cover image

Über dieses E-Book

Zu Füßen des Goethe-Denkmals in Berlin wird die brutal zugerichtete Leiche einer jungen Frau gefunden. Auf ihrem Rücken wurden düstere Verse eingeritzt, die von der Erlösung durch den Kuss der Muse erzählen. Josef Winter, leitender Ermittler der Mordkommission, ist angesichts der Zeilen, die sich keinem bekannten Dichter zuordnen lassen, ratlos. Als nur zwei Tage später eine weitere Leiche gefunden wird, wächst der Druck auf Josef und sein Team. Auch den Körper des zweiten Opfers zieren grausige Reime, die noch dazu unmittelbar an die vorherigen anknüpfen. Winter fürchtet, dass der Täter sich nicht mit zwei Strophen zufriedengibt, und setzt alles daran, einen weiteren Mord zu verhindern. Zeitgleich wird die Literaturprofessorin Rika Hohenstedt durch einen Zeitungsartikel auf die Mordserie aufmerksam. Die reißerischen Schilderungen über den von der Klatschpresse als „Goethe-Killer“ betitelten Täter wecken in ihr Erinnerungen … Ist ihr der Serienmörder näher als sie denkt?

Impressum

dp Verlag

Erstausgabe September 2021

Copyright © 2021 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH
Made in Stuttgart with ♥
Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96817-578-2
Taschenbuch-ISBN: 978-3-96817-921-6
Hörbuch-ISBN: 978-3-96817-829-5

Covergestaltung: Vivien Summer
unter Verwendung von Motiven von
shutterstock.com: © nuttanun9159, © sathaporn, © Nik Merkulov
Lektorat: Lektorat Reim

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Unser gesamtes Verlagsprogramm findest du hier

Website

Folge uns, um immer als Erste:r informiert zu sein

Newsletter

Facebook

Instagram

Twitter

YouTube

dp Verlag

Prolog

An einem Ort ohne Zeit

Die Neonröhren über dem Obduktionstisch flackerten hektisch. Ihr zitterndes Licht zauberte gespenstische Schatten auf das Gesicht der jungen Frau, die reglos auf der metallenen Oberfläche lag. Einen Augenblick lang fühlte er sich wie ein Rechtsmediziner, der im Begriff war, eine Leiche zu sezieren. Dann zerstörte das leise Röcheln, das aus der Kehle seines mit Gurten fixierten Opfers drang, diese erheiternde Vorstellung.

„Nein, nein, nein“, sagte er enttäuscht, als er sah, dass die Lider der Frau flatterten und ihr Bewusstsein erneut in sich zusammenfiel. In einer beinahe liebevollen Geste tätschelte er ihre Wange. „Aufwachen. Ich brauche dich und deine Emotionen. Lass mich in deinen Augen lesen, was du fühlst. Das ist das Mindeste, was du für mich tun kannst, nachdem du hier so eine schreckliche Sauerei veranstaltet hast.“

Er nahm einen Wattebausch und drückte ihn auf die Wunde oberhalb ihrer linken Brust. Mit kindlicher Faszination beobachtete er, wie ihr hellrotes Blut den Tupfer binnen weniger Sekunden aufquellen ließ.

Die Frau gab einen gequälten, heiseren Laut von sich. Sie hatte bereits vor zwei Tagen zu schreien aufgehört.

Das Weinen und Strampeln hingegen hatte sie nicht eingestellt. Nicht dauerhaft jedenfalls.

„Das wird jetzt ein bisschen brennen, Lydia“, warnte er sie vor und spülte die Wunde mit Desinfektionsmittel aus.

Lydia.

Er mochte den unschuldigen Klang ihres Namens. Wann immer er ihn aussprach, wurde ihm ganz warm ums Herz. Dann sah er das wunderschöne Lächeln der Frau wieder vor sich, die nun wimmernd und blutverschmiert auf dem kalten Metalltisch lag und nicht mehr den Hauch jener Eleganz besaß, die vor wenigen Wochen seine Aufmerksamkeit erregt hatte.

Nachdenklich betrachtete er die feinen Probeschnitte, die er in Lydias Körper geritzt hatte und die sich zu seinem Leidwesen wieder und wieder mit ihrem Lebenssaft füllten.

Er würde weniger tief schneiden müssen, wenn er die Wirkung seines Werkes nicht durch zu viel Blut beeinträchtigen wollte.

„Auf ein Neues“, sagte er feierlich, griff nach dem Skalpell auf dem Beistelltisch und beugte sich über die schluchzende Frau.

„Hm. Wo setzen wir den nächsten Schnitt, Lydia? Was meinst du? Ich glaube, für das große Finale möchte ich deinen Rücken haben. Aber vorher muss ich mich noch ein bisschen austoben.“

Noch bevor das Seziermesser ihre Haut berührte, bäumte sie sich unter ihren Fesseln auf. Verärgert schüttelte er den Kopf. War es denn zu viel verlangt, dass sie ihm zumindest ein kleines bisschen entgegenkam? Dass sie endlich zu heulen aufhörte und verdammt nochmal ein paar Sekunden lang stillhielt, wenn er sich mit dem Skalpell an ihrer wunderschönen Haut zu schaffen machte?

Es wäre ein Leichtes gewesen, sie bereits nach den ersten Stunden in seiner Gewalt dem Kuss des Todes auszusetzen, der ihre Lippen am Ende der Nacht ohnehin verschließen würde. Doch dann wären seine Worte genau das, was sie immer schon gewesen waren: leer. Unwahr. Gewöhnlich.

Er musste sich in Geduld üben. Den Prozess des Sterbens langsam einleiten, so wie er es während der letzten Tage getan hatte. Lydia zuerst die Nahrung, dann das Wasser entziehen. Ihren Körper von innen verfallen lassen und ihn dann auch von außen für den Exitus aufbereiten.

Denn genau dieser Balanceakt auf dem immer schmaler werdenden Seil ihres Lebens war es, der jedem einzelnen Buchstaben Bedeutung verlieh. Der seine Inspiration ihren Höhepunkt erreichen ließ.

Er setzte die Klinge erneut an, doch Lydias Kampfgeist schien wiedererwacht. Wie von Sinnen warf sie ihren ausgemergelten Körper auf dem kalten Metall hin und her.

„So wird das nichts.“ Resigniert ließ er das Skalpell sinken. Kurz sah er so etwas wie Hoffnung in Lydias geröteten Augen aufflammen. Dann öffnete er ihr in einer blitzschnellen Bewegung die Pulsadern des linken Armes. Gerade so weit, dass das Leben langsam und kontrolliert aus ihr heraussickern konnte.

Er drehte sich um, nahm Stift und Papier zur Hand und starrte Lydia in das schreckensverzerrte Gesicht.

„Keine Sorge, meine Schöne“, sagte er leise. „Du wirst ganz langsam verbluten und noch ausreichend Zeit haben, dich von dieser Welt zu verabschieden.“ Er streichelte ihr sanft über das goldene Haar. „Dein Körper wird meiner Kunst auch dann noch dienen, wenn dein Herz schon längst nicht mehr schlägt.“

Kapitel 1

Samstag, 21. September, 22:45 Uhr

Josef Winter war kein Mann der großen Worte.

Vor allem dann nicht, wenn er nach zwölf Stunden auf dem Revier seinen wohlverdienten Feierabend genießen wollte. Den Mann, der am anderen Ende der Leitung ohne Punkt und Komma auf ihn einredete, schien das nicht im Geringsten zu interessieren.

„Wie gesagt, leider sind die Peperoni aus“, plapperte der Angestellte des PizzaPane fröhlich weiter, nachdem er seinen Monolog über die neue Auswahl an Dips beendet und zur ursprünglichen Thematik zurückgefunden hatte. „Das ist uns noch nie passiert! Ist doch verrückt. Als würden die Leute neuerdings auf scharfes Essen stehen. Wer weiß? Vielleicht ist das jetzt ein Trend. Kann ja sein – kennen Sie diese durchgeknallten Videos, in denen die Kids von heute Schärfe-Wettessen veranstalten? Möglich wär’s doch, dass wir so einer Truppe heute zum Opfer gefallen sind.“

Josef massierte sich die Nasenwurzel. Er hatte sich online eine Pizza bestellt – mit Peperoni als Extrabelag – und war nur wenige Minuten später von einem Mitarbeiter des Lieferdienstes zurückgerufen worden. Zu seinem großen Verdruss von einem überaus engagierten und kommunikativen Mitarbeiter.

„Mhm. Vielleicht“, brummte er lakonisch in sein Handy.

„Alternativ kann ich Ihnen jedenfalls die Tabasco-Sauce empfehlen. Bringt das nötige Feuer auf Ihre Pizza.“

„Nein, danke. Ich esse sie als normale Margherita.“

„Sicher? Kann ich Ihnen sonst noch etwas Gutes tun? Käse im Rand vielleicht? Oder ein kleines Dessert?“

„Nein.“ Josef wertete die Redseligkeit des jungen Mannes als Strafe für seine zunehmend ungesunde Ernährung. Während der letzten Wochen war er kaum zu Hause gewesen und hatte weder die Zeit noch die Lust gehabt, nach Dienstschluss für sich zu kochen. Hin und wieder malte er sich aus, was wohl seine Exfrau zu seinem übermäßigen Fast-Food-Konsum sagen würde. Als Sportfanatikerin durch und durch hatte Sandra schon damals die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, wenn er den Tag mit nichts als einem Kaffee und einer Zigarette begonnen und abends seine erste warme Mahlzeit gegessen hatte.

Immerhin das Rauchen hatte er aufgegeben. Vorübergehend jedenfalls.

