Bernd Perplies

Flammen über Arcadion

Kapitel 1

Niemand weiß genau, warum es damals geschah. Manche sagen, dass machtgierige Männer in den Regierungssitzen der einstigen Supermächte die Schuld tragen. Andere glauben, dass es die Künstlichen waren, die sich gegen die Menschen erhoben haben. Und wieder andere behaupten, die Wissenschaftler hätten einen Maschinengeist erschaffen, der sich dann ihrer Kontrolle entzogen und die Katastrophe herbeigeführt hätte. All diese Erklärungsversuche stammen von bedauernswerten Seelen, die nicht begriffen haben, worum es wirklich ging.

Die Nacht des Sternenfalls kam nicht über uns, weil einige wenige Menschen einen Fehler gemacht haben. Sie kam über uns, weil die ganze Menschheit fehlerbehaftet war. Wir waren eine Welt von Sündern. Gottes Gebote bedeuteten uns ebenso wenig wie seine Schöpfung. Neid, Gier, Prunksucht und andere niedere Gelüste trieben uns an. Wir wollten einfach alles haben, alles beherrschen. Das galt für das Hab und Gut unserer Mitmenschen ebenso wie für die Schätze unserer Erde und die Geheimnisse des Lebens selbst.

Deshalb nahm der Herr eines Nachts die Sterne vom Himmel und schleuderte sie voller Zorn und Trauer auf seine geliebte Welt hinab. Einst hatte er das Wasser der Sintflut geschickt, um all jene, die sich gegen ihn versündigt hatten, vom Angesicht der Erde zu tilgen, auf dass nur die rechtschaffenen Männer und Frauen übrig blieben. Diesmal sandte er Feuer, um zu reinigen, was in seinen Augen verdorben war.

Die Erde verging, um wiedergeboren zu werden. Millionen von Menschen starben. Jeder Einzelne hatte es auf seine Weise verdient. Anderen wurde all das genommen, wonach sie in ihrer Gier gestrebt hatten, und sie wurden in die Barbarei zurückgeworfen. Auch sie hatten es verdient. Nur die, deren Glaube fest war und die in seinen Augen würdig waren, kamen ungeschoren davon. Sie fanden Schutz in der Arche Gottes, in Arcadion, unter der gnädigen Führung des Lux Dei.

Der Lux Dei beschützt uns vor unseren Feinden, gleich ob draußen in der Wildnis oder innerhalb der Mauern unserer Stadt. Er hilft allen, die in Not sind. Er bewahrt und stärkt den Glauben in unseren Herzen. Seine Diener sind von Gott berufen, und sie gehen uns mit leuchtendem Beispiel voran. Wir sind dem Lux Dei zu Dank verpflichtet, heute und an allen Tagen …

Carya hob den Blick von ihrem Aufsatzpapier und richtete ihn auf die Klasse, die vor ihr saß. Neunzehn Jungen und Mädchen in einheitlich schwarzgrauen Schuluniformen starrten sie an. Ihre Mitschüler schenkten ihr ihre ganze Aufmerksamkeit. Oder erweckten zumindest sehr überzeugend den Eindruck.

An Caryas Seite räusperte sich Signora Bacchettona. »So sei es.«

»So sei es«, antworteten ihr neunzehn Kehlen.

Carya senkte demütig den Kopf. »So sei es«, flüsterte sie.

»Das war ein sehr schöner Aufsatz, Carya.« Signora Bacchettona schenkte ihr ein schmallippiges Lächeln, viel mehr Lob durfte man von ihr nicht erwarten. »Aber du hättest ein wenig ausführlicher auf die zahlreichen Übel eingehen können, die unser behütetes Leben bedrohen würden, wenn wir nicht unter dem Schutz des Lux Dei stünden.«

»Jawohl, Signora«, sagte Carya.

Die hagere Lehrerin mit dem schwarzen Haar, in das sich bereits graue Strähnen mischten, galt unter den Schülern der Akademie des Lichts als streng und unnahbar. Einige Jungen bezeichneten sie hinter ihrem Rücken als »alte Jungfer«, aber niemand hätte sich getraut, sie so zu nennen, wenn Signora Bacchettona in der Nähe war. Sie unterrichtete die Klasse in Gesellschaftskunde, und manchmal machte es den Eindruck, als sei das für sie nicht nur ein Beruf, sondern eine geradezu heilige Pflicht.

Signora Bacchettona nickte Carya zu. »Also gut, setz dich wieder hin.«

»Jawohl, Signora.« Gehorsam kam das Mädchen der Aufforderung nach.

»Nun?« Die Lehrerin hob auffordernd das Kinn, und der stechende Blick ihrer grauen Augen wanderte über die Klasse. »Wer kann mir ein paar dieser Übel nennen?«

Antonjas in der ersten Reihe hob die Hand. Der feiste Junge mit dem Bürstenhaarschnitt war immer der Erste, wenn es darum ging, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen, der sich seinem Empfinden nach etwas hatte zuschulden kommen lassen. Insofern war er natürlich besonders gut darin, irgendwelche Übel zu benennen.

»Antonjas«, rief Signora Bacchettona ihn auf.

Der Junge schoss von seinem Stuhl in die Höhe und ging in Habachtstellung, als befände er sich auf dem Exerzierplatz der Ordensgardisten des Lux Dei. »Die Banden der Sizilier im Süden und die Truppen des Mondkaisers im Norden«, erklärte er mit glühendem Eifer. »Außerdem fahren Piraten aus Spaniar vor unseren Küsten. Und es heißt, dass der Ketzerkönig von Austrogermania Spione in unser Land geschickt hat, um uns vom wahren Glauben abzubringen.«

»Bravo, Antonjas.« Die Lehrerin bedeutete dem Jungen mit einem Nicken, sich wieder zu setzen. »Möchte noch jemand etwas hinzufügen? Eine Bedrohung habt ihr noch vergessen.«

In der vorletzten Reihe meldete sich Marlo, ein schmächtiger Junge, der nicht besonders klug war und sich durch unbedachte Bemerkungen immer wieder den Spott der Klasse einhandelte. »Die Mutanten draußen in der Wildnis«, sagte er, nachdem er sich erhoben hatte.

Die halbe Klasse brach in Gelächter aus.

Natürlich war Marlos Antwort Unsinn. Die Mutanten waren Schreckgespenster, die weit jenseits der Mauern von Arcadion in den Todeszonen hausten. Man erzählte sich grausige Geschichten über sie, wie sie einsame Wanderer verschleppten und ihnen furchtbare Dinge antaten. Doch die Mutanten lebten wie Tiere und waren ungefähr genauso scheu. Kaum ein Bürger der Stadt hatte sie jemals zu Gesicht bekommen. Eine Gefahr für Arcadion stellten sie jedenfalls nicht dar.

Trotzdem lachte Carya nicht. Mit ihren sechzehneinhalb Jahren gehörte sie zu den Jüngsten der Klasse, und sie war eins von nur vier Mädchen. Dazu kam, dass Miraela, die unter ihnen den Ton angab, Carya um ihr wundervolles dunkelbraunes Haar beneidete, das ihr, wenn sie es zu Hause in ihrem Zimmer offen trug, bis weit den Rücken hinunterreichte. Aus all diesen Gründen stand Carya in der Hackordnung nicht weit über Marlo. Deshalb hatte sie Mitleid mit ihm, auch wenn er Unsinn redete.

»Still!«, befahl Signora Bacchettona in scharfem Tonfall, und das Lachen erstarb so plötzlich, wie es aufgekommen war. »Nein, Marlo, die Mutanten meinte ich nicht. Ich sprach von …«

Zwei Plätze neben Carya hob Miraela gemächlich die Hand. Auf der Miene des Mädchens lag milde Verachtung. Carya war sich nicht sicher, ob diese der Unwissenheit ihrer Klasse im Ganzen oder Marlos Dummheit im Speziellen galt. Letzten Endes lief es auf das Gleiche hinaus. Miraela hielt sich für etwas Besseres, für eine Auserwählte. Laut eigenem Bekunden hatte sie vor drei Jahren, mit vierzehn, das Sanktuarium im Dom des Lichts besuchen dürfen und dort eine Vision erlebt. Kurz darauf hatte sie sich die Haare zu einem unnatürlichen Weißblond aufgehellt – angeblich, um dem Engel näher zu sein, der ihr erschienen war.

Jedes andere Mädchen wäre von Carya wegen dieser Erfahrung womöglich bewundert worden. In Miraelas Fall hielt sie die Geschichte für reine Aufschneiderei.

»Bitte, Miraela.« Die Lehrerin machte eine auffordernde Geste.

»Sie meinten die Künstlichen, Signora Bacchettona«, sagte das Mädchen mit deutlicher Abscheu in der Stimme.

Die Lehrerin nickte. »Die Invitros, ganz richtig. Sehr gut, Miraela. Setzen.« Signora Bacchettona begann vor dem Pult auf und ab zu gehen. Die Absätze ihrer schwarzen Schuhe knallten auf die grauen Steinfliesen des Unterrichtsraums. Ihr raubvogelartiger Blick schweifte über die Klasse. »Es mag sein, dass die Nächstenliebe unserer Beschützer vom Lux Dei es ihnen verbietet, in dieser Hinsicht die offenen Worte zu finden, die angebracht wären. Doch wir alle wissen es auch so: Die Invitros sind eine Plage für unsere Gesellschaft. Ihre bloße Existenz ist ein Vergehen gegen den Willen Gottes und das Wunder seiner Schöpfung. In ihrer Verblendung glaubten die Menschen von damals, dass sie das Recht hätten, selbst zu Göttern zu werden. In Laboren, in Tanks, züchteten sie Leben nach ihrem Abbild und ihrem Wunsch. Ihre Motive waren dabei gleichermaßen schändlich und blasphemisch. Welche Motive hatten sie? Marlo?«

»Äh …« Der schmächtige Junge schnellte in die Höhe und blinzelte hektisch. »Sie … sie wollten eine Sklavenrasse schaffen?«

»Mehr oder weniger richtig«, urteilte Signora Bacchettona. »Erst war es die Neugierde, die jene Forscher antrieb. Dann bot man menschlichen Paaren, deren liederlicher Lebensstil ihnen die Frucht des eigenen Leibes verwehrte, Invitro-Kinder als Ersatz an. An diesem Tag nahm der Sündenfall seinen Lauf. Unternehmen schufen sich billige Arbeitskräfte, verdorbene Regimes züchteten sich Soldaten. Die in der Petrischale gezeugte Brut unterwanderte unsere ganze Gesellschaft. Wie sagte es Carya so schön in ihrem Referat: Der Sternenfall traf uns, weil die ganze Menschheit fehlerbehaftet war. Das galt für die Invitros noch mehr als für uns Kinder Gottes. Und es gilt noch heute. Solange die Invitros unter uns sind, steckt ein Dorn der Sünde in unserem Körper und verhindert dessen vollständige Reinigung und Genesung. Sie sind ein Erbe der alten Zeit, der Zeit, die wir hinter uns gelassen haben.«

Signora Bacchettona redete noch eine Weile weiter, aber Carya spürte, dass ihre Aufmerksamkeit nachließ. Sie kannte die ganzen Parolen ebenso gut wie jeder ihrer Mitschüler. Im Grunde war sie ja auch kein Freund der Künstlichen. Die Vorstellung, dass diese Wesen statt im Mutterleib in riesigen Tanks voller Nährflüssigkeit und unter Zugabe von Reifebeschleunigern gewachsen waren, fand sie ziemlich unheimlich und auch irgendwie eklig. Wie konnte so ein Geschöpf, das nicht aus der Verbindung von Mann und Frau entstanden war, überhaupt eine Seele haben?

Nichtsdestoweniger fand sie die Aufregung mancher Leute hinsichtlich der Invitrofrage übertrieben. Ein Großteil der Invitrobevölkerung war durch den Sternenfall und in den Dunklen Jahren danach zu Tode gekommen. Die wenigen Künstlichen, die noch lebten, hielten sich bedeckt und hatten sich unauffällig in die Gesellschaft der Überlebenden eingefügt. Da es so gut wie keine Unterlagen mehr aus der alten Zeit gab, die eine gezielte Suche möglich gemacht hätten, waren sie praktisch von der Bildfläche verschwunden.

Gewisse Leute glaubten, dass man die Künstlichen an ihrer Kopfform erkennen konnte, die sich angeblich von der natürlich geborener Menschen unterschied, die als Babys den Geburtskanal im Mutterleib hatten passieren müssen. Andere behaupteten, sie würden anders riechen als normale Menschen. Tatsächlich gab es – soweit Carya das wusste – nur eine verlässliche Methode, einen Invitro zu erkennen: Sie besaßen keinen Bauchnabel, da sie während ihrer Entwicklung nicht über eine Nabelschnur mit der Mutter verbunden gewesen waren, sondern ihre Versorgung mit Nährstoffen von Maschinen geregelt worden war.

Die Künstlichen, die in Arcadion lebten, wussten diesen Umstand natürlich gut zu verbergen. Und man konnte schließlich nicht jeden Einwohner entblößen, um nachzuschauen, ob er oder sie einen Bauchnabel besaß, zumal es sogar Gerüchte gab, dass skrupellose Ärzte den Invitros gegen Bezahlung einen künstlichen Bauchnabel schnitten. Unterm Strich wäre der Versuch ihrer Auslöschung also mit enormen Mühen verbunden gewesen – dabei taten sie wirklich nichts, außer ein paar frommen Eiferern wie Signora Bacchettona auf der Seele zu liegen.

Ohne das Gesicht von der Lehrerin abzuwenden, schielte Carya nach links zu den hohen Fenstern hinüber. Hinter den hölzernen Lamellen der Schutzläden war das helle Sonnenlicht des späten Vormittags zu erkennen. Carya wünschte sich, die Schulstunde wäre bald vorüber. Sie hatte Hunger, und außerdem würde sie am Nachmittag Ramin wiedersehen.

Ramin … Der Gedanke an den gut aussehenden Jungtempler erzeugte eine Wärme in ihrem Inneren, die ihr bis vor wenigen Monaten noch fremd gewesen war. Selbstverständlich hatte Carya, wie jedes junge Mädchen in Arcadion, die Männer in den Kohorten der Templer angeschmachtet, wann immer sie vor dem Dom des Lichts Paraden abhielten oder über den Corso aus der Stadt auszogen, um die Grenzen des Landes zu verteidigen. Und natürlich hatte sie hinter einem losen Ziegelstein in der Mauer ihres Zimmers ein kleines Bild von Julion Alecander aufbewahrt, einem der zehn Paladine des Lux Dei, dem Helden ihrer frühen Teenagerjahre.

Doch das war nicht vergleichbar mit dem Gefühl, das sie nun ergriff, wann immer sie an Ramin dachte. Diese Männer – Julion Alecander im Besonderen – waren ihr stets fern gewesen. Ramin dagegen führte ihre Gruppe in der Templerjugend an. Es war ein Ehrendienst, den er neben seiner Ausbildung zum Templer angenommen hatte. Da die Zeit in der Templerakademie des Lux Dei als ausgesprochen anstrengend galt, fand Carya so viel Einsatz bewundernswert. Darüber hinaus gab es noch einige andere Dinge, die ihren Pulsschlag beschleunigten, etwa seine starken Schultern und sein schneidiges Auftreten.

Wenn sie die Augen schloss und sich ein wenig anstrengte, gelang es ihr manchmal, sein Bild in ihrem Geist heraufzubeschwören und sich vorzustellen, wie er sie anlächelte, weil er erkannt hatte, dass sie die Frau seiner Träume war. Noch war das selbstverständlich nicht geschehen, aber sie war zuversichtlich, dass es sich nur noch um eine Frage der Zeit handelte, bis es ihr gelang, ihn auf sich aufmerksam zu machen. Schließlich war er auch bloß ein Mann und hatte doch Augen im Kopf. Und wenn es dann erst …

»Carya!«

Die schneidende Stimme von Signora Bacchettona riss sie aus ihren Gedanken. Voller Schrecken erkannte Carya, dass sie sich in ihren Hirngespinsten verloren hatte. So etwas durfte einem im Unterricht nicht passieren, vor allem dann nicht, wenn man Gesellschaftskunde bei Signora Bacchettona hatte.

Schuldbewusst schnellte sie von ihrem Platz auf. »Ja, Signora?«

»Du wirkst abwesend. Langweile ich dich etwa?«

»Nein, Signora.«

»Lüge nicht, Carya. Du hast geträumt!«

»Nein, Signora.«

Die Blicke der Lehrerin waren wie Dolche, die Carya aufzuspießen drohten. »In dem Fall wirst du mir sicher die Frage beantworten können, die ich der Klasse soeben gestellt habe?«

Sie wusste es. Natürlich wusste sie es. Man konnte Signora Bacchettona nicht täuschen. Das war einer der Gründe, warum sie unter den Kollegen so geachtet wie von ihren Schülern gefürchtet war.

Carya senkte beschämt den Kopf. »Nein, Signora«, gestand sie leise. »Es tut mir leid.«

»Und das sollte es auch«, erwiderte die Lehrerin. »Ist dir überhaupt bewusst, wie privilegiert du bist, dass du die Akademie des Lichts besuchen darfst? Zahllose deiner Altersgenossen mussten die Schule nach der Grundstufe verlassen und arbeiten jetzt bereits in den Fabriken. Die würden gerne mit dir tauschen, um zu lernen, was du lernen darfst. Und jetzt knie nieder und denk den Rest der Stunde über meine Worte nach!«

Mit zusammengepressten Lippen kam Carya dem Befehl nach und kniete sich auf die blanken Steinfliesen. Trotzig zwang sie die Tränen der Scham zurück, die ihr in die Augen zu treten drohten. Sie musste sich nicht umschauen, um zu wissen, dass alle sie in diesem Moment anstarrten, manche, wie Marlo, dankbar, dass der Zorn der Lehrerin nicht sie getroffen hatte, andere, wie Miraela, voll höhnischer Genugtuung.

Carya versuchte, nicht daran zu denken. Sie faltete die Hände wie zum Gebet vor dem Bauch und richtete ihre innere Aufmerksamkeit auf die angenehme Kühle, aber auch unangenehme Härte des Steinbodens unter ihren Knien. Sie hatte nicht aufgepasst und sich auf eine der Fugen zwischen den Fliesen gekniet, ein Umstand, der diese Strafe noch unerfreulicher machte. Doch jetzt ließ sich daran nichts mehr ändern. Denn zöge sie jetzt durch eine unbedachte Bewegung ein weiteres Mal den Zorn von Signora Bacchettona auf sich, würde die Bestrafung sicher noch härter ausfallen.

Glücklicherweise war die Schulstunde zehn Minuten später vorüber.

Kapitel 2

Die Schulglocke läutete, und Signora Bacchettona gebot Carya und den anderen Schülern aufzustehen. Carya presste die Lippen zusammen, als sie sich von den Steinfliesen erhob. Ihre Kniescheiben taten weh. Aber sie versuchte, sich die Schmerzen nicht anmerken zu lassen, und strich sich nur den knielangen Rock glatt, bevor sie, wie alle anderen, erneut die Hände faltete, um das Abschlussgebet zu sprechen.

Gegrüßet seist du, Licht, das voll der Gnade

uns von dem Herrn, dem Schöpfer, zugesandt.

Du bist das Licht des Lebens,

das Licht des Schutzes,

das Licht des Richtens.

Erhelle unsren Weg in allem Dunkel

und scheine für uns Sünder

jetzt und in der Stunde unsres Todes.

So sei es.

»Gut«, sagte die Lehrerin. »Ihr könnt gehen. Wir sehen uns übermorgen früh.« Mit diesen Worten entließ sie die Klasse. Rasch packte Carya ihre Sachen, hängte sich die Tasche um und verließ den Raum.

In den hohen Säulengängen der Akademie herrschte wildes Gedränge. Hunderte von Schülern strebten schwatzend und lärmend den zwei großen Torbögen entgegen, die in den West- und den Ostflügel des weitläufigen Gebäudekarrees eingelassen waren, in dem sich die Akademie des Lichts befand.

In der Mitte der vier langgestreckten Häuser, die, wie viele Bauwerke Arcadions, noch aus der Zeit vor dem Sternenfall stammten, lag eine kleine Parkanlage mit braunen Kieswegen, niedrigen Hecken, Bänken und kleinen Wasserbecken. Bei schönem Wetter verbrachten die Schüler gerne ihre Zeit hier. Das galt nicht nur für die Pausen zwischen den Schulstunden. Oft saßen auch nach dem Unterricht noch kleine Gruppen Jugendlicher zusammen, um sich über den Tag zu unterhalten oder gemeinsam Hausaufgaben zu machen. Manchmal gesellte sich Carya auch dazu. Die Lehrer duldeten das.

Heute allerdings wollte sie nur noch nach Hause und vergessen, dass sie sich durch ihre Tagträumerei vor der ganzen Klasse blamiert hatte. Durch das Westtor eilte sie hinaus auf die belebte Quirinalsstraße. Sie umrundete die riesige Templeranlage auf dem Quirinalsberg und lief anschließend durch die Innenstadt bis zu der kleinen Gasse im nördlichen Teil von Arcadion, wo das Mehrfamilienhaus lag, in dem sie mit ihren Eltern lebte.

Auf den Straßen und Plätzen drängte sich das Volk. Arbeiter waren auf dem Weg in die Fabriken oder eilten nach Hause, um ihre Mittagspause mit der Familie zu verbringen. Kaufleute schichteten die Waren in den Auslagen vor ihren Geschäften um. Straßenkinder, von denen es ungeachtet aller gegenläufigen Bemühungen des Stadtrats immer noch viel zu viele gab, flitzten zwischen den Passanten umher, boten ihre Dienste an oder griffen in fremder Leute Taschen. Und mit schöner Regelmäßigkeit waren die Wappen des Lux Dei zu sehen – die halbe, dreistrahlige Sonne auf weißem Grund –, die von ernsten Männern in strengen dunkelblauen Uniformen durch die Straßen getragen wurden.

Arcadion war, wie Carya aus dem Geschichtsunterricht wusste, bereits vor dem Sternenfall eine dicht bevölkerte Stadt gewesen. Damals hatte sie noch einen anderen Namen besessen, der ihr aber im Augenblick entfallen war. Geschichte interessierte Carya nicht besonders.

Als die Menschen sich dann in den Dunklen Jahren nach der Katastrophe in die Mauern der Stadt zurückzogen, die zukünftig Arca di dio, die Arche Gottes, und später Arcadion heißen sollte, wurde es noch voller. Natürlich hatten Krieg, Hunger und Krankheiten im Laufe der Jahre ihre Opfer gefordert. Doch das Licht Gottes, als deren Diener auf Erden sich die Vertreter des Lux Dei sahen, lehrte, das Leben zu achten und zu mehren – zumindest das seiner Anhänger –, weswegen die Bevölkerungszahl Arcadions heute an seine Grenzen zu stoßen drohte.

Dessen ungeachtet lebten die Bürger lieber in beengten Verhältnissen als draußen in der Wildnis, wo sich nur Glücksritter, Räuberbanden und Mutanten herumtrieben und wo man krank werden konnte, wenn man nicht genau aufpasste, wo man sich wie lange aufhielt.

Carya überquerte einen keilförmigen Platz am Fuß des Pinciohügels und bog dann in eine Seitenstraße ein, die zu der Gasse hinaufführte, in der ihr Elternhaus lag. Sie lief die Gasse entlang, die zur Linken von rotbraunen, viergeschossigen Wohngebäuden gesäumt wurde und zur Rechten von einer uralten Steinmauer, über deren Mauerkrone sich das blätterreiche Astwerk von Sträuchern ergoss wie ein grüner Wasserfall.

Jenseits davon erhoben sich die Villen der wohlhabenden Einwohner von Arcadion, große Prachtbauten in Weiß und Ocker, deren Dächer mit glänzenden rotbraunen Ziegeln gedeckt und die von verschwenderisch großen Gärten umgeben waren. Carya verstand nicht, wieso der Lux Dei diesen Männern und Frauen dermaßen viel Platz zugestand, obwohl es in Arcadion so wenig davon gab. Vor Gott, hieß es schließlich immer, seien alle Menschen gleich. Aber offenbar galt das nicht in allen Belangen.

Direkt hinter den Villen ragte der Aureuswall auf, die mächtige Stadtmauer von Arcadion. Früher einmal hatte sie keine andere Funktion gehabt, als Besuchern aus anderen Ländern ein Zeugnis noch früherer Zeiten zu sein. In den Dunklen Jahren nach dem Sternenfall, als der Lux Dei die Schutz suchenden Menschen in die Arche Gottes geholt hatte, war die Mauer kräftig verstärkt worden. Mit einer Höhe von knapp fünfzehn Metern und einer Dicke von ungefähr einem halben Dutzend galt der die ganze Stadt einschließende Wall als festes Bollwerk gegen alle Gefahren, die Arcadion von außen drohen mochten.

Caryas Meinung nach besaß er heute eher symbolischen Charakter. Soweit sie sich zurückerinnern konnte, hatte kein Feind mehr versucht, Arcadion zu stürmen. Alle Kämpfe, die der Lux Dei ausfocht, wurden Hunderte von Kilometern entfernt an den Grenzen des Landes geführt.

Nichtsdestoweniger gab der Aureuswall auch ihr ein Gefühl von Geborgenheit – ganz anders als die riesigen alten Luftabwehrkanonen, die noch immer oben auf der Kuppe des Pinciohügels standen und sie daran erinnerten, dass die Zeit, in der Angst der ständige Begleiter der Menschen gewesen war, noch gar nicht so lange zurücklag.

»Carya! He, hallo, Carya!«

Carya, die gerade das schmiedeeiserne Tor vor dem vierstöckigen Haus geöffnet hatte, in dem sie lebte, hob den Kopf und sah sich um. »Rajael«, rief sie erfreut, als sie das Mädchen erkannte, das die Gasse hinuntergelaufen kam.

Rajael wohnte am oberen Ende der Gasse. Sie lebte dort seit zwei Jahren in einer kleinen Dachkammer zur Untermiete. Ihre Eltern, so hieß es, waren bei einem Fabrikunfall ums Leben gekommen. Seitdem war sie allein. Doch die zierliche Siebzehnjährige mit den hellbraunen Locken und dem schmalen Gesicht ließ sich davon nicht unterkriegen, sondern bestritt mit einer Entschlossenheit ihr eigenes Leben, dass Carya sie nur bewundern konnte.

Die beiden Mädchen hatten sich kurz nach Rajaels Einzug beim Einkaufen auf dem Markt kennengelernt. Beinahe auf Anhieb waren sie sich sympathisch gewesen. Und so hatte sich zwischen ihnen schnell eine enge Freundschaft entwickelt. Carya gefiel, dass Rajael nicht so oberflächlich und zickig war wie Miraela und ihr Hofstaat. Dem anderen Mädchen schien es ähnlich zu gehen. Und so verbrachten sie ganze Nachmittage damit, gemeinsam durch die Stadt zu schlendern, auf dem Aureuswall zu sitzen und hinaus in die Landschaft zu schauen oder in Rajaels kleiner Kammer beisammen zu hocken und sich gegenseitig aus Büchern vorzulesen, die Caryas Eltern für romantischen Quatsch hielten und die daher zu Hause verboten waren.

»Kommst du heute Nachmittag, wenn du mit deinen Hausarbeiten fertig bist, bei mir vorbei?«, fragte Rajael. »Ich habe ein paar neue Bücher in einem Antiquariat gefunden, die ich dir unbedingt zeigen muss.«

Carya schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber ich kann nicht«, erwiderte sie. »Ich bin heute Nachmittag bei der Templerjugend. Wir besuchen den Dom des Lichts und machen dort eine Führung mit.«

Rajael schnaubte. »Du immer mit deiner Templerjugend. In letzter Zeit verbringst du viel zu viel Zeit mit diesen Leuten.« Dass das Mädchen die Jugendorganisation des Lux Dei nicht mochte, hatte Carya schon mehrfach zu spüren bekommen. Gegenwärtig war es nur ein geringer Makel an ihrer ansonsten innigen Freundschaft, aber er drohte größer zu werden.

»Sag nicht immer diese Leute«, beschwerte sich Carya. »Das sind meine Freunde.« Genau genommen stimmte das nicht ganz. Die meisten anderen Jugendlichen waren ihr herzlich gleichgültig. Und von einem ganz bestimmten Jungtempler hoffte sie ja, dass er schon bald deutlich mehr als nur ein Freund sein würde.

»Dann hast du dir die falschen Freunde ausgesucht«, erklärte Rajael. »Das sind doch alles nur fromme Lämmer, die dem Licht des Lux Dei folgen.«

Caryas Miene verdüsterte sich. »Jetzt hör auf«, befahl sie der Freundin. »So schlimm ist es wirklich nicht. Und falls du es nicht gemerkt haben solltest: Ich glaube auch an das Licht Gottes. Bin ich deswegen dumm? So klingt das nämlich bei dir.«

Rajael blickte schuldbewusst drein. »Nein, natürlich nicht, Carya. Du bist meine beste Freundin, das weißt du. Ich würde nie schlecht über dich reden. Es … es gefällt mir wohl einfach nicht, dass du neuerdings so viel Zeit mit anderen verbringst.«

Versöhnlich gestimmt legte Carya ihr die Hand auf den Arm. »Komm doch mal mit. Es ist gar nicht so, wie du immer denkst.«

»Nein.« Rajael schüttelte den Kopf. »Das ist nichts für mich, glaub mir.« Sie bedachte Carya mit einem Lächeln, das irgendwie traurig aussah.

»Wie wäre es mit morgen?«, fragte Carya. »Morgen Nachmittag hätte ich Zeit.«

Erneut schüttelte Rajael den Kopf. »Da bin ich schon verabredet.«

Auf einmal wirkte sie ein klein wenig verlegen, was Carya dazu veranlasste nachzuhaken. »Verabredet? Mit wem?«

»Mit einem Freund.«

Unwillkürlich breitete sich ein Grinsen auf Caryas Gesicht aus. »Einem Freund, hm? Wohl eher deinem Freund.«

»Ja, so in etwa«, gestand Rajael gedehnt, und ihre Wangen röteten sich ein wenig.

»Das ist doch wundervoll«, rief Carya aufgeregt. Spielerisch packte sie den Arm der Freundin und drückte ihn. »Wie heißt er? Was macht er? Seit wann kennst du ihn? Du musst mir alles über ihn erzählen, hörst du?«

»Schon gut, schon gut«, erwiderte Rajael lachend und hob abwehrend die Hände. Ihre braunen Augen leuchteten. »Übermorgen, einverstanden? Wir treffen uns bei mir, gehen in die Stadt, und dann reden wir.«

»So machen wir es«, sagte Carya nickend. »Ich freue mich schon darauf.« Sie deutete auf die Haustür hinter ihr. »Aber jetzt sollte ich wirklich reingehen. Meine Eltern warten sicher schon mit dem Mittagessen.«

»Ich muss auch wieder zur Arbeit in die Wäscherei«, gab Rajael zurück. »Mach’s gut, Carya.«

»Ja, du auch.«

»Ah, Carya, schön, dass du da bist«, begrüßte ihre Mutter sie, als sie zur Tür der kleinen Wohnung hereinkam. »Das Essen ist schon fertig. Zieh dich rasch um, wasch dir die Hände und komm dann.«

»Ich beeile mich«, versprach Carya und lief den Flur hinunter zu ihrem Zimmer. Im Vorbeigehen steckte sie den Kopf ins Wohnzimmer, das auch als Esszimmer diente und in dem bereits ihr Vater und sein Bruder Giacomo, den alle nur Giac nannten, am Tisch saßen.

»Hallo Papa, hallo Onkel Giac«, begrüßte sie die beiden Männer.

»Cara Carya!«, rief Giac gut gelaunt. »Wie groß du geworden bist. Und irre ich mich, oder wirst du auch immer schöner?«

Carya verdrehte die Augen. »Als hätten wir uns nicht vor einer Woche das letzte Mal gesehen.«

»Ist es erst so kurze Zeit her?« Giac riss in gespieltem Erstaunen die Augen auf. »Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Ich muss in einer Zeitschleife gefangen gewesen sein.«

»Ja, das klingt nach einer wahrscheinlichen Erklärung«, sagte Carya lächelnd.

Giac, der an der Universität Physik unterrichtete, machte immer solche Scherze. Ihr Vater, ein ernster Bürokrat in den Diensten des Tribunalpalasts, konnte darüber nur selten lachen. Carya hingegen mochte Giac, ganz gleich, wie plump und anzüglich er sich manchmal gab. Denn hinter seinen großspurigen Gesten, das hatte sie bereits erkannt, steckte ein ungewöhnlich nachdenklicher und freier Geist, der am Mittagstisch auch gerne mal Themen ansprach, über die Caryas Vater lieber keine Worte verlor. Trotzdem wurde Onkel Giac immer wieder eingeladen. Er gehörte schließlich zur Familie.

In ihrem Zimmer wechselte Carya rasch die Schuluniform gegen eine Bluse und einen braunen Rock ein. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, ihr hochgestecktes Haar zu einem losen Zopf zu flechten. So kam es besser zur Geltung, ohne dass sie es ganz offen trug, was im Alltag eher unpraktisch war – ganz zu schweigen von freizügig und deshalb verpönt. Aber sie entschied sich dagegen. Ihre Eltern würden es merken, wenn sie vor dem Mittagessen ihre Frisur änderte. Und womöglich würde Giac sich sogar zu irgendwelchen Spötteleien hinreißen lassen, die zwar harmlos gemeint waren, aber für gewöhnlich viel zu treffsicher daherkamen.

Also ließ sie ihre Haare so, wie sie waren, als sie sich zurück zum Wohnzimmer begab. Ihre Mutter hatte einen Fleischtopf gemacht, extra für Onkel Giac. Normalerweise gab es einfacheres Essen, Suppe oder Pasta oder irgendein Gemüse, das gerade auf dem Markt angeboten wurde. Der Lux Dei bemühte sich zwar, ausreichend Nahrungsmittel für alle Bewohner Arcadions herstellen zu lassen, aber in Zeiten, in denen die meisten Nachbarn auf dem Kontinent verfeindet waren und noch immer weite Teile als unbewohnbar galten, gab es keinen so verschwenderischen Zugang zu Waren, wie dies den Geschichten zufolge vor dem Sternenfall üblich gewesen war.

»Prächtig, Andetta«, lobte Giac mit vollem Mund. »Einfach wundervoll. Du hast dich wieder einmal selbst übertroffen.«

»Ach, sag doch so etwas nicht«, gab Caryas bescheidene Mutter zurück, aber Carya sah ihr an, dass sie sich über das Lob freute. »Ich habe einfach nur ein paar Sachen in den Topf geworfen, die wir noch da hatten.«

Das bezweifelte Carya, aber sie hütete sich, etwas zu sagen. Manchmal ließ man eine Lüge am besten einfach im Raum stehen, auch wenn alle wussten, dass es eine war.

»Hm«, brummte Giac. »Also, jedenfalls bin ich froh, heute bei euch essen zu dürfen. Die Mahlzeiten an der Universität sind dagegen der reinste Hundefraß.«

»Wie läuft es denn so an der Uni, Giac?«, fragte Caryas Vater. »Abgesehen vom schlechten Essen.«

Giac blickte seinen Bruder an, als frage er sich, ob der das wirklich wissen wolle. Dann seufzte er und legte sein Besteck hin. »Um ehrlich zu sein, bin ich nicht ganz glücklich. Wir haben einen neuen Vorsitzenden in der Moralkommission, der seine Arbeit etwas zu ernst nimmt. Ich habe langsam das Gefühl, dass in jeder meiner Vorlesungen und in jedem Seminar einer seiner Lakaien sitzt. Herrgott, ich unterrichte Physik und nicht Politik! In den Naturwissenschaften existieren schlichtweg einige Wahrheiten, die sich nicht beschönigen lassen. Die Erde ist keine Scheibe und auch nicht das Zentrum des Universums, so gerne das mancher da oben in der Engelsburg hätte.«

»Sei nicht albern, Giac.« Caryas Vater runzelte die Stirn. »Niemand behauptet, die Erde wäre eine Scheibe.«

»Das war Sarkasmus, Edoardo. Darum geht es gar nicht. Es geht darum, dass ich auf jedes meiner Worte achten muss. Dass die Freiheit der Wissenschaft mehr und mehr den Zwängen des Systems untergeordnet wird, das der Lux Dei geschaffen hat.«

»Ein System, das uns aus der Not der Dunklen Jahren gerettet hat und das es uns erlaubt, auch in heutigen Zeiten ein anständiges Leben zu führen.« Unwillkürlich hatte der Tonfall von Caryas Vater an Schärfe gewonnen.

»Ein anständiges Leben?«, fuhr Giac auf.

Oh je, dachte Carya. Jetzt fängt er damit schon wieder an. Sie mochte ihren Onkel wirklich. Manchmal allerdings ging ihr sein Hang, Missstände aufzeigen zu wollen, auch auf die Nerven.

»Giac«, warf ihre Mutter beschwichtigend ein, die ähnlich wie Carya eine weitere Tirade befürchtete.

»Nein, Andetta!«, rief Caryas Onkel. »Ich weiß, dass an diesem Tisch die Dinge gerne totgeschwiegen werden, aber wenn alle so handeln würden, hätte es in den letzten Jahren überhaupt keine Veränderungen gegeben. Dann würden Mädchen wie Carya ab vierzehn noch immer in den Webereien oder den Gewächshäusern arbeiten, statt eine höhere Schule besuchen zu können.«

Er hatte recht. Das war vor Caryas Geburt wirklich noch anders gewesen.

»Schaut euch doch mal um! Natürlich ermöglicht der Lux Dei uns normalen Bürgern und braven Kirchgängern ein leidlich angenehmes Leben. Es fehlt zwar hier an Fleisch und dort an Treibstoff, aber alles in allem kann man es in dieser Stadt schon aushalten. Wenn ihr allerdings mal über den Rand eures Suppentellers blickt, was sieht man da? Außerhalb von Arcadion leben die Menschen in bitterster Armut. Und auch in den Arbeitervierteln in der Südstadt herrschen nur schwer erträgliche Zustände, weil dort einfach viel zu viele Menschen leben. Dazu kommt die Verfolgung von vermeintlichen Invitros. Und dann führen wir seit einer halben Ewigkeit Krieg gegen unsere Nachbarn. Dabei ist das kein Krieg um Ressourcen oder Land. Nein, im Kern geht es nur um Glaubensfragen, was nun wirklich der dümmste Grund ist, um sich gegenseitig totzuschlagen.«

»Denkst du, den Templern macht der Krieg Spaß?«, fragte Caryas Vater herausfordernd. »Sie schützen uns, damit unsere Nachbarn uns nicht für schwach halten und einfach ausrauben.«

»Ach was! Kein Mensch, der halbwegs bei Verstand ist, kann diesen ständigen Schwelbrand an unseren Grenzen wollen. Andererseits ist die Gefahr von außen natürlich wunderbar geeignet, um von den Problemen im Inneren abzulenken. Vielleicht ist das sogar der wahre Grund, warum sich der Lux Dei nicht die geringste Mühe gibt, auf unsere Feinde zuzugehen.«

»Genug jetzt!« Caryas Vater sprang auf. »Wenn du aufrührerische Reden schwingen willst, geh zu deinen Professoren an der Universität. Ich werde mir das hier nicht länger anhören. Ich habe es mir ohnehin schon oft und lange genug angehört. Irgendwann muss auch mal Schluss sein.«

Giac schnaubte. »Gott, wenn du dich nur selbst reden hören könntest: ›Irgendwann muss Schluss sein.‹ Ganz im Gegenteil!« Er erhob sich ebenfalls. »Irgendwann sollte mal jemand anfangen, klare Worte zu finden!« Er wandte sich Caryas Mutter zu. »Danke für das gute Essen, Andetta. Und sei uns Männern nicht böse, weil wir ständig streiten. So sind Brüder eben.« Die beiden Männer wechselten einen finsteren Blick.

»Kommst du nächste Woche wieder vorbei?«, fragte Carya leise. »Du wolltest mir noch etwas über deine Himmelserforschung erzählen.«

Giac strich ihr liebevoll über den Rücken. »Mal sehen, cara Carya. Mal sehen.«