Simone Stölzel
Der Tod
in
Potenzen
Verlag Karl Alber Freiburg / München
Für Thomas,
meinen philosophischen Begleiter
Originalausgabe
© VERLAG KARL ALBER
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018
Alle Rechte vorbehalten
www.verlag-alber. de
Satz: SatzWeise GmbH,Trier
Herstellung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN (Buch) 978-3-495-48977-2
ISBN (E-Book) 978-3-495-81499-4
Im Zeitspalt
ein Gedanke gewesen,
bis der Ewigkeitsschrecken
ihn umwarf.
Was folgt,
ist nicht Schlaf,
sondern Skelett.
Das wissen
die Verständigen aber.
Ernst Meister
Selbst wenn es einem einst glückt,
die vollkommenste Wahrheit zu künden,
Wissen kann er sie nie:
Es ist alles durchwebt von Vermutung.
Xenophanes
(Deutsch von Karl R. Popper)
I. Arsenicum album
II. China officinalis
III. Arnica montana
IV. Nux vomica
V. Lachesis muta
VI. Atropa belladonna
VII. Sulfur
VIII. Lycopodium clavatum
IX. Sepia officinalis
X. Hyoscyamus niger
XI. Ignatia amara
XII. Pulsatilla pratensis
XIII. Phosphorus
XIV. Causticum Hahnemanni
XV. Cimicifuga racemosa
Anhang
Walter Hertz hörte den Klang seiner eigenen Schritte auf den nassen Steinen des Gehwegs mit einer merkwürdig geschärften Aufmerksamkeit, wie zum allerersten Mal. Das fiel ihm auf, nachdem er in eine Seitengasse eingebogen war und den dröhnenden Verkehrsstrom auf der Asphaltstraße hinter sich gelassen hatte. Das Wasser rann in Sturzbächen an seinem hellen Kurzmantel herab. Den Kragen hatte er hochgeschlagen. Auf dem Kopf trug er einen angeknautschten Regenhut. Seine Schritte waren energisch und leichtfüßig zugleich. Ein so guter Beobachter, wie Hertz selbst es war, hätte zuweilen ein Zögern erspüren können … Ein Zögern, das nicht auf Unsicherheit, sondern eher auf eine intensive Form des Nachdenkens schließen ließ.
Seine Schritte führten ihn jetzt zu einer Altbauvilla. Sie erinnerte ihn auf den ersten Blick an einen mittelalterlichen Wohnturm. Einen Moment lang betrachtete er die mit verspielten Figuren geschmückte Fassade. Dann näherte er sich dem Eingang und drückte auf den Klingelknopf neben dem Schild: Dr. Simon Geiger. Allgemeinmedizin – Homöopathie. Während er den Knopf noch gedrückt hielt, hörte er den Klang einer Turmuhr: Es schlug drei Uhr nachmittags. Aus der Sprechanlage ertönte nun eine Frauenstimme.
»Ja, bitte?«
»Hier ist Walter Hertz. Wir waren um 15 Uhr verabredet, Frau Singer.«
Die Stimme bekam sofort einen eifrigen Unterton:
»Ja, ich öffne! Praxis Dr. Geiger, zweiter Stock links, bitte.«
Als der Summer erklang, sprang das Türschloss auf. Hertz betrat das Treppenhaus. Es war kühl und roch angenehm nach Holz und Stein. Unwillkürlich wandte er sich nach rechts. Mit der Linken tastete er nach einem Geländer, musste aber feststellen, dass die Treppe sich auf der anderen Seite befand. Das Tageslicht fiel lediglich durch ein dunkel getöntes Fenster. Hertz sah, dass es von Bleibändern durchzogen war und noch viele Segmente der ursprünglichen Glasmalereien enthielt. Er blinzelte, bis seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Dann stieg er geschmeidig die Holzstufen hinauf, mit den Fingern seiner rechten Hand über die Rillen und Risse des fein geschwungenen Handlaufs gleitend. Im zweiten Stock angekommen, beobachtete er, wie sich die Tür der Praxis beinahe lautlos öffnete. Die hagere Frau mit dem hochgesteckten Haar, die jetzt im Türrahmen erschien, trug einen langen Wollrock und eine streng geschnittene Bluse von unscheinbarer, graubrauner Farbe. Ihre Hand fühlte sich bei der Begrüßung kühl an.
Elfriede Singer führte Walter Hertz in ein Sprechzimmer, das mit dunklen Holzmöbeln ausgestattet war. Auf dem Schreibtisch lagen ein halbes Dutzend verschiedenfarbiger Stifte, ein Kalender und ein Schreibblock. Außerdem sah Hertz ein Paar Steindrachen in schlafender Haltung. Sie waren an den kurzen Seiten der Tischplatte einander heraldisch gegenübergestellt. Neben dem Tisch befand sich ein halb hohes Regal mit homöopathischen Nachschlagewerken. Obenauf stand ein Telefon. Walter Hertz setzte sich auf einen der Besucherstühle und schaute sich weiter um: Geiger schien eine Vorliebe für Buchmalerei zu haben. An den Wänden hingen gerahmte Drucke aus illuminierten Handschriften. Ihm fielen die detailreiche Zeichnung eines Feuersalamanders sowie ein Blatt mit zwei Pentagrammen auf, eines davon auf der Spitze balancierend. In einer Ecke des Raumes stand auf einem Tischchen ein Metronom. Daneben war eine Sammlung alter Sanduhren aufgereiht.
Vorsichtig begann Walter Hertz das Gespräch.
»Schön, dass Sie heute Zeit haben … Ich sagte Ihnen ja schon am Telefon, dass Dr. Rösch mich mit dem Fall beauftragt hat. Könnten Sie mir noch einmal genau berichten, was an dem Vormittag passiert ist, als Sie Dr. Geiger zum letzten Mal gesehen haben?« Die Nervosität der Frau, die unschlüssig in der Zimmermitte stehengeblieben war, konnte er deutlich spüren.
»Tja … Ich hab ja schon alles der Polizei … Also, gut: Ich werd’s versuchen …« Dann unterbrach sie sich selbst: »Ach, möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee?«
»Ich trinke nur Tee.«
Elfriede Singer schien freudig überrascht. »Wirklich? Genau wie der Doktor! Ich kann Ihnen gerne …«
»Bemühen Sie sich nicht, Frau Singer! Ein Glas Wasser tut’s auch. Danke.« Während sie ihm einschenkte, studierte er ihr sorgfältig hochgestecktes, graublondes Haar. Das schien sie noch nervöser zu machen.
»Ja, wo waren wir denn gerade?«
Hertz seufzte innerlich und setzte eine sanfte Miene auf, die sonst eher für verängstigte Gesprächspartner bestimmt war. »Sie wollten mir von den letzten Stunden erzählen, bevor Dr. Geiger verschwunden ist.«
Nun setzte sie sich auf ein kleines Sofa ihm gegenüber – aber nur auf die äußerste Kante. Ihre Hände faltete sie dabei sittsam wie eine Klosterschülerin vor dem Schoß. »Ja, also – morgens war alles noch wie immer: Herr Dr. Geiger kam um kurz vor neun hier an – ich hatte schon um halb neun alles aufgeschlossen, gelüftet, Blumen gegossen, Tee gekocht … was eben jeden Morgen so zu tun ist.« Sie machte eine Kunstpause, als hätte sie gerade etwas sehr Bedeutsames gesagt. Als er nicht reagierte, wurde ihre Stimme vorwurfsvoll: »Machen Sie sich denn gar keine Notizen?«
»Wieso?«
»Ich dachte, Sie seien Detektiv? Herr Dr. Geiger macht sich immer Notizen.«
Walter Hertz bemühte sich gar nicht erst, den gelangweilten Unterton seiner Stimme zu verbergen. »Tatsächlich?«
»Allerdings. Er ist eben ein besonders gewissenhafter Mann.«
»Interessant …«
Eine leichte Röte huschte über ihre Wangen, deren dünne Haut auffällig straff über die Knochen gespannt schien. »Aber ja! Soll ich jetzt weitererzählen?«
»Das wäre hilfreich, ich bitte darum.«
Da klingelte das Telefon. Wie ein Raubvogel, der nach Beute stößt, schnappte sie mit ihrer sehnigen Hand nach dem Hörer: »Homöopathische Praxis Dr. Geiger, hier Singer am Apparat! Was kann ich für Sie tun?« Aus der Muschel war nur ein unverständliches Murmeln zu vernehmen. Frau Singers Gesicht schien von einer Sekunde zur anderen vor Enttäuschung in sich zusammenzufallen. »Oh, tut mir furchtbar leid, aber die Praxis bleibt vorerst geschlossen. Wenden Sie sich bitte an den Kollegen, Dr. Rösch. Jaa, auf Wiederhören.« Sachte, als könnte der Apparat beim nächsten Wimpernschlag zu Staub zerfallen, legte sie den Hörer wieder auf die Gabel zurück und rang sich ein Lächeln ab. Dabei blieb der unstete Blick ihrer graublauen Augen an dem seinigen haften. Sie runzelte die Stirn. »Wovon sprachen wir gerade?«
Jetzt zumindest war sich Hertz darüber im Klaren, dass sich sein Gespräch mit Elfriede Singer deutlich schwieriger gestalten könnte, als er ursprünglich angenommen hatte. Und es dauerte für seinen Geschmack auch reichlich lange, bis sie endlich an einen Punkt kamen, der ihn wirklich interessierte.
»Glauben Sie, dass Geiger irgendwelche Feinde hatte?«
»Aber nein! Das kann ich mir ü-ber-haupt nicht vorstellen.« Pathetisch hob sie die Hände und rief: »Herr Dr. Geiger hat allen Menschen immer nur Gutes getan!«
»Soso.« Hertz konnte Sätze, in denen Worte wie: alles, immer, nie oder keiner vorkamen, grundsätzlich nicht ausstehen. Einen Seufzer unterdrückend, fragte er betont sachlich weiter: »War er denn irgendwie verändert in den letzten Wochen?«
»Nun, das zwar nicht …«
»Aber?«
»Seine Frau ist vor gut vier Jahren gestorben, und seit damals wirkte er irgendwie abgekapselt, würde ich sagen …«
»Woran ist Frau Geiger denn gestorben?«
»Ja … eigentlich ganz plötzlich, an Herzversagen …«
»Und wie ist das passiert?«
»Auf einer Reise. Sie wollte den Sohn in den USA besuchen, starb aber kurz nach der Zwischenlandung in New York. Ich glaube, es hat Dr. Geiger sehr zugesetzt, dass er ihr nicht helfen konnte. Und vielleicht auch, dass er die Vorzeichen der Krankheit bei seiner eigenen Frau nicht wahrgenommen hat. Wobei das vermutlich gar nicht möglich gewesen wäre.«
»Hm. Verstehe.« Nachdenklich betrachtete Walter Hertz einen der schlafenden Steindrachen auf Geigers Schreibtisch. Er konnte sich nicht erinnern, dass ihm ein derartiges Exemplar schon einmal begegnet wäre. »Sie sagten, er habe seitdem ›irgendwie abgekapselt‹ gewirkt. Wie hat sich das geäußert?«
»Also, er hat ja immer schon einen großen Forschereifer gehabt. Aber seit dem Tod seiner Frau war er geradezu besessen von seinen Studien. Nach Praxisschluss vergrub er sich stundenlang in seinem Laboratorium.«
»Und haben Sie eine Idee, womit er sich dabei so intensiv befasst haben könnte?«
»Nun, ich glaube … Ach, nein. Ich denke, da fragen Sie am besten Dr. Rösch selber. Schließlich haben sie einige Publikationen gemeinsam verfasst und standen in engem Austausch. Sie sagten doch, Herr Dr. Rösch habe Sie – beauftragt …?«
Walter Hertz lächelte ihr beruhigend zu. »Selbstverständlich. Ich hätte nur gerne Ihre Meinung dazu gehört.«
Sie biss sich auf die Lippen und sagte nichts. Einen Moment schwieg auch er, bevor er weitersprach. »Meinen Sie, Dr. Geiger war irgendwie unglücklich oder gar lebensmüde?«
»Unglücklich? Vielleicht schon … Obwohl er ja seine Arbeit sehr liebte. Das heißt: liebt. Aber lebensmüde? Nein! Das würde gar nicht zu ihm passen! Er hatte immer eine besondere Hochachtung vor dem Leben – wenn Sie verstehen, was ich meine?«
»Hm, ich denke schon. Und wie war die Beziehung zu seinem Sohn?«
Er sah sie kaum merklich zusammenzucken, bevor sie sich ein imaginäres Stäubchen von ihrem Wollrock zupfte. »Der Sohn? Hing mehr an der Mutter, würde ich sagen. Als Vater war Dr. Geiger nicht sehr engagiert, fürchte ich. Sein Sohn ist Schulmediziner geworden und arbeitet bei einem Pharmakonzern in der Nähe von Los Angeles. Ich glaube, er hat den Vater indirekt dafür verantwortlich gemacht, dass die Mutter so früh sterben musste. Dr. Geiger hat mir einmal erzählt, dass sein Sohn die Homöopathie für Quacksalberei hält. Soweit ich weiß, gab es da einige unschöne Streitgespräche …« Philosophisch fügte sie nach kurzer Atempause hinzu: »Tja … wie es manchmal eben so geht zwischen den Jungen und den Alten.«
»Haben Sie Kinder?«
Sie lachte in hochnäsiger Empörung, als hätte er sie eines Gewaltverbrechens beschuldigt: »Ich? Wie kommen Sie denn darauf?«
Hertz ignorierte die Gegenfrage. »Wissen Sie, ob Geiger nach dem Tod seiner Frau wieder eine neue Beziehung eingegangen ist?«
»Was für merkwürdige Ideen Sie haben!«
»Wieso? Immerhin ist seine Frau schon seit vier Jahren tot.« Ihm war klar, dass ihr diese Bemerkung ganz und gar nicht gefiel. Missbilligend betrachtete sie seine Hosenbeine, die allmählich wieder trocken wurden und nun faltig an seinen Waden klebten.
»Ich muss schon sagen. Also, Dr. Geiger ist ein ganz wunderbarer Mensch! Er würde niemals … Nein, ich bin mir da ganz sicher: Die letzten Jahre hat Herr Dr. Geiger nur noch für seine Forschungen gelebt!«
Amen, Schwester, dachte Hertz. Er beeilte sich, das Gespräch höflich, aber rasch zu beenden. Er hatte nun wirklich genug von Frau Singer.