„Kommen Sie, man muss sich auch mal etwas gönnen. Meine Mutter sagt immer: Leb dein Leben als gäb’s kein Morgen. Wenn Sie mich fragen, ist das –“

„Danke, ich möchte bitte einfach nur eine Margherita haben. Ziehen Sie den Betrag für die Peperoni von der Rechnung ab. Einen schönen Abend noch.“

Josef beendete das Gespräch, seufzte tief und stand von seinem Sofa auf. Der Fall, der sein Team und ihn beinahe den halben September über in Atem gehalten hatte, steckte ihm noch immer in den Knochen. Ein grausamer Doppelmord an einem Ehepaar, über dessen Motive lange Unklarheit geherrscht hatte, war erst vor wenigen Tagen aufgeklärt worden. Während zunächst die Familien der Opfer in den engen Kreis möglicher Verdächtiger gerückt waren, hatte sich am Ende herausgestellt, dass ein Jahrzehnte in der Vergangenheit liegendes Ereignis der Auslöser für die Bluttat gewesen war. Eine verschmähte Schulfreundin des Ehemannes hatte ihre Gewaltfantasien wahrgemacht und verspätete Rache geübt. Die Sinnlosigkeit dieses Verbrechens erschütterte Josef nach wie vor.

Gähnend schlurfte er ins Badezimmer seiner Anderthalbzimmerwohnung, in die er nach der Scheidung von Sandra gezogen war und die ursprünglich nur eine Notlösung hatte darstellen sollen. Während seine Exfrau und die zwei gemeinsamen Töchter im gemeinsamen Haus geblieben waren, hatte Josef sich die überraschend günstige Immobilie in Friedrichshain gemietet. Von dort aus hatte er – mit dem gebotenen Abstand – alles Weitere regeln und den Verkauf des Hauses in die Wege leiten wollen, um dessen Erlös unter ihnen aufzuteilen. Daraus jedoch war bis heute, zwei Jahre später, nichts geworden. Josef fühlte sich wohl auf seinen 35 Quadratmetern und brachte es nicht übers Herz, Amelie und Vanessa aus ihrer gewohnten Umgebung zu reißen.

Wenn die 5-Jährige und die 7-Jährige bei ihm übernachteten, was selten genug vorkam, schlief er auf dem Sofa und überließ den Mädchen sein Schlafzimmer. Meist besuchte er sie zu Hause und nutzte hin und wieder sogar das Gästezimmer, das Sandra ihm anstandslos zur Verfügung stellte.

Josef schüttelte die Gedanken an seine Exfrau ab, die sich mit Vorlieb zu später Stunde einstellten, und öffnete den Spiegelschrank über dem Waschbecken. Er angelte sich eine Ibuprofen aus der fast leeren Verpackung, steckte sie sich in den Mund und spülte sie mit einem Schluck aus dem Wasserhahn hinunter. Als er sich wieder aufrichtete, streifte sein Blick sein Spiegelbild.

Josef sah älter aus als 41, das wusste er. Die mittlerweile über zwanzig Jahre bei der Polizei, drei davon als leitender Ermittler der Mordkommission, hatten ihre Spuren hinterlassen. Sein Gesicht war gezeichnet von zu vielen schlaflosen Nächten, der Blick immer ein wenig zu ernst.

An den Schläfen war sein Haar bereits sichtbar ergraut und insbesondere um die Mundwinkel herum hatten sich tiefe Falten in seine Haut gegraben. Seine verhältnismäßig schlanke Statur verdankte er einzig dem Stress.

Der jäh einsetzende Klingelton seines Handys ließ Josef zusammenfahren.

Wenn das wieder dieser Pizza-Heini ist, reißt mir der Geduldsfaden. Dann fiel ihm auf, dass es sein Diensthandy war, das klingelte. Fluchend eilte Josef zurück ins Wohnzimmer und sah mit einem Blick aufs Display seine Befürchtung bestätigt: Die angezeigte Nummer gehörte zur Einsatzzentrale der Direktion.

„Winter?“, meldete er sich barsch.

„Herr Winter, uns wurde ein Leichenfund am Goethe-Denkmal gemeldet. Den Beschreibungen des Zeugen nach zu urteilen ein Mord. Die Kollegen am Tatort haben diese Einschätzung soeben bestätigt. Die Spurensicherung ist schon informiert und dürfte in Kürze eintreffen.“

Josef klemmte sich das Handy zwischen Ohr und Schulter, schnappte sich Jacke und Autoschlüssel und zog die Tür hinter sich ins Schloss.

„Bin schon auf dem Weg.“

Kapitel 2

Samstag, 21. September, 23:17 Uhr

Manchmal kam sich Rika Hohenstedt im pulsierenden Herzen Berlins wie ein Fremdkörper vor.

Dann fragte sie sich, wie sie von der norddeutschen Provinz ausgerechnet in eine Metropole hatte ziehen können, die so bunt, laut und aufregend war wie die Landeshauptstadt.

Dabei war die Antwort simpel: Sie hatte vor acht Jahren, kurz nach ihrem 30. Geburtstag, eine Juniorprofessur für die Fächer Literaturwissenschaft und Soziologie an der Humboldt-Universität ergattert. Als sie sich ein Jahr später in den Dekan verliebt und ihn ein weiteres Jahr später geheiratet hatte, war an eine Rückkehr in den Norden nicht mehr zu denken gewesen.

Rika und Oliver Hohenstedt wohnten in einer schicken Altbauwohnung im Bezirk Mitte, besuchten in ihrer Freizeit Theater und Museen und luden sonntags zum Kaffeetrinken ein.

Das entschleunigte Leben, das sie mit ihrem sechs Jahre älteren Ehemann führte, gab ihr das Gefühl, sich in einer sicheren Blase zu befinden. Jenseits des teuren Porzellangeschirrs und der Weinverkostungen unter aufwändigen Stuckdecken aber wartete mehr auf Rika – etwas, das zu Staub zerfiel, wann immer sie sich nahe genug heranwagte.

Auch heute war ihr Versuch der Assimilation an das Klima ihrer Wahlheimat fehlgeschlagen. Sie hatte sich mit zwei Kolleginnen in einem Pub verabredet und sich sogar richtig auf den Abend außerhalb ihrer Komfortzone gefreut. Live-Musik, Bier und lockere Gespräche – all das hatte Rika vorgeschwebt, als sie die Wohnung am frühen Abend verließ.

Kaum hatte sie das stickige Lokal betreten, in dem sich die Gäste dicht an dicht drängten und sie ihr eigenes Wort nicht mehr verstand, war ihre Euphorie jedoch schon wieder verflogen. Jetzt, drei Stunden später, saß sie stocksteif auf einem Hocker an der Bar und wünschte sich, ganz einfach zu Hause geblieben zu sein.

„Unfassbar, wie die Zeit rennt, oder?“, rief Darya neben ihr über den eher mittelmäßigen Gesang des Musikers und die Lachsalven einer Männergruppe hinweg. Die gebürtige Russin sah sie an, als erwarte sie eine Antwort auf diese rhetorisch klingende Frage. Offenbar hatte Rika einen wesentlichen Teil der vorangegangenen Unterhaltung versäumt.

„Da hast du absolut recht. Nur noch zwei Wochen, bis der Wahnsinn wieder beginnt. Ich fühle mich noch gar nicht bereit für das nächste Semester“, kam Martina, die Dritte im Bunde, ihr mit einer Antwort zuvor.

Rika konnte sich den Meinungen ihrer Kolleginnen nicht anschließen. Sie begrüßte das nahende Ende der vorlesungsfreien Zeit, die sie neben den Korrekturen von Hausarbeiten und Klausuren auch für das Verfassen eigener wissenschaftlicher Abhandlungen genutzt hatte. Sie arbeitete gern theoretisch, fand jedoch wesentlich mehr Freude am Unterrichten.

„Ich glaube, ich werde mich langsam auf den Weg machen“, sagte sie unbehaglich und erntete empörte Blicke.

„Schon? Hast du mal auf die Uhr gesehen? Ich dachte, wir wollten noch weiterziehen.“ Darya schob die Unterlippe vor, wie immer, wenn sie ihr Bedauern zum Ausdruck bringen wollte.

„Ehrlich gesagt habe ich ein bisschen Kopfschmerzen und bin auch sonst ziemlich kaputt“, erwiderte Rika und kam sich dabei vor wie die größte Spaßbremse in ganz Berlin.

Vermutlich bin ich genau das. Rika Hohenstedt, hauptberuflich Langweilerin. Eine 80-Jährige, gefangen im Körper einer 38-Jährigen.

Darya und Martina waren jeweils nur zwei und drei Jahre jünger als Rika, und doch schienen Welten zwischen ihnen zu liegen. Beide Frauen besaßen eine erfrischend unverkrampfte Art, nahmen sich selbst und das Leben nicht zu ernst und unterschieden sich in ihrer naiven Sorglosigkeit grundsätzlich kaum von ihren Studenten. Rika hingegen war, wenn sie es sich recht überlegte, nie wirklich unbeschwert gewesen. Es hatte immer irgendetwas gegeben – eine Sorge, eine Befürchtung oder eine komplizierte Fragestellung – das ihr durch den Kopf kreiste. Dass die Kolleginnen sie trotz der markanten Unterschiede zwischen ihnen mochten, konnte Rika sich selbst nicht so recht erklären.

„Reisende soll man nicht aufhalten“, räumte Martina ein, klopfte Rika mit der einen Hand auf die Schulter und schnappte sich mit der anderen ihr noch halbvolles Glas. „Vor allem dann nicht, wenn sie so nett sind, ihren Freundinnen ein Getränk dazulassen.“

Rika erwiderte das Lächeln ihrer Kolleginnen und umarmte beide zum Abschied. Als sie aus dem Pub hinaus in die erfrischende September-Kälte trat, lockerten sich ihre verspannten Muskeln merklich.

Ursprünglich hatte sie ein Taxi nehmen wollen, doch ein Spaziergang erschien ihr nun, da sie während der letzten Stunden nichts als verbrauchte Luft geatmet hatte, durchaus verlockend. Sie würde durch den Tiergarten gehen; dieselbe Strecke, die sie bei Tag gern zum Joggen nutzte. Vorbei an dem beeindruckenden Denkmal zu Ehren Goethes, das auf sie als Liebhaberin seiner Schriften eine ganz besondere Faszination ausübte.

Die Hände tief in den Taschen ihres Mantels vergraben, überquerte sie die Hauptstraße und betrat nach einem Fußmarsch von nur wenigen Minuten die Parkanlage.

Zu so später Stunde war Rika noch nie hier gewesen.

Sie fand, dass es etwas Düster-Romantisches an sich hatte, das Herbstgold der Natur einmal im Mondschein zu bewundern.

Nach nur wenigen Schritten war sie umgeben von dem beruhigenden Geräusch der im Wind raschelnden Blätter, das bei Nacht eine ganz eigene Wirkung entfaltete.

Ich sollte öfter mal einen Mitternachtsspaziergang unternehmen, dachte sie und lächelte in sich hinein.

Vielleicht würde sie ja Oliver überreden können, sie zu begleiten. Immerhin hatte er sich ihr zuliebe sogar einmal zu einer gemeinsamen Jogging-Einheit aufgerafft.

Sie hatte sich schon immer gewünscht, ein Hobby mit ihm zu teilen, das zumindest ein kleines bisschen verrückt war.

Die Stadt bei Nacht zu erkunden, kam dem ziemlich nahe, wie sie fand.

Darya und Martina jedenfalls würden Augen machen, wenn sie plötzlich auch etwas Aufregendes zu erzählen hätte.

Schon oft hatte sie sich gewünscht, die Freundinnen würden ihr mit der gleichen Begeisterung zuhören, wie sie es tat, wenn sie den Großstadtabenteuern der Lebefrauen lauschte.

„Träumen wird man ja noch dürfen“, murmelte sie zynisch und beschleunigte ihren Gang ein wenig.

Es dauerte nicht lange, bis das Goethe-Denkmal in ihrem Sichtfeld auftauchte. Rika hatte eigentlich vorgehabt, ein paar Minuten zu Füßen des großen Dichters zu verweilen, doch merkte sie schon von Weitem, dass irgendetwas nicht stimmte.

Als sie näher kam, konnte sie rund um das Denkmal ein riesiges Polizeiaufgebot ausmachen. Ein weißes Zelt, das Rika aus Dokumentationen und Fernseh-Krimis kannte, war zur Rechten der Statue aufgebaut worden.

Das kann nichts Gutes bedeuten, dachte sie mit klopfendem Herzen. Allem Anschein nach hatte sich nur wenige hundert Meter von ihr entfernt ein schweres Verbrechen ereignet.

Auf einmal kam es ihr ganz und gar nicht mehr romantisch, sondern ungeheuer leichtsinnig vor, um diese Uhrzeit ohne Begleitung durch den Tiergarten zu laufen.

Kaum war ihr diese Erkenntnis gekommen, stieg Rika plötzlich der penetrante Geruch nach Alkohol in die Nase.

Im selben Moment, da sie den Kopf auf der Suche nach dem Quell des Gestanks nach links wandte, sah sie aus dem Augenwinkel eine Gestalt aus dem Gebüsch springen und davonlaufen.

Rikas Herz setzte einen Schlag aus, ihre Knie fühlten sich buttrig weich an. Offenbar hatte sie einen Betrunkenen aufgeschreckt, der gerade im Begriff gewesen war, sich zu erleichtern.

Was sonst sollte jemand in einem Busch zu suchen haben?

Den Tatort beobachten, vielleicht.

Sie verscheuchte diesen paranoiden Gedanken wie eine lästige Fliege.

Einen Moment lang erwog Rika, ihren Weg ganz einfach fortzusetzen und an der Polizeiabsperrung vorbeizugehen. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und eilte im Laufschritt zurück zur Hauptstraße.

Das nächste Mal ist es vielleicht kein Betrunkener, der dich aus dem Gebüsch anspringt, sondern ein Mörder.

Es gab menschliche Abgründe, in die hinein sie nicht einmal einen flüchtigen Blick werfen wollte.

Schon gar nicht allein und bei Nacht.

Kapitel 3

Samstag, 21. September, 23:42 Uhr

Die Frau war nackt. Sie lag auf dem Bauch, das Gesicht leicht zur Seite geneigt und auf ihre Arme gebettet. Ihr Rücken war mit zahlreichen Schnitten übersät, die Josef erst auf den zweiten Blick als Buchstaben identifizierte.

Tief und dunkel klafften sie in der Haut der Toten.

Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er die Worte zu entziffern, die sich in einem wilden Zickzack bis knapp über das Steißbein des Opfers zogen.

Purpurne Tränen ranken sich um deine Seele

wie Dornen spitz ist ihr Gesicht

Die Muse schläft in deiner Kehle

ihr letzter Kuss nimmt dir dein Licht.

„Welcher Irre hat dich als lebendigen Notizblock missbraucht, hm?“, murmelte er kopfschüttelnd.

Josef war froh um das Zelt, das die Leiche vor den neugierigen Blicken möglicher Schaulustiger abschirmte. Er beneidete die Beamten, die vor der Polizeiabsperrung standen und die Sensationslüsternen des Platzes verweisen müssten, nicht um ihren Job. Nicht mehr lange, und die ersten Journalisten würden eintreffen.

Und dann haben die Jungs erst richtig zu tun.

Erneut wandte Josef den Blick dem zerschundenen Rücken der Toten zu. Viele seiner älteren Kollegen hatten ihm zu Beginn seiner Karriere prophezeit, er würde schneller abstumpfen, als es ihm lieb war. In gewisser Hinsicht hatten sie damit recht behalten – der Anblick einer Leiche bescherte ihm gewiss keine Albträume mehr oder löste sonst irgendeine nennenswerte Reaktion in ihm aus. Was sich jedoch in all den Jahren nie verändert hatte, war der Groll, den er für die Täter empfand.

Auch jetzt spürte er die vertraute Wut heiß und pochend in seiner Brust aufsteigen. Der Kälte zum Trotz, welche die hereinbrechende Herbstnacht mit sich brachte, schwitzte er in seinem Schutzoverall.

Purpurne Tränen ranken sich um deine Seele …

Er las das makabre Gedicht erneut und durchforstete sein Gedächtnis vergeblich nach einem Namen, mit dem es sich in Verbindung bringen ließe.

Handelte es sich bei den Zeilen um das Zitat eines bekannten Lyrikers? Oder waren sie eine eigene düstere Schöpfung? Josef würde sein Team sämtliche Winkel des Internets nach den Worten durchforsten lassen.

„Winter?“ Die unverwechselbar heisere Stimme Tina Obermeyers drang an Josefs Ohren. Er löste den Blick von der Leiche, trat aus dem Zelt hinaus und sah das fröhliche Gesicht der Mittfünfzigerin im Licht der Batteriescheinwerfer aufblitzen. Vorsichtig bewegte er sich entlang der von der Kriminaltechnik abgesteckten Markierungen zurück zur Polizeiabsperrung, unter der Tina sich gerade hindurchduckte.

„Ich habe dich gar nicht kommen sehen“, begrüßte die Rechtsmedizinerin ihn und zog sich die Kapuze ihres Schutzanzuges vom Kopf. „Habe meine Sachen gerade zurück in den Wagen gebracht und dir den Audio-Bericht rübergemailt. Wie gehts dir, mein Lieber?“

„Kannst du schon etwas zum Todeszeitpunkt sagen?“

Tina verzog das Gesicht. „Winter, wie er leibt und lebt. Danke für das Gespräch.“ Sie lachte kehlig. In all der Zeit, die sie einander inzwischen kannten, hatte er die Rechtsmedizinerin nicht ein einziges Mal seinen Vornamen aussprechen hören. Auf seine Nachfrage hin hatte sie geantwortet, dass sie „Josef“ langweilig fände.

Nicht mehr und nicht weniger.

„Tina. Bitte.“

„Schon gut, schon gut. Also: Gemessen an der Körpertemperatur, dem Zustand der Leichenflecken und der nicht vorhandenen Leichenstarre bewegen wir uns etwa in einem Zeitraum zwischen 20 und 30 Stunden.“

„Todesursache?“

„Nach jetzigem Stand ein lateraler, am linken Unterarm in proximaler Richtung zum Oberarm zugefügter Schnitt. Breite etwa vier Zentimeter. Allem Anschein nach wurde dabei die Ateria radialis durchtrennt, was wiederum zum Exitus durch Verbluten führte. Genaueres weiß ich aber erst nach der Leichenschau. Ach so: Ein Großteil der Schnitte auf dem Rücken des Opfers muss post mortal entstanden sein. Das legt zumindest der Zustand der Wundränder und der Wundumgebungshaut nahe.“

„Sonst noch was?“

„Ja. Tatort und Fundort sind nicht identisch. Die Frau war schon tot, als ihr Körper hier abgelegt wurde.“

Josef nickte langsam. „In Ordnung. Danke dir.“ Sein Versuch, den Reißverschluss des Overalls aufzuziehen, scheiterte. Die Unterzuckerung ließ seine Bewegungen fahrig werden.

Verdammt, die Pizza. Er hatte vergessen, sie abzubestellen.

„Du siehst blass aus“, stellte Tina fest und musterte Josef streng. „Essen hilft. Nur so ein Tipp.“

„Später.“ Er warf einen Blick über die Schulter; zurück zu dem Zelt, unter dem der grausam zugerichtete Körper einer Frau lag, die Gerechtigkeit verdiente. „Ich fahre jetzt ins Dezernat und klinke mich in die Vernehmung des Zeugen ein, sobald ich alle weiteren Schritte in die Wege geleitet habe.“

Kapitel 4

Montag, 23. September, 08:30 Uhr

Am Montagmorgen zeigte sich der September von seiner ungemütlichsten Seite. Von einem goldenen Herbst fehlte jede Spur, stattdessen war der Himmel schmutzig grau wie Tuschwasser. Feiner Nieselregen benetzte das Schaufenster der Bäckerei, in der Rika auf die Zubereitung ihres Frühstücks wartete: Zwei belegte Brötchen mit Gouda, eines mit Camembert und eines mit Ei. Sie hatte vor, Oliver zu seinem Geburtstag mit ein paar Leckereien aus seiner Lieblingskonditorei zu überraschen. Obwohl er wie jedes Jahr betont hatte, einen ganz normalen Tag ohne Geschenke und Tohuwabohu verbringen zu wollen, war Rika in aller Herrgottsfrühe aufgestanden, um das Wohnzimmer zu dekorieren und den Tisch zu decken. Schon vor Monaten hatte sie digital ein Fotoalbum mit ihren schönsten gemeinsamen Erinnerungen erstellt und Oliver insgesamt 45 Briefe geschrieben – einen für jedes Lebensjahr.

„Kommt bei Ihnen noch etwas dazu?“, fragte die Verkäuferin, während sie die Brötchen routiniert belegte.

„Ja. Zwei Stücke Bienenstich, bitte.“

Während sie wartete, überflog Rika die Schlagzeilen, die den vollbestückten Zeitungsständer neben der Eingangstür schmückten – und bekam eine Gänsehaut, als ihr Blick an der Titelseite eines Boulevardblattes hängenblieb.

Serientäter hält Berlin in Atem Goethe-Killer ritzt seinen Opfern Gedichte in die Haut. Nach Leiche am Denkmal nun weiteres Opfer am Zehlendorfer Bahnhof gefunden.

In ihrem Hals bildete sich ein Knoten. Sie sah den Streifenwagen und die Polizeiabsperrung vor sich.

Das von Scheinwerfern angestrahlte Zelt, das ein ausgelöschtes Leben vor den Blicken der Öffentlichkeit schützte.

Ich war so nahe dran. Rika hatte das fürchterliche Gefühl, als habe der Tod in jener Nacht auch sie kurz gestreift und ihr mit der flüchtigen Berührung seines Umhangs ein Versprechen gegeben.

Doch es war mehr als diese diffuse Angst, die der Anblick des Tatortes in ihr ausgelöst hatte. Irgendetwas an der Formulierung der Schlagzeile rüttelte am Stamm ihrer Erinnerungen.

Gedichte … Goethe … In die Haut ritzen …

„Dann bekomme ich 12,30 Euro von Ihnen“, sagte die Verkäuferin freundlich und legte die herrlich duftenden Tüten auf den Tresen.

„Einen Moment noch.“ Rika nahm die Zeitung mit der grausigen Überschrift aus dem Ständer heraus. Das nervöse Kribbeln in ihrem Körper verstärkte sich. „Die kommt noch dazu.“

„Kein Problem. Damit sind wir bei 13,10 Euro.“

Rika bezahlte, murmelte ein „Dankeschön“ und verschwand mit raschelnden Brötchentüten hinaus in den Regen.

 

Als sie Oliver eine halbe Stunde später ins Wohnzimmer rief, war seine Freude über den für ihn hergerichteten Geburtstagstisch wie gewohnt eher verhalten. Rika hatte gelernt, darin keinen persönlichen Affront zu sehen. Er stammte aus einer Familie, in der Geburts- und andere Feiertage keinen besonderen Stellenwert hatten und ein distanzierter Umgang miteinander an der Tagesordnung stand.

Dennoch war sie der Versuche nie müde geworden, seine Einstellung gegenüber feierlichen Anlässen mit positiven Erlebnissen zu verbessern.

Dass Oliver beim Auspacken seiner Geschenke milde lächelte und sich vor allem für die Briefe mehrfach bedankte, verbuchte Rika als eindeutigen Fortschritt.

Für gewöhnlich hätte sie überschwänglich auf diesen kleinen Sieg reagiert, doch die Präsenz der Zeitung, die zusammengerollt neben ihrem Teller lag, drückte ihre Stimmung.

Kaum hatten sie begonnen zu essen, schlug Rika den so reißerisch angepriesenen Artikel auf. Während sie las, raste ihr Herz so schnell, als würde es jeden Moment aus dem Gefängnis ihrer Rippen ausbrechen wollen.

„Wann genau hast du nochmal dem Qualitätsjournalismus entsagt?“, fragte Oliver sie über die andere Seite des Tisches hinweg. Er lächelte sein jungenhaftes Grübchenlächeln, in das Rika sich einst verliebt hatte. Normalerweise verfehlte es seine Wirkung auf sie nicht im Geringsten und erweckte der langen Dauer ihrer Beziehung zum Trotz noch den einen oder anderen Schmetterling in ihrem Bauch zum Leben. Heute jedoch überstrahlte ihre Nervosität jede andere Empfindung.

„Entschuldige“, sagte sie fahrig. „Das hier ist nur …“ Sie ließ den Satz unvollendet und reichte ihrem Mann die Zeitung.

Fragend sah er sie an, bevor er den Blick auf die Zeilen hinabsenkte, die Rika so aufgewühlt hatten. Während er las, bewegte er stumm die Lippen.

„Das ist furchtbar“, sagte Oliver betroffen. „Sag mal … O Gott, Rika, ist dieser Pub, in dem ihr am Samstag wart, nicht ganz in der Nähe des ersten Tatortes?“

Sie nickte. „Ich habe ihn sogar gesehen. Den Tatort, meine ich. Ich … ich wollte zu Fuß nach Hause gehen. Meine Jogging-Strecke entlang, du weißt schon.“

„Bist du des Wahnsinns? Du kannst doch nicht einfach –“

„Darum geht es jetzt nicht, Oliver. Die Vorgehensweise des Mörders …“ Verstaubte Erinnerungen wagten sich aus ihren Höhlen. „Irgendetwas klingelt da bei mir, ich kann es nur nicht richtig einordnen.“

„Wie bitte? Was redest du da?“

„Der Goethe-Killer …“

Sie stand so abrupt von ihrem Stuhl auf, dass die hölzernen Beine geräuschvoll über den Parkettboden schrammten.

Jacob Haller.

Das Bild eines jungen Mannes, der mit entrücktem Blick in ihrer allerersten Vorlesung saß, stieg vor Rikas innerem Auge empor.

„Goethes Worte sind so schön, dass man sie sich in die Haut ritzen mag“, sagte er laut zu einem seiner Kommilitonen. Nach wenigen Sekunden wechselte die Erinnerung ihre Gestalt und zeigte denselben Mann, wie er mit wutverzerrtem Gesicht in Rikas Büro saß.

„Wie können Sie es wagen, mir für dieses Meisterwerk eine 2,3 zu geben?“, spie er ihr entgegen und klopfte mit den Fingerknöcheln immer wieder auf seine Hausarbeit, die auf ihrem Schreibtisch zwischen ihnen lag. „Sie verstehen meine Texte vollkommen falsch, habe ich recht? Manchmal glaube ich, Worte auf Papier sind nicht genug …“

Die Szenerie wurde von einer weiteren, noch lebendigeren Erinnerung abgelöst.

Jacob saß auf den Stufen vor der Universitätsbibliothek, den Kopf in den Händen vergraben und neben ihm eine mitgenommen aussehende Ausgabe von Goethes Die Leiden des jungen Werthers. Rika kam auf ihn zu, ging vor ihm in die Hocke und sprach ein paar tröstende Worte.

„Nein, nein, es muss sein“, sagte Jacob, „lassen Sie mich weinen. Je schlechter es mir geht, desto besser ist meine Poesie. Wissen Sie, wann die schöpferische Kraft am stärksten ist? Im Angesicht des Todes.“

Die Bilder fielen in sich zusammen und wichen der Realität. Rika war schwindelig geworden.

„Jacob Haller“, flüsterte sie und lief im Wohnzimmer auf und ab.

„Schatz, was ist los?“

„Der Goethe-Killer. Erinnerst du dich an den Studenten, von dem ich dir einmal erzählt habe? Den, der sein Literatur-Studium nach zwei Semestern an den Nagel gehängt hat, weil er seiner eigenen Aussage nach an schweren psychischen Problemen litt?“

Wie immer, wenn er sich an etwas zu erinnern versuchte, kniff Oliver das linke Auge zu.

„Dunkel“, sagte er nach einer Weile. „Er hatte eine Vorliebe für düstere Texte, hast du gesagt. Und dass jedes Wort aus seinem Mund sich anhörte, als würde er einen Horrorfilm rezitieren.“

„Ja“, sagte Rika aufgeregt, „den meine ich.“ Elektrisiert ging sie zum Tisch zurück und griff nach ihrem Smartphone.

„Was tust du?“, fragte Oliver irritiert.

„Ich informiere die Polizei.“

„Die Polizei?! Rika, du kannst doch mir nichts, dir nichts jemanden beschuldigen, der sich vor Jahren einmal seltsam verhalten hat.“

„Ach nein? Was ist, wenn genau das der entscheidende Hinweis ist, der einen weiteren Mord verhindern kann?“

„Das ist absurd. Du hast entschieden zu viele Krimis gelesen.“ Er lachte glucksend und trank einen Schluck von seinem Kaffee. Rika konnte ihm ansehen, dass er erwartete, sie würde jeden Moment in sein Lachen einstimmen und ihm sagen, sie habe ganz einfach überreagiert.

Er hat gut reden. Oliver hatte den jungen Mann nicht erlebt, wenn er seine polemischen Reden schwang. Wenn er mit glühender Begeisterung von Blut, Tod und Verderben sprach und die Werke Goethes voller Besessenheit in jeder freien Minute konsumierte.

Der Goethe-Killer.

Nein, das konnte kein Zufall sein.

Rika drehte ihrem Mann den Rücken zu und wählte die Nummer der zuständigen Polizeibehörde.