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Titel

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Epilog

Leseprobe

Bernd Perplies

Das geraubte Paradies

Über dieses Buch

Durch den Sternenfall und die Dunklen Jahre wurden weite Teile der Welt verwüstet und verseucht. Die Menschen drängen sich in den wenigen verbliebenen Städten, während die Wildnis von Mutanten und gefährlichen Banden beherrscht wird.

Nachdem es Carya und ihren Freunden Jonan und Pitlit gelungen ist, eine Intrige abzuwenden, die den Tod des Mondkaisers zur Folge gehabt hätte, begeben sie sich auf eine gefahrvolle Reise quer durch Francia. Unruhige Zeiten sind angebrochen, denn Francia und Arcadion rüsten zum Krieg gegen den Ketzerkönig von Austrogermania.

Carya fällt es noch immer schwer, sich mit dem Wissen abzufinden, dass sie in Wahrheit eine Invitro ist – ein künstlich erzeugter Mensch, im Labor gezüchtet und von der geheimnisvollen Organisation der Erdenwacht zur vollkommenen Attentäterin ausgebildet.

Um das Rätsel ihrer Herkunft endgültig zu lösen, will Carya in die sagenumwobene Schwarze Zone eindringen. Es heißt, dort sei einst ein Experiment auf verhängnisvolle Weise schiefgelaufen, das alles Leben ausgelöscht hat. Dennoch soll sich mitten in diesem unbewohnbaren Gebiet das geheime Versteck der Erdenwacht befinden, deren Ziele weiter im Unklaren liegen. Was Carya in der Schwarzen Zone entdeckt, übertrifft jedoch ihre schlimmsten Befürchtungen. Nun ist es an ihr und ihren Gefährten, die Menschheit vor einem Schicksal zu bewahren, das vielleicht schlimmer wäre als der Tod.

Kapitel 1

Der Himmel hatte die Farbe von trübem Wasser angenommen. Dunkelgrau und blau, mit leichtem Grünstich, hingen die schweren Wolken über dem Land. Metallisch klingender Donner krachte in der Ferne, und verästelte Blitze züngelten am Horizont zur Erde. Auffrischender Wind fuhr durch die Kronen der Laubbäume, die sich um ihren Rastplatz erhoben, und sorgte für ein ruheloses Rauschen der Blätter.

Carya zog mit der linken Hand ihre Strickjacke vor der Brust zusammen, während sie den Blick von dem Sommergewitter abwandte, das sich in einigen Kilometern Entfernung über der flachen Landschaft entlud. Ihre Rechte, in der ein Bleistift lag, schwebte über dem Briefpapier, das sie vorgestern in einer Häuserruine unweit der Straße entdeckt hatte.

Nachdenklich blickte sie auf das leicht vergilbte Blatt, das auf einem Holztablett auf ihren Oberschenkeln ruhte. Sie war sich unsicher, ob das, was sie vorhatte, so eine gute Idee war. Andererseits hegte sie schon seit Längerem den Wunsch, ein paar Zeilen zu Papier zu bringen, und dieser Wunsch war mit dem Fund des Schreibzeugs beinahe übermächtig geworden. Und so setzte Carya, allen Bedenken des vernünftigen Teils ihres Geistes zum Trotz, den Stift an und begann zu schreiben.

Liebe Mama, lieber Papa,

ich schreibe euch diese Zeilen, auch wenn ich nicht weiß, ob sie euch jemals erreichen werden. Aber vielleicht tun sie das ja doch, und dann möchte ich, dass ihr wisst, dass es mir und Jonan und Pitlit gut geht. Ich hoffe, auch ihr seid wohlauf und sicher in Bolonara eingetroffen.

Carya hielt inne. Hatte sie schon nach wenigen Worten einen Fehler begangen, indem sie den Aufenthaltsort ihrer Eltern nannte? Wenn dieser Brief an der Grenze zur Machtsphäre von Arcadion abgefangen wurde – sofern sie ihn überhaupt jemals würde losschicken können –, wussten die Häscher des Lux Dei, vor denen sie alle nach wie vor auf der Flucht waren, wo sich Andetta und Edoardo Diodato aller Wahrscheinlichkeit nach versteckt hielten. Andererseits musste sie dem Boten ohnehin sagen, zu welchem Ziel er den Brief bringen sollte. Sie riskierte folglich so oder so etwas.

In der Ferne donnerte es erneut. Es war ein trockenes, hartes Krachen. Mit einem Windstoß wehte der Geruch von Regen herbei. Bald würde das Unwetter auch sie erreicht haben. Carya machte sich deswegen keine Gedanken. An ihrem gegenwärtigen Aufenthaltsort im Laderaum der Lastkutsche saß sie trocken und sicher vor den Elementen. Sollte es ganz schlimm kommen, konnte sie zusätzlich noch die schwere Plane schließen, die über den Metallrahmen des Laderaums gespannt war, auch wenn es dadurch zwischen all den gestapelten Kisten ungemütlich eng wurde.

Das Fahrzeug, in dessen Inneren sie saß, war einst ein Motorwagen gewesen. Er fuhr jedoch schon lange nicht mehr mit Treibstoff. Stattdessen war der komplette Antrieb ausgebaut worden, um Gewicht zu sparen, und heute zogen ihn zwei kräftige Kaltblüter durch die Lande. Gemeinsam mit fünf anderen bildete das Lastgefährt die Handelskarawane von Ibrahem Mustard, einem braun gebrannten Francianer, der von sich behauptete, bereits den ganzen Kontinent bereist zu haben.

Seit wir uns in Livorno getrennt haben, ist so viel geschehen. Eigentlich sollte ich euch wohl gar nichts davon erzählen, um uns und euch nicht zu gefährden. Andererseits liegt diese Etappe meiner Reise nun schon wieder hinter mir, sodass es wenig Schaden anrichten kann, wenn ich euch zumindest ein paar Begebenheiten schildere, zumal der Lux Dei uns ohnehin zwischenzeitlich gefunden hat – aber dazu gleich mehr.

Jonan, Pitlit und sie hatten Mustard zwei Tage nach ihrer Abreise aus Paris getroffen. Er hatte sie mit seinen sechs Fuhrwerken auf der großen Handelsstraße nach Osten eingeholt, und nach einer kurzen Unterhaltung waren sie übereingekommen, gemeinsam bis zu einem Ort namens Dijon zu reisen. Der Händler hatte ihnen dafür ihr letztes Goldstück abgeknöpft, aber das machte Carya nichts aus.

Jonan und sie hatten die Strecke in ihrem Navigator überprüft und gesehen, dass sie gut die Hälfte des Weges hinter sich hatten, wenn sie in Dijon eintrafen. Es war ein beruhigendes Gefühl, zu wissen, dass sie sich zumindest dreihundert Kilometer weit keine Gedanken darüber machen mussten, wo sie Nahrung und ein Dach überm Kopf zum Schlafen fanden, auch wenn sich ihr provisorischer Schlafplatz in einem vollen Laderaum befand. Und wenn sie die Schwarze Zone, den Ort, an dem sich Caryas Informationen zufolge die ominöse Erdenwacht verbarg, erst einmal erreicht hatten, war Geldmangel sicher ihr geringstes Problem.

Unser Ziel, als wir Livorno verlassen haben, war Francia, genauer gesagt Paris, die Stadt des Mondkaisers. Wir sind mit einem Handelsschiff bis zur Westküste von Francia gefahren, wobei Handelsschiff vielleicht das falsche Wort ist. Kapitän Denning und seine Leute sind Schmuggler, aber keine von der üblen Sorte, keine Piraten. Es war eine schöne Reise übers Meer, frei von der Sorge, dass uns die Häscher des Lux Dei aufspüren könnten. Bloß so eine nächtliche Fahrt durch die Meerenge von Gibral-Taar möchte ich nie wieder erleben. Wir hatten unglaubliches Glück, dass uns die Spaniarden nicht erwischt haben.

Um genau zu sein, waren es Glück und erstaunliches Können gewesen. Von beidem würden sie reichlich benötigen, wenn sie ihren Ausflug in die Schwarze Zone, die sich in den Bergen hoch im Norden des Einflussbereichs von Arcadion befand, überleben wollten.

Jonan hatte Pitlit und ihr erzählt, dass dort während des Sternenfalls ein Experiment schiefgegangen war. Seitdem hing ein schwarzer und, wie es hieß, tödlicher Dunst über dieser Region. Niemand, der sich dort hineingewagt hatte, war jemals wieder zurückgekehrt. So ganz mochte Carya das nicht glauben, denn immerhin hatte sie in Francia, am Hof des Mondkaisers, einige Männer kennengelernt, die auf ihr nicht ganz klare Weise mit der Erdenwacht verbunden gewesen waren. Die hatten ihre Kameraden in den Bergen doch sicher schon besucht. Es musste also einen Weg in die Zone hinein geben, der nicht zwangsläufig zum Tod führte.

Im Süden von Paris haben wir den Ort besucht, dessen Koordinaten ich in meiner Kapsel gefunden habe. Es handelte sich um einen alten Lufthafen, einen Landeplatz für Raketenflugzeuge und andere Flugmaschinen. Leider endete dort unsere Spur.

Doch dann geschah etwas, womit keiner von uns gerechnet hatte. Wir konnten beobachten, wie ein Raketenflugzeug dort landete. Ein Mann stieg aus, der sich mit einem anderen Mann traf, der mit einem Panzerfahrzeug eingetroffen war. Leider bemerkten sie uns, und auf der Flucht wurde ich von Jonan und Pitlit getrennt. Die Männer, die zum Hofstaat des Mondkaisers gehörten, erwischten mich.

Carya brach erneut ab. Sollte sie diese Geschehnisse ihren Eltern überhaupt so ausführlich beschreiben? Ihre Mutter und ihr Vater würden sich bloß Sorgen um ihre Sicherheit machen, wenn sie davon lasen. Andererseits war ihr ja nichts passiert. Botschafter Cartagena hatte den schießfreudigen Minister Justeneau davon abgehalten, sie von den Soldaten des Kaisers umbringen zu lassen. Dass er ihr in diesem Augenblick das Leben gerettet hatte, wenn auch aus egoistischen Gründen, war das einzig Gute, was sie über Cartagena sagen konnte.

Doch statt mich zu töten oder wenigstens als Gefangene einzusperren, wurde ich von Cartagena, dem Reisenden mit dem Raketenflugzeug, als Gast nach Château Lune, an den Hof des Mondkaisers, gebracht. Dort geriet ich in eine Welt, die ihr euch kaum vorstellen könnt. Die Pracht und die Größe des Hofes sind mit Worten nicht zu beschreiben. Mittlerweile schäme ich mich dafür, aber ich muss gestehen, dass ich anfangs davon verführt wurde.

Allerdings habe ich recht schnell merken müssen, dass hinter der schönen Fassade Missgunst und Intrigen herrschten. Ich erfuhr von Plänen, den Mondkaiser zu stürzen, in die auch Cartagena verwickelt war. Eine Sondergesandte des Lux Dei tauchte in Begleitung von Paladin Julion Alecander (ja, dem Julion Alecander!) im Schloss auf. Ein Mann, der mir etwas über meine Herkunft erzählen wollte, wurde ermordet.

Sie überlegte, ob sie beichten sollte, dass sie Magister Milan getötet hatte. Es mochte gegen ihren Willen und unter dem Zwang Cartagenas stehend geschehen sein, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass Carya einen wehrlosen Mann kaltblütig im Schlaf gemeuchelt hatte. Das Schlimmste daran war, dass sie damit im Grunde genau ihre Bestimmung erfüllt hatte. Cartagena und die Erdenwacht hatten sie als Attentäterin erschaffen, ausgebildet und konditioniert. Nein, entschied Carya. Das müssen sie nicht erfahren. Nicht so.

Draußen vor der Lastkutsche nahmen Blitz und Donner zu. Carya hörte das unruhige Schnauben der Pferde, die an einigen Bäumen angebunden waren, und irgendwo zwischen den sechs Fahrzeugen riefen Männer gegen den Wind an. Wahrscheinlich handelte es sich um Mustard und seine rechte Hand Dursema, die alle anderen dazu aufforderten, ihre Sachen in die Kutschen zu packen und die Planen zu schließen.

Eine untersetzte Gestalt tauchte neben ihrem Wagen auf. Es war Mustard. Der braun gebrannte Händler mit dem struppigen schwarzen Haar und dem erstaunlich gepflegten Bart warf ihr aus dunklen Augen einen leicht gehetzt wirkenden Blick zu. »Carya, ich muss die Plane zumachen«, sagte er. »Der Sturm wird stärker, und Regen naht.« Er sprach auf Francianisch mit ihr, aber es lag ein hörbarer Akzent in seinen Worten. Mustard bezeichnete sich selbst als Bürger der ganzen Welt, aber Carya vermutete, dass er ursprünglich aus den Wüstenstaaten südlich des Mittleren Meeres stammte.

»Kann ich irgendwie helfen?«, wollte Carya wissen.

Mustard winkte ab. »Nein, nein, ich mache das schon. Bleib sitzen. Alles ist gut.«

»Wo sind Jonan und Pitlit?«

»Ich glaube, sie räumen ihr Werkzeug weg. Sie haben zusammen mit Miral ihre Waffen gereinigt.« Bevor Carya ihn noch länger mit irgendwelchen Fragen aufhalten konnte, schlug der Händler die Plane vor.

Sofort wurde es im Laderaum der Lastkutsche deutlich dunkler und enger. Carya erhob sich, um zu der Laterne hinüberzugehen, die auf einer Metalltonne auf der anderen Seite des Laderaums stand. Sie zog ein paar Streichhölzer aus der Hosentasche und entzündete sie. Der niedrige Docht erzeugte nur eine kleine Flamme, deren Lichtkreis arg begrenzt war, aber es genügte, um den Brief beenden zu können.

Schließlich fanden mich Jonan und Pitlit wieder, was eigentlich ein Grund zur Freude gewesen wäre. Stattdessen wurde alles nur noch viel komplizierter. Jonan legte sich mit dem Sohn des Mondkaisers an, dem Prinzen Alexandre, der irgendwie ein Auge auf mich geworfen hatte. Dafür wurde Jonan eingekerkert. Als ich mich bei Botschafter Cartagena um seine Befreiung bemühen wollte, wurde plötzlich ich hintergangen und eingesperrt. Offenbar wollte sich die Versprochene Alexandres an mir rächen. Es war alles ein schreckliches Durcheinander.

Carya war sich der Tatsache bewusst, dass diese Darstellung der Ereignisse sehr oberflächlich war. Aber sie konnte ihren Eltern gewisse Details einfach nicht verraten. Beispielsweise mussten sie nicht unbedingt erfahren, dass Carya sich auf eine fatale und – wie sie im Nachhinein erfahren hatte – nicht ganz freiwillige Affäre mit dem Prinzen Alexandre eingelassen hatte. Und sie war auch noch nicht bereit, ihnen davon zu erzählen, dass Magister Milan einer ihrer Väter gewesen war, einer der Männer, die sie, Carya, geschaffen hatten.

Sie hob die linke Hand und betrachtete gedankenverloren ihre Finger. Sie sahen so echt aus. So menschlich. Und doch war sie eine Künstliche, gezeugt und gereift in einem Labor, um intriganten Männern wie Cartagena als Erfüllungsgehilfin für ihre fragwürdigen Pläne zu dienen. Sie hatte Milan für Cartagena ermordet, und beinahe hätte sie auch den Mondkaiser selbst erschossen. Glücklicherweise war ihr diese grausame Tat erspart geblieben. Es war ihr gelungen, sich gegen die Konditionierung aufzulehnen und ihren eigenen Willen zurückzuerlangen. Seitdem fühlte sie sich nicht mehr ganz so hilflos, doch das änderte nichts daran, dass sie einfach nicht fassen konnte, eine Invitro zu sein.

Der Donner draußen wurde noch lauter, und kräftige Windböen peitschten auf die Plane des Wagens ein. Carya war wirklich froh, dass sie Mustard getroffen hatten. Bei so einem Wetter wollte sie nicht mitten in der Wildnis unter einem Strauch sitzen.

Seufzend richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf das bislang Geschriebene. Sie fragte sich, wie sie den Brief abschließen sollte. Aber am Ende wurde doch alles gut, formulierte sie in Gedanken. Cartagena fand seine gerechte Strafe, der Mondkaiser begnadigte uns, und Jonan und Pitlit wurden für ihren Mut sogar mit jeweils einem Beutel Silber belohnt. Würden ihre Eltern ihr das abnehmen? Es klang beinahe zu schön, um wahr zu sein.

Vielleicht sollte sie es noch vager halten: Doch es gelang uns, aus Château Lune zu entkommen, und nun sind wir – mit einigen Antworten, aber noch immer vielen Fragen im Gepäck – wieder unterwegs. Ich hoffe, unsere Reise dauert nicht mehr lange, und wir können uns bald wiedersehen. Ich vermisse euch sehr. Betet für uns, so wie ich für euch bete. Liebe Grüße …

Ja, das klang doch eigentlich ganz gut. Carya setzte gerade den Stift an, um diese Gedanken zu Papier zu bringen, als ein heftiger Donnerschlag sie zusammenzucken ließ. Die Plane der Lastkutsche klatschte laut gegen den Rahmen, dann setzte ein Trommeln ein, das von plötzlichem heftigen Regen kündete. Das Unwetter war nun genau über ihnen. Hoffentlich schlug kein Blitz in ihre kleine Karawane ein.

Aus den Augenwinkeln bemerkte Carya, dass in die Plane am hinteren Ende der Ladefläche Bewegung kam. Jemand machte sich daran zu schaffen. Im nächsten Moment wurde ein Teil beiseitegeschlagen. Kalter, von Regen geschwängerter Wind fuhr ins Innere und ließ Carya frösteln.

Dann tauchte das Gesicht von Pitlit auf. Triefnass stemmte sich der Straßenjunge auf die Ladefläche, bevor er die flatternde Plane einfing und rasch wieder schloss. »Puh, was für ein Mistwetter«, schimpfte er. »Es gießt, als würde die Welt untergehen. Ich war nur einen kurzen Moment im Regen – und jetzt schau mich an.« Er sah an sich hinunter auf seine durchnässte Jacke und Hose und schüttelte sich. »Ekelhaft.«

Wie zur Antwort ertönte draußen in der Finsternis ein mehrfacher Donnerschlag. Es klang wie das höhnische Gelächter irgendeines Gewittergottes über den Wolken.

»Wo ist Jonan?«, wollte Carya wissen, während sie etwas zur Seite rückte, um Pitlit Platz zu machen.

Der Straßenjunge schob sich an ihr vorbei und zwängte sich in den vorderen Bereich der Ladefläche, wo zwischen den aufgestapelten Kisten ihre Wolldecken lagen. Er nahm eine und schlang sie sich um die schmalen Schultern. »Er sitzt in einer der Fahrerkabinen und hält dort Wache«, sagte er.

»Mustard behauptete eben gerade, ihr hättet mit Miral eure Waffen gereinigt.«

»Haben wir auch. Aber dann kam das Gewitter, und Jonan hat entschieden, seine Wache jetzt schon anzutreten statt erst in einer Stunde. Na ja, und ich bin hier rübergeflitzt.«

Carya runzelte die Stirn. Jonan hatte sich erboten, Mustards Männern dabei zu helfen, die Karawane zu beschützen. Dazu zählten auch regelmäßige Nachtwachen, eine Aufgabe, um die Carya ihn nicht beneidete. Doch er hatte erst die vorgestrige Nacht auf einsamem Posten verbracht. Eigentlich sollte er frühestens morgen wieder dran sein. Genau das sagte sie Pitlit auch.

»Ianni hat vorhin gekotzt«, erklärte dieser daraufhin. »Keine Ahnung, was mit ihm los ist. Jedenfalls geht es ihm nicht gut, und Jonan hat seine Wache übernommen.«

Der hagere, bebrillte Iannides war einer der Leute, die Mustard irgendwo auf seinen Reisen aufgelesen hatte und die ihn seitdem begleiteten. Er wirkte, schon seit Carya ihn kennengelernt hatte, kränklich. Sie fragte sich, ob er unter einer der schleichenden Krankheiten litt, die man sich einhandelte, wenn man zu lange in Todeszonen unterwegs war.

Seufzend nickte sie. »Na schön. Dann schaue ich später mal bei Jonan vorbei. Vielleicht bringe ich ihm einen Tee. Bei dem Wetter freut er sich bestimmt über jede Möglichkeit, sich aufzuwärmen.«

»Also mich kriegen keine zehn Pferde mehr vor die Tür«, verkündete Pitlit kategorisch. »Aber mach nur. Er sitzt in Mirals Lastkutsche, am linken Ende des Lagers. Du kannst ihn gar nicht verpassen.«

»Ich warte noch, bis der Regen ein wenig nachlässt«, sagte Carya und deutete auf die Plane über ihnen, von der ein Geräusch zu ihnen herunterdrang, als würden tausend riesige Ameisen darüber hinwegkrabbeln. »Außerdem will ich das hier noch fertig machen.«

Neugierig reckte Pitlit den Kopf und schielte zu dem Blatt Papier hinüber, das vor ihr lag. »Was ist das? Schreibst du etwa einen Brief?«

Carya nickte. »Ja, an meine Eltern.«

»Was soll das denn bringen?«, erkundigte sich Pitlit. »Du weißt doch gar nicht, wo sie leben.«

»Sie wollten nach Bolonara.«

»Und vielleicht sind sie nie dort angekommen. Oder schon wieder weitergereist. Genauso gut könnte ich Suri einen Brief schreiben und dem Postboten als Adresse ›Mutantensiedlung, an einem See, östlich der Berge‹ nennen.«

Unschlüssig blickte Carya auf den Briefbogen. Ihr Verstand sah ein, dass der Straßenjunge wahrscheinlich recht hatte. Vermutlich war die Vorstellung naiv, den Umschlag an der nächstbesten Herberge abzugeben und darauf zu hoffen, dass ein Bote ihre Eltern in Bolonara fand – oder wo immer sonst sie jetzt lebten. Doch irgendwie war es ihr ein Bedürfnis gewesen, ihrer Mutter und ihrem Vater zu erzählen, was sie erlebt und durchlitten hatte. Ihr Herz wollte folglich solche Einwände, so berechtigt sie auch sein mochten, nicht hören.

Carya schob den Stift in ihre Hosentasche. Dann nahm sie den Briefbogen, faltete ihn zusammen und steckte ihn ebenfalls ein. »Du bist blöd«, stellte sie fest, als sie begann, die Plane des Wagens aufzuknöpfen. Sie wollte hier raus, vielleicht zu Jonan, ganz gleich, ob vor der Tür noch das Unwetter tobte oder nicht.

»He … was?« Pitlit klang verblüfft. »Ich habe doch recht, oder nicht?«

Sie warf ihm einen Blick über die Schulter zu. »Kann schon sein.«

»Und?«

»Ich wollte es trotzdem nicht hören.« Sie wandte sich ab, nur um sich gleich wieder mit ungehaltener Miene umzudrehen. »Weißt du, manche Leute vermissen ihre Eltern. Und dann tun sie törichte Dinge, zum Beispiel Briefe schreiben, die womöglich nie ankommen werden.«

Carya hatte die Worte kaum ausgesprochen, als sie merkte, wie unangemessen heftig ihre Reaktion ausgefallen war. Und wie gemein sie sich gerade Pitlit gegenüber verhalten hatte, der als Straßenkind nie so etwas wie fürsorgliche Eltern gehabt hatte, sah man vielleicht von Ugo ab, einem Mitglied der Untergrundorganisation Ascherose in Arcadion, der ihm so etwas wie ein väterlicher Freund gewesen war – bevor der Lux Dei ihn erschossen hatte.

Sie ließ die Plane wieder sinken und sah Pitlit, dessen Miene sich verdüstert hatte, reumütig an. »Es … es tut mir leid. Das war unangebracht.«

Geräuschvoll zog der Straßenjunge die Nase hoch und nickte knapp. »Schon gut. Ich verstehe dich. Du hast in Paris so viel Mist erlebt, da muss man ja durchdrehen.«

»Ich drehe nicht durch«, stellte Carya klar, wobei ihr tadelnder Tonfall durch ein Schmunzeln gemildert wurde. Sie wandte sich um und knöpfte die Plane, durch die es kalt und feucht hereinzog, wieder zu. Vielleicht wartete sie doch besser, bis sich die Elemente draußen ein wenig beruhigt hatten.

»Ja … nein … schon klar.« Pitlit seufzte. »Am besten sage ich heute gar nix mehr. Geht doch nur schief.«

»Genau«, pflichtete ihm Carya bei. »Setz dich in eine Ecke und sei einfach ein bisschen still. Ich schreibe derweil meinen Brief fertig, der meine Eltern nie erreichen wird.« Oder vielleicht doch, fügte sie in Gedanken hinzu. Man konnte ja nie wissen.

Kapitel 2

Fröstelnd hockte Jonan in der zum Kutschbock umgebauten Fahrerkabine des ehemaligen Lastwagens und starrte hinaus ins Unwetter. Er hatte seine Lederjacke zugeknöpft und die Beine angezogen, um sie nicht dem Wind und dem Regen auszusetzen. Zu seinem Glück stand die Lastkutsche so, dass er sich im Windschatten befand und trotz der relativ offenen Konstruktion der Kabine vor dem Unwetter weitgehend geschützt war.

Auf seinen Knien lag quer sein Templersturmgewehr. Die klobige, schwere Waffe war eigentlich für den Einsatz mit einer passenden Templerrüstung gedacht, deren Kraftverstärkerservos ihr Gewicht erträglich machten. Bedauerlicherweise besaß Jonan seine Rüstung nicht mehr. Er hatte sie weggegeben, im Austausch für ein Navigationsgerät aus der Zeit vor dem Sternenfall, das ihnen auf ihrer Reise quer über den Kontinent den Weg weisen sollte. Bislang hatte sich der flache schwarze Navigator als enorm wertvoll erwiesen, und genau genommen wäre es auch ziemlich gefährlich gewesen, als arcadischer Templer durch ein Land wie Francia zu ziehen, das gerade erst im Begriff war, behutsame diplomatische Bande zum langjährigen Feind Arcadion zu knüpfen.

Dennoch vermisste Jonan seine Rüstung bisweilen. Er mochte bloß ein Jahr in den Reihen der Schwarzen Templer, der ebenso berühmten wie gefürchteten Garde des Tribunalpalasts, gedient haben, aber in dieser Zeit war ihm die schwere Panzerung, die zum modernsten Kriegsgerät gehörte, das der Lux Dei in diesen Tagen, Jahrzehnte nach dem Sternenfall, noch besaß, beinahe zu einer zweiten Haut geworden.

Angestrengt blickte Jonan in den Regen. Die Lastkutsche parkte am nordwestlichen Ausgang des Rastplatzes, der einst Scharen von Motorwagenfahrern als kurzer Ort des Innehaltens gedient haben mochte. Heute erinnerten bloß noch die verfallenen, leeren Ruinen eines Treibstofflagers und einer Gaststätte daran. Daneben erstreckten sich die geteerten Parkplätze, auf denen nun, in einem Kreis unweit einer Baumgruppe aufgestellt, die Lastkutschen von Mustards Karawane standen.

Von seinem Sitzplatz aus hatte Jonan einen guten Blick auf die endlose Handelsstraße, die sich, wie er dank seines Navigators wusste, von Paris kommend einmal quer durch Francia bis zum Mittleren Meer zog. Wobei »guter Blick« etwas übertrieben war. Die schweren Gewitterwolken, die sich vor die sinkende Abendsonne geschoben hatten, tauchten die Welt in trübes Dämmerlicht, und der strömende Regen machte die Sicht nicht besser.

Der Uhrzeit und den Witterungsbedingungen entsprechend, war die Handelsstraße vollständig verwaist. Kein einsamer Wanderer, kein Motorradbote und kein fahrender Händler ließ sich blicken. Jonan konnte das nachvollziehen. Jeder, der halbwegs bei klarem Verstand war, suchte sich einen Unterschlupf und blieb dort bis zum Morgen. Was gab es denn hier draußen, so tief in der Wildnis, für das es sich lohnte, durch Wind und Regen zu eilen?

Dennoch musste jemand auf diesem Kutschbock sitzen und frierend die Landschaft im Blick behalten. Genau genommen war Jonan sogar nur einer von zwei Wachposten. Am anderen Ende ihres Lagers saß Giraud, möglicherweise in Gesellschaft von Seyfried, und hielt den Blick gen Südosten gerichtet. Sie mussten vorsichtig sein. Mustards Karawane war auffällig und groß genug, um Banden auf dumme Ideen zu bringen – etwa die, spätabends im Schutze eines Unwetters einen Überfall zu unternehmen.

Jonan rutschte auf dem gepolsterten Sitz des Kutschbocks hin und her. Zum wiederholten Male hob er sein Gewehr, setzte es an die Schulter und warf einen Blick durch die Restlichtverstärkeroptik. Er musste aufpassen, dass er dabei nicht in einen der in unregelmäßigen Abständen über den Himmel zuckenden Blitze schaute. Die plötzliche Helligkeit machte sich schmerzhaft grell in der Optik bemerkbar, die den abrupten Wechsel nicht zu kompensieren vermochte.

Leider verbesserte sich seine Sicht dadurch kaum. Der heftige Regen sorgte für ein konstantes Rauschen, das wie ein Vorhang vor dem grünstichigen Falschfarbenbild hing. Mit zusammengekniffenen Augen schwenkte er den Lauf der Waffe und damit auch die Optik von links nach rechts, dem breiten, dunklen Band folgend, das die Straße markierte. Nirgendwo regte sich etwas. Zufrieden senkte er das Gewehr wieder.

Über ihm teilte ein Blitz den Himmel, und Donner krachte. Ein kalter Windhauch fuhr um die Lastkutsche herum und trieb Jonan Regen ins Gesicht. Er duckte sich etwas tiefer in den Kutschersitz und zog am Kragen seiner Lederjacke. »Verfluchtes Wetter«, murmelte er. »Warum musste Iannides ausgerechnet heute Nacht krank werden?«

Er griff nach der Trinkflasche, die neben ihm zwischen den Sitzen klemmte, schraubte den Metalldeckel ab und nahm einen Schluck vom Inhalt. Es handelte sich um Kräutertee, irgendeine Mischung, die ihm Anebell, Iannides’ Frau, zum Dank dafür aufgebrüht hatte, dass er die Wache ihres Mannes übernahm. Jonan hatte keine Ahnung, wo sie die Kräuter herhatte. Irgendwie schmeckte der Tee ein wenig bitter und hätte einen Löffel Honig gut vertragen können. Doch solchen Luxus gab es hier nicht. Jonan verzog das Gesicht, nahm aber noch einen weiteren Schluck. Immerhin war der Tee warm.

In diesem Moment fiel ihm etwas am Horizont auf, wo die Handelsstraße in einer weiten Schleife über den Rücken einer flachen Hügelkette verschwand. Er blinzelte und wischte sich den Regen aus den Augen. Hatte er sich den Lichtfleck nur eingebildet?

Nein! Da war er wieder. Es waren sogar mehrere Flecken. Und sie bewegten sich so schnell, wie es nur motorisierte Fahrzeuge vermochten. Ein Adrenalinstoß jagte durch Jonans Körper, und er richtete sich auf. Konnte das eine Motorradbande sein?

Er hob das Sturmgewehr und legte das rechte Auge an das Okular der Lichtverstärkeroptik. Die Landschaft nahm erneut einen kränklichen Grünton an. Er suchte die Straße und aktivierte die Vergrößerung, um die Lichtflecken besser erkennen zu können.

In diesem Augenblick krachte ein Blitz über den Hügeln, und Jonan riss mit einem Fluchen das Nachtsichtzielfernrohr von den Augen. Helle Punkte flimmerten vor seinem rechten Auge und machten es ihm unmöglich, die Lichter, die er zuvor auf der Straße gesehen hatte, zu erkennen. Doch das änderte nichts daran, dass sich ihnen jemand näherte. Und zwar so schnell, dass er binnen weniger Minuten bei ihnen sein musste.

Jonan kam in Bewegung. Er quetschte sich an den Überresten des Rahmens vorbei, die früher die Fahrerkabine des Lastwagens gebildet hatten, und sprang mitten in eine Wasserlache, die neben der Kutsche entstanden war. Ohne darauf zu achten, rannte er, das Sturmgewehr an die Brust gedrückt, zu der großen Lastkutsche hinüber, die Ibrahem Mustard gehörte. »Mustard!«, schrie er und hämmerte mit der Faust gegen die Blechverkleidung. »Es nähert sich jemand über die Straße! Schnell! Mustard!« Regen prasselte ihm auf den Kopf, und über ihm grollte der Donner.

Von innen wurde die Laderaumtür entriegelt. Quietschend sprang sie auf, und der braun gebrannte Karawanenführer tauchte mit einer Laterne in der Hand in der Öffnung auf. »Was ist los, Estarto?«, fragte er auf Arcadisch. Mustard sprach mindestens vier Sprachen fließend, zu Jonans Glück auch seine eigene.

»Ich habe Lichter auf der Handelsstraße gesehen, Mustard. Sie kommen rasch näher.«

Alarmiert blickte Mustard über Jonan hinweg in Richtung der Straße, obwohl er die Näherkommenden von seiner Position aus gar nicht sehen konnte. »Wer ist es? Eine Motorradbande?«

»Kann ich nicht sagen«, erwiderte Jonan kopfschüttelnd. »Die Sicht ist zu schlecht.«

»Verdammt«, knurrte Mustard. Er verzog das dunkle Gesicht. »Seyfried?«, rief er über die Schulter in den Wagen hinein. »Wirf mir das Gewehr rüber. Und lauf von Kutsche zu Kutsche. Die anderen sollen sich bereithalten, falls es Ärger gibt.«

Klatschend landete das schlanke Repetiergewehr in Mustards Pranke. Dann sprang der Karawanenführer aus dem Laderaum zu Jonan in den Regen. »Schauen wir uns das mal an.«

»Was ist los?«, vernahm Jonan eine weibliche Stimme hinter seinem Rücken. Als er sich umdrehte, sah er Carya, die aus der Plane der Kutsche herausschaute, in der Jonan, Pitlit und sie schliefen.

»Wir bekommen Besuch«, informierte Jonan sie hastig.

»Besuch oder Ärger?«, mischte sich Pitlit ein, der neben Carya den Kopf aus der Kutsche steckte.

»Weiß ich nicht«, wehrte Jonan ab. »Bleibt im Wagen. Nur zur Sicherheit.«

»Vergiss es.« Der Straßenjunge zog die Plane auseinander und begann, nach draußen zu klettern.

»Pitlit, ich …«, setzte Jonan an.

»Estarto, kommen Sie«, unterbrach Mustard ihn barsch. »Wir haben keine Zeit.«

Seufzend nickte Jonan. Der Francianer hatte recht.

Seite an Seite rannten sie durch den Regen zu der Stelle, wo der Parkplatz auf die Handelsstraße hinausführte. Pitlit folgte ihnen. Hinter ihnen vernahm Jonan die volltönende Stimme des bärtigen Hünen Seyfried, der den Rest des Lagers alarmierte.

Als sie zwischen den Büschen am Rand der Einfahrt in Deckung gingen und auf die Handelsstraße hinausspähten, waren die Lichter bereits deutlich näher herangerückt. Dazu hatte sich ein dunkles Brummen, wie von starken Motoren, gesellt. Da zumindest die vorderen Lichtquellen sehr dicht und in gleichmäßigem Abstand beisammenlagen, verabschiedete sich Jonan von der Theorie, es könne sich bei den Näherkommenden um Motorradfahrer handeln. Scheinwerfer dieser Art deuteten auf Lastwagen hin, denen nicht unähnlich, die zu ihrer eigenen Karawane gehörten –, wenngleich diese längst nicht mehr durch Treibstoff, sondern mittels Pferdekraft angetrieben wurden.

»Drei oder vier Fahrzeuge«, stellte Mustard fest. In seiner Stimme schwang deutliche Anspannung mit. Er prustete und wischte sich den Regen aus den Augen. Dann hob er sein Gewehr. »Wenn das eine Bande ist, hat sie verdammt gute Ausrüstung.«

»Sollten wir nicht alle zusammenrufen?«, fragte Pitlit nervös.

»Die anderen sind bereit, keine Sorge«, beruhigte ihn der Karawanenführer. »Das wäre nicht die erste Bande, die uns zu überfallen versucht. Erfolglos, wohlgemerkt.«

Das Brummen wurde lauter, und die Lichter waren immer klarer zu erkennen. Jonan hob sein Gewehr, stellte die Restlichtverstärkeroptik auf null und blickte durch das Zielfernrohr. Drei klobige schwarze Schatten rasten die Handelsstraße entlang, und das in einer Geschwindigkeit, die bei diesem Wetter und beim Zustand der schon seit Jahrzehnten nicht mehr reparierten Straße nur als leichtsinnig bezeichnet werden konnte. Aber offenbar beherrschten die Fahrer der Gefährte ihren Job, oder die Notwendigkeit trieb den kleinen Konvoi erbarmungslos zur Eile.

»Ich glaube nicht, dass das eine Bande ist«, murmelte Jonan, das Auge nach wie vor ans Okular des Zielfernrohrs gepresst.

»Sondern?«, fragte Pitlit.

Jonan regelte die Restlichtverstärkung ein paar Grad nach oben, und nun erkannte er auch, was er zuvor nur erahnt hatte. Auf dem Dach des ersten Motorwagens, eines bulligen Fahrzeugs mit großen Reifen, saß ein kreisförmiger Wulst, aus dem der Lauf eines Maschinengewehrs ragte. Er kannte diese Bauweise. »Soldaten aus Château Lune«, sagte er und blickte zu Mustard und Pitlit hinüber. »Ich will verdammt sein, wenn das keine Wagen der Leibgarde des Mondkaisers sind.«

»Wie bitte?« Der Karawanenführer riss die Augen auf. »Da soll mich doch …«

Ihnen blieb keine Zeit für weitere Worte. Im nächsten Moment waren die Wagen heran. Das Licht ihrer starken Scheinwerfer glitt über die Büsche hinweg, zwischen denen Jonan, Pitlit und Mustard kauerten. Bis zum etwas zurückgesetzten Parkplatz reichten sie nicht. Das war allerdings auch nicht nötig. So dunkel, dass man von der Straße aus die sechs kreisförmig aufgestellten Lastkutschen nicht hätte sehen können, war es trotz Abenddämmerung und Unwetter nicht.

Dennoch verhielten sich die Insassen der drei Fahrzeuge anders, als Jonan erwartet hatte. Statt die Gelegenheit zu nutzen, in der Einöde auf Menschen zu treffen, die ihnen vielleicht Treibstoff und Lebensmittel verkaufen – oder zumindest eine heiße Tasse Tee anbieten – konnten, ließen die Militärs die Karawane völlig unbeachtet. In halsbrecherischem Tempo rasten sie an ihnen vorbei. Einen Augenblick lang konnte Jonan die drei Wagen genau erkennen. Es handelte sich um einen gepanzerten Transporter, ein Diplomatenfahrzeug und einen weiteren Transporter, wahrscheinlich zur Eskorte. Wimpel flatterten im Fahrtwind, und die silberne Mondsichel auf einem dunkleren, kreisrunden Hintergrund, das Emblem des Mondkaisers, glänzte auf den nassen Türen der Wagen. Die Insassen waren nicht richtig zu sehen. Dafür war es zu dunkel.

Gleich darauf waren sie vorbei und rasten weiter die Handelsstraße hinunter, in Richtung Südosten. In Richtung Arcadion, ging es Jonan durch den Kopf.

»Was bei allen Sandteufeln treibt die Garde des Mondkaisers zu dieser Stunde hier in der Wildnis?«, beschwerte sich Mustard lautstark.

»Das wüsste ich auch gerne«, antwortete Jonan düster.

Er musste an das Bündnis denken, das der Orden des Lux Dei und der Mondkaiser zu schließen im Begriff gewesen waren, während Carya, Pitlit und er in Paris geweilt hatten. Wenn er es richtig verstanden hatte, ging es der Allianz darum, sich gegen den Ketzerkönig von Austrogermania zu stellen.