Als er bald darauf wieder auf der Straße stand, hatte der Regen aufgehört. Eine strahlende Sonne kroch dampfend hinter den Wolken hervor. Die Luft war jetzt herrlich erfrischend. Walter Hertz wählte den Weg durch den Stadtpark, um seine Gedanken in Ruhe ordnen zu können: Er überlegte, dass er mehr über die homöopathische Medizin in Erfahrung bringen sollte. Vielleicht war Geiger irgendeiner wichtigen Sache auf der Spur. Oder er glaubte das zumindest. Wie auch immer … Dann rekapitulierte Hertz das Gespräch mit Elfriede Singer. Wie hatte sie noch gesagt? ›In den letzten Jahren hat Herr Dr. Geiger nur noch für seine Forschungen gelebt‹. Hertz hätte wetten mögen, dass sie in diesem Punkt irrte. Oder log. Das sagte ihm sein Instinkt. Für ihn war diese Singer sowieso eine ziemlich vertrocknete Schachtel mit einem Hang zur Heiligenverehrung. Und für Heilige hatte er noch nie viel übrig. Da waren ihm ganz normale Schwachköpfe allemal lieber als irgendwelche verdrehte Heilige oder solche Weltnonnen wie die Singer. Mit denen gab’s meist nur Ärger: »Herr Dr. Geiger hier, Herr Dr. Geiger da …« Hertz blies entnervt die Luft aus. Wahrscheinlich hat sie ihn beim Vornamen genannt und in ihrer antiseptischen Art eifrig angeschwärmt. Aber seltsam – überlegte er weiter –, meist sprach sie in der Vergangenheitsform von Geiger, schien sich manchmal dabei selbst zu ertappen und tat dann so, als sei sie überzeugt, er könnte jede Sekunde zur Tür hereinspazieren … Absurd, denn Geiger war schon seit über einem Vierteljahr nicht mehr aufgetaucht.
Hertz beobachtete, wie eine Frau mit kurzem Rock und fliegenden Haaren ein Stückchen vor ihm den Weg kreuzte. Sie trat mit ihren schön gebräunten Beinen kräftig in die Pedale ihres Fahrrads. Gleich wurde ihm bedeutend wohler. Er lächelte in sich hinein. Nun rief er sich ins Gedächtnis, was er über den Fall bislang erfahren hatte: Dr. Simon Geiger, niedergelassener Homöopath mit eigener Praxis – und Arzthelferin! – war von heute auf morgen spurlos verschwunden. Ein Mann Ende Fünfzig, seit vier Jahren verwitwet, mit einem Sohn in den USA, verließ eines Nachmittags seine Praxis, ging nach Hause – und ward nicht mehr gesehen. Die Polizei zeigte wenig Interesse an dem Fall. Auch gab es keinerlei Hinweise, dass es sich hier um ein Verbrechen oder einen Selbstmord handelte. Vielleicht hatte Simon Geiger einfach nur sein bisheriges Leben sang- und klanglos hinter sich lassen wollen? Derlei Dinge geschehen ja immer wieder: Menschen verschwinden, als ob sie durch eine unsichtbare Tür in die Unendlichkeit träten …
Walter Hertz lief nun durch eine schmale Anwohnerstraße hinter dem Park. Amüsiert beobachtete er zwei Autos, die zwischen den parkenden Wagen aufeinander zufuhren, bis sie sich schließlich gegenseitig die Durchfahrt versperrten. Eine seiner Lieblingstheorien lautete, dass viele Menschen ihr Leben auf ähnliche Weise führen, wie sie Auto fahren. Zum Beispiel geben manche erst einmal heftig Gas. Ohne den geringsten Überblick, von Voraussicht ganz zu schweigen. Irgendwann geraten sie in die Enge und rumpeln – statt sich geschmeidig hindurch oder vorbei zu lavieren – mit Schwung mitten hinein. Um dann hilflos zu hoffen, dass andere ihr Dilemma lösen werden! Oder sie reagieren aggressiv und drücken auf die Hupe, um die anderen Beteiligten zum Rückzug zu zwingen. So wie die zwei Herren da, die zwischenzeitlich aus den Autos gestiegen waren und sich wüst beschimpften. Na, viel Spaß dabei, dachte Hertz und ging weiter.
Überhaupt war es eigentlich ein Wunder, dass nicht noch mehr Verbrechen geschahen. So geladen, wie viele durch das Leben gehen. Hertz hielt dies für einen Hinweis darauf, dass die Menschheit im Grunde zum Guten strebte. Trotz aller Grausamkeiten, die sich die Menschen auf dieser Welt bereits angetan haben. Und sicher auch weiterhin antun würden. Dabei wünschten sich die meisten Menschen eigentlich nur ein mehr oder minder selbstbestimmtes Leben in Frieden. Sollte man meinen … Zugegebenermaßen hatte die Sache einige Haken: Zunächst verstand jeder etwas Anderes darunter. Und dann war kaum jemand wirklich bereit, andere mit so viel Respekt zu behandeln, wie er es umgekehrt für sich selbst in Anspruch nahm. Trotzdem … Hertz fand, dass er in seinem Beruf einen gewissen Zweckoptimismus bitter nötig hatte. Sonst müsste er wohl zynisch werden.
Gemächlich schlenderte er unter einer Uhr hindurch, die als Werbeschild für ein Optikergeschäft diente. Er sah, dass es Zeit wurde, seinen Auftraggeber, Dr. Hermann Rösch, zu treffen. Zügig ging er weiter, bis er vor dem Haus stand, das er vor kurzem schon einmal betreten hatte. Wieder eine Praxis, wieder ein Homöopath. »Similia similibus curentur«, murmelte Walter Hertz: Ähnliches soll mit Ähnlichem geheilt werden. So lautete die Regel, die der Begründer der Homöopathie, Samuel Hahnemann, zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufgestellt und zum Prinzip seiner neuen Medizin erhoben hatte. Anders als die sogenannte Allopathie oder Schulmedizin, die Krankheiten mit Gegenmitteln behandelt, wird in der Homöopathie nach einem Mittel gesucht, das in seiner Ursprungsform möglichst ähnliche Symptome erzeugt wie die zu behandelnde Krankheit selbst. Durch einen speziellen Prozess der »Vergeistigung« soll das Ähnlichkeitsmittel dann die Krankheit von Grund auf heilen.
