Gesa Schwartz
Das Erbe des Lichts
Roman
Das Meer atmete in seinem unveränderlichen Rhythmus aus Wildheit und Geheimnis. Grollend kamen die Wellen an den Strand und spülten über die Steine hinweg, die dem fortlaufenden Wasser klackernd nacheilten. Die Sonne war eine glühende Scheibe aus rotem Feuer. Langsam sank sie auf den Horizont zu und schickte ihre Strahlen als tanzende Funken über die Rüstungen der Elfenarmee, die stolz und erhaben am Strand Aufstellung genommen hatte. In ihren Händen hielten die Krieger kunstvoll geschnitzte Bögen. Larvyn stand in Elfengestalt neben Theryon und Asmael an vorderster Front und betrachtete regungslos das blumengeschmückte Floß, das bei den Wellen lag. Mit Jakobs Hilfe hatte Mia Hortensius darauf aufgebahrt, und nun fielen die Sonnenstrahlen auf sein Gesicht, als wollten sie es ein letztes Mal berühren.
Carven stand dicht bei dem Floß. Unverwandt betrachtete er das Gesicht seines Meisters, als wartete er darauf, dass Hortensius noch einmal zu ihm sprechen würde. Unbarmherzig zerrte der Wind an seinen Haaren und Mia spürte, wie Grim sich neben ihr versteifte, als er sah, dass der Junge zitterte. Remis seufzte hingegeben auf ihrer Schulter und auch ihr selbst zog es das Herz zusammen, Carven so zu erleben. Doch sie wusste, dass er in diesem Moment weder Kälte fühlte noch Wind. Das, was in diesen Stunden in seinem Inneren vorging, hatte vor nicht allzu langer Zeit auch in ihr selbst gewütet – dieses fühllose, brutale Nichts, das an die Stelle eines geliebten Wesens trat, das man verloren hatte. Sie sah Jakob an, der dicht neben ihr stand, und er erwiderte ihren Blick. Er war zu ihr zurückgekehrt, und auch wenn sein Sieg über den Tod noch nicht vollständig war, so hatte er doch den ersten Schritt getan.
Erneut richtete Mia den Blick zum Horizont und meinte für einen Augenblick, das Zischen der Sonne zu hören, als sie die Wasseroberfläche berührte. Im gleichen Moment trat Theryon einen Schritt vor. Sein Haar flatterte im Wind, in seiner dunklen Uniform wirkte er wie ein geheimnisvoller Schatten vor den lichtdurchfluteten Rüstungen der Elfen. Er richtete den Blick erst auf Hortensius, dann auf die Sonne, die langsam hinter dem Horizont versank, holte tief Atem und begann zu singen.
Unwillkürlich griff Mia nach Grims Arm. Noch nie hatte sie eine solche Stimme gehört, eine Melodie von solcher Erhabenheit und Schönheit, und obgleich Theryon in der Sprache der Alben sang, die Mia nicht kannte, verstand sie instinktiv jedes Wort. Der Feenkrieger sang von den Schlachten der Ersten Zeit, von der früheren Einheit der Albenvölker und von den ruhmreichen und glanzvollen Zeiten der Krieger des Lichts. Sein Gesang drang Mia in die Seele, als er auf die Menschen zu sprechen kam, auf die Verbundenheit, die einst zwischen ihrem Volk und der Anderwelt bestanden hatte, und sie wusste, dass Theryon nicht nur für Hortensius sang. Nein, sein Lied galt auch ihr – und allen anderen, die für die Freiheit kämpften, für ihre eigene oder die von Fremden, fern der Heimat oder in ihrem eigenen kleinen Kreis. Er sang von der Schönheit der Welt und von ihrer Trauer, nun, da sie eines ihrer Kinder verloren hatte, und er sang von ihrer Freude, da jedes ihrer Geschöpfe auf ewig ein Teil des großen Ganzen bleiben würde, ein Teil der Ewigkeit, die sie erschaffen hatte.
Die Sonne versank während Theryons Lied, und kaum dass sie ganz verschwunden war, hörte Mia steinerne Schwingen in der Luft und das leichte Vibrieren des Bodens. Atemlos sah sie, wie Gargoyles über die Dünen an den Strand traten, unzählige Schattenflügler und andere Krieger Ghrogonias, gerüstet in pechschwarzen Uniformen, die Blicke auf den gefallenen Ritter gerichtet. Auch Pheradin und seine Mutanten waren unter ihnen, ebenso wie zahlreiche Kobolde. Sie alle würden mit dem Krieger des Lichts in die Schlacht gegen Feen und Alben ziehen, sie würden für die Rettung der Menschen kämpfen – und sie waren gekommen, um Hortensius die letzte Ehre zu erweisen.
Noch während sie am Strand Position bezogen, fielen sie zeitgleich mit den Elfen in den Gesang des Feenkriegers ein. Es war, als würden sie gegen die Dunkelheit ansingen, die nun über das Meer zog, und ihre Stimmen verbanden sich zