Inhalt

  1. Cover
  2. Impressum
  3. Apothekerin mit Herz
  4. Vorschau

Apothekerin mit Herz

Dr. Frank und eine bemerkenswerte junge Frau

Immer wieder kommen Patienten in Dr. Franks Praxis und erzählen ihm von der neuen Mitarbeiterin, die in der Apotheke von Hans Haberwein arbeitet. Eine sehr bemerkenswerte, engagierte und hübsche junge Frau muss das sein. Lucie Sartorius hilft, wo sie nur kann. Und zwar nicht nur in ihrem Fachbereich! So vermittelt sie zum Beispiel Babysitter an völlig überforderte Eltern oder hilft Studenten, die verzweifelt nach einem Job suchen. Aber die Geschichte, die Dr. Frank heute zu hören bekommt, übertrifft alles, was bisher da gewesen ist! Die beherzte Apothekerin soll nachts überfallen worden sein. Doch statt Angst vor dem bewaffneten Räuber zu bekommen, hat sie auch seine problematische Situation erkannt und ihm geholfen. Nun ist Stefan Frank doch neugierig geworden und besucht Lucie Sartorius. Und so wird er Zeuge einer der bewegendsten Geschichten, die sich in Grünwald je ereignet haben …

„Ich schlafe schlecht“, sagte Manuel Werner, der vor Dr. Stefan Franks Schreibtisch saß, mit stockender Stimme. „Ich habe Albträume, mir bricht der Schweiß aus, und manchmal bekomme ich so starke Magenschmerzen, dass ich mich hinlegen und warten muss, bis der Schmerz abklingt. Ich weiß echt nicht, was mit mir los ist. Früher hatte ich nie etwas, nicht einmal eine Erkältung, und jetzt habe ich das Gefühl, dass mein Körper mich im Stich lässt.“

Stefan Frank betrachtete den sympathischen jungen Mann mit den störrischen blonden Haaren und dem offenen Blick nachdenklich. Manuel Werner war ein neuer Patient, er sah ihn heute zum ersten Mal.

„Haben Sie gar keine Vermutung, woher Ihre Probleme rühren könnten?“, fragte er vorsichtig.

Sein Gegenüber schüttelte heftig den Kopf, was Stefan jedoch nicht überzeugte. Etwas verbarg Manuel Werner vor ihm, da war er sich sicher.

„Gibt es etwas, was Ihnen zurzeit Kummer bereitet?“, fragte er weiter, da der junge Mann nichts sagte.

Das „Nein“ seines Patienten kam zu schnell und zu laut. Er setzte sogar noch hinzu: „Auf keinen Fall, alles ist in bester Ordnung. Ich brauche nur ein paar Tabletten gegen die Magenschmerzen und damit ich besser schlafen kann.“

Stefan Frank unterdrückte einen Seufzer. Nur ein paar Tabletten – wie oft am Tag hörte er das? Seine langjährigen Patienten hatten sich diese Forderung längst abgewöhnt, weil sie wussten, dass er dafür nicht zu haben war. Aber wenn jemand neu zu ihm kam, tauchte der Satz unweigerlich wieder auf.

„So einfach wird es nicht sein, Herr Werner“, erwiderte er ruhig. „Ich muss viel mehr über Sie wissen, und natürlich muss ich Sie gründlich untersuchen, bevor wir über Medikamente sprechen, die Ihnen vielleicht helfen können.“

„Mehr über mich wissen?“, fragte Manuel Werner. „Das verstehe ich nicht. Ich habe Ihnen doch gesagt, welche Beschwerden ich habe. Was müssen Sie denn sonst noch wissen?“

„Zum Beispiel wüsste ich gern, ob sich in letzter Zeit in Ihrem Leben etwas verändert hat. Es wäre zum Beispiel denkbar, dass eine solche Veränderung Sie beunruhigt und für einen Teil Ihrer Beschwerden verantwortlich ist. Unsere seelische Befindlichkeit wirkt sich natürlich auf unseren Körper aus. Wer rundherum glücklich ist, wird nicht so schnell krank wie ein Mensch mit vielen Sorgen und Nöten.“

Er sah, dass sein Patient Einwände erheben wollte, da dieses Gespräch nicht nach seinen Vorstellungen verlief, und so fuhr er rasch fort:

„Ich schlage vor, dass ich Sie zunächst einmal untersuche. Wir nehmen Ihnen auch Blut und Urin ab und schicken alles ins Labor. Danach kann ich zumindest Ihren körperlichen Zustand besser beurteilen.“

„In Ordnung. Aber eins kann ich Ihnen sagen: Bei mir hat sich in letzter Zeit nichts verändert, alles ist wie immer. Ich habe einen Job, der mir gefällt, und eine Wohnung in Schwabing, in der ich mich wohlfühle. Ich habe nette Freunde, keine Geldsorgen …“

Stefan Frank fragte sich, ob Manuel Werner selbst glaubte, was er sagte, denn er war sicher, dass es hinter der beschriebenen Zufriedenheit noch etwas anderes gab. Er spürte, dass sein neuer Patient beunruhigt und voll unterdrückter Sorge war.

Er würde also versuchen, Vertrauen aufzubauen, sodass der junge Mann irgendwann hoffentlich bereit war, über das, was ihn bedrückte, zu reden. Man musste geduldig sein in solchen Fällen, niemand wusste das besser als er.

Dr. Frank nahm sich Zeit für die Untersuchung. Beiläufig stellte er eine Menge Fragen, die sich vordergründig um Schmerzen und Unwohlsein drehten, ihm darüber hinaus aber auch Auskunft über das allgemeine Befinden seines wenig auskunftswilligen Patienten gaben.

Nach einer Weile entspannte sich Manuel Werner. Der verschlossene Ausdruck verschwand von seinem Gesicht, einmal lächelte er sogar.

„Sie können sich wieder anziehen, Herr Werner. Ich verschreibe Ihnen ein Mittel, das Ihre Magenschleimhäute beruhigt, und auch etwas, was Ihnen beim Einschlafen hilft, damit Ihnen erst einmal geholfen ist. Wir warten die Laboruntersuchungen ab, und Sie machen bitte für die nächste Woche einen neuen Termin aus, bei dem wir die Ergebnisse besprechen und Sie mir sagen, ob die Medikamente geholfen haben. Danach sehen wir weiter. Es sind keine starken Mittel, aber ich hoffe, sie erfüllen ihren Zweck.“

Manuel Werner war sichtlich erleichtert, dass er sein Ziel nun offenbar doch noch erreicht hatte. Schließlich hatte er nichts anderes gewollt als ein paar Medikamente gegen seine Beschwerden, und die bekam er ja jetzt.

Einen Moment lang fragte sich Stefan, ob er überhaupt wiederkommen würde. Vielleicht war dieser junge Mann einer von jenen Patienten, die nach jedem Besuch den Arzt wechselten, um an neue Medikamente zu kommen.

Das gab es gar nicht so selten, auch in seiner Praxis hatten sich solche Patienten schon eingefunden. Doch er schätzte Manuel Werner anders ein: Der hatte echte Probleme, konnte und wollte aber – aus welchen Gründen auch immer – nicht darüber reden.

„Danke, dass ich so schnell einen Termin bei Ihnen bekommen habe, Herr Dr. Frank“, sagte Manuel Werner, als er sich verabschiedete.

„Wieso sind Sie eigentlich zu mir gekommen, wenn Sie in Schwabing wohnen?“, erkundigte sich Stefan. „Es ist ein weiter Weg von der Innenstadt hierher nach Grünwald.“

Ein verlegenes Lächeln antwortete ihm.

„Sie sollen der Beste sein“, sagte der junge Mann dann. „Das habe ich von ein paar Leuten in der Waldner-Klinik gehört. Da war ich neulich, weil ich blöd gestürzt war und mir den Knöchel geprellt hatte. Ich wohne ganz in der Nähe der Klinik, deshalb bin ich dort in die Notaufnahme gegangen und habe mich bei der Gelegenheit nach einem guten Hausarzt erkundigt. Ich hatte bis jetzt nämlich keinen.“

„So, so. Ich arbeite mit der Waldner-Klinik zusammen, ich habe dort Belegbetten. Es könnte also sein, dass die Leute, die dort arbeiten, befangen sind, was mich betrifft.“

„Den Eindruck hatte ich nicht. Ich habe ja mehrere Leute gefragt, auch einen Patienten, der mit mir zusammen gewartet hat. Die waren sich alle einig. Also dachte ich mir, es muss etwas dran sein, und ich versuche es mal bei Ihnen.“

„Wer hat Sie denn in der Notaufnahme behandelt? Dr. Körner? Sie ist die Leiterin der Station.“

„Sie hat sich den Knöchel zuerst angesehen, aber dann hat mich ein junger Arzt behandelt. Ich glaube, er hieß Dr. Blatt.“

Stefan nickte. „Ihr Assistent.“

„Das sind gute Leute da, und sie haben mich nicht einmal lange warten lassen, obwohl ziemlich viel los war.“

„Ich bin mit Ulrich Waldner befreundet, er leitet die Klinik, wir kennen uns aus Studienzeiten. Ich werde ihm sagen, dass Sie einen positiven Eindruck gewonnen haben, das hört er immer gern“, sagte Stefan.

Mit diesen Worten entließ er seinen Patienten in die Obhut seiner Mitarbeiterin Martha Giesecke, damit sie ihm Blut abnahm. Er war noch dabei, seine Eindrücke über Manuel Werner ausführlich zu notieren – wie er es immer tat, wenn ein Patient das erste Mal zu ihm kam –, als Martha Giesecke das Sprechzimmer betrat. Sie arbeitete schon sehr lange für ihn, kam aber ursprünglich aus Berlin, was man manchmal noch hörte.

„Bitte, schließen Sie kurz die Tür, Schwester Martha. Was hatten Sie für einen Eindruck von Herrn Werner?“

Stefan Frank gab viel auf die Menschenkenntnis seiner Mitarbeiterin. Martha Giesecke hatte nicht nur ein unfehlbares Gedächtnis, wenn es um die Krankengeschichten der Patientinnen und Patienten ging, sie hatte auch ein scharfes Auge für das, was Menschen zu verbergen suchten.

Er war schon oft verblüfft gewesen über die Genauigkeit ihrer Wahrnehmung, die sich im Übrigen häufig mit seiner eigenen deckte. Außerdem hatte sie sich im Laufe der Jahre genug medizinisches Wissen angeeignet, um Diagnosen zu stellen, die genauer waren als die von vielen seiner Kolleginnen und Kollegen.

„Er hat Probleme“, antwortete Martha Giesecke, ohne zu zögern. „Und ick denke mal, er will nicht darüber reden.“

Sie hatte, was ihn nicht wunderte, mal wieder den Nagel auf den Kopf getroffen.

„So ist es“, seufzte Stefan. „Er wollte ein paar Tabletten und dann so schnell wie möglich wieder raus hier. Entspannt hat er sich erst auf der Untersuchungsliege, aber sein Geheimnis hat er für sich behalten.“

„Er wird schon noch reden“, meinte Martha Giesecke nachdenklich. „Vermutlich, wenn der Druck groß genug wird. Er hat sich heute erst einmal angesehen, was Sie für ein Mensch sind und ob er Sie für vertrauenswürdig hält. Ick würde beim ersten Besuch einem Arzt auch nicht gleich meine Geheimnisse anvertrauen.“

„So habe ich das noch gar nicht gesehen“, murmelte Stefan. „Aber natürlich haben Sie recht, Schwester Martha. Ich kenne ihn nicht, aber er kennt mich natürlich auch nicht. Und vermutlich hat er, wie die meisten, schon einige schlechte Erfahrungen mit Ärzten gemacht.“

„Det würde ich auch mal so sehen“, bemerkte Martha trocken. „Ick habe gerade wieder eine Geschichte über einen Orthopäden gehört – Sie würden es nicht glauben, Chef.“ Sie unterbrach sich. „Wir sollen uns ein bisschen beeilen, hat Marie-Luise gesagt, sie hat noch zwei Patienten einschieben müssen.“

Marie-Luise Flanitzer war Marthas jüngere Kollegin, die vorne am Empfang saß und den Terminplan erstellte sowie Telefon und Computer bediente. Sie war von umgänglichem Wesen, während Martha Giesecke gelegentlich brummig wirken konnte. Doch zu Stefan Franks großer Erleichterung kamen die beiden Frauen bestens miteinander aus.

„Sind Sie bereit für Frau Almenfeld? Ick fürchte, sie hat sich eine Grippe eingefangen.“

„Schicken Sie sie bitte herein, Schwester Martha, ich bin mit meinen Notizen fertig.“

Martha Giesecke verließ das Sprechzimmer, und Stefan versuchte, Manuel Werner erst einmal aus seinen Gedanken zu vertreiben. Mit diesem Fall würde er sich erst später wieder beschäftigen können.

***

„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Frau Kugler?“, fragte Lucie Sartorius die korpulente ältere Dame, die sie soeben bedient hatte, freundlich.

„Nein, vielen Dank, Frau Sartorius, für heute ist das alles“, erwiderte die Kundin zu Lucies nicht geringer Erleichterung. „Ich hoffe nur, diese Tropfen helfen mir. Es ist scheußlich, wenn der ganze Kopf zusitzt und man nicht richtig Luft bekommt.“

Hinter Frau Kugler hatte sich eine kleine Schlange von drei weiteren Kunden gebildet. Deshalb beschränkte sich Lucie darauf, einmal mehr zu versichern, dass die Tropfen sicherlich den gewünschten Zweck erfüllen würden. Endlich räumte Frau Kugler ihren Platz, sodass Lucie sich dem nächsten Kunden zuwenden konnte.

Es machte sie noch immer nervös, wenn sie allein in der Apotheke war, sich diese langsam füllte und sie keine Möglichkeit sah, den Gang der Dinge zu beschleunigen, ohne die Kunden zu vergrätzen. Ihr Chef Hans Haberwein hatte ihr eingeschärft, niemals ungeduldig zu werden.

„Und wenn eine Frage zum fünften Mal gestellt wird, beantworten Sie sie bitte zum fünften Mal. Wir haben viele ältere Kunden, die sich mehrmals vergewissern müssen, dass sie gut beraten wurden und letzten Endes die richtigen Medikamente gekauft haben. Und wenn jemand ungeduldig wird und die Apotheke wieder verlässt, können wir es nicht ändern. Aber in der Regel haben die Leute Geduld.“

So war es tatsächlich. Die kleine Schlange löste sich schnell auf, und niemand beschwerte sich. Plötzlich war die Apotheke leer, was Lucie nur recht war, hatte sie doch noch jede Menge Bestellungen aufzugeben, die nicht warten konnten.

Sie machte sich sofort an die Arbeit. Zwischendurch kamen immer mal wieder Kunden, aber sie konnte die Bestellungen trotzdem aufgeben.

Als Hans Haberwein von der Bank zurückkehrte, war sie gerade fertig geworden.

„Ich hoffe, es war nicht zu viel los während meiner Abwesenheit?“, fragte er.

„Nein, es ging ganz gut, und die Bestellungen sind auch raus“, antwortete Lucie. „Nur einmal, als Frau Kugler kam, hat sie den Betrieb aufgehalten – Sie wissen ja, wie sie ist. Da bin ich kurz nervös geworden, aber alles ist gut gegangen.“

„Ja, die Frau Kugler hat mich auch schon nervös gemacht.“ Hans Haberwein lachte. „Aber sie ist eine Seele von Mensch. Und wenn sie selbst mal warten muss, beklagt sie sich nicht.“

Das stimmte allerdings, wie Lucie zugeben musste. Dennoch waren ihr Kunden, die etwas schneller auf den Punkt kamen als Frau Kugler, lieber, doch das behielt sie für sich.

„Na ja“, fuhr ihr Chef fort, „nächste Woche ist ja auch Herr Drewisch wieder da, da sind wir immer mindestens zu zweit in der Apotheke.“

Thorsten Drewisch war Lucies Kollege, mit dem sie sich von Anfang an ähnlich gut verstanden hatte wie mit ihrem Chef. Er war ein schlanker, nervöser Mann von Ende dreißig mit drei kleinen Kindern, die seine Frau und ihn offenbar überforderten. Das älteste Kind war vier, die mittlere fast drei, das Baby gerade ein dreiviertel Jahr alt.

Lucie glaubte insgeheim, dass Thorsten froh war, dem häuslichen Chaos jeden Tag entfliehen zu können. Ihr Mitgefühl galt vor allem seiner Frau, die den Haushalt mit den Kindern allein bewältigen musste.

Das Baby, hatte Thorsten ihr erzählt, war ungeplant gekommen. Seine Frau und er hätten sich zwar ein drittes Kind gewünscht, aber nicht so schnell.

Wieso sie dann nicht verhütet hätten, hatte Lucie gefragt, aber nur ein verlegenes Lächeln als Antwort bekommen.

Dieses war ihre erste Stelle als Apothekerin, und das gleich in einer alteingesessenen Apotheke mitten in München-Schwabing. Ihr war bewusst, dass sie großes Glück gehabt hatte.

Lucies Chef, Hans Haberwein, war Anfang sechzig und ein erfahrener Mann, der auf jede ihrer Fragen eine Antwort wusste und sie nie abwies – gleichgültig, wie beschäftigt er gerade war. Sie hatte noch nie erlebt, dass er aus der Haut gefahren wäre, obwohl es jeden Tag genügend Gründe dafür gab, denn eigentlich ging immer etwas schief. Aber er nahm es mit der heiteren Gelassenheit, die er auch seinen Kundinnen und Kunden gegenüber an den Tag legte.

Hans Haberwein war klein und schlank, hatte aber ein rundes Gesicht mit freundlichen Augen und einem Mund, der sich oft und gern zu einem Lächeln verzog. Auch seine Hände schienen nicht zu dem schlanken Körper zu passen, sie wirkten wie mollige Kinderhände. Er hatte eine spiegelblanke Glatze mit einem schmalen Haarkranz am unteren Rand, den er mit Hingabe pflegte.

Er war Witwer und Vater von drei Söhnen, von denen keiner die Apotheke übernehmen wollte. In Lucie sah er, was aber außer ihm – so glaubte er – niemand wusste, die Tochter, die er und seine Frau sich immer gewünscht, aber nie bekommen hatten.

Seinen Söhnen war indes nicht verborgen geblieben, dass Lucie ihrer verstorbenen Mutter mit ihren langen, glatten, braunen Haaren, den braunen Augen und dem liebenswürdigen Lächeln ein wenig ähnlich sah, und so machten sie sich durchaus ihre Gedanken. Darüber sprachen sie aber nur untereinander, nicht mit ihrem Vater.

Jeder von ihnen hatte Lucie einer gründlichen Prüfung unterzogen, und jeder von ihnen war zu dem Ergebnis gekommen, dass sie „in Ordnung“ war. Mehr gab es dazu aus ihrer Sicht nicht zu sagen.

Die drei waren an der Apotheke nicht interessiert, wohl aber daran, dass ihr Vater weiterhin Spaß daran hatte, seinen Beruf auszuüben. Wenn Lucie Sartorius dazu beitrug, war das für alle Beteiligten nur gut. Und wenn sie daran interessiert war, die Apotheke später einmal zu übernehmen: umso besser.

„Machen Sie Pause, Frau Sartorius“, sagte Hans Haberwein.

Doch noch bevor Lucie reagieren konnte, kam ein ganzer Schwall von Kunden herein: eine Mutter mit zwei kleinen Kindern, ein nervöser junger Mann im Anzug, ein offensichtlich verschnupfter Teenager, ein altes Ehepaar, das sich an den Händen hielt und sofort die beiden Sitzplätze ansteuerte, die die Apotheke für ältere oder gebrechliche Kundinnen und Kunden bereithielt.

Lucie grinste ihren Chef vergnügt an, denn natürlich konnte sie nicht ausgerechnet jetzt in die Pause entschwinden. Sie nahmen sich also zu zweit der Kundschaft an.

Da in der Zwischenzeit immer neue Leute hereinkamen, dauerte es noch über eine halbe Stunde, bis Lucie endlich die Apotheke verlassen konnte, um in ihrer nahegelegenen Wohnung eine Kleinigkeit zu essen.

***

„Was ist los mit dir?“, fragte Till Rasmussen, der Kollege, mit dem sich Manuel Werner ein Büro teilte.

Sie waren Möbeldesigner bei einem bekannten Hersteller. Oft arbeiteten sie zusammen, manchmal waren sie aber auch Konkurrenten. Trotzdem kamen sie gut miteinander aus.

„Was soll mit mir los sein?“

„Ich habe nicht auf die Uhr gesehen, aber du starrst jetzt seit geschätzten zehn Minuten aus dem Fenster, ohne dich zu rühren. Denkst du über die Ausziehmechanik bei unserem neuen Tisch nach?“

Manuel schüttelte langsam den Kopf, während er sich Till zuwandte.

Sie waren gegensätzliche Typen, nicht nur äußerlich, dennoch hatte es noch nie ernsthaften Ärger zwischen ihnen gegeben. Till war klein und rundlich, ein Genussmensch durch und durch, dazu einer jener Menschen, denen es gegeben ist, das Leben leichtzunehmen.

Manchmal gelang es Manuel, sich von dieser Leichtigkeit anstecken zu lassen. Im Augenblick freilich war er weit davon entfernt.

„Nein“, antwortete er ehrlich. „Ich habe überhaupt nicht an den Tisch gedacht.“

„Dir ist aber schon klar, dass wir bald eine Lösung präsentieren müssen? Bisher ist uns nichts Vernünftiges eingefallen, und das sollten wir möglichst bald ändern.“

„Ich weiß“, sagte Manuel müde. „Aber ich kann im Augenblick einfach nicht denken.“

Till wartete, ob sein Kollege noch mehr sagen würde, doch es kam nichts mehr.

„Du willst nicht reden, das habe ich schon begriffen“, sagte er vorsichtig. „Aber du kannst auch nicht zulassen, dass deine Probleme sich auf unsere Arbeit auswirken. Wir haben einen Auftrag, den wir bisher nicht erfüllt haben. Unser Ruf in der Firma ist gut, den dürfen wir uns nicht verderben. Wir können bei der Präsentation nicht sagen: ‚Zur Ausziehmechanik ist uns leider nichts Vernünftiges eingefallen, am besten kupfern wir sie bei der Konkurrenz ab‘.“

Manuel starrte noch einige Sekunden lang auf die Tischplatte vor ihm, dann straffte er sich.

„Natürlich nicht“, sagte er mit Entschlossenheit in der Stimme. „Entschuldige bitte, Till. Ich weiß, dass ich mich nicht so gehenlassen darf, aber …“ Er brach ab, murmelte etwas, von dem Till nur das Wort „schwierig“ verstand, um dann – wieder deutlicher – hinzuzusetzen: „Danke, dass du mich nicht bedrängst und so viel Verständnis für mich aufgebracht hast. Ich versuche, mich zusammenzureißen, okay?“

„Vielleicht solltest du lieber mit jemandem reden“, sagte Till ruhig. „Mir hilft das meistens besser als dieses männliche: ‚Ich muss stark sein‘. Das ist doch Mist und macht einem das Leben, wenn man sowieso Probleme hat, nur noch schwerer.“

„Mir geht es nicht ums ‚Starksein‘, glaub mir. Außerdem …“ Wieder stockte Manuel, beendete seinen Satz dann aber doch: „Außerdem geht es hier nicht um meine eigenen Probleme.“

Till sah ihn verwundert an. Er öffnete bereits den Mund, um eine Frage zu stellen, schloss ihn dann aber wieder, da er wusste, dass er keine Antwort bekommen würde.

Manuel bereute seinen letzten Satz bereits, das war ihm deutlich anzusehen. Sein Gesicht war verschlossen, als er sich wieder dem Bildschirm zuwandte, auf dem der Tisch zu sehen war, den sie entworfen hatten.

Sie waren sehr stolz auf diesen Entwurf, es gab nur ein Problem: Der Tisch sollte auch noch als ausziehbares Modell auf den Markt kommen, und dazu war ihnen bisher nichts eingefallen, was ihren Ansprüchen genügte. Entweder mussten die Ausziehplatten woanders verstaut werden, was speziell in kleinen Wohnungen ein Platzproblem darstellte, oder sie lagen unter der eigentlichen Tischplatte und machten das Modell dadurch wuchtig und weniger elegant.

Ganz abgesehen davon, dass sich ein Tisch, so wünschten es die Kunden, mit wenigen Handgriffen vergrößern lassen musste. Niemand wollte erst eine lange Bedienungsanleitung lesen, um an seinem Tisch ein paar zusätzliche Personen unterbringen zu können.

„Und wenn wir die Platten dünner machen?“, fragte Manuel. „Hier, sieh mal …“

Sie kreisten das Problem einmal mehr ein und arbeiteten zwei Stunden konzentriert, freilich ohne am Ende zur gewünschten Problemlösung zu gelangen. Dennoch war vor allem Till froh, war doch Manuel zum ersten Mal seit Wochen wieder der Alte gewesen.

Er konnte nur hoffen, dass sich die Probleme, die seinem Kollegen offenbar so viel Kopfzerbrechen bereiteten, in absehbarer Zeit lösen ließen …

***

„Was mache ich mit einem Patienten, der erheblichen Stress hat, aber mit mir nicht darüber reden will, Uli?“, fragte Stefan Frank, als er seinem Freund Ulrich Waldner in dessen Büro in der Klinik gegenübersaß. „Es ist ein junger Mann, der zum ersten Mal bei mir war und dem du an der Nasenspitze ansehen kannst, dass er aus dem Gleichgewicht ist.“

Es war ihr tägliches Ritual: Stefan besuchte seine Patienten in der Klinik jeden Tag, obwohl er dafür den weiten Weg von Grünwald nach Schwabing auf sich nehmen musste. Er wusste, wie wichtig diese Besuche für die Kranken waren, und er nahm sich immer Zeit für sie.

Viele fühlten sich verloren in einem Krankenhaus, selbst wenn es eine Privatklinik mit ausgezeichnetem Personal wie die Waldner-Klinik war. Aber das konnte vielen die Angst nicht nehmen, und so setzte sich Stefan zu seinen Patientinnen und Patienten und ließ sich von ihnen ausführlich schildern, wie es ihnen ging. Wenn er sich verabschiedete, lächelten die meisten und freuten sich bereits auf seinen nächsten Besuch.

Anschließend suchte Stefan meist das Chefbüro auf, um mit seinem Freund Ulrich eine Tasse Kaffee zu trinken und ein wenig zu plaudern. Manchmal besprachen sie, was aktuell wichtig war, manchmal verloren sie sich aber auch in Erinnerungen an alte Zeiten. Es war eine ruhige halbe Stunde, eine Oase in der Hektik des Alltags, die ihnen beiden wichtig war.

Es kam freilich auch vor, dass Stefan bei Waldners zu Abend aß. Dann fiel der Kaffee mit Ulrich aus, und sie begaben sich sofort ins Penthaus über der Klinik, wo Ruth und Ulrich Waldner in einer großzügigen Wohnung mit Blick auf den Englischen Garten wohnten.

„Du übst dich in Geduld“, beantwortete Ulrich die Frage seines Freundes. „Wenn ein Patient zu dir kommt und dir seine Beschwerden schildert, hat er den ersten Schritt bereits getan. Dass er dir nicht sofort sein Leben anvertraut, ist doch normal.“

„Genau das hat Schwester Martha auch gesagt. Natürlich habt ihr beide recht, ich sehe das genauso. Bloß habe ich in diesem Fall das Gefühl, dass der Mann ziemlich schnell Hilfe braucht, weil sonst etwas passieren könnte …“

„Was meinst du damit?“, fragte Ulrich verwundert. „Hältst du ihn gesundheitlich für so gefährdet?“

„Nicht unbedingt.“ Stefan schüttelte langsam den Kopf. „Ich kann es dir nicht genauer sagen, Uli. Er kommt mir vor wie ein Kessel mit Überdruck. Wenn der Kessel platzt, weiß man nicht, was passiert.“

„Was für Beschwerden hat er denn?“

„Er kann nicht schlafen, hat Albträume, Magenschmerzen, gelegentlich auch Kopfschmerzen, Konzentrationsschwäche … Alles nicht ungewöhnlich, wenn jemand unter Druck steht. Aber etwas sagt mir, dass das noch nicht alles ist. Er steht nicht einfach unter Druck, er hat auch Angst, er macht sich Sorgen …“

„Job, Geld, Freundin“, zählte Ulrich mögliche Problemfelder auf.

„Er hat behauptet, alles sei in Ordnung und in seinem Leben hätte sich in letzter Zeit nichts verändert, was vermutlich nicht stimmt. Aber wie soll ich ihn zum Reden bringen?“

„Indem du nicht nachfragst“, riet Ulrich. „Wenn er ohnehin unter Druck steht, braucht er nicht noch zusätzlich welchen von seinem Arzt.“

„Da magst du wohl recht haben.“ Stefan seufzte, leerte seine Tasse und stand auf. „Ich muss nach Grünwald zurück, Alexa hat versprochen zu kochen, und ich sehne mich nach einem ruhigen Abend, muss ich gestehen. Es war ein anstrengender Tag.“

Die beiden Männer verabschiedeten sich mit einer herzlichen Umarmung. Bevor Stefan jedoch die Klinik verließ, machte er noch einen Umweg über die Unfallambulanz, denn er hatte zuvor gehört, dass Eva Körner, die Stationschefin, Dienst hatte.

Als sie ihn sah, kam sie lächelnd auf ihn zu und begrüßte ihn mit zwei Wangenküssen.

„Das ist nett, dass du dich auch wieder einmal bei uns blicken lässt, Stefan.“

„Nicht ganz ohne Hintergedanken“, gestand er.

„Schade.“ Ihr Lächeln vertiefte sich. „Und ich wollte mir schon einbilden, du hättest Sehnsucht nach uns gehabt.“

„Die hatte ich selbstverständlich auch. Aber …“

„Sag schon, was du wissen willst.“

„Vor Kurzem hattet ihr einen Patienten namens Manuel Werner. Er hatte sich einen Knöchel verstaucht. Möglich, dass du dich gar nicht erinnerst, du hast ihn nur untersucht, Herr Blatt hat ihn dann behandelt …“

„Ich erinnere mich sogar sehr gut, weil mir einiges an Herrn Werner seltsam vorgekommen ist.“

„So, was denn?“

„Ist er ein Patient von dir?“

„Seit heute. Er hat vielfältige Beschwerden und steht offenbar unter starkem Stress, will aber nicht reden. Was war seltsam an ihm?“

„Er hatte Kratz- und Bisswunden am Körper, auch blaue Flecke, die er vor uns verbergen wollte, was ihm aber nicht gelungen ist. Er hat dann behauptet, eine Katze hätte ihm die Verletzungen zugeführt, was ich nicht geglaubt habe. Aber da er darüber nicht reden wollte, habe ich aufgehört, Fragen zu stellen. Er war ja nicht verpflichtet, sie mir zu beantworten.“

„Seltsam … Und wie hat er sich den Knöchel verstaucht?“

„Seine Angaben dazu waren widersprüchlich. Zuerst hat er behauptet, er habe eine Treppenstufe verfehlt und sei umgeknickt. Dann sagte er, er sei über etwas, was in der Wohnung lag, gestolpert. Als ich ihn gefragt habe, ob er nun eine Treppenstufe verfehlt oder in der Wohnung gestolpert sei, konnte er sich an die Geschichte mit der Treppe, die er kurz zuvor erzählt hatte, nicht mehr richtig erinnern. Er machte, um es vorsichtig auszudrücken, einen verwirrten Eindruck.“

„Mhm, verwirrt wirkte er heute Morgen nicht, wohl aber wie ein Mensch unter starkem Druck. Von Kratz- oder Bissspuren habe ich nichts gesehen, und ich habe ihn gründlich untersucht.“

„Es ist sicher schon zwei Wochen her, dass er hier war. Eins jedenfalls halte ich für sicher, Stefan: Er hat große Probleme.“

„Das ist mir klar. Ich bin froh, dass du dich so gut an ihn erinnern konntest.“

Stefan verabschiedete sich von seiner Kollegin und machte sich nachdenklich auf den Weg nach Grünwald. Welches Geheimnis hütete Manuel Werner? Er konnte nur hoffen, dass es ihm gelingen würde, es in absehbarer Zeit zu lüften, denn sonst würde er seinem jungen Patienten kaum helfen können.

Als er in Grünwald ankam, stellte er nur den Wagen in der Einfahrt seines Hauses in der Gartenstraße ab, bevor er sich auf den Weg zu seiner Freundin Alexandra Schubert machte, deren Wohnung wenige Gehminuten entfernt lag.

Er hatte ihre Wohnungstür noch nicht erreicht, als Alexandra sie bereits von innen öffnete und in seine Arme flog. Ihr Kuss war so stürmisch wie in den Anfangstagen ihrer Beziehung, und er erwiderte ihn in gleicher Weise. Sie waren kein frisch verliebtes Paar mehr, aber sie fühlten sich so.

Für Stefan war die Liebe zu Alexandra ein großes, unerwartetes Glück, das seinem Leben eine ganz neue Wendung gegeben hatte. Er widmete seinen Patienten – wie zuvor auch – einen Großteil seiner Kraft und seiner Zeit, doch sie waren nicht länger sein alleiniger Lebensinhalt, und das war nicht nur für ihn gut, sondern auch für seine Patienten.

Alexandra war Augenärztin und arbeitete als Partnerin einer älteren Kollegin in einer Grünwalder Praxis. Ihr quirliges Temperament hatte Stefan von Anfang an angezogen. Er konnte sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen.

„Woran denkst du?“, fragte sie später, als sie das Essen beendet hatten und noch bei einem Glas Wein zusammensaßen.

„Entschuldige, ich weiß, ich sollte meine Arbeit nicht mit nach Hause nehmen. Aber ich hatte heute einen neuen Patienten, der mich beschäftigt. Ich habe auch Uli schon von ihm erzählt.“

Stefan berichtete ihr in allgemeinen Worten, die das Patientengeheimnis nicht verletzten, von Manuel Werner.

„Ich werde abwarten müssen, bis er sich mir anvertraut“, endete er. „Das heißt, falls er es sich nicht anders überlegt und erst gar nicht wiederkommt.“

„Glaubst du ihm, dass er keinen Stress in seinem Job hat? Und auch sonst keine Sorgen? Was macht er überhaupt beruflich?“

„Er ist Möbeldesigner bei einem ziemlich bekannten Hersteller exklusiver Möbel. Es klang überzeugend, als er das sagte, aber das heißt natürlich noch nichts. Ich kann nur abwarten, bis er redet, und das ist eine Situation, die ich nicht gern habe. Lieber ist es mir, wenn ich etwas tun kann.“

„Du kannst schon etwas tun“, entgegnete Alexandra. „Du kannst ihm deutlich machen, dass er reden muss, wenn er will, dass du ihm hilfst.“

„Das habe ich ihm natürlich schon gesagt – ohne jeden Erfolg.“

„Klar, beim ersten Mal wirkt das noch nicht. Aber wenn du dranbleibst und es noch einige Male wiederholst …“ Alexandra stand auf und nahm mit größter Selbstverständlichkeit auf Stefans Schoß Platz. Sie küsste ihn zärtlich, bevor sie feststellte: „Was du jetzt brauchst, ist Ablenkung. Und mir würde da auch schon etwas einfallen …“

Stefans Arme schlossen sich ganz von selbst um sie. So war das oft mit Alexandra, und er hätte es nicht anders haben wollen. Erotik war ein wichtiger Teil ihrer Beziehung. Sie genossen es beide, einander körperlich nahe zu sein.

Tatsächlich gab es kein besseres Mittel, seinen Kopf von allem, was ihn bedrückte oder beunruhigte, zu befreien, als Alexandra zu lieben – zärtlich oder leidenschaftlich oder beides zugleich.

Viel später, kurz bevor sie in seinen Armen einschlief, sagte Alexandra leise: „Ich bin sehr glücklich mit dir, Stefan.“

Während er noch in die Dunkelheit lächelte und sich wieder einmal fragte, welche wunderbare Fügung des Schicksals ihm diese Frau zugeführt hatte, hörte er, wie ihre Atemzüge leiser und regelmäßiger wurden, bis sie einschlief. Wenig später übermannte ihn selbst der Schlaf.

***

Thorsten Drewisch war pünktlich in der Apotheke erschienen, doch die erhoffte Entlastung brachte das nicht für Lucie und ihren Chef, denn der Kollege erklärte mit leiser Stimme, seine Frau habe eine Art nervösen Zusammenbruch erlitten. Er sah noch blasser aus als sonst, tiefe Schatten lagen unter seinen Augen.

„Der Arzt hat gesagt, sie muss sich schonen und soll ein paar Tage das Bett hüten. Ich brauche leider noch eine Woche Urlaub“, erklärte er und lächelte verlegen. „Ich wollte das nicht am Telefon sagen, deshalb bin ich hergekommen. Im Augenblick passt eine Nachbarin auf die Kinder auf, aber ich muss so schnell wie möglich zurück.“

Er tat Lucie leid, obwohl sie wusste, was das bedeutete: mindestens eine weitere Woche längere Arbeitszeiten für sie und Hans Haberwein. Sie machten dennoch beide gute Miene zum bösen Spiel und schickten Thorsten Drewisch mit den besten Genesungswünschen für seine Frau wieder nach Hause.

„Wenn seine Frau einen nervösen Zusammenbruch hatte, dann hilft es ihr doch nicht, sich ein paar Tage ins Bett zu legen!“, sagte Lucie kopfschüttelnd, als er gegangen war. „Wie soll sie denn zur Ruhe kommen, wenn die Kinder ständig um sie herum sind? Ich weiß ja nicht, wie sie wohnen …“

„Sie haben ein Reihenhaus am Rande von Schwabing gekauft“, erklärte ihr Chef. „Das setzt Herrn Drewisch zusätzlich unter Druck, sie haben einen ziemlich hohen Kredit dafür aufgenommen.“

Mit sorgenvoller Miene setzte er hinzu:

„Wenn das nur gut geht! Ich glaube, die beiden haben sich zu viel aufgeladen. Drei Kinder, eine hohe Hypothek, nur ein Verdienst … Frau Drewisch ist auch Apothekerin. Als sie ihr Examen gemacht hatte, hat sie ebenfalls hier gearbeitet, halbtags zuerst, dann nur noch stundenweise. Aber mit drei kleinen Kindern geht das natürlich nicht mehr.“

„Hört sich nach einer ziemlich verfahrenen Situation an“, sagte Lucie.

„Ja, leider. Ich würde Herrn Drewisch ungern verlieren. Er ist seit über zehn Jahren bei mir, und ich schätze ihn sehr. Seine Frau natürlich auch.“

„Dann müssen wir eben überlegen, ob wir den beiden irgendwie helfen können.“

„Ich habe ihn schon öfter gefragt, was ich tun kann, aber er lehnt jede Hilfe ab“, berichtete Hans Haberwein.

„Weil Sie sein Chef sind“, stellte Lucie fest. „Von mir könnte er vielleicht eher Hilfe annehmen. Und wenn ich nur mal für zwei Stunden das Baby spazieren fahre oder so – manchmal helfen ja schon solche kleinen Dinge.“

„Versuchen Sie es. Ich hoffe, Sie haben Erfolg damit. Wie gesagt, mir liegt viel an Herrn Drewisch.“

Hans Haberwein warf einen Blick auf den Dienstplan und runzelte die Stirn.

„Das wird also eine weitere harte Woche für uns“, stellte er fest. „Außerdem haben wir am Mittwoch Notdienst bis zwei Uhr morgens, ab zwei ist die Flora-Apotheke an der Reihe. Aber die halbe Nacht ist schlimm genug, wenn man personell so dünn besetzt ist wie wir zurzeit. Ich werde das übernehmen, aber das bedeutet, dass Sie …“

Lucie unterbrach ihn. „ICH übernehme den Notdienst, wie geplant. Wir schaffen das schon, schließlich sind wir während Thorstens Urlaub in den letzten beiden Wochen auch zurechtgekommen.“

„Das ist zwar richtig, aber ich möchte es nicht gern darauf ankommen lassen, dass Sie irgendwann auch am Ende Ihrer Kräfte sind.“ Der Apotheker schüttelte den Kopf, in Gedanken war er immer noch bei den Problemen seines Angestellten. „Etwas läuft bei Drewischs zu Hause gehörig aus dem Ruder.“

„Ich schätze, seine Frau braucht einfach Hilfe“, stellte Lucie sachlich fest. „Drei kleine Kinder können verdammt anstrengend sein. Wenn Thorsten wieder hier ist, werde ich mal mit ihm reden. Ich glaube, er lässt seine Frau ein bisschen hängen, weil er sich auch überfordert fühlt.“

Ein überraschter Blick traf sie. „Er lässt sie hängen? Wie meinen Sie das?“

„Männer sind oft froh, wenn sie mit Haushalt und Kindern nichts zu tun haben. Ist Ihnen das noch nicht aufgefallen?“

Zu ihrem Erstaunen zeigte sich eine leichte Röte auf den runden Wangen ihres Chefs.

