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SCHEIBE . SCHINDERHANNES IM TAUNUS…

Der berüchtigte

Schinderhannes

in Taunus, Wetterau und Frankfurt

Ausschnitt aus der vollständigen Biographie „Schinderhannes.
Nichtsnutz, Pferdedieb, Räuberhauptmann?“

Mark Scheibe

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Scheibe, Mark: Der berüchtigte Schinderhannes in Taunus, Wetterau und Frankfurt. Ausschnitte aus der vollständigen Biographie „Schinderhannes. Nichtsnutz, Pferdedieb, Räuberhauptmann?“ (6. Auflage 2015) / Mark Scheibe. – 1. Auflage, Kelkheim, 2015

ISBN 978-3-9813188-6-9

Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen.

© Stiftung Historische Kommission für die Rheinlande 1789-1815, Am Weiherhaag 4b, 65779 Kelkheim. Druck und Bindearbeit: Druckerei Berthold Faber, Mandelbachtal. Printed in Germany.

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Johannes Bückler, genannt Schinderhannes, gemalt von K.M. Ernst, November 1803.

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Juliana Blasius und ihr Sohn Franz Wilhelm.

Anmerkung zum Text

Das Zeichen SAGE bedeutet, daß der an dieser Stelle aufgeführte Bericht auf Überlieferungen beruht, deren Wahrheitsgehalt heute wahrscheinlich nicht mehr durch zeitgenössisches Quellenmaterial und glaubhafte Aussagen überprüft werden kann.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kurzer Abriß der Lebensdaten des Johannes Bückler, genannt Schinderhannes

Der geschichtliche Hintergrund

Andere Verbrecher in der Region

-Balzar von Flammersfeld

-Langer Friedrich

-Picart, Fetzer, Reinhard und die Niederländer/Neuwieder Bande

Kopfjäger Anton Keil

Mythos Schinderhannes

Überblick über die Schinderhannes-Sagen

Lebenslauf des Johannes Bückler, genannt Schinderhannes

Eltern, Kindheit und Jugend

Ein Ausflug von Darmstadt bis an die Dill

Der Räuberhauptmann Johannes durch den Wald

Die Liebschaft mit Catharina Pfeiffer

Unterwegs als Krämer Jakob Ofenloch und Beginn der Einbrüche in Judenhäuser

Julchen Blasius

Schloßborn, die Hasenmühle und die Niederländer Bande

Überfall auf die Oberposthalterei zu Würges

Sturm auf das Amtshaus in Königstein

Flucht der Räuber und Polizeiaktionen

Polizeiministerkonferenz zu Wetzlar

Das erste Kind mit Julchen

Sommer 1801: Raub, Mord und Totschlag

Södel und die „Residenz“ des Schinderhannes

Letzte Wochen in Freiheit

Überall Schinderhannes: Vermeintliche Überfälle des Räubers in Seitzenhahn und Nieder-Ems

Gnadenersuche

„Frankfurt unterstützt das Diebswesen“

Rückzug an die Lahn und Festnahme

Flucht eines Gefangenen aus Mainz

Zweite, dritte und vierte Festnahme im Wied-Runkelischen

Auslieferung nach Mainz

Verhöre in Mainz

Das zweite Kind mit Julchen

Anklage und Gnadenersuch an Napoleon Bonaparte

Prozeß

Urteil

Hinrichtung Bücklers am 21. November 1803

Die Verklärung Bücklers kurz nach seinem Tod

Anhang I: Die Täter (mit Tatverdächtigen und Freigesprochenen)

Anhang II: Ortsverzeichnis Taunus, Wetterau, Frankfurt (einschließlich der Lahnregion)

Anhang III: Bildnachweise

Vorwort

Der berüchtigte Schwerverbrecher und Romanheld Johannes Bückler, genannt Schinderhannes (1779-1803), ist heute vor allem durch den Kinofilm 1957 mit dem bekannten Schauspieler Curd Jürgens ein Begriff. Doch der Mythos eines „edlen“ Räuberhauptmanns, deutschen Robin Hoods und charismatischen Freiheitskämpfers gegen die französische Fremdherrschaft ist ein Produkt der Sensationspresse, der Romanschreiber und Romantiker, die sich in den großen Städten fern vom Elend des Landes ein Bild von einem Helden auf dem Papier schufen. Die Realität sah anders aus: Bückler war vor allem einer der brutalsten Serienkriminellen mit einem ausgeprägten Haß gegen die jüdische Bevölkerung. Seine Taten, vorwiegend Raubüberfälle, räuberische Erpressungen und Diebstähle, dienten ihm nicht nur dazu, jeweils für kurze Zeit ein angenehmes und freies Leben führen zu können, sondern auch die Aufmerksamkeit der rheinischen Mafia, der sogenannten Niederländer oder Neuwieder Bande, auf sich zu lenken. Eine Mitgliedschaft in dieser Gruppe schien ihm das höchste Ziel seiner Karriere. Quellen, die ihn als „edel“, als Robin Hood oder politischen Aktivisten kennzeichnen, liegen trotz zehntausender Seiten zeitgenössischen Materials und seinen umfangreichen Aussagen vor dem Mainzer Gericht nicht vor. Auch die Nachfahren, der vor knapp 200 Jahren nach Brasilien ausgewanderten Hessen und Hunsrücker, die seitdem weitgehend unbeeinflußt von deutscher Literatur und Filmen waren, sehen ihn heute genauso wie die damalige Landbevölkerung: als Nichtsnutz und Kriminellen.

Das vorliegende Buch ist ein Ausschnitt aus der vollständigen Biographie „Schinderhannes. Nichtsnutz, Pferdedieb, Räuberhauptmann?“ und möchte sich regional auf die Geschehnisse und Sagen in Taunus, Wetterau und Frankfurt beschränken: Alle Nachweise und Sagen über den Räuber sind insofern aufgeführt, soweit sie mir in 21 Jahren intensiver Recherche zur Kenntnis gekommen sind. Zur besseren Lesbarkeit sind alle Ortsnamen der Region Taunus/Wetterau/Frankfurt im Text fett gedruckt. Auf Fußnoten und Quellenangaben habe ich hier aus Platzgründen verzichtet und bitte den interessierten Leser, diese im „Schinderhannes. Nichtsnutz…“ nachzuschlagen.

Meine Beschäftigung mit diesem Thema begann mit dem studentischen Filmprojekt „Schinderhannes“ (1993-2000).1 Die fast achtjährige Produktionszeit mit dem Ziel, die historische Person darzustellen, entwickelte sich zu einer etwa 25.000 Seiten umfassenden Quellensammlung, im weiteren Verlauf zu einer juristischen Forschungsarbeit an der Universität Mainz und zu einer bis heute andauernden Puzzlearbeit, in der möglichst alle zeitgenössischen Dokumente über Bückler gesammelt, ausgewertet und in Zusammenhang gebracht wurden. Bei der Arbeit an diesem Buch habe ich dankenswerterweise viele Anmerkungen, Ergänzungen und Korrekturen erhalten und hoffe, ein vollständiges Werk vorlegen zu können. Aus Rücksicht auf eine direkte Nachfahrin Bücklers, deren Ururururururgroßvater aus einer Liaison zwischen dem Räuber und einem jüdischen Dienstmädchen hervorgegangen ist und im Taunus geboren worden war, habe ich einzig hierzu keine näheren Angaben im Buch gemacht.

Danken möchte ich insbesondere Herrn Prof. Dr. Jan Zopfs, Institut für Strafrecht und Strafprozeßrecht am Fachbereich Rechtswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Durch ihn habe ich mich erstmals mit wissenschaftlicher Gründlichkeit dem Thema angenommen, und meine private Recherche wurde so auf neue Füße gestellt. Zu dieser Arbeit wurden u.a. mehr als 1.000 Strafakten von Mainz und Frankfurt ausgewertet, um Bückler in die Kriminalität dieser Zeit besser einordnen zu können. Die bei Prof. Zopfs entstandene Dissertation "Die Strafjustiz in Mainz und Frankfurt/M. 1796-1803 unter besonderer Berücksichtigung des Verfahrens gegen den Serienstraftäter Johannes Bückler, genannt Schinderhannes, 1802/03“ ist 2009 erschienen.

Viel Geduld bewies bei allen diesen Aktivitäten meine Frau Christine; dafür ist selbst ein besonderer Dank an sie nicht ausreichend.

Abschließend möchte ich sehr herzlich allen Lesern danken, die Beiträge zu diesem Buch geliefert haben. Die Hinweise zu bisher unbekannten Quellen oder Korrekturen an meiner Arbeit waren eine große Hilfe. Da das Ziel des vorliegenden Buches die ständige Weiterentwicklung des Themas ist, möchte ich alle Leser zur Verbesserung einladen. Über Ihren Beitrag freue ich mich.

Fischbach/Taunus, im März 2015

Dr. Dr. Mark Scheibe

Stiftung Historische Kommission für die Rheinlande 1789-1815

E-Mail: Scheibe@stiftung-hkr.info

www.forschungsportal-schinderhannes.de

www.stiftung-hkr.info

1 Ein 90minütiger Film über die letzten drei Lebensjahre des Räubers, dargestellt nach den Ermittlungsakten, umgesetzt mit 200 Darstellern; Hauptdarsteller Volker Zill, Regie Daniela Wolf und Mark Scheibe; Uraufführung Oktober 2000 in Königstein/Taunus.

Kurzer Abriß der Lebensdaten des Johannes Bückler, genannt Schinderhannes

* Herbst 1779: Geburtsort vermutlich Weidenbach oder Miehlen bei Nastätten/Taunus.

– Tätigkeit des Vaters: Scharfrichterknecht, Abdecker/Schinder (somit Herkunft aus einer „unehrlichen Familie“), Feldschütz, zuletzt Tagelöhner und Bauer.

– Wohnort bis 1783 in Miehlen, Flucht der Familie wegen Leinwanddiebstahls der Mutter, anschließend als „Bettler“ bis nach Ölmütz in Mähren ziehend, dort Anwerbung des Vaters als Soldat.

– 1788/1789: Der Vater desertiert, die Familie zieht nach Merzweiler im Hunsrück, Wohnort des Großvaters.

– Ende 1795 oder Anfang 1796: Beginn der kriminellen Karriere des Schinderhannes, dreimal Aufnahme und Tätigkeit als Lehrjunge bei Abdeckern. In der Folgezeit sind 40 Vieh- und Pferdediebstähle, ein Einbruch mit mehreren Spießgesellen sowie die Teilnahme und/oder Mittäterschaft an zwei vorsätzlichen Tötungen nachweisbar.

– Februar bis August 1799: Gefangenschaft im Turm zu Simmern, anschließend Flucht und seitdem häufiger Aufenthalt im Rechtsrheinischen, vor allem Taunus, Wetterau und Vorderen Odenwald.

– November 1799 bis Mai 1802: Bückler begeht über 70 Straftaten, u.a. Erpressungen, Raubüberfälle und Einbrüche bei Juden und Christen, ist Teilnehmer bzw. Mittäter an zwei vorsätzlichen Tötungen und einem Raub mit Todesfolge.

– 31. Mai 1802: Festnahme bei Wolfenhausen/Taunus, Abtransport nach Frankfurt, Auslieferung nach Mainz am 16.06.1802.

– 24. Oktober - 16. November 1803: Gerichtsverhandlung vor dem französischen „Spezial-Kriminal-Tribunal“ in Mainz, Urteilsverkündung am 20.11.1803.

† 21.11.1803: Hinrichtung mit 19 Mittätern am heutigen Mainzer Stadtpark.

– Gesamtzahl der nachweisbaren Straftaten Bücklers: 130.

– Täter und Tatverdächtige: 96 (Stand Dez. 2014).

Der geschichtliche Hintergrund

Am westlichen Rand Deutschlands, an der Grenze zu Frankreich und am Rhein, begann 1792 eine lange Zeit der Unsicherheit. Schmuggel und Kriminalität waren die Folge der kriegerischen Auseinandersetzungen, die diese Gegenden von diesem Zeitpunkt an 23 Jahre in Atem hielten. Ausgangspunkt dazu war die radikale Umgestaltung der politischen Situation in Frankreich durch die Revolution in Paris 1789.

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Abb. 3: Französisches Militär in Frankfurt am Main 1792.

Der Sturz der Monarchie in Frankreich und die sich bald durchsetzenden anarchistischen Kräfte verängstigten die bislang herrschende Klasse und die Fürsten der Nachbarstaaten. Schon im Herbst 1792 verlagerte sich die Aufmerksamkeit der europäischen Regierungen an den Rhein, als die französischen Revolutionäre Mainz und sofort darauf Frankfurt, den Taunus und die Wetterau erreichten.

Aber die Besetzung des Rhein-Main-Gebietes war im Dezember des Jahres schon weitgehend rückgängig gemacht worden, und das französische Militär hatte sich auf Mainz und Mainz-Kastell zurückziehen müssen. Im Juli 1793 kapitulierte Mainz, aber schon ein knappes Jahres später standen die Franzosen wieder in der Region: Unter anderem legten sie zwischen Unterliederbach und Erbenheim ausgedehnte Erdhüttendörfer an, um ihre Truppen über den Winter 1794/95 zu bringen. Kaum gelang es den deutschen Reichstruppen, die Franzosen wieder in die Flucht zu schlagen, kamen sie wiederum mit verstärkten Truppenkontingenten zurück. Im Jahr 1796 erlebten nun vor allem Westerwald, Taunus und der Maingrund einen Feldzug, der in seiner Größe in dieser Region einmalig geblieben ist.

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Abb. 4: Beschießung der Stadt Frankfurt am Main in der Nacht zum 14. Juli 1796. Die mit „D“ markierten Flammen führten zur vollständigen Zerstörung der Judengasse.

Aber ihr militärischer Erfolg war wiederum nur von kurzer Dauer. Das Heer geriet Anfang September bei Würzburg in Auflösung und wich nach Westen zurück. Der Sage nach soll der zu diesem Zeitpunkt 17 Jahre alt gewordene Johannes Bückler mit seinen Kumpanen bei der Rückeroberung der Festung Königstein auf österreichischer Seite mitgekämpft haben. Letztendlich wurden die Franzosen über den Rhein zurückgedrängt, aber Kaiser Franz II. blieb keine andere Wahl, ihren Forderungen nachzukommen: Im Frieden von Campo Formio. gestand er der französischen Republik zu, das gesamte linke Rheinufer mit den bisherigen, dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zugehörigen Gebieten, wie der Pfalz, dem Hunsrück, der Eifel bis in den Norden nach Aachen, unter ihre Verwaltung stellen zu dürfen. Aber auch dieser Akt, Frieden zu stiften, bedeutete keine Ruhe für das Rhein-Main-Gebiet: Noch bis zum offiziellen Friedensschluß von Lunéville im April 1801 war das Untermaingebiet von Kastell bis Frankfurt ständig im Feuer der gegnerischen Parteien. Diese unruhigen Jahre wurden zu einem Eldorado für Abenteurer, große und kleine Kriminelle – nicht zuletzt begünstigte sie das Emporkommen eines Abdeckerlehrlings namens Johannes Bückler, der in dieser Zeit zum bekanntesten rheinischen Verbrecher wurde.

Andere Verbrecher in der Region

Will man näher auf Bückler eingehen, ist es angebracht, auch andere in dieser Zeit bekannt gewordene „Outlaws“, Kriminelle bzw. Räuberbanden in der Region Taunus/Wetterau/Frankfurt zu nennen. Schaut man sich die über 1.000 erhaltenen Strafakten der Jahre 1796 bis 1803 aus Mainz und Frankfurt an, merkt man schnell, daß Bückler nur einen sehr kleinen Teil der Kriminalität jener Zeit ausmachte.2

Balzar von Flammersfeld

Der Westerwälder Andreas Ludwig Balzer, genannt „Balzar von Flammersfeld” oder „Capitain noir“, wurde am 3.Oktober 1797 im Alter von 29 Jahren von dem französischen Kriegsgericht der Armee Rhin-et-Moselle, division de blocus d’Ehrenbreitstein wegen Mord, Raub und Verbreitung von Falschgeld zum Tode durch Erschießen verurteilt. Bis zu seinem gewaltsamen Ende auf der Westerburg im Kreis Altenkirchen nutzte er die wirren Zeiten während der ersten Jahre der Revolutionskriege, in denen er eine Wildererbande im Westerwald anführte. Wohl von der Hohen Schule zu Herborn verwiesen, als er der Wilderei überführt werden konnte, floh er nach Rußland zu seinem Bruder, der in der Leibwache des Zaren diente. In russischen Diensten gelang Balzer zunächst eine Karriere als Leutnant des Regiments Nassau, doch er kehrte schließlich zurück und machte mit Gleichgesinnten die Wälder im Westerwald unsicher. Nachdem sich ein französischer Offizier an Balzers Braut vergangen hatte, überredete Balzer seine Wildschützen, die Jagd auf die Franzosen zu eröffnen. Neben eigenen Unternehmungen kämpfte er auch auf Seiten der Reichstruppen gegen die Franzosen. Durch Verrat fiel er den Franzosen in die Hände, was schließlich zu seinem Ende führte.

Balzers vorauseilender Ruf wird der junge Bückler vielleicht mitbekommen haben.

Langer Friedrich

Im Vogelsberg herrschte seit Beginn der 1790er Jahre bis etwa 1811 die Bande des Langen Friedrich: „Er war der vollendetste aller Vogelsberger Räuber. Er besaß am meisten Verstand und Körperkraft, große Gewandtheit, viel Selbstbeherrschung und Scharfblick, am meisten Taktik und die größte Unerschrockenheit und Kaltblütigkeit (…) Den friedlichen Einwohnern war er am wenigsten verdächtig, denn sorgfältig achtete er darauf, daß, wo er sich öffentlich zeigte, er als arbeitsamer, redlicher Mensch sich darstellte (…) kein Diebstahl in der Nähe begangen wurde (…) Kein Verbrechen geschah im Vogelsberg, an dem er nicht mit Rat und Tat mitgewirkt hatte.“

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Abb. 5: Der lange Friedrich, Anführer der Vogelsberger Bande bis 1811.

Insgesamt sollen die Vogelsberger und Wetterauer Räuberbanden 160 Mann stark gewesen sein, hinzu kam noch einmal eine große Zahl der mit ihnen ziehenden Frauen.

Picart, Fetzer, Reinhard und die Niederländer/Neuwieder Bande

Aber in dieser Zeit, in der landein, landaus hunderte Galgenvögel die Gegend unsicher machten, stach ein Name aus der Menge heraus, und dieser Name war untrennbar mit dem Räuberwesen am Rhein verbunden: Picart, auch „König der Mitternacht“ genannt, war einer der Anführer der sogenannten Niederländer Bande. Die Niederländer Bande, später auch Neuwieder Bande genannt, war in dieser Zeit mit Abstand die gefährlichste Zusammenrottung liederlichen Gesindels und wurde auch als „Aristokratie in der Räuberwelt“ bezeichnet.