Mit diesen Gedanken betrat Hertz die Praxis, wo er bereits erwartet wurde. Sie wirkte deutlich weniger eigenwillig als diejenige Geigers – dafür aber sehr gediegen. Fein glänzende Stilmöbel verströmten einen Hauch von Bienenwachspolitur. Rösch selber thronte hinter seinem prachtvollen Schreibtisch wie ein Hohepriester. Jetzt sprang er auf, um ihm die Hand zu reichen. Wie bei ihrer ersten Begegnung fielen Hertz erneut die ausgesprochen langgliedrigen und gepflegten Hände des Mannes auf. Der mochte etwa im gleichen Alter sein wie Geiger – vielleicht zwei, drei Jahre jünger. Sein ehemals braunes Haar war malerisch graumeliert. Und er trug den akkuratesten Dreitagebart, den Hertz jemals gesehen hatte. Da dieser Bart vor zwei Tagen ganz genauso ausgesehen hatte, musste Rösch wohl ein spezielles Schneidegerät verwenden, um diesen Effekt zu erzielen. Außerdem liebte er anscheinend Halstücher. Sie waren derart kompliziert in Falten gelegt, dass er für diese Arbeit vermutlich eigens jemand angestellt hatte … Nun ja. Im Grunde fand Hertz Menschen, die ihre Eitelkeit offen zur Schau trugen, wesentlich sympathischer als solche, die sie tunlichst versteckten. Und Dr. Rösch war durchaus ein Mann, der sich nicht zu verstecken brauchte – was ihm offenkundig deutlich bewusst war. Das verlieh ihm eine gewisse Liebenswürdigkeit.
Gleichwohl wurde Hertz nicht ganz schlau aus Rösch. Er zahlte gut, doch war nicht leicht erkennbar, was genau er eigentlich herausfinden wollte.
»Haben Sie eine Ahnung, mit welcher Art von Studien sich Dr. Geiger vor seinem Verschwinden so intensiv befasst hat?«
»Nun, das ist ja gerade eine der Fragen, die mir Kopfzerbrechen bereiten.« Zerstreut spielte Rösch mit seinem eleganten Druckbleistift herum.
»Aber Sie haben doch gemeinsam mit Dr. Geiger verschiedene Artikel verfasst und Studien betrieben?«
»Nun, dabei ging es vor allem um die Entwicklung neuer homöopathischer Arzneimittel, insbesondere um Mittel zur Behandlung von Krebserkrankungen.« Der Arzt musterte sein Gegenüber kurz und hüstelte affektiert. »Schon mal was von den Hahnemann’schen ›Nosoden‹ gehört?«
»Bedaure. Nicht die Spur.«
»Das wundert mich nicht. Ist auch ein ziemlich abgelegenes Forschungsgebiet, um es vorsichtig auszudrücken … Vereinfachend könnte man vielleicht sagen, dass Nosoden eine Art homöopathischen Impfstoff darstellen. Wobei man das Impfen an sich ja schon beinahe als homöopathische Methode betrachten könnte.«
»Ich fürchte, jetzt kann ich Ihnen nicht mehr folgen …«
Rösch schmunzelte und kritzelte auf einem Papier herum. »Lassen Sie es mich so erklären: Bei einer Impfung werden Krankheitserreger injiziert, um eine Abwehrreaktion des Körpers hervorzurufen, ihn sozusagen zur Selbstheilung oder Antikörperbildung anzuregen. In der Schulmedizin tötet man diese Erreger ab, um sie unschädlich zu machen. Während man in der Homöopathie durch Verdünnen – genauer: Potenzieren – diese einerseits entschärft, andererseits wiederum wirksamer macht. Gewissermaßen auf einer anderen energetischen Ebene …« Er brach den Satz ab und machte eine wegwerfende Bewegung mit seiner gepflegten Hand. »Wissen Sie, das ist alles sehr komplex. Wenn Sie wollen, können Sie das in den einschlägigen homöopathischen Büchern genauer nachlesen.«
Hertz schwieg einen Moment, bevor er antwortete: »Hm. Verstehe. Und Sie haben zusammen mit Geiger nach neuen – wie heißt das gleich? Nosoden? – geforscht? Und haben Sie die gefunden?«
»Nicht wirklich, um ehrlich zu sein … Die Frage ist ja, ob eine solche Methode bei derart zerstörerischen Krankheiten überhaupt Erfolge erzielen kann. Auf jeden Fall war Simon Geiger sicher der eifrigere und erfolgreichere Forscher von uns beiden. Das sage ich jetzt ganz ohne Neid!«
So, wie Rösch diese letzten drei Worte betonte, war es Hertz sofort klar, dass das Gegenteil der Fall sein musste. Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und presste die Fingerspitzen beider Hände mit leichtem Druck gegeneinander. »Wenn Sie sagen, Geiger sei erfolgreicher als Sie gewesen, gehen Sie dann davon aus, dass er ein Mittel gegen Krebs gefunden hat? Oder kurz davor war, eines zu finden?«
»Ich weiß nicht. Das Ganze ist ziemlich mysteriös …«
»Wieso?«
»Nun … mir schien, als ob Geiger ab einem gewissen Punkt vielleicht … einer ganz anderen Sache auf der Spur war.«
»Woraus schließen Sie das?«
»Monatelang hat er sich nur noch in seine Studien vergraben, aber wenn ich ihn auf unser Forschungsprojekt ansprach, wurde er abweisend und wich mir aus.«
»Haben Sie denn gar keine Vermutungen, was Geiger auf eigene Faust erforscht haben könnte?«
Rösch seufzte. »Leider nein. Das ist ja eben das Rätselhafte daran! Wenn ich etwas Genaueres wüsste, wäre mir beträchtlich wohler. Und wenn ich wüsste, wo Geiger steckt oder was mit ihm geschehen ist … Das eben ist es, was Sie herausfinden sollten!«
Aha, dachte Hertz. Anscheinend weiß oder ahnt Rösch mehr, als er zugeben möchte. Sehr interessant. Beharrlich fragte er weiter: »Wer wusste sonst noch von Geigers Forschungen?«
»Nun … Kaum jemand, denke ich. Das heißt: vermutlich Elfriede Singer. Die steckt ja überall ihre Nase rein.« Der Blick, den er ihm dabei zuwarf, zeigte Hertz, dass Rösch sich wohl eine ähnliche Meinung über die Singer gebildet hatte wie er selbst. »Und … Vielleicht noch eine andere Frau …«
»Geigers Freundin, meinen Sie?«
»Woher wissen Sie das?« Seine Stimme klang beinahe empört. Vor Überraschung vergaß er sogar, mit seinem Druckbleistift herumzufummeln.
Hertz lächelte. »Ach, Frau Singer machte heute so eine Bemerkung.«
»Tatsächlich? Das wundert mich aber sehr! Sie hat doch immer so getan, als ob sie von alldem absolut nichts mitbekäme.«
»Eben das war es, was mir sofort auffiel.«
»Aha?!« Bekümmert untersuchte Rösch die Spitze seines geliebten Bleistifts und murmelte: »Merkwürdige Person«, als würde er mit dem Stift reden. Dann schaute er wieder Hertz an und lächelte entschuldigend. »Frau Singer, meine ich!«
Vielleicht macht er das öfter, überlegte Walter Hertz. Es gab ja auch Leute, die mit ihren Blumen redeten. Angeblich wuchsen die dann sogar besser. Und die meisten Hundebesitzer, die Hertz kannte, führten die intimsten Gespräche mit ihrem Hund. Ob der Hund dabei besser gedieh, erschien ihm allerdings fraglich. Meist übernahm er nur die Neurosen seines Herrchens. »Kennen Sie Geigers Freundin?«
Rösch schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, dass sie mit Vornamen Regina heißt.«
»Hm. Das ist ein bisschen wenig, fürchte ich.«
»Sehen Sie: Simon Geiger war ein sehr verschlossener Mensch. Ich glaube, sie war einmal seine Patientin.«
»Und seit wann hatte Geiger diese neue Beziehung?«
»Seit gut einem Jahr, würde ich schätzen.«
»Haben Sie das auch der Polizei erzählt?«
»Nein. Wieso? Das schien mir nicht wichtig.«
»Wenn es sich hier um einen Mordfall handeln sollte, könnte das aber sehr wichtig werden.«
»Sind Sie eigentlich immer so hartnäckig?«
Hertz lächelte hintergründig und erhob sich betont lässig aus dem Stuhl. »Das gehört zu meinem Beruf. Und zu Ihrem auch, wie mir scheint.«
Erleichtert reichte Rösch ihm zum Abschied die Hand. »Halten Sie mich auf dem Laufenden, ja?«
»Selbstverständlich. Diese Frau lässt sich sicher leicht ausfindig machen.«
»Aber ob uns das irgendwie weiterbringt?«
»Das wird sich zeigen.«
Auf dem Weg zur Tür gelang es Hertz, unauffällig einen Blick auf das Papier zu erhaschen, das Rösch so eifrig bekritzelt hatte. Schon wieder Pentagramme, wunderte er sich. Dann verließ er die Praxis.