Es handelte sich also um eine Glaubensfrage, was Jonan im Fall der fanatischen Herrscher Arcadions gut verstehen konnte, im Fall des doch sehr pragmatisch wirkenden Mondkaisers allerdings nicht so ganz. Der Mann hinter der silbernen Gesichtsmaske galt gemeinhin als dekadenter Herrscher, der auf Kosten seines Volkes ein Leben im Überfluss führte. Doch in dem einen Gespräch, das Jonan mit ihm unter vier Augen hatte führen dürfen, war bei ihm der Eindruck entstanden, dass der Mondkaiser sehr viel ernster und aufrichtiger war, als man denken mochte, und dass sein Gebaren bei Hofe eher der Notwendigkeit geschuldet war, seine Position im Intrigensumpf von Château Lune zu halten, als dass es seiner innersten Überzeugung entsprochen hätte.

Und dann hatte Jonan bei ihrer Abreise auch noch einen kurzen Blick auf den unmaskierten Mann erhascht. Er hatte eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Enzo und Luceno besessen, den beiden Invitro-Soldaten. Wenn das kein erstaunlicher Zufall war, ließ sich daraus eigentlich nur schließen, dass auch der Mondkaiser in Wahrheit ein Invitro war, der seine Künstlichkeit ironischerweise hinter einem falschen Gesicht aus Silber verbarg – und dass es offenbar Zuchtreihen gab, bei denen Invitros gleicher Art entstanden, etwas, das Jonan bislang unbekannt gewesen war.

Doch wenn der Mondkaiser wirklich einem Tank entstiegen war, statt auf natürlichem Wege geboren worden zu sein, stellte sich die Frage doppelt, weswegen er sich mit dem Lux Dei verbünden wollte, dessen unerbittliche Haltung zur Invitro-Frage weithin bekannt war. Vielleicht hegte der Mondkaiser irgendeinen Groll gegen den Ketzerkönig, der so stark war, dass er den Feind seines Feindes als Freund – oder zumindest Alliierten – zu akzeptieren bereit war.

Durch den Tod der Sondergesandten Neve Arida waren die schon praktisch abgeschlossenen Verhandlungen jedenfalls ins Stocken geraten. Dass Arida zugleich eine Attentäterin gewesen war, von Großinquisitor Aidalon geschickt, um Carya umzubringen und Jonan zurück nach Arcadion zu verschleppen, hatte dabei zweifellos eine untergeordnete Rolle gespielt. Immerhin hatte sich Arida, wenn Jonan Caryas Schilderung des Vormittags vor einer Woche, als alles aus dem Ruder gelaufen war, recht verstanden hatte, als eine der wenigen treuen Verbündeten des Mondkaisers erwiesen, während gleich zwei seiner Minister und engsten Berater ihn hatten stürzen wollen. Gut, Aridas Loyalität war ein wenig dem Zufall entsprungen, denn Carya umzubringen, die zu dem Zeitpunkt unter dem Bann des Verräters Cartagena gestanden hatte, hätte praktischerweise auch bedeutet, dem Mondkaiser das Leben zu retten.

Zu Jonans großer Erleichterung war es nicht dazu gekommen. Carya hatte sich selbst aus dem Bann befreit, den Mondkaiser verschont und die Attentäterin – sozusagen in Notwehr – getötet. Noch am gleichen Tag hatte die Delegation aus Arcadion, nun unter der Leitung des Paladins Julion Alecander, Château Lune verlassen. Dass in den wenigen Stunden dazwischen noch ein Bündnisvertrag unterzeichnet worden war, bezweifelte Jonan.

War diese Hetzjagd der drei kaiserlichen Wagen durch Nacht und Sturm nun also ein Zeichen, dass der Herrscher von Francia es eilig hatte, diesen Missstand zu beheben? Oder ging es um etwas völlig anderes, eine Mission, deren Zweck und Hintergründe Jonan nicht kennen konnte? Er fluchte leise. Aus irgendeinem Grund war ihm dieser Gedanke noch unliebsamer als der, dass es wirklich zum Bündnis zwischen Arcadion und Francia kam. Er vermochte sich nicht zu erklären, warum. Er hatte einfach ein mieses Gefühl bei der Sache.

»Alles in Ordnung?«, fragte Mustard nun schon etwas ruhiger.

»Ja«, antwortete Jonan. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, vermutlich nicht. Diese Geschichte gefällt mir nicht.« Er deutete die verregnete Straße hinunter, auf der die drei dunklen Umrisse der Fahrzeuge schnell kleiner wurden.

»Nun ja.« Der Karawanenführer stand auf und schulterte sein Gewehr. »Für mich zählt nur, dass sie keine Gefahr für uns darstellen, und das ist wohl der Fall. Ich werde jetzt also in meine Kutsche zurückkehren und dort eine Tasse Tee mit Rum trinken – um mich aufzuwärmen und um diesen Spuk zu vergessen. Melde dich, wenn sie umdrehen sollten. Oder wenn etwas anderes Ungewöhnliches geschieht.«

»Natürlich«, versicherte Jonan ihm und erhob sich ebenfalls aus dem Gebüsch. Pitlit tat es ihm gleich. Der Junge erschauerte im kühlen Regen.

»Lauf zu Carya«, empfahl ihm Jonan, während Mustard bereits zurück zum Lager stapfte, »und erzähl ihr, was passiert ist. Das wird sie sicher auch interessieren.«

»Geht klar.« Pitlit schob sich mit der Hand eine nasse Haarsträhne aus der Stirn. »Echt blöd, dass die Burschen nicht angehalten haben«, meinte er dann. »Ich hätte gerne gewusst, in welcher Mission sie unterwegs sind.«

Jonan nickte. »Geht mir genauso, Pitlit. Das kannst du mir glauben.«