ISLAM GLEICH GEWALT?

Seit dem 11. September 2001 fällt es immer schwerer, Menschen im Westen davon zu überzeugen, dass nicht alle oder zumindest nicht die meisten Muslime Terroristen sind. Obwohl das eigentlich auf der Hand liegen sollte, bei geschätzten 1,57 Milliarden Muslimen weltweit. Angesichts der grausamen islamistischen Anschläge mit zahllosen unschuldigen Opfern scheint es nahezu unmöglich, eine Lanze für den friedlichen Islam zu brechen. Trotzdem will ich zumindest den Versuch unternehmen, es zu tun. Denn ich glaube an den liebenden, barmherzigen Allah und an das positive Vorbild Mohammeds für alle Muslime. Meine Religion besteht nicht nur aus Gewalt und Angst, davon bin ich fest überzeugt. Ich selbst gehöre zu den vielen friedlichen Muslimen, von deren Existenz man immer wieder hört, die aber kaum jemand zu kennen scheint.

Die Furcht vor dem Islam und die Ablehnung seiner Gebräuche nehmen bisweilen skurrile Formen an. Sogar gute Wünsche zu einem muslimischen Feiertag können in diesen Zeiten Gemüter erhitzen. So geschehen im Jahr 2016, als ich mit einem harmlosen Facebook-Post zur Regaib-Nacht (türk. Regaib Kandil) Empörung erntete. Diese Nacht bildet den Beginn der gesegneten drei Monate und fällt traditionell auf den ersten Freitag im Monat Radschab, dem siebten Monat des muslimischen Kalenders. Gebete, die in dieser Nacht gesprochen werden, gelten als besonders verdienstvoll und segensreich, und es heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass sie erhört werden, sei um ein Vielfaches höher als an normalen Tagen. Manche meinen sogar, dass Gebete in dieser Nacht auf jeden Fall erhört werden. Einige Wochen darauf folgt zunächst die Miradsch-Nacht (türk. Miraç), in der an die Himmelfahrt des Propheten erinnert wird, dann die Berat-Nacht – die Nacht der Vergebung –, bis schließlich zwei Monate nach Regaib Kandil der Fastenmonat Ramadan beginnt. Diese drei Nächte dienen der Vorbereitung auf den Ramadan. Gläubige Muslime fasten an diesen Tagen, beten und lesen im Koran, allein oder in Gemeinschaft. Sie suchen Allahs Barmherzigkeit und unternehmen alles, um sich ihm nahe zu fühlen.

Als aktive Facebook-Nutzerin hatte ich, genau wie ich es zu Weihnachten und Ostern sowie zum jüdischen Chanukkafest tue, öffentlich gepostet und allen meinen Freundinnen und Freunden frohe Regaib Kandil gewünscht. Nach dem Vorbild Margot Käßmanns schloss ich in die guten Wünsche auch meine Feinde mit ein. Die ehemalige EKD-Ratspräsidentin hatte nach den blutigen Anschlägen von Brüssel im März 2016 dazu aufgerufen, dem Terror nicht mit Hass und Gewalt, sondern mit Gebeten und Liebe zu begegnen. Sie berief sich dabei auf Jesu Worte: »Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen.« Diese Haltung ist angesichts der Brutalität solcher Terrorakte für viele Menschen schwer nachvollziehbar. Wie auch eine Reaktion auf meinen Post zu dem muslimischen religiösen Ereignis deutlich machte. Ein »Freund« schickte mir auf Facebook wütend eine Aufstellung, wie viele Menschen 2014 und 2015 von Islamisten getötet worden waren. Dem stellte er eine Liste mit Opfern christlicher Terroristen gegenüber, deren Zahl deutlich geringer ausfiel als die der Opfer von fanatischen Muslimen.

In meinem Jurastudium habe ich gelernt, dass man Leben nicht gegeneinander aufrechnen darf. Meine Moral und meine Ethik verbieten mir das ohnehin. Ich weigere mich, von Terroristen getötete Menschen in Zahlenkolonnen einander gegenüberzustellen. Nicht um den islamistischen Terror zu verharmlosen, sondern um mich nicht auf dieselbe Stufe zu stellen und zwischen vermeintlich wertvollem und vermeintlich unwertem Leben zu unterscheiden. Beziehungsweise überhaupt Menschen nach ihrer Religion oder Herkunft zu sortieren.

Die islamistischen Attentate schaden meiner Ansicht nach ohnehin vor allem dem Islam selbst. Wir müssen unsere Religion vor diesen Fanatikern retten! Dazu gehört, dass wir modernen, liberalen Muslime uns mit noch größerer Leidenschaft als bisher bemühen sollten, dem zeitgemäßen Islam ein Gesicht zu geben. Wir sollten uns um Reformen, um Erneuerungen bemühen, und ein wichtiger Ansatzpunkt dafür ist, dass wir über die Zeitgebundenheit unserer heiligen Schriften aufklären. Genau wie die Bibel kann man den Koran nicht in allen Punkten wörtlich nehmen.

Nun gibt es aber Menschen, die der Ansicht sind, der Islam sei nicht reformierbar. Das verkünden die konservativen muslimischen Verbände in Deutschland, aber auch viele Islamkritiker, beide Seiten mit der Begründung, der Koran sei das Wort Gottes, und das könne man nicht verändern. Islamhasser argumentieren sogar, der sogenannte Islamische Staat tue genau das, was Mohammed auch tun würde, nämlich die Ungläubigen bekämpfen und die gesamte Welt islamisieren. Die Terroristen legitimierten ihr Tun schließlich mit Zitaten aus dem Koran und den Hadithen, den Überlieferungen der Aussprüche und Taten Mohammeds und seiner Zeitgenossen. Ja, das stimmt, das machen die Islamisten. Insofern ist die oft gehörte Entschuldigung »Das hat alles nichts mit dem Islam zu tun« falsch. Natürlich hat es etwas mit dem Islam zu tun, wenn Muslime aus vermeintlich religiösen Gründen Bluttaten begehen und die ganze Welt missionieren wollen. Es trifft aber selbstverständlich nicht zu, dass diese mörderischen Taten mit dem Glauben an die allumfassende Barmherzigkeit Allahs vereinbar sind, den die große Mehrheit der Muslime praktiziert. Nirgendwo steht geschrieben, dass wir Muslime aufgerufen sind, uns zu jeder Zeit zu bewaffnen und Ungläubige zu töten oder zum Islam zu bekehren. Im Gegenteil, die Islamisten ignorieren vollkommen, dass Gläubige keinen Zwang ausüben sollen, wie es zu Beginn von Sure 2, Vers 256 heißt: »In der Religion gibt es keinen Zwang (d. h. man kann niemanden zum (rechten) Glauben zwingen).« (Paret)1 Die meisten Muslime kennen diesen Vers und leben friedlich danach.

Wenn wir liberalen, weltoffenen Muslime dem sogenannten Islamischen Staat, al-Qaida, den Taliban, Boko Haram, der Hamas und wie sie alle heißen nichts entgegensetzen, wenn wir ihnen unsere Religion überlassen, dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn sie immer weiter Hass und Gewalt säen. Dasselbe gilt für unsere Haltung gegenüber fundamentalistischen, konservativ-islamischen Staaten wie Iran, Katar, Saudi-Arabien und inzwischen teilweise sogar der Türkei. Auch diesen unterdrückerischen Regimen müssen wir Einhalt gebieten oder es im Rahmen unserer Möglichkeiten zumindest versuchen. Denn Menschen sind nicht nur für das verantwortlich, was sie tun, sondern auch für das, was sie unterlassen. Der Begriff »unterlassene Hilfeleistung« ist zwar eine juristische Kategorie und hier sicher nur im übertragenen Sinne anwendbar. Er macht jedoch deutlich, dass sich jeder Muslim und jede Muslimin die folgende Frage gefallen lassen muss: Was tust du dagegen, dass deine Religion derart missbraucht und diskreditiert wird?