„Was ist denn?“, fragte sie unsicher. „Habe ich etwas Falsches gesagt?“

„Nein, nein“, murmelte Hans Haberwein. „Ich schätze nur, ich war auch einer von diesen Männern.“

Er drehte sich um und verschwand eilig in seinem Büro.

Zum Glück kamen danach in kurzem Abstand mehrere Kundinnen und Kunden herein, sodass Lucie keine Zeit hatte, sich Gedanken darüber zu machen, ob sie ihrem Chef auf die Füße getreten war. Aber das schien nicht der Fall zu sein, denn er war so freundlich und liebenswürdig zu ihr wie immer, und er kam mit keinem Wort auf ihre Unterhaltung zurück.

Erst abends, als sie sich von ihm verabschiedete, sagte er: „Ich war trotzdem ein guter Vater, glaube ich. Aber den Haushalt und die Hauptlast der Erziehung habe ich tatsächlich gern meiner Frau überlassen. Heute tut mir das leid.“

Lucie lachte. „Ihre Frau hat das mit der Erziehung doch gut hingekriegt, Herr Haberwein. Wer weiß, was aus Ihren Söhnen geworden wäre, wenn Sie sich eingemischt hätten.“

Er stimmte in ihr Lachen ein, und damit war der kurze Moment der Irritation zwischen ihnen vergessen.

***

Manuel streifte ruhelos durch die Straßen rund um den Hauptbahnhof. Es war lächerlich, das wusste er, aber er konnte nicht anders.

Es war auch lächerlich, immer noch die Hoffnung zu haben, dass er etwas tun könnte. Dennoch war es ihm unmöglich, einfach aufzugeben.

Das Gespräch mit Herrn Dr. Frank fiel ihm wieder ein. Er würde den nächsten Termin in der Praxis nicht wahrnehmen, das war bereits beschlossene Sache.

Was sollte er dort? Zwar war ihm der Arzt sympathisch gewesen, aber was nützte das? Wahrscheinlich war er sogar vertrauenswürdig, aber helfen konnte er ihm trotzdem nicht.

Er hätte gar nicht erst hingehen sollen, das wäre besser gewesen. Irgendwie musste er allein aus der Sache herauskommen.

Seine Augen irrten umher, blieben hier und da hängen, irrten weiter. Jemand sprach ihn an, hielt ihm in einer schmutzigen, gekrümmten Hand etwas hin, flüsterte etwas von „super Qualität“. Er wischte die Hand ungeduldig beiseite.

„Kein Bedarf“, sagte er und eilte weiter.

Der andere rief ihm ein derbes Schimpfwort hinterher, doch das war Manuel gleichgültig.

Und wenn er nachfragte? Vielleicht hatte jemand etwas gehört oder gesehen, wusste etwas, das ihm weiterhelfen würde.

Aber gab es hier jemanden, auf dessen Wort Verlass war? Nach allem, was er wusste, eher nicht. Er würde sich auf seine Augen und seinen Instinkt verlassen müssen, wenn er weiterkommen wollte.

Ganz plötzlich verließen ihn die Kräfte. Er musste stehen bleiben und sich an einer Mauer abstützen, denn seine Knie gaben unter ihm nach.

Sofort war einer neben ihm, der ihm Hilfe anbot. Doch Manuel spürte eine suchende Hand, die sich auf seine Jackentasche zu bewegte, und das brachte seine Kräfte zurück.

„Lass mich in Ruhe!“, sagte er grob, stieß sich von der Mauer ab und setzte seinen Weg fort.

Nach einigen Metern jedoch entschloss er sich, die Suche abzubrechen. Er war nicht in der Verfassung, er brauchte Ruhe. Wenn er so weitermachte wie in den letzten Wochen, würde er am Ende noch seinen Job gefährden.

Na und?, dachte er. Ist der Job wirklich so wichtig – wenn man bedenkt, was hier auf dem Spiel steht?

Als er seine Wohnung erreicht hatte, stellte er sich eine Viertelstunde lang unter die Dusche, bis er förmlich dampfte und das Gefühl hatte, seinen Kopf leergespült zu haben. Anschließend ging er ins Bett und schlief sofort ein.

Wie durch ein Wunder verschonten ihn in dieser Nacht die Albträume.

***

„Hey, ich bin Anna Schober“, sagte die hochgewachsene Blonde, die bei Lucie geklingelt hatte. „Ich wohne seit heute nebenan und dachte, ich sage mal kurz Hallo.“

„Lucie Sartorius“, erwiderte Lucie. „Komm rein, ich koche gerade. Willst du mitessen?“

„Da klingele ich bloß mal, und du lädst mich gleich zum Essen ein?“ Ihre Besucherin lachte überrascht. „Damit hatte ich nicht gerechnet, aber ich nehme die Einladung gerne an. Ich bin hungrig, habe aber nie Lust, mir allein was zu kochen.“

„Ich schon“, erklärte Lucie. „Ich koche immer für mich allein, meistens ein bisschen mehr, damit es für zwei Tage reicht. Du hast Glück, heute gibt es Hühnchen mit Blumenkohl, das kann ich ziemlich gut. Andere Sachen gehen auch schon mal schief.“

Anna Schober erwies sich als sympathisch und unkompliziert. Sie erzählte, während Lucie das Essen zubereitete, bereitwillig von sich und ihrer derzeitigen Lebenssituation.

„Ich studiere im ersten Semester auf Lehramt, Deutsch und Geschichte, dabei bin ich schon dreiundzwanzig. Andere in meinem Alter sind fast fertig.“

„Was ist passiert?“

„Zwei Mal die falsche Wahl getroffen“, gestand Anna. „Zuerst wollte ich Jura studieren, weil ich diese Anwältinnen in Fernsehserien so cool fand, aber das Studium hat mich dermaßen genervt, das kannst du dir nicht vorstellen. Danach wollte ich Ärztin werden, aber das ist leider daran gescheitert, dass ich nicht an Leichen arbeiten kann.“

„Hast du das nicht vorher gewusst?“