Erneut zogen schwarze Wolken auf. Walter Hertz beeilte sich, die nächste Straßenbahn zu erwischen. Es war eine längere Fahrt bis zu seiner Wohnung. Er musste zweimal umsteigen. Als er schließlich vor seiner Haustür stand, fing es schon an zu dämmern. Hertz glaubte zu spüren, dass der Sommer seinen Zenit bereits überschritten hatte. Erleichtert ließ er die Tür hinter sich ins Schloss gleiten. Niemand erwartete ihn, das wusste er. Und seitdem Lilith ausgezogen war, war das nicht der erste Tag, an dem er diesen Zustand sogar genoss. Eigentlich hatte er für das Alleinleben überhaupt nichts übrig. Außerdem hielt er es für ungesund. Er schälte sich aus seinen Kleidern, die ihm nach der Wärme und Feuchte des Tages ein wenig klebrig vorkamen. Was er jetzt brauchte, war erst einmal eine kühle Dusche.
Beim Abtrocknen fühlte er es wieder: dieses schmerzhafte, körperliche Sehnen nach dem Duft, dem warmen Leib einer Frau. Achselzuckend schlang er das Handtuch um seine Hüften. Trennung auf Zeit! Das hatte er von Anfang an für eine idiotische Idee gehalten. »Was willst du damit erreichen?« hatte er sie gefragt. Aber Lilith hatte ihren Willen durchgesetzt. Und so, wie es jetzt schien, nach beinahe sieben Wochen räumlicher Distanz, war er derjenige, der sich innerlich immer weiter von ihr entfernte. Er nahm ihr übel, dass sie ihn seine körperliche Bedürftigkeit spüren ließ. Aber im Grunde musste er sich eingestehen, dass diese Trennung für ihn genau das Richtige war. Das Problem war nur, ihr das jetzt klarzumachen. Sie wollte ihn ja am Wochenende besuchen. Wohl in der Hoffnung, wieder an alte, leidenschaftlichere Gefühle anknüpfen zu können. Walter Hertz seufzte. Er hatte keine Lust mehr auf tränenreiche Gefühlsausbrüche! Die gingen ihm inzwischen reichlich auf die Nerven. Liliths launische Art war in den letzten Monaten zu einer großen Belastung geworden und hatte seine Zuneigung weitgehend schwinden lassen. Aber wahrscheinlich war diese Verbindung – zumindest von seiner Seite her, wie er sich eingestehen musste – von Anfang an zu lau gewesen, um wirklich befriedigend zu sein. Obwohl er immer noch gerne mit ihr schlief … Hertz schlenderte in die Küche und beobachtete, wie in den Fenstern der Nachbarschaft nach und nach Lichter aufflammten. »Leben viel zu viel Menschen allein in dieser verdammten Stadt!« sagte er grimmig und beschloss, sich einmal wieder etwas Gutes zum Essen zu kochen. Nur für sich alleine.
Später setzte er sich an seinen Schreibtisch und schrieb ein paar Gedächtnisprotokolle, wie er das nannte. Seltsamer Fall, dachte er. Was ihn störte, war, dass er sich von Simon Geiger bislang kein richtiges Bild machen konnte. Er zog die Fotografie hervor, die ihm Elfriede Singer heute auf seine Bitte hin gegeben hatte, und betrachtete sie nachdenklich. Die Aufnahme war ein klein wenig unscharf. Aber für seine Zwecke reichte es allemal: Geiger sah nicht nur intelligent aus, sondern auch wie ein Mann, der genau wusste, was er tat. Sein Haar war schon recht grau, beinahe weiß. Wobei es an den Schläfen dunkler war als in der Mitte. Komisch – war das nicht normalerweise umgekehrt? Irgendetwas in Geigers auffallend dunklen Augen beunruhigte Hertz. Vielleicht ging seine Phantasie mit ihm durch. Aber er glaubte eine versteckte und zugleich zielgerichtete Intensität zu spüren, die nicht ganz zu der Beschreibung des zurückhaltenden Gelehrten passen wollte, wie er sie aus dem Munde von Singer oder Rösch gehört hatte. Hertz ließ die Fotografie sinken und warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Ziemlich spät schon …! Dann fiel ihm das Buch ein, das er heute in der Stadtbibliothek ausgeliehen hatte. Es lag noch in seiner Tasche. Behutsam holte er es heraus und legte es jetzt vor sich auf den Tisch. Mit dem Finger strich er den alten Einband glatt. »Samuel Hahnemann, Organon der Heilkunst«, las er halblaut und schlug den Buchdeckel auf.
Die alte Medicin (Allöopathie), um Etwas im Allgemeinen über dieselbe zu sagen, setzt bei Behandlung der Krankheiten theils (nie vorhandne) Blut-Uebermenge (Plethora), theils Krankheits-Stoffe und Schärfen voraus, läßt daher das Lebens-Blut abzapfen und bemüht sich die eingebildete Krankheits-Materie theils auszufegen, theils anderswohin zu leiten (durch Brechmittel, Abführungen, Speichelfluß, Schweiß und Harn treibende Mittel, Ziehpflaster, Vereiterungs-Mittel, Fontanelle u. s. w.), in dem Wahne, die Krankheit dadurch schwächen und materiell austilgen zu wollen, vermehrt aber dadurch die Leiden des Kranken und entzieht so, wie auch durch ihre Schmerzmittel, dem Organism die zum Heilen unentbehrlichen Kräfte und Nahrungs-Säfte. Sie greift den Körper mit großen, oft lange und schnell wiederholten Gaben starker Arznei an, deren langdauernde, nicht selten fürchterliche Wirkungen sie nicht kennt, und die sie, wie es scheint, geflissentlich unerkennbar macht durch Zusammenmischung mehrerer solcher ungekannter Substanzen in Eine Arzneiformel, und so bringt sie durch langwierigen Gebrauch derselben neue, zum Theil unaustilgbare Arznei-Krankheiten dem kranken Körper bei.
Hertz schmunzelte, der Text begann ihm zu gefallen.
