Wir dürfen das öffentliche Bild des Islam nicht länger den konservativen islamischen Verbänden überlassen, die hierzulande in allen erdenklichen Gremien sitzen und bestimmen, was im Namen unser aller Religion propagiert und gelehrt wird. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung wäre, dass Islamkundelehrer in Deutschland ausgebildet werden, statt wie bisher mehrheitlich in der Türkei. Ein Hoffnungsschimmer: Seit einigen Jahren entstehen an vielen Universitäten in der Bundesrepublik Lehrstühle und Institute für islamische Theologie. Erklärtes Ziel ist es – europäischen akademischen Standards entsprechend –, demokratisch gesinnte Lehrerinnen und Lehrer für islamischen Religionsunterricht an staatlichen Schulen auszubilden. Bisher hatte die Ditib, der Dachverband der türkisch-islamischen Moscheegemeinden und Ableger der staatlichen türkischen Religionsbehörde Diyanet, jahrzehntelang vom türkischen Staat bezahlte Imame hierhergeholt, die kein Wort Deutsch sprachen und die deutsche Kultur weder kannten noch schätzten. Da muss man sich nicht wundern, wenn mit den etablierten Verbänden und Moscheegemeinden ein aufgeklärtes Islamverständnis nicht zu haben ist.
Viele traditionelle muslimische Theologen bestreiten wie gesagt, dass der Islam reformierbar, sprich veränderbar ist. Doch glücklicherweise fürchten nicht alle gläubigen Muslime den Untergang ihrer Religion, sobald die Schriften zeitgemäß interpretiert werden. Im Gegenteil, überall auf der Welt gibt es Menschen muslimischen Glaubens, die es nicht in quälende Gewissenskonflikte stürzt, wenn sie christliche oder jüdische Freunde oder gar Ehepartner haben; für die eine Begrüßung per Handschlag nicht gleichbedeutend ist mit Fremdgehen; die kein Kopftuch tragen und unbedeckte Haare nicht als nackt empfinden; die Alkohol trinken und sich dennoch zu Allah bekennen; die fünfmal am Tag beten, die fasten, Almosen geben und die Pilgerfahrt nach Mekka gemacht haben. All diesen Muslimen ist gemeinsam, dass sie neben ihrem unverrückbaren Glauben an Allah und den Propheten keinen Zwang in der Religion kennen und den Islam auch nicht zu politischen oder anderen Zwecken missbrauchen.
Für uns aufgeklärte Muslime ist der Islam selbstverständlich auch mit der Demokratie vereinbar. Das eine ist die Religion, das andere ein politisches System. So wie Christen, Juden, Buddhisten oder Hindus in einem demokratischen System leben können, so können das auch Muslime. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass sie die Trennung von Staat und Religion anerkennen, wie sie in allen westeuropäischen Ländern (mehr oder weniger konsequent) vollzogen ist. In Demokratien ist kein Platz für die Scharia mit ihren gesetzlichen Regelungen, die von Konservativen als Richtschnur allen privaten und gesellschaftlichen Handelns betrachtet werden. Menschen, die den Koran, eine Schrift aus dem 7. Jahrhundert, als noch heute Wort für Wort verbindliches Gesetz ansehen. Für viele Fundamentalisten ist die Theokratie folglich die einzig legitime Staatsform. Für friedliebende Muslime wie Nicht-Muslime eine Horrorvision – siehe die Gräueltaten des sogenannten Islamischen Staates.
Wenn wir für die Befreiung unserer Religion kämpfen, wollen wir keineswegs den Islam christianisieren und entsprechend institutionalisieren. Nein, es geht darum, die Suren und Hadithe in unsere Zeit zu übersetzen, ohne den Kern unserer Religion zu verändern. Wir fragen uns: Was wollte Allah mit den einzelnen Suren zum Ausdruck bringen? Wie sind die Hadithe zu verstehen? Was würde Mohammed heute sagen?
»Bismillahirrahmanirrahim« – Im Namen Gottes des Erbarmers, des Barmherzigen: So beginnt der Koran, so beginnen fast alle Suren, und damit ist die herausragende Eigenschaft Allahs benannt, seine Barmherzigkeit. Das ist der Kern unserer Religion, darauf wollen wir uns konzentrieren.
Der persische Dichter, Gelehrte und Sufi-Mystiker Mevlana (1207–1273) hat uns Muslimen sieben Ratschläge erteilt, die in Moscheen ebenfalls sehr viel mehr gelehrt werden sollten:
»Sei großzügig und hilfsbereit wie ein Fluss.
Sei mitleidig und barmherzig wie die Sonne.
Sei wie die Nacht beim Bedecken der Fehler anderer.
Sei wie ein Toter bei Wut und Erregung.
Sei bescheiden und schlicht wie die Erde.
Sei wie das Meer vergebend und nachsichtig.
Entweder zeig dich, wie du bist, oder sei so,
wie du dich zeigst.«
Auch hier wird deutlich, dass der Islam sehr wohl das Gute, das Nachsichtige, das Ehrliche in uns anspricht. Vor allem aber die Liebe zu Gott und den Menschen.
Leider können wir nicht darauf hoffen, dass die Gewalt, die von Fundamentalisten ausgeht, von allein aufhören wird. Stattdessen müssen wir mit offenen, kritischen Debatten die Spreu vom Weizen trennen, also diejenigen bekämpfen, die Feindseligkeit predigen, und die anderen, die sich für Liebe und Vielfalt einsetzen, unterstützen. Wir brauchen keine Religionskriege à la IS. Ebenso wenig brauchen wir allerdings pauschale Kritik am Islam, die alle gläubigen Muslime über einen Kamm schert und ihre Ausgrenzung vorantreibt. Was wir brauchen, ist eine konstruktive Auseinandersetzung mit unseren Glaubensinhalten. Dafür müssen wir den Koran und die Hadithe kennen. Unter anderem zu diesem Zweck haben wir die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee gegründet: Wir wollen den friedlichen Islam an dem Ort leben und weiterentwickeln, an dem es nur um die Verbindung zwischen Allah und dem Ich geht, in der Moschee.