„Ihre Anführer zeigen ein vollendetes Räubergenie, ihre Pläne sind groß, weitaussehend; ihre Räubereyen werden nach einer äußerst künstlich ausgedachten Taktik unabweichbar ausgeführt; unermeßlich ist die Beute, die sie innerhalb von dreyzehn Jahren (…) davon schleppen, verbreitet über eine außerordentliche Strecke, durch drey Reiche, hindurch ihr Tummelplatz.“ Die Aktivitäten der Bande erstreckten sich von Friesland bis nach Bayern, von Paris bis nach Hessen und Niedersachsen. Die Mitglieder waren fast alle Juden und zeichneten sich durch eine „in Grausamkeit ausartende Wildheit“ aus.

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Abb. 6: Neuwied am Rhein war ein Hauptstützpunkt der Niederländer Bande an der Wende zum 19. Jahrhundert.

„Sie liegen unaufhörlich in Hurenhäusern, jeder mit den Zeichen einer schrecklich wüthenden Krankheit“ bedeckt, sie „lieben den Trunk, berauschen sich, bis sie sinnlos zu Boden stürzen.“ Picart hatte als einer ihrer Hauptleute „in zwey Jahren mehrere tausend Louisd’or an der Spitze von fünfzig mit Pistolen und Säbel bewaffneter Räuber zu Pferde mit Gewalt unter Feuern und Stürmen aus Städtchen und Flecken erbeutet, und nachher sie im Arme Pariser Freuden-Mädchen großherrisch verschwelgt (…).“ Mindestens 20mal war er arretiert worden und konnte sich befreien. Heute „glänzte er in eigener Equipage in den Bädern, und morgen trieb er sich mit dem Bettelsack auf dem Rücken unter Wallfahrern herum.“

Auf dem Höhepunkt der Räubereien der Niederländer Bande fand im Sommer 1799 in Schupbach nördlich von Runkel an der Lahn ein großer Räuberkongreß statt, an dem 40 Vertreter verschiedener Räuberbanden teilnahmen.

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Abb. 7: 1799 fand in Schupbach der berüchtigte Räuberkongreß statt – ohne Bückler, denn der galt zu dieser Zeit vermutlich als noch zu unbedeutend.

Er soll von Matthias Weber, dem sogenannten Fetzer, einem der Chefs der Niederländer Bande, abgehalten worden sein.3 Mit von der Partie war auch der überregional tätige Ganove Christian Reinhard, der „Schwarze Jonas“, später einer der engsten Vertrauten Bücklers. Der Mainzer Gerichtspräsident Rebmann beschrieb Reinhard wie folgt: „Sein Gesicht verkündete Unmuth und schwarze Galle“.

Unter Führung von Picart, genannt „König der Nacht“, wurde auf dem Kongreß in Schupbach auch der Postraub zu Würges beraten, der anderthalb Jahre später unter Mitwirkung Bücklers als „Türsteher“ stattfand (siehe S.67 ff.). Ein anderer hier geplanter Überfall war der auf den Rentmeister und Kaufmann Lieber in Camberg, bei dem später 1.000 Gulden gestohlen wurden.

Von Bückler waren diese Räuber offenbar nicht sonderlich beeindruckt, seine Taten waren nicht der Rede wert, wenn man die der anderen mit unvorstellbarer Brutalität geführten und oft mit großen Schätzen belohnten Streiche betrachtet. Gegenüber Picart wurde Bückler als „ein eben nicht ungewöhnlicher Buschklepper, (der) armen über Land reisenden Juden ihr Bischen Schmußgeld ab(nimmt), um für sich und seine Buhlerin das Nothdürftige kaufen zu können“, bezeichnet.

Auf drei der Taten der Niederländer Bande wird im folgenden noch eingegangen. Verbürgt sind Überfälle der Bande in Daaden (siehe S.41 f.), Oberwesterwald, Ehringshausen bei Wetzlar, Hillscheid, Breitenau, Hundsangen, zwischen Steimel und Altenkirchen, im Schaumburgischen, im Gelbachtal in der Nähe von Montabaur, bei St. Goarshausen, in Camberg, Daisbach bei Kettenbach, Würges (unter Beteiligung von Bückler, siehe S.67 ff.) und Königstein (siehe S.77 ff.).

Die große Zeit der Niederländer Räuber war jedoch 1803 vorbei, nachdem die Behörden, nicht zuletzt unter dem Eindruck der Bekämpfung der sogenannten Schinderhannes-Bande und der Tätigkeit des „Kopfjägers“ und Geheimagenten Anton Keil diese Gegenden besser kontrollierten. Keil verdient dabei eine besondere Erwähnung:

2 Die Auswertung dieser Strafakten ist in Scheibe: Die Strafjustiz in Mainz und Frankfurt/Main 1796-1803 (…), Diss. Univ. Mainz 2009, nachzulesen.

3 Zu Fetzer siehe: Keil/Diepenbach: Leben und Hinrichtung des Mathias Weber, genannt Fetzer (…), 1803, kommentierte Neuauflage 2013.

Kopfjäger Anton Keil

Die jahrelangen Auseinandersetzungen zwischen französischen und deutschen Truppen ließen in vielen Regionen am Rhein ein Machtvakuum entstehen, das sich viele Kriminelle zu Nutzen machten. Für den einfachen Amtmann auf dem Dorf war es deshalb das Einfachste, ein „Schweigegeld“ einzustecken. Doch mit der Revolution kam auch eine Reihe junger Menschen, viele von ihnen gebildet, in Positionen, von denen sie aus die Idee eines modernen Rechtsstaates zu verwirklichen suchten. Neben dem Mainzer Gerichtspräsidenten Georg Friedrich Rebmann war dies auch der Kölner Rechtsprofessor Anton Keil, der zum schärfsten Gegner der rheinischen Bandenkriminalität wurde.

Durch „mehrjährige rastlose Arbeit“ machte Keil sich kundig nach „den geheimsten Verhältnissen des Räubers auf dem rechten Rheinufer.“ Sein Ziel war die Gefangennahme der Mitglieder der Niederländer Bande und vor allem des Johannes Bückler. Keil bereiste von Köln aus Westerwald, Taunus, Frankfurt und die Umgebung von Hanau, um die dortigen Behörden über die Schlupfwinkel und Verbindungen der Verbrecher zu informieren. „Wie mußte man erstaunt seyn, einen fremden Mann so unterrichtet sprechen zu hören! von Dingen sprechen zu hören, von denen man dort nicht einmahl eine Idee hatte.“ Keil war auch der festen Auffassung, daß Bückler nur auf dem rechten Rheinufer gefangen werden konnte, da dieser sich in den letzten zwei Jahren seines Wirkens vor allem in dieser Region aufhielt und für Überfälle im Hunsrück nur für kurze Zeit die Rheinseite wechselte.

Keils Auftritt wird wie folgt beschrieben: „Da trat auf einmal der öffentliche Ankläger Keil, der schon früher einer der tüchtigsten und tätigsten Beamten gewesen war, mit einer Kenntnis aller Räubergeheimnisse und der einzelnen Personen auf, die an das Wunderbare streifte und die Räuber, welche sich nirgends mehr sicher fühlten, in einen solchen panischen Schrecken versetzte, daß sie wie scheues Wild auseinander liefen, um sich zu retten.“ Uneigennützig war Keils Arbeit wohl nicht, hatte sie für ihn auch einen finanziellen Aspekt: Für jeden „eingezogen werdenden Kopf“ waren ihm – so ist es zumindest vom Kurfürstlich Mainzischen Oberamt in Höchst (bei Frankfurt) bekannt – 16 Reichsthaler versprochen. Keil war also auch als Kopfjäger unterwegs.

Wer war dieser Keil, der einen solchen Eindruck in seiner Umgebung hinterlassen konnte? Schon sein Lebenslauf ist außerordentlich bemerkenswert und soll an dieser Stelle kurz angeführt werden:

Geboren 1767 in Euerdorf/Franken, konnte er als Sohn wohlhabender Bauern ein Studium aufnehmen. Er begab sich ohne Wissen seiner Eltern 1786 nach Wien. 1789, bei Ausbruch der Revolution in Paris, reiste Keil in das Zentrum der Geschehnisse. Hier änderte er seinen Namen von Keul in „Keil“. Zur Zeit der Direktorialherrschaft war er im Auswärtigen Amt angestellt. 1796 begleitete er als Ordonnanzoffizier die französische Armee unter General Jourdan auf ihrem Feldzug durch Westerwald und Taunus Richtung Würzburg – wahrscheinlich gewann er hier die genaue Ortskenntnis, die ihn später zum Kenner der Räuberverstecke werden ließ. Noch vor dem desaströsen Ende des Feldzugs wurde Keil im September 1796 als „Kommissär zur Sammlung und Entführung von Kunstgegenständen aus dem besetzten Gebiet“ benannt. Ab März 1798 arbeitete er als Staatsanwalt in Köln, wo man ihn mit der Einführung der französischen Gesetze betreute. Im November 1799 ernannte man ihn zum Professor „de législation“ an der Zentralschule in Köln, später zum Staatsanwalt und Richter im Roër (= Rur)-Departement. Seine Vorgesetzten beschrieben ihn als „kaltblütig und blutrünstig“; er sehe überall nur Verbrechen und Schuldige, Eigenschaften, die ihm bei seiner vielfach erfolgreichen Suche nach Mitgliedern der Niederländer-Bande und Mittätern Bücklers offenbar zugute kamen. Im Mai 1802 startete er in Begleitung seines Sekretärs Diepenbach eine „mission diplomatique“ durch Westerwald, Taunus und an den Main, um dort Verbrecher aufzuspüren. Tatsächlich gelang es ihm, Mathias Weber, genannt „Fetzer“, einen der wichtigsten kriminellen Persönlichkeiten, festzunehmen. Ihm, Keil, dem Kenner der Szene, blieb es aber nicht vergönnt, Picart oder Bückler persönlich zu fassen. Sein Wissen über die großen rheinischen Verbrecher ließ er 1804 im zweiten Teil von Beckers „Actenmässiger Geschichte der Räuberbanden“ (1804) veröffentlichen. Ein Jahr später stand Keil vor seinem größten Coup, der ihm allerdings mißglückte: Abraham Picart, wie oben beschrieben einer der bedeutendsten rheinischen Verbrecher seiner Zeit, war 1803 bei Frankfurt festgenommen und nach Marburg ausgeliefert worden, ohne jedoch – trotz mehrfacher Auspeitschungen – bis zu seinem Tode 1807 seine wahre Identität zuzugeben. Keil, inzwischen Kaiserlicher Commissaire in Köln, ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen und suchte Picart 1805 in seinem Marburger Gefängnis auf. Doch Picart, der sich für einen Juden ausgegeben hatte, erhielt den Schutz der dortigen jüdischen Gemeinschaft und bekam einen Verteidiger zugeteilt, der sich von Keils forschem Auftreten nicht beirren ließ. So mußte Keil unverrichteter Dinge abziehen und kam somit um seinen vermutlich bedeutendsten Fang.

In den Folgejahren wurde es um Keil ruhiger. Bei dem Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft 1814 zog er sich mit seinen Papieren ins Landesinnere zurück und arbeitete seitdem als Agent der niederländischen und Frankfurtischen Kaufmannschaft. Auch war er maßgeblich an dem auf dem Wiener Kongreß ausgehandelten Friedensschluß von 1815 beteiligt. Sein letztes Lebenszeichen datiert auf Januar 1818, als er seine Eltern besuchte und auf deren Goldener Hochzeit seine Mutter zum Hochaltar in Euerdorf (Franken) führte. Sein weiterer Lebensweg ist heute unbekannt.

Mythos Schinderhannes

Zu einem ersten Einblick in diese Epoche gehört es aber auch, den Mythos Schinderhannes zu verstehen, der bereits zu Lebzeiten des Johannes Bückler einsetzte. Dieser Mythos soll deshalb der Darstellung seiner Lebensgeschichte vorangestellt werden – was den Blick auf die historische Figur schärft.