Sie verfährt auch, wo sie nur kann, um sich bei dem Kranken beliebt zu erhalten*, mit Mitteln, welche die Krankheits-Beschwerden durch Gegensatz (Contraria Contrariis) sogleich auf kurze Zeit unterdrücken und bemänteln (Palliative), aber die Anlage zu diesen Beschwerden (die Krankheit selbst) verstärkt und verschlimmert hinterlassen.
Diesen Passus las er gleich zweimal, anschließend noch die Fußnote mit dem Sternchen:
Zu gleicher Absicht erdichtet der gewandte Allöopath vor allen Dingen einen bestimmten, am liebsten griechischen Namen für das Uebel des Kranken, um diesen glauben zu machen, er kenne diese Krankheit schon lange, wie einen alten Bekannten, und sey daher am besten im Stande, sie zu heilen.
Wenn man das altertümliche Beiwerk weglässt, überlegte Hertz, steckt da viel Wahres drin. Zwar werden heute wohl kaum noch Methoden wie Aderlass oder Ziehpflaster angewendet. Aber diese Sache mit der Unterdrückung von Krankheitssymptomen und den von Hahnemann so genannten Arznei-Krankheiten leuchtete ihm sofort ein. Man musste ja nur einmal den Beipackzettel vieler Medikamente durchlesen, um zu sehen, dass die Nebenwirkungen mitunter noch schlimmer waren als die Krankheiten, die damit bekämpft werden sollten! Die Idee, dass die Mediziner eine Krankheit erfanden und ihr dann einen möglichst phantasievollen Namen verliehen, fand er besonders erheiternd. Zumal er kürzlich erst in einer Zeitung gelesen hatte, dass zum Beispiel die Liste medizinisch anerkannter psychischer Leiden jedes Jahr länger wurde … Muss ein kluger Kopf gewesen sein, dieser Samuel Hahnemann, fand Hertz. Dann wanderten seine Gedanken wieder zu Simon Geiger. Hertz gähnte und klappte das Buch zu. Morgen würde er weiterlesen. Er wollte begreifen, was es mit diesen homöopathischen Experimenten auf sich hatte.
Er stand auf und trat ans Fenster. Es gab Fälle, bei denen die Zeit für ihn arbeitete: Täter oder Komplizen wurden nervös und machten Fehler. Neue Indizien tauchten auf. Manchmal beobachtete jemand zufällig irgendetwas, das die Geschehnisse in ein völlig neues Licht rückte. So fügte sich oftmals ein Mosaiksteinchen an das andere … Bis schließlich große Teile des Bildes wieder sichtbar wurden, das vom Täter zuvor so gründlich durcheinandergewirbelt worden war. Im Fall Geiger jedoch hatte Hertz kein besonders gutes Vorgefühl: Ihn beschlich die unheimliche Empfindung, dass die Zeit hier ein seltsames Eigenleben entwickelte. Als ob sie bewusst gegen ihn arbeitete. Gedankenverloren strich er sich mit der Hand über das Gesicht, als müsste er Spinnweben abstreifen. Ach, Unsinn! dachte er. Du bist nur müde. Leg dich schlafen!
Am nächsten Vormittag ging Walter Hertz noch einmal in die Bibliothek und stöberte in homöopathischen Nachschlagewerken herum. Mit dieser Beschäftigung verbrachte er mehr als zwei Stunden. Immerhin hatte er anschließend eine relativ klare Vorstellung davon, wie solche homöopathischen Experimente, die man auch »Arzneiprüfungen« nennt, durchgeführt wurden. Er fand es beeindruckend, dass Hahnemann und seine Nachfolger ihre Arzneimittel fast alle im Selbstversuch getestet haben, um die Wirkung am eigenen Leibe zu spüren und sich auf diese Weise besser in ihre Patienten einfühlen zu können. Das sollte man heute mal von Pharmakologen oder Schulmedizinern verlangen, dachte Hertz ein wenig hämisch. Aber die nahmen ja lieber ihre netten weißen Laborratten! Dabei waren die armen Viecher hoffnungslos überzüchtet und genetisch extrem belastet – gewissermaßen die Adligen unter den Ratten. So gesehen, müsste man wenigstens ganz normale Kanalratten für die Versuche nehmen. Doch würden sich die bestimmt erfolgreicher wehren und den Herren Laboranten gleich ins Gesicht springen, um mit aller Kraft um ihr Leben zu kämpfen! Hertz konnte das den Ratten nicht verdenken. Es musste einem ja klar sein, dass ein Tier, das man ständig und beinahe ausschließlich mit Medikamenten vollstopfte – und seien diese auch so harmlos wie Aspirin – früher oder später erbärmlich eingehen würde. Und zu allem Überfluss konnte man es nicht einmal fragen, ob es dabei nun Kopfschmerzen hatte oder nicht. Idiotisch!
Selbstversuche, überlegte Hertz weiter, waren an sich gar keine schlechte Idee – wenn auch vielleicht nicht in jeder Disziplin … Es hieß ja beispielsweise immer, die meisten Chirurgen würden sich niemals freiwillig unter das Messer ihrer Kollegen begeben, nicht einmal für eine sogenannte Routineoperation … Mit der Gesundheit war es eine seltsame Sache: Wer konnte eigentlich sagen, was einen Menschen gesund oder krankmachte und was einen überhaupt am Leben hielt? Und wenn es manche Menschen schafften, sich so in eine Krankheit hineinzusteigern, dass sie sämtliche Symptome derselben produzieren konnten, dann müsste das umgekehrt doch auch funktionieren, oder …? Als Hertz sich schließlich selbst bei dieser Art von gedanklichen Rösselsprüngen ertappte, fand er, dass es Zeit war, die Bücher Bücher sein zu lassen und sich etwas Bewegung zu verschaffen. Mit knurrendem Magen konnte er ohnehin nicht richtig arbeiten.
Nach Verlassen der Bibliothek schwang Hertz sich auf sein Fahrrad, mit dem er heute unterwegs war, weil der Himmel sich deutlich freundlicher zeigte als gestern. Zuerst radelte er zu einem Laden, wo es mittags immer Suppe und Salat gab. Und natürlich Tee, den er nach dem Essen behaglich in kleinen Schlucken schlürfte. Aus dem Lautsprecher dudelte leise, etwas jazzige Musik. Hertz beobachtete einige Studenten, die hier offenbar zu den Stammgästen gehörten. Ihm fiel ein ziemlich schmaler, schwarzhaariger Bursche auf, der abseits saß und still vor sich hinbrütete – vor ihm lag ein Blatt Papier, auf das er im Abstand von wenigen Minuten anscheinend immer wieder einzelne Worte schrieb. Er wirkte irgendwie verloren, als hätte er sich in dieser fremdartigen Welt zur falschen Zeit an einen falschen Ort verirrt. Anders als die meisten Menschen mittleren Alters, beneidete Hertz die jungen Leute nicht. Der Gedanke, womöglich noch einmal dreiundzwanzig Jahre alt sein und so verlassen und bedrückt wie dieser junge Mann dasitzen zu müssen, ließ ihn schaudern … Die Idee, man solle seine Jugend genießen, hatten doch immer nur die Älteren. Diejenigen, die das Ganze mehr oder minder glücklich hinter sich gebracht haben. Natürlich hatte es auch viele Vorteile, so jung zu sein, das wollte Hertz gar nicht bestreiten. Aber das fiel einem selber oft nicht auf, man merkte es in der Regel erst hinterher. Und aus dem Munde der Alten klangen derartige Weisheiten für junge Menschen wohl eher wie Hohn. Hertz zahlte und machte sich nun zu einer längeren Radfahrt auf: Dr. Hermann Rösch hatte ihm gestern einen Schlüssel zu Geigers Wohnung gegeben, die er sich unbedingt in aller Ruhe anschauen wollte. Er wusste zwar, dass die Polizei schon alles durchsucht hatte – ebenso wie Geigers Arzthelferin, die natürlich auch einen Schlüssel besaß –, aber Hertz hatte sein eigenes System, wie er solche Aufgaben anging. Außerdem war Geigers Laboratorium, von dem schon mehrfach die Rede war, ebenfalls ein Teil der Wohnung. Das machte die Sache doppelt interessant für Hertz, der es genoss, mit großer Geschwindigkeit dahinzuradeln und den Fahrtwind auf seinem Gesicht zu spüren. Das gab ihm ein Gefühl von Freiheit, als gingen ihn viele Probleme dieser Welt gar nichts an. Und im Grunde war es ja auch so! Schließlich wurde niemand gezwungen, andauernd die gesamte Last der Weltkugel auf seinen Schultern zu balancieren.
Als er die Straße erreicht hatte, in der Geiger wohnte, schloss er sein Rad an eines der kleinen Bäumchen, die den Gehsteig säumten, und näherte sich zu Fuß einem vierstöckigen Haus mit einem schmalen Durchgang auf der linken Seite. Es gab hier ein Vorder- und ein etwas kleineres Hinterhaus. Dazwischen lag ein verwildertes, reizvolles Gärtchen, durch das Hertz jetzt auf die Tür des hellgrün verputzten Hinterhauses zuging. Geigers Wohnung lag in der obersten Etage. Hertz stieg die leise knarzende Treppe hoch und gelangte an ihrem oberen Ende in eine Art Diele, die dank des offenen Fachwerks den Charme eines alten Gutshauses verbreitete. Dabei war die Decke recht hoch, was Hertz, der sich nicht gerade zu den kleinen Menschen zählen durfte, mit Erleichterung feststellte. Er zog den altertümlichen Schlüssel aus seiner Tasche und öffnete die Wohnungstür. An der Schwelle zögerte er einen Augenblick und schnupperte. Irgendwie roch es hier nach einer anderen Zeit: nach Kindheit und Geheimnis, nach langen Winterabenden am Kamin oder nach Wiesenblumen an einem Frühlingsmorgen … Hertz wunderte sich, woher diese merkwürdig idyllischen Bilder in ihm aufstiegen. Er schüttelte sich kurz, dann tat er einen Schritt über die Eingangsschwelle und zog die Tür hinter sich zu. Ihm war, als hörte er in diesem Moment einen Hund von der Gartenseite her leise jaulen, als er aber rasch ans Fenster trat und nach ihm Ausschau hielt, konnte er das Tier nirgends entdecken.
Er zuckte die Achseln und drehte sich um, damit er seine nächste Umgebung genauer in Augenschein nehmen konnte. Alles war aufgeräumt, kaum zeigte sich irgendwo auch nur eine feine Staubschicht. Das war sicher Elfriede Singers Werk, da gab es für Hertz keinen Zweifel. Die Einrichtung der Wohnung erinnerte ihn stark an Geigers Praxis, ebenso die Dekoration – wenn man das denn so nennen wollte. Auch hier hingen zahlreiche Stiche an der Wand, wobei er sofort erkannte, dass zwei Bilder vor kurzem abgenommen worden waren, deren Umrisse sich von der restlichen Wandfarbe heller abhoben. Man konnte noch die Löcher der Nägel erkennen, an denen sie ursprünglich hingen. Neugierig fragte sich Hertz, was für Bilder das wohl gewesen sein mochten und warum man sie entfernt hatte. Im Übrigen waren allerlei kuriose Gegenstände wie in einem Ausstellungsraum auf Schränken und Tischen aufgebaut. Sogar ein Metronom entdeckte er; offenbar das Pendant zu demjenigen in Geigers Praxis. Nur hatte hier das Gehäuse an einer Stelle tiefe Kratzer, wie von einem harten Metallgegenstand. Kopfschüttelnd nahm er es in die Hand, strich über die Kratzer und hatte dann plötzlich den Impuls, es zu öffnen. Der Verschluss klemmte; Hertz hatte jedoch geschickte Finger und brachte es nach einigem Probieren auf. Er wollte nach der Mechanik sehen – aber eine Mechanik gab es nicht mehr … Stattdessen lag ein fest aufgerolltes und mit einem roten Faden verschnürtes Papier darinnen. Hertz, der nun neugierig geworden war, streifte den Faden vorsichtig ab und entrollte das Schriftstück. »Was haben wir denn da?« murmelte er verwundert. Es sah aus wie ein Gedicht:
… ein Sandkorn, das in die
Unendlichkeit
stürzt,
jeder Augenblick
unwiederbringlich verloren.
Was das wohl zu bedeuten hatte? An dem Wort »Sandkorn« blieb sein Blick länger haften und er wusste, es sollte ihn an etwas erinnern. Aber im Moment wollte es ihm einfach nicht einfallen. Die Schrift war jedenfalls mit ziemlicher Sicherheit Geigers Handschrift. Egal … Hertz legte Zettel und Faden zurück in das Gehäuse, verschloss es wieder und stellte es nachdenklich an seinen Platz.
Danach öffnete er die Türen, die vom zentral gelegenen Wohnzimmer abgingen, und schaute in die Nebenräume: Durch das Schlafzimmer – so hatte Rösch es ihm erklärt – führte der Weg ins Laboratorium, das vielleicht zwölf oder dreizehn Quadratmeter groß war und an der Stirnseite ein schmales Fenster besaß. Eine Wand war komplett durch einen großen Einbauschrank verstellt, dessen Front aus zahlreichen Türen und Schubladen, Auszügen und Klappen bestand. Vermutlich handelte es sich bei dem sorgfältig gearbeiteten Möbel um eine Spezialanfertigung. Genau in der Mitte befanden sich zwei hohe Schranktüren, in denen Schlüssel steckten. Hertz öffnete diesen Teil zuerst und stand vor einer beeindruckenden Sammlung homöopathischer Arzneifläschchen, von denen die meisten maschinell bedruckte Etiketten trugen. Einige hingegen waren von Hand beschriftet worden. Die Fläschchen waren weitgehend mit einer durchsichtigen Flüssigkeit befüllt, manche auch mit einem weißen Pulver. Ganz unten stand ein offener Holzkasten mit weiteren, leeren Fläschchen.
Walter Hertz überlegte ein Weilchen: Es wäre natürlich sinnlos, sämtliche Fläschchen mit handschriftlichen Etiketten prüfen zu wollen – zumal er keine Ahnung hatte, welche dieser Mittel wohl Nosoden sein mochten und welche nicht. Eine der besten Arten, etwas zu verstecken – immer vorausgesetzt, Geiger habe überhaupt etwas verstecken wollen – war bekanntermaßen, es möglichst offen zu präsentieren. Geiger hätte zum Beispiel für bestimmte Arzneien neue Namen erfinden können. Falls er jedoch damit rechnen musste, dass ein homöopathisch versierter Kollege wie etwa Hermann Rösch hier herumsuchen würde, wäre dies sicher nicht die beste Idee gewesen. Oder er hätte die Fläschchen einfach falsch etikettieren können. Allerdings brachte das stets die Gefahr einer zufälligen Verwechslung mit sich. Auch nicht gut … Mit dem Suchen und dem Finden war es ja immer so eine Sache – es schadete durchaus nicht, wenn man wusste, was man eigentlich finden wollte, bevor man mit der Suche begann. Wobei man nicht selten Dinge fand, die man gar nicht gesucht hatte. Hertz entschied, nach verschiedenen Elementen zu fahnden: nach Notizen Geigers, die mit seinen Experimenten im Zusammenhang standen, nach Dingen, die irgendwie auffällig waren oder nicht hierher passten, sowie umgekehrt nach Dingen, die offensichtlich fehlten. Und nicht zuletzt nach möglichen Verstecken: Was sich darin verbarg, musste von Geiger als wichtig oder verräterisch angesehen worden sein, sonst hätte er sich ja nicht die Mühe machen müssen, es überhaupt zu verbergen.
Zufrieden mit dieser Strategie, machte Hertz erst einmal sämtliche Türen, Schubladen, Auszüge und Klappen des Einbauschrankes auf. In einem Fach standen Ordner mit handschriftlichen Notizen Geigers; die blätterte er durch. Beim vierten Ordner wurde seine Geduld belohnt, denn der enthielt so etwas wie Protokolle von Arzneiprüfungen, aus denen zahlreiche Seiten herausgerissen zu sein schienen. Als er den Ordner anhob, rieselten ihm einige Fetzen der zerrissenen Papierstege entgegen. Hier war etwas entfernt worden, und zwar entweder in großer Hast oder mit einer gewissen Erregung, vielleicht auch beides zugleich. Damit – schlussfolgerte Hertz – schied die Singer aus, denn die hätte bei ihrem Putzfimmel solche Spuren nicht hinterlassen. Und die Polizei hätte gleich den ganzen Ordner mitgenommen … Blieben noch Rösch oder Geiger (wollte man nicht von einem Unbekannten ausgehen), wobei Rösch sich wahrscheinlich zumindest die Mühe gemacht hätte, die Blätter ordentlich auszuheften, dann hätte er sie später bei sich zuhause wieder abheften und damit arbeiten können. Solange es also keine Hinweise auf eine weitere Person gab, musste es wohl Geiger selbst gewesen sein, der das getan hatte. Demnach hätte Geiger etwas erforscht, in das er anderen – aus welchen Gründen auch immer – keinen Einblick gewähren wollte. Das war schon mal ein wichtiges Ergebnis und passte auch zu den fehlenden Bildern im Wohnzimmer. Kurz darauf fand Hertz noch einen Ordner, aus dem auf ähnliche Weise Seiten entfernt worden waren.
Als er die Papiere durchgesehen hatte, trat er ein paar Schritte zurück und nahm den gesamten Schrank noch einmal in Augenschein. Solche handgearbeiteten Möbel boten natürlich hervorragende Möglichkeiten für Geheimfächer, deshalb prüfte Hertz sehr genau die Abstände der Trennwände und die Fächertiefen. Im rechten unteren Drittel des Schrankes glaubte er eine kleine Unregelmäßigkeit zu erkennen und klopfte dort Boden und Seitenteile ab. Tatsächlich schien es einen Hohlraum zu geben, und er fand auch rasch den Mechanismus, mit dem sich dieser öffnen ließ. Leider war das Fach fast leer, nur ein Zettel lag darinnen. Hertz warf einen Blick darauf:
Was ist denn die Zeit? Wer kann das leicht und schnell erklären? Wer kann das auch nur in Gedanken erfassen, um es dann mit Worten zu erklären? …
Schon wieder so ein merkwürdiger Text – und dies waren nur die ersten Zeilen, es ging noch viel weiter. Nun, damit würde er sich später beschäftigen … Ein zweites Geheimfach schien es nicht zu geben. Auch gut, dachte Hertz, der sich nicht so leicht entmutigen ließ, legte den Zettel in seine Tasche, verschloss zuerst das Geheimfach, anschließend alle anderen Türen und Läden des Arzneischrankes. Dann atmete er tief durch. Schon seit einer geraumen Weile hatte ihn eine Beklommenheit erfasst, deren Ursprung er sich nicht erklären konnte. Das Durchsuchen von Schränken und Räumen gehörte ja im Grunde zu den Routinetätigkeiten eines Detektivs. Dabei ließ sich viel über die Besitzer oder Bewohner erfahren, was sonst nicht so leicht über sie herauszufinden war. Auf diese Weise tastete er sich gewissermaßen sachte in die hintersten Seelenwinkel eines Menschen hinein, in Bereiche, die meist im Verborgenen ruhten. Oder auch lauerten. Hertz war es gewohnt, dass bei diesen Aktionen zumeist wenig Erfreuliches zutage trat. Das lag in der Natur der Sache. Manchmal wurde es sogar bedrohlich, wenn Gefahr bestand, gestört oder überrascht zu werden. Einige Menschen konnten reichlich rabiat darauf reagieren, dass jemand unerbeten in ihre Privatsphäre eindrang, erst recht, wenn sie noch ein paar Leichen im Keller hatten. Angesichts solcher Bedrohungen besaß Hertz eine spezifische Kaltblütigkeit. Ansonsten repräsentierte er nicht unbedingt das, was man sich unter einem typischen ›Schnüffler‹ vorstellte: weder war er übertrieben neugierig noch penetrant oder gar unverschämt. Dafür aber hartnäckig – und zwar auf seine leise, dezente Art überaus hartnäckig. Dies hatten schon einige Menschen im Laufe seiner Tätigkeit als Detektiv feststellen müssen, die im Nachhinein sicher viel darum gegeben hätten, wenn ihnen eine solche Erfahrung erspart geblieben wäre.
Geigers Wohnung allerdings machte Hertz, je länger er sich darin aufhielt und herumsuchte, desto mehr zu schaffen. Während er seine Aufmerksamkeit den restlichen Gegenständen in Geigers Laboratorium widmete, spürte er, wie sich kleine Schweißperlen über seiner Oberlippe bildeten, die er immer wieder nervös mit der Zungenspitze wegtupfte. Ihn beschlich das Gefühl einer Bedrohung, die sich nicht greifen ließ, als ob man ihn aus einem Hinterhalt heraus unaufhörlich beobachtete. Was ist das nur?; fragte er sich. Fange ich am Ende an zu phantasieren? Hertz sah auf. Hier ließ sich nichts weiter finden, was in seine Suchkategorien zu passen schien. Schon mehrfach war sein Blick zu dem schmalen Fenster des Laboratoriums gewandert, durch das ein langsam trüber werdendes Tageslicht ins Innere des Raumes drang. Jetzt erst bemerkte er, was ihn daran von Anfang an gestört hatte: Im Grunde war es ein ganz normales Altbaufenster mit zwei Flügeln und hell gestrichenem Holzrahmen, doch war ein Teil davon – das eigentliche Fensterkreuz