Ein erster Schritt gegen die verbreitete Ohnmacht im Angesicht dieser historischen Herausforderung könnte sein, dass wir uns auf die friedlichen Grundlagen unserer Religion besinnen und einen Islam praktizieren, der sich gegenüber jedem Leben demütig zeigt. Allein und in der Gemeinschaft von Gleichgesinnten, so wie es all diejenigen tun, die die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee mit mir gegründet haben.

Den Terroristen mit Liebe zu begegnen, so wie Margot Käßmann es zumindest auf spiritueller Ebene gefordert hat, ist eine Art des Umgangs mit Feinden, die dem Islam nicht fremd ist. Auch wenn das Thema Nächstenliebe bei Mohammed nicht so offensichtlich im Vordergrund stand wie bei Jesus, gibt es im Koran durchaus Stellen, die sich mit dem Gebot der Feindesliebe im Christentum vergleichen lassen. So heißt es in Sure 41, Vers 34–35:

»Nicht gleich sind die gute und die schlechte Tat. Wehre ab mit einer Tat, die besser ist, da wird der, zwischen dem und dir eine Feindschaft besteht, so, als wäre er ein warmherziger Freund. Aber dies wird nur denen verliehen, die geduldig sind, ja, es wird nur dem verliehen, der ein gewaltiges Glück hat.« (Khoury)

Und mein Vater pflegte zu sagen: »Wenn jemand schlecht zu dir ist und dir Böses tut, dann beschäme ihn mit deiner Güte, tue etwas Gutes für diesen Menschen. Bleibe gut, was auch immer geschieht.« Ich wusste oder spürte vielmehr, dass es einen religiösen Hintergrund hatte, wenn er so etwas sagte und mehrheitlich danach handelte. Wie die allermeisten Muslime war er aber nicht koranfest und konnte mir seine Überzeugungen nicht im Detail mit Belegen aus den Schriften erklären. Er sagte meist nur: »Das entspricht unserer Religion und unserem Glauben.«

Die Liebe zu Gott und meinen Mitmenschen steht auch für mich im Zentrum unserer Religion und gibt mir unendlich viel Kraft. Gleichwohl bin ich der Ansicht, dass diese selbstlose Form der Nächstenliebe dort Grenzen haben muss, wo wir es mit Terror zu tun haben, sei er politisch oder religiös motiviert. Als Muslimin kann ich den bewaffneten Widerstand gegen den IS gut verstehen, obwohl ich eigentlich Pazifistin bin. Leider ist es wohl unvermeidlich, Krieg gegen Terroristen zu führen, die so viele unschuldige Menschen mit in den Tod reißen. Noch dazu mit der wahnwitzigen Vorstellung, dass zumindest die Männer dafür von Allah mit 72 Jungfrauen belohnt werden. Jungfrauen, die sich immer wieder erneuern und weder menstruieren noch schwanger werden können. Was sagen eigentlich aufgeklärte Gläubige dazu, wenn Fanatiker jungen Menschen solch abstruse Männerphantasien derart glaubhaft vermitteln, dass die sich einen Sprengstoffgürtel umbinden und sich in einer Menge angeblich Ungläubiger in die Luft sprengen? Natürlich lehnen alle Menschen in meiner näheren Umgebung diese Form der Glaubensvermittlung ab. Dennoch erlebe ich erschreckend oft, dass sogar aufgeklärte Männer den Gedanken reizvoll finden, eventuell könnten wirklich 72 Jungfrauen im Paradies auf sie warten, wenn sie auf Erden gute Muslime waren.

Anmerkung zum Kapitel

1 Der in Klammern gesetzte Name hinter Zitaten aus dem Koran bezieht sich auf die jeweils verwendete Übersetzung (genaue Angaben siehe Literaturverzeichnis).