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Lust und Pflicht sind Phänomene, die das Wesen des Menschen unmittelbar prägen. Sie haben von den Anfängen der Literatur und Philosophie bis in die Gegenwart unterschiedliche Ausdeutungen und Bewertungen erfahren, die nachzuzeichnen das Anliegen dieses Buches ist.

Der Mensch entwickelt schon früh ein instinktives Luststreben und in der Regel auch ein deutliches Pflichtgefühl. Beide Begriffe – Lust und Pflicht – sind zuerst in der griechischen Philosophie reflektiert, bewertet und systematisch untersucht worden. Platon und Aristoteles diskutieren sie als Ziele im Sinne eines gelungenen Lebens, und die hellenistischen Philosophenschulen fassen Lust und Pflicht als polemischen und systematischen Gegensatz. Hellmut Flashar analysiert den Deutungsprozess, dem die Begriffe Lust und Pflicht seit ihrer Entstehung in der griechischen Antike unterliegen und zeichnet seine Entwicklung über das frühe Christentum, die Renaissance und die Interventionen Kants und Freuds bis in die Gegenwart nach.

Hellmut Flashar, 1929 in Hamburg geboren, ist emeritierter Professor für Klassische Philologie.

LUST UND PFLICHT

PASSAGEN PHILOSOPHIE

Hellmut Flashar
Lust und Pflicht

Wege zum geglückten Leben

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Deutsche Erstausgabe

Dieses Buch wurde ermöglicht durch die freundliche Unterstützung der Passagen Freunde – Förderkreis des Passagen Verlags.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de/ abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-7092-0352-1

eISBN (EPUB) 978-3-7092-5029-7

© 2019 by Passagen Verlag Ges. m. b. H.

Wien Grafisches Konzept: Ecke Bonk

Satz: Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien

http://www.passagen.at

Inhalt

Vorwort

Widmung

Lust und Pflicht

Erfahrungen von Lust. Erste Lust- und Pflichtkonzepte

Lust und Pflicht in der hellenistischen Philosophie

Epikurs Lehre von der Lust

Die Stoa auf dem Wege zur Pflicht

Lust und Pflicht bei den Römern

Lust und Pflicht im frühen Christentum

Lust und Pflicht in Renaissance und Humanismus

„Pflicht – du erhabener und großer Name“

Neue Lustkonzepte

Anmerkungen

Literaturhinweise

Personenregister

Ortsregister

Vorwort

Für die hier vorliegende Studie habe ich von mehreren Seiten Hilfe und Unterstützung erfahren. Zu danken habe ich vor allem Christiane Zimmermann (für das Kapitel „Lust und Pflicht bei den Römern“) und Bettina Full (für das Kapitel „Lust und Pflicht im frühen Christentum“).

Für technische Hilfe und die präzise Herstellung des Typoskriptes danke ich erneut Carola Budnj.

Dem Passagen-Verlag und seiner Lektorin Sophie Emilia Seidler bin ich für die gute und zuverlässige Zusammenarbeit dankbar.

Diese Studie ist einem Freund gewidmet, der Lust und Pflicht zu verbinden weiß.

Andreas Patzer gewidmet

Lust und Pflicht

Lust und Pflicht sind urhumane Grundphänomene. Alle Menschen, ja sogar fast alle Lebewesen, haben ein instinktives Lustgefühl, streben nach Lust, erfahren Lust durch alle Sinne. Selbst wenn man von Lustlosigkeit spricht, steht die Lust als Beziehungsgröße im Hintergrund.

Der Begriff Pflicht ist komplizierter, aber doch auch dem Menschen als Urphänomen gegeben. Pflicht äußert sich in der Sorge für nahestehende Menschen, im religiös-sakralen Bereich, in der Wahrnehmung politischer Ämter, in Verpflichtungen, die ein Mensch in der Erfüllung eines Eides eingeht, im öffentlichen Bereich, im Beruf.

Die Begriffe Lust und Pflicht sind zum ersten Mal in der griechischen Philosophie reflektiert und diskutiert, aber nicht gleichzeitig, sondern in deutlicher Phasenverschiebung, zuerst die Lust und erst sehr viel später die Pflicht. Das hängt auch damit zusammen, dass die griechische Sprache schon früher über ein Wort für „Lust“ verfügt (ἡδονή), nicht aber für Pflicht, für die es keine klare Begrifflichkeit gibt. Auch hat die Lust einen Gegenbegriff, den „Schmerz“ (λύπη), nicht aber die „Pflicht“, deren Gegensatz nur als „Pflichtvergessenheit“ bezeichnet werden kann.1

Erfahrungen von Lust.
Erste Lust- und Pflichtkonzepte

Lust

Im alten Epos kommt das Substantiv ἡδονή („Lust“) noch nicht vor. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass dieses Wort schwer in den epischen Hexameter passt, sondern findet darin seine Erklärung, dass Lust zunächst durch das im homerischen Epos mehrfach belegte Adjektiv (ἡδύ, „Lustvolles“) in der jeweils konkreten Erscheinungsform erfahren wird. Und da ist die ursprüngliche Bedeutung eine angenehme, süße Empfindung. So wird Wein als ἡδύζ, hier also „süß“ oder „lieblich“ empfunden (Odyssee 9, 253), ebenso eine Mahlzeit im Ganzen (Odyssee 21, 391) und ein „süßer Schlaf“ (Ilias 14, 242). Später ist ἥδυσμα ein Terminus für eine bestimmte Sauce, die einem Gericht als Würze beigegeben werden kann (Aristophanes, Ritter 678). Auch ein herzhaftes Lachen wird im homerischen Epos mit dem gleichen Adjektiv ausgedrückt (Ilias 2, 270), wie auch der alte Nestor beschrieben wird als einer der „süß redet“ (ἡδυεπήζ, Ilias 1, 245), „dem von der Zunge die Rede süßer als Honig fließt“ (Ilias 1, 249). Gemeint ist wohl eine Rede, die sich als etwas Angenehmes gleichsam bei ihrem Publikum einschmeichelt.

Mit dem Aufkommen des Substantivs „Lust“ (ἡδονή) wird die Einzelerfahrung gebündelt und zu einer festen Haltung geformt. Das griechische Wort Hedone (ἡδονή) ist etwas weiter gefasst als die deutsche Übersetzung „Lust“, indem es auch „Freude“ oder „angenehme Empfindung“ ausdrücken kann.2 Der erste Beleg dafür findet sich in einem kurzen Fragment (54, 117) eines Gedichtes von Simonides (556–456) und lautet:

Was für ein Leben der Sterblichen könnte ohne Lust erstrebenswert sein, oder (sogar) welche Tyrannis? Ohne sie (die Lust) ist selbst das Leben der Götter nicht beneidenswert.

Simonides wusste, wovon er sprach. Er hat in Athen die Herrschaft des letzten Tyrannen, des 514 v. Chr. ermordeten Hipparchos, erlebt und dann – ursprünglich auf der Insel Keos beheimatet – weiterhin den Aufstieg Athens nicht nur zu einer militärischen, sondern auch kulturellen Macht begleitet. So ist „Lust“ für ihn ein integraler Faktor des privaten wie des staatlichen Lebens.

Der erste, der das Phänomen „Lust“ näher bestimmt hat, war Aristipp von Kyrene (circa 430–355) Aristipp war Schüler und Anhänger von Sokrates. Platon vermerkt ausdrücklich (Phaidon 59 C), dass Aristipp zu den engsten Gefährten des Sokrates gehört, auch wenn er (wie Platon selber) in der Sterbestunde des Sokrates nicht zugegen war, obschon er in Athen gelebt hat. Aristipp hat dann auch in seiner Heimatstadt Kyrene eine philosophische Schule begründet und dort gelehrt.3 In den antiken Zeugnissen über seine Lehre wird nicht immer zwischen ihm und seinem gleichnamigen Enkel differenziert. Doch dürften die wesentlichen Äußerungen über die Lust die Auffassung des Aristipp (des älteren) selber widerspiegeln. Danach sind Lust und Schmerz „Bewegungen“, und zwar ist die Lust eine „sanfte“, also angenehme, der Schmerz hingegen eine „raue“ Bewegung.

Mit der Bestimmung der Lust als Bewegung, die auf den Menschen zukommt und ihn auch wieder verlässt, ist angedeutet, dass die Lust nichts Permanentes ist, sondern den Menschen temporär ergreift. Diesen Vorgang hat Aristipp mit Wellenbewegungen illustriert. Danach wird die Lust mit einer sanften Woge und günstigem Fahrtwind, der Schmerz als raue Bewegung mit einem Sturm auf dem Meer verglichen. Aristipp (der jüngere) hat dann noch einen neutralen Zustand der „Meeresstille“ als eine ruhige, ja geradezu apathische Verfassung des Menschen hinzugefügt. Eine „stürmische Liebe“ hat Aristipp jedenfalls nicht als eine erstrebenswerte Lust angesehen, sondern ausdrücklich betont, dass man über die Lust gebieten, und nicht ihr unterlegen sein solle. In diesem Sinne solle man die Lust genießen, die der Augenblick bietet, nicht aber nach Genüssen jagen, die in der Ferne liegen. Bei alledem ist zu bedenken, dass Leib und Seele (noch) als eine ungeschiedene Einheit angesehen werden. Eine nur seelische oder eine rein körperliche Lust kennt Aristipp nicht.

Die nähere Bestimmung der Lust durch Aristipp muss in Athen und darüber hinaus Beachtung gefunden haben. So erklärt sich auch, dass Xenophon (431–354) – ebenfalls Anhänger des Sokrates – in seiner Schrift Memorabilien zwei lange (fiktive) Gespräche zwischen Sokrates und Aristipp wiedergegeben hat (II 1; VIII 18). Darin wird deutlich, dass Aristipp zwar einer möglichst angenehmen und unbeschwerten Lebensweise das Wort redet, aber zugleich in Selbstdisziplin über Art und Ausmaß der Lustempfindungen gebietet. Gerade dieses Verhältnis von Lust und Selbstbeherrschung ist dann wohl auch Gegenstand der wirklichen Gespräche zwischen Sokrates und Aristipp gewesen. Spätere Anekdoten haben daraus einseitig und unrichtig Aristipp als einen ausschweifenden und hemmungslos vergnügungssüchtigen Menschen gemacht.

Natürlich wird das Phänomen Lust auch in der mit Sokrates gleichzeitigen Sophistik diskutiert. Im Grunde liegt es nahe, der Lust in einer emanzipatorischen Bewegung wie der Sophistik mit der Betonung des Einzelnen, herausgelöst aus politischen Bindungen, einen hohen Stellenwert zuzuschreiben. Aber schon an den Fragmenten der im Ganzen verlorenen Schriften der Sophisten wird eine subtile Differenzierung erkennbar So wird wiederholt die Nähe von Lust und Schmerz betont. Schon der Politiker Solon hatte ein halbes Jahrhundert vor dem Aufkommen der Sophistik formuliert: „Meide die Lust, die Schmerz hervorbringt“, und einige der Sophisten haben dann ähnlich geurteilt. Gorgias kann für sich in Anspruch nehmen, er habe „nichts aus bloßer Lust getan“ (Frgm. 11, Diels–Kranz). Denn – so heißt es an anderer Stelle bei ihm – „wer Reichtum verschwendet, ist ein Sklave der Lust“ (B 11 e). Und Antiphon versichert: „Wo das Lustvolle ist, da ist in der Nähe auch das Schmerzhafte“ (B 49). Zugleich hebt er hervor, dass man sich manchmal nur eine scheinbare Lust verschafft, in Wirklichkeit aber Schmerzen.

Die von den Sophisten geführten Diskussionen über die Lust und ihre Relevanz für das Leben sind dann auch der Hintergrund, auf dem Platon in seinen frühen und mittleren Dialogen das Phänomen der Lust untersucht.4 Dabei geht es keineswegs allein um eine pauschale Zurückweisung eines hedonistischen Lebensideals im Namen der Philosophie, sondern um eine höchst differenzierte Argumentationskette, wie sie uns bereits in dem relativ frühen Dialog Protagoras entgegentritt (351 B–260 E). Auf die Frage des Sokrates, ob ein angenehmes (das heißt lustvolles) Leben ein gutes Leben ist, lässt Platon Protagoras antworten: „Lust ist nur gut, wenn es Lust am Schönen ist“ (351 C), was ja auch der Auffassung des historischen Protagoras entspricht, soweit sie aus den Fragmenten erkennbar ist. Sokrates führt dann aber ein übergeordnetes Wissen an, das als Maßstab Lust und Unlust gegeneinander abwägen kann. Wenn bloß gefühlte Lust und Unlust die letzten Instanzen sind, wie es einem landläufigen Hedonismus entspricht, dann würde niemand mehr Gefahren auf sich nehmen, die nicht mit Lust verbunden sind. Es bedarf also einer auf Wissen beruhenden Abwägung von dem, was Lust und Unlust ist, zur „Rettung des Lebens“ (375 A). Protagoras stimmt diesem Gedankengang zu, ohne jedoch dessen Konsequenzen ermessen zu können. Platon will also die Sophisten nicht blamieren, sondern deren Lustkonzeption hinterfragen, indem er als entscheidende Kategorie die Instanz des Wissens von Lust und Unlust hinzufügt. Worin dieses Wissen besteht, bleibt vorläufig noch unklar.

In dem etwas späteren Dialog Gorgias, in dem es hauptsächlich um Rang und Stellung der Rhetorik geht, tritt Sokrates in Kallikles einem reinen Machtmenschen entgegen (von dem Nietzsche fasziniert war), der zugleich ein radikaler Vertreter eines groben Hedonismus ist. Ziel des Lebens sei ein unbeschränktes Zufließen von Lust und deren Befriedigung. Selbstbeherrschung sei nur eine Ausrede. Lust, Macht und Freiheit von Bindungen brächten Glück. Lust ist Glück. Sie sei nicht weiter differenzierbar, denn eine Stufung der Lust würde ein mit Unlust verbundenes übergeordnetes Prinzip voraussetzen, das Kallikles strikt ablehnt. Lust ist das Gute, nicht irgendein theoretisches Wissen. Lust und Macht bedingen einander. Je mehr Macht, desto mehr Lust. Wer beides besitzt, kann den Vorteil des Stärkeren für sich in Anspruch nehmen. Natürlich widerlegt auch hier (der platonische) Sokrates diese Position mit dem Hinweis auf ein Wissen vom Guten, bezogen auf die Ordnung der Seele, in der Gerechtigkeit und Besonnenheit ihren Platz haben.

In den mittleren und späteren Dialogen Platons taucht das Thema Lust auch unabhängig von der Auseinandersetzung mit der Sophistik immer wieder auf. Stets ist der Lust die Vernunft gegenübergestellt; der Lust als Lebensziel wird die Orientierung an der Welt der ewigen Ordnung (der Ideen) entgegengesetzt. Die Seele darf sich durch Lust nicht in Verwirrung bringen lassen. In einer Stufung von Begierden und Lüsten wird der Lust des Leibes ein gewisses Recht zugestanden, die Lust des Geistes (die Platon immerhin annimmt) hat jedoch den absoluten Vorrang.5

Natürlich sind in der von Platon gegründeten Akademie die Diskussionen um die Lust, um ihren Rang und ihre Bedeutung für den Menschen weiter diskutiert worden. Das trifft zunächst auf Eudoxos von Knidos (circa 408–336) zu, der also aus Knidos stammt (wo es eine bedeutende medizinische Schule gab), aber den größten Teil seines Lebens in Athen zugebracht hat.6 Ob er förmlich Mitglied der Akademie war oder sie gar interimistisch geleitet hat, ist nicht sicher nachzuweisen. Dass er Platon nahestand, unterliegt keinem Zweifel. Während Aristipp die Lust geradezu physikalisch als eine Wellenbewegung verstanden hat, die kommt und geht, hat Eudoxos, der im Übrigen ein angesehener Astronom und Mathematiker war, die Lust als ein dauerndes Gut schlechthin bezeichnet, und zwar im Kontext der in der platonischen Akademie lebhaft diskutierten Frage, was das Gute als zu verwirklichendes Ziel für den Menschen sei. Das ist für Eudoxos die Lust, und er hat dafür die folgenden Argumente: Alle Lebewesen streben nach Lust. Das übereinstimmend von allen Erwünschte muss ein Gut sein. Umgekehrt wird Schmerz von allen Lebewesen gemieden, also muss das Gegenteil, die Lust, etwas Gutes sein. Eudoxos geht von einer biologischen Grundlage aus und entwickelt auf dieser Basis seine Lustkonzeption, die von der Tierwelt über den Menschen bis zu den beseelten Gestirnen reicht, deren Bewegungen mit Lust verbunden seien.

So ist ihm die Lust etwas nicht mehr Hinterfragbares, das über allen einzelnen Gütern steht, weil es jedes Gute, dem sie beigemischt ist, noch wünschenswerter macht. Diese universelle Konzeption hat Eudoxos in einer verlorenen Schrift mit dem Titel Über die Lust, dargestellt. Aristoteles, der die Lustlehre des Eudoxos im Rahmen seiner Konzeption einer Ethik kurz skizziert, fügt die innerhalb einer Lehrschrift ganz ungewöhnlichen Worte hinzu:

Diese seine Lehre fand aber mehr wegen der Lauterkeit seines Charakters Glauben als um ihrer selbst willen. Denn er war als ein überaus besonnener Mann angesehen. So hatte man den Eindruck, er trage seine Lehre nicht als Freund der Lust vor, sondern als seien die Dinge in Wirklichkeit so (Nikomachische Ethik X 2, 1172 b 15–18).

Sicher hat Eudoxos dazu beigetragen, dass das Thema: Lust in der platonischen Akademie weiter diskutiert wird, verbunden mit der Frage nach dem höchsten menschlichen Gut und dessen Realisierung. So hat denn Platon in einem seiner spätesten Dialoge, im Philebos, die ganze mit der Lust verbundene Problematik erneut aufgenommen. Ob und wie weit Eudoxos dabei das auslösende Moment war, ist schwer zu ermitteln. Jedenfalls greift Platon mit dem Thema „Lust“ eine Problematik auf, die ihn schon längst beschäftigt hatte.7 Der Dialog beginnt mitten in einer Unterredung zwischen Sokrates und dem jungen Philebos. Aber schon sehr bald zieht sich Philebos zurück, weil ihm das Gespräch mit Sokrates offenbar zu anstrengend war und dem Genießen der Lust im Wege steht. Über Lust kontrovers zu diskutieren, wäre schon Unlust. So wird dann das Gespräch mit einem auch nicht näher bekannten Protarchos geführt, der ausdrücklich dazu rät, Philebos, der sich zur Ruhe begeben hat, jetzt nicht mehr durch Fragen zu stören (15 C). Das kann man nachvollziehen, weil die Gedankenführung des Dialoges wirklich kompliziert ist. Das hängt damit zusammen, dass Platon das Phänomen Lust jetzt noch viel stärker als zuvor mit seinen inzwischen erarbeiteten ontologischen Kategorien (Einheit, Vielheit, das Unendliche) verknüpft.

Wieder differenziert (der platonische) Sokrates gegen die reinen Hedoniker zwischen verschiedenen Arten der Lust in der Frage, wie sich Lust einerseits und Vernunft andererseits zu dem verhalten, was „das Gute“ genannt wird. Im Hinblick auf dieses oberste Gut, dem sich der Mensch annähern muss, lässt Platon Lust zu. Denn die nun einmal gegebene Realität des Lebens erfordert die Anerkennung der Lust, denn weder in Apathie noch in purer Lust kann (und soll) der Mensch leben.

Da die Lust ihrer Natur nach zum Unbegrenzten gehört, muss sie begrenzt werden. Der entscheidende Begriff ist der der „Mischung“. Es gibt Mischungen von Lust und Unlust, aber auch von Lust und Vernunft. So ist das Leben in der Mischung zwischen Lust und Unlust wie die Tragödie und die Komödie, die die menschliche Seele in eine Mischung von Lust und Unlust bewegen (48 A). Es ist dies ein Gedanke, den dann Aristoteles mit seiner Konzeption von der Wirkung der Tragödie als Katharsis („Reinigung“) von den Affektionen und damit als eine Form der „unschädlichen“ Lust (Politik VIII 1342 a 14-16) näher ausgestaltet hat. Platon untersucht im Dialog Philebos die Lust– und Unlusterfahrungen durch Geruch, Gehör und Sehen und akzeptiert auch eine reine Lust, die sich an der Betrachtung von Farben und Figuren, aber auch an mathematischen Erkenntnissen einstellt. So kommt er zu einer relativen Duldung der Lust innerhalb einer umfassenden Rangordnung, an deren erster Stelle noch oberhalb der Wissenschaften die Dialektik steht, über die Platon nur Andeutungen macht. Schließlich entwirft Platon eine Skala von fünf Stufen der Erkenntnis und Wahrnehmung, der dann jeweils fünf Stufen der Lust entsprechen: 1. Lust an Maß und Form ganz generell, 2. Lust am Schönen und Vollkommenen, 3. Lust an der Wahrheit, an der Richtigkeit des Denkens, 4. Lust an den Einzelwissenschaften, Künsten und Fertigkeiten, 5. Lust an klaren Wahrnehmungen (65 A–66 D). Platon ist so von einer eher grundsätzlichen Ablehnung eines Lust-Lebens zu einer relativen Anerkennung gelangt, wobei er immer daran festhält, dass ein Leben der Vernunft dem „Guten“ viel näher steht als ein Leben in Lust.

Nicht fern von Platon steht auch die Lehre Demokrits, der in der Nachfolge Leukipps die Atomlehre ausgestaltet hat. Der gegenüber Platon eine Generation ältere Demokrit hat neben physikalischen und mathematischen auch umfangreiche Schriften zur Ethik verfasst (die alle nur in Fragmenten greifbar sind). Und dabei ist er auch auf das Phänomen Lust eingegangen (Frgm. B 235). Er hebt hervor, dass „die vom Bauch kommenden Genüsse“ kurz seien, rasch vergehen und dann wieder das gleiche Begehren hervorrufen würden. Das führt mitten in die Diskussionen über die Lust, wie wir sie von Platon und den Sophisten kennen. Seltsam ist nur, dass Platon in seinem gesamten Werk Demokrit nicht ein einziges Mal erwähnt. Und doch müssen seine Schriften in Athen bekannt gewesen sein, weil Aristoteles seine Lehren ausführlich referiert und kritisiert. Ob er jemals in Athen war, ist ungewiss. Die doxographische Tradition ist widersprüchlich. Diogenes Laertius (IX 37) überliefert den Ausspruch Demokrits: „Ich kam nach Athen. Da kannte mich niemand.“ Dann aber berichtet Diogenes, ein gewisser Demetrios habe in seiner Apologie des Sokrates bemerkt, Demokrit sei überhaupt nicht nach Athen gekommen. Jedenfalls wirkte Demokrit vor allem im weit entfernten Abdera im nordöstlichen Griechenland, aus dem immerhin auch der Sophist Prodikos stammte und dessen Bürger damals noch nicht im Ruf des einfältigen Schildbürgers standen.

All diese Überlegungen zur Lust fließen in zwei Abhandlungen über die Lust zusammen, die in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles stehen.8 Aristoteles referiert kurz alle möglichen Theorien anderer über die Lust, ohne deren Autoren immer zu nennen; nur Eudoxos und Platon werden namentlich erwähnt. Er wendet sich gegen die These des Eudoxos, die Lust sei der oberste Wert, mit dem Argument, der höchste Wert müsse etwas Vollendetes sein, während Lust als Bewegung und Werdendes unvollendet ist. Es gibt keine Lust als Dauerinstanz, sondern verschiedene Arten und Grade von Lust. Sie bemessen sich nach der Art des menschlichen Handelns. Strebt man nur nach Lust in der Annahme, sie sei das höchste Gut, so kann eine um ihrer selbst willen erstrebte Lust in Zügellosigkeit und Unersättlichkeit umschlagen. Der Wert der Lust hängt ab vom Wert der Handlung. Da alle ethisch relevanten Handlungen mit Lust verbunden sind, ist die Lust die Vollendung der Handlung und insofern ein positiver Wert. Unter allen menschlichen Aktivitäten steht für Aristoteles die „Theorie“ an erster Stelle, insofern ist die mit ihr verbundene Lust die wertvollste. Aristoteles kennt die Lust, die sich bei wissenschaftlicher Arbeit einstellt. Die letzte Konsequenz dieser Position führt in die Ontologie. Die ewige Kreisbewegung der Fixsterne sei „das Lustvollste“ (ἥδιστον, Metaphysik XII 7, 1072 b 2).

Schließlich hat Aristoteles die mit der Lust verbundenen Probleme auch im Hinblick darauf untersucht, inwieweit der Redner vor Gericht davon Kenntnis haben muss. Dabei geht die Erörterung (Rhetorik I 11) über den Horizont der Gerichtspraxis hinaus und beginnt mit einer ganz prinzipiellen Definition der Lust. Sie ist „eine Bewegung der Seele als eine zusammengedrängte Versetzung (der Seele) in den (ihr) zukommenden Zustand“ (Rhet