit erwachsen ist. Denn, wie eingangs erwähnt, es ist bereits Du Bois der Hegels Abhängigkeit von rassifizierenden Stereotypen und damit einhergehend seine Objektivierung der vermeintlich Anderen entlarvt, da Schwarze in der Vorstellungs- und Darstellungswelt des weißen, luminalen Subjekts entweder ungemein sichtbar oder unsichtbar gemacht werden. Durch den weißen Blick (white gaze) wird ein visuelles Feld eröffnet, dessen Grenzen im Sinne von Du Bois in der color line liegen und auf dem rassifizierte Identitäten eingeschrieben werden.

Als Manifestation der color line verwendet Du Bois die Metapher des Schleiers (the veil), der den Schwarzen eine zweite Sicht (second sight) auf die Um_Welt aufnötigt, was sowohl ihre Selbstbeobachtung als auch ihre Fremdbeobachtung beeinträchtigt (vgl. Du Bois 1903/2003: 9). Denn aufgrund des Schleiers, der sichtbar zwischen beiden Gruppen hängt, werden Schwarze von der weißen Mehrheitsgesellschaft ent_wahrgenommen. Aufgrund dessen versäumen sie es, sich jenseits von weißen, rassifizierten Zuschreibungen selbst authentisch wahrzunehmen. Gleichzeitig werden Schwarze Menschen durch das Tragen dieses Schleiers aus der Um_Welt der Weißen ausgeschlossen. Der Schleier markiert daher für Du Bois eine soziale Struktur, die über Jahrhunderte herausgebildet wurde – auch in Deutschland. Seine Operationalisierung erfolgt zeitgleich auf der Mikro-ebene Schwarzer Identität und auf der Makroebene der Gesamtgesellschaft, weshalb er rassifizierte Identität als soziale Praxis illustriert (vgl. Rabaka 2006: 740). Diese Praxis wiederum bestimmt den Alltag von Schwarzen jenseits der biologisierten Vorstellung von ›Rasse‹ und holt rassistische Praktiken der weißen Mehrheitsgesellschaft aus der Un_Sichtbarkeit. Indem Du Bois benennt, was als unsichtbar konstruiert und konstituiert wird, analysiert er die Um_Welt von der Position jener, die pathologisiert werden und dadurch als nichtmenschlich gelten. Dieser methodologische Ansatz ermöglicht ihm, viele Perspektiven in Betracht zu nehmen, v.a. die Perspektiven und Meinungen derer, deren Existenz infrage gestellt und als insignifikant re_produziert werden. Es geht ihm dabei weniger darum, den Schleier zu ›lüften‹. Vielmehr sucht er nach einem Weg, den Schleier zu transformieren und damit auch die Struktur zu verändern, sodass die Schwarze Sicht auf die Um_Welt verstetigt werden kann. Du Bois verweist bereits in seinen frühen Aufzeichnungen auf diesen notwendigen Blickwechsel hin:

»Much has been written of the [B]lack man in America, but most of this has been from the point of view of the whites, so that we know of the effect of Negro sla-very on the whites, the strife among the whites for and against abolition, and the consequent problem of the Negro so far as the white population is concerned« (Du Bois 1897/2007: 137).

Durch den Schleier werden die Bedeutungen des Schwarzseins verfälscht, sodass ein ontologischer, kolonialer Unterscheid re_produziert werden kann, der weiße Subjektivität formt und immer wieder als Norm verstetigt. Erst mit seiner sozialen Positionierung und Selbstbenennung als »American Negro« (Du Bois 1897/2007: 6) nimmt Du Bois schließlich einen Schwarzen Subjektstatus im philosophischen Diskurs ein und lokalisiert dadurch einen ideologischen Ort, der eingebettet ins gesellschaftliche Geschehen eine an Raum gebundene Zeitlichkeit bestimmt und aus Schwarzer Perspektive thematisiert. Durch diese Herangehensweise ist er in der Lage, intellektuelle und soziale Barrieren zu durchbrechen und kulturelle und politische Grenzen zu überqueren und schreibt sich in Folge dessen als erster Schwarzer Wissensre_produzent in das weiße US-amerikanische Wissenschaftssystem des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein. Gleichzeitig demonstriert Du Bois mit seiner Selbstpositionierung eine philosophische Konnektivität zwischen Schwarzen und weißen Gesellschaftstheorien und wird von der weißen Bildungselite als erstes Schwarzes männliches Subjekt in das dortige weiße Wissenssystem eingelesen. Dennoch ist Du Bois Zeit seines Lebens damit beschäftigt, nationale und diasporische Elemente in seinen Schriften zu kombinieren, sodass die Konstruktion einer afrikanischen Diaspora als transnationales Ideal oszilliert werden kann (vgl. Oppel 2008: 101f.). Auf diese Weise ist es ihm möglich, in historischen Kämpfen detailiert zwischen weißen, kolonialen Fantasien und afrikanischen Wirklichkeiten zu unterscheiden.

»This chapter [The Negro in the United States, Kapitel XI, The Conversation of Races], however, is dealing with the matter more from the point of view of the Negro group itself, and seeking to show what slavery meant to them, how they reacted against it, what they did to secure their freedom, and what they are doing with their partial freedom to-day« (Du Bois 1897/2007: 137).

Durch seine soziale Positionierung generiert Du Bois neue Einsichten von Weißen und verhilft Schwarzen zur differenzierten Selbstreflexion (vgl. Rabaka 2006: 732ff.). Folglich ist Du Bois fähig, einen politischen Metadiskurs aus Schwarzer Perspektive zu re_produzieren, durch den er die bestehende Ordnung, ihre Bildungseinrichtungen und ideologische Hegemonie herausfordert. Durch seine kritische Sozialtheorie ist er in der Lage, Themen um Rassismus, Sexismus und Kolonialismus zu adressieren, die er als ineinandergreifende Unterdrückungssysteme begreift. In The Souls of Black Folk (1903) thematisiert er »the power of academic knowledge« (Du Bois 1903/2003: xx), was seines Erachtens zur Transformation der hegemonial geprägten Gesellschaft in eine multikulturelle Gesellschaftsform führen wird, und über_setzt seine wissenschaftlich theoretischen Betrachtungen in eine progressive soziale Praxis.

Im Laufe seines Lebens wandeln sich jedoch die Gesellschaftsstrukturen in den USA und in der Welt drastisch, weshalb viele seiner philosophischen und ideologischen Veränderungen, Modifikationen und Variationen als Reaktionen auf diese sozialen Wandlungen gewertet werden können. So z.B. die Funktionen des Schleiers, die sich im Laufe seiner akademischen Karriere stets wandeln und politisch flexible bleiben. Denn ebenso wie sich die Gesellschaft verändert, so müssen sich auch soziale Theorien und Modelle herausbilden, die nicht einfach neue Realitäten ›abbilden‹, sondern gleichsam emanzipatorischen Einfluss auf eben diese Realitäten nehmen. Dementsprechend kündigt Du Bois‘ Ideologie nicht nur den Posthumanismus, den Poststrukturalismus und die Postmoderne an, sondern sie trägt, wie eingangs erwähnt, auch zum postkolonialen Diskurs bei, indem sie auf eine zwischenzeitliche Periode verweist, die Du Bois als »semicolonialism« (1945) charakterisiert. Er verweist auf die ideologische Dimension des Kolonialismus, die nicht ausschließlich am Besitz von Kolonien festgemacht werden kann, sondern zudem die systematische Einflussnahme des Regimes beschreibt (vgl. Du Bois 1903/2003, Rabaka 2003a, 2006). Demnach nimmt Du Bois nicht nur Teil am, sondern leistet mit seinem Konzept des ›semicolonialism‹ einen entscheidenden Beitrag zum gegenwärtigen postkolonialen Diskurs. Die Bedeutung dieses Metadiskurses zeigt nicht nur die Multidimensionalität von Du Bois‘ Schaffen, sondern zudem die Konstruiertheit von Ideologien, die demzufolge kontingent und veränderbar sind, weshalb Du Bois nachfolgend als ideology broker verhandelt wird. In dieser Rolle erzielt er diskursiven ›Profit‹ dadurch, dass er seine Diskursposition ausbaut und gleichsam die vermeintlich natürliche Ordnung der Dinge herausfordert, die durch die Zustimmung der Massen als Voraus_Setzung[15] für die Hegemonie unhinterfragt bleibt (vgl. Blommaert 1999: 425ff.). Auf diese Weise erfüllt Du Bois eine diskursive ›Gate-Keeping-Funktion‹, da er nicht nur eine wichtige Position im Entscheidungsfindungsprozess einnimmt, sondern zudem die Zugangsmöglichkeiten zum Diskurs, z.B. durch sprachliche Bewertungsstrategien, Autoritätsverweise und der Betonung seiner eigenen Expertise, reguliert (vgl. Warnke/Spitzmüller 2011: 180).

»The history of the development of the race concept in the world and particularly in America, was naturally reflected in the education offered me. In the elementary and high school it came only in the matter of geography when the races of the world were pictured: Indians, Negroes and Chinese, by their most uncivilized and bizarre representatives; the whites by some kindly and distinguished-looking philanthropist« (Du Bois 1940: 97).

Zudem bekennt sich Du Bois, wie eingangs skizziert, zum Marxismus, mit dem er sich systematisch und kritisch auseinandersetzt, und zählt zu den Vertreter_innen des kontroversen Black Marxism (vgl. Rabaka 2006: 742). Bereits 1926 bereist er die Sowjetunion und zeigt sich positiv beeindruckt von der bolschewistischen Revolution, was sich offen in seinen Schriften zeigt und schließlich 1934 zu seinem Rücktritt als Herausgeber von The Crisis[16] führt.

Du Bois’ Interdisziplinarität fordert die traditionelle Monodisziplinarität seiner Zeitgenoss_innen heraus. Mit seinen multimethodologischen Ansätzen gestaltet er die Grundlagen der Fachrichtungen der Africana Studies und der Black Studies, die im Laufe des 20. und 21. Jahrhunderts an US-amerikanischen Universitäten institutionalisiert werden (vgl. Rabaka 2006: 736ff.). Auf diese Weise wird bereits in den sechziger und siebziger Jahren und fortwährend Afrokultur als Teilkultur der US-amerikanischen Gesellschaft konstituiert und ein Schwarzes Wissensarchiv errichtet, das in der afrodeutschen Gegenwart von großer Bedeutung ist. Zudem bettet Du Bois eine Bandbreite an wissenschaftlichen Theorien sowie grassroots-Praktiken in einen sozialtheoretischen Rahmen ein (vgl. Rabaka 2006: 745f.), der die Grundlage für die gegenwärtige Critical Race Theory liefert, die es sich zur Aufgabe macht, Rassismus, Sexismus und Kolonialismus sowie deren Intersektionalitäten zu theoretisieren.

»The deep historical and cultural dimension in Du Bois’s thought suggests that he took seriously the role of a critical social theorist as someone who is concerned with crises in human life and who is committed to constantly (re)conceptualizing what is essential to human liberation and creating a new social world« (Rabaka 2006: 744).

Du Bois’ geschichts- und kulturzentrierte Konzeptualisierungen und Theo-retisierungen demaskieren die zentralen gesellschaftspolitischen Probleme des Rassismus, sodass dessen soziohistorisches Wesen als soziales Erbe des Versklavungssystems und des Kolonialismus wahrnehmbar wird, wenngleich, wie später gezigt wird, Schwarze Menschen im weißen Mainstream als kulturlose und geschichtslose Objekte entäußert werden. Es ist ihm bewusst, dass »race prejudice was the cause and not the result of theories of race inferiority« (Du Bois 1940: 129). Vielmehr versteht Du Bois Rassismus als einen von vielen Unterdrückungsmechanismen, die nicht nur eine Bedrohung für »[t]he Souls of Black Folk« (Du Bois 1903: Titel) seien, sondern für die gesamte Menschheit (vgl. Rabaka 2003: 400). Viele der er-sten wissenschaftlichen Theorien zu Rassismus werden von ihm entwickelt. In seiner ersten Denkschrift The Conversation of Races (1897/2007) räumt Du Bois schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein, dass (Haut-)Farbe eine rassistische Kategorisierung ist, die durch weiße Entsehstrategien herausgebildet wird, sodass Unterschiede markiert und verbildlicht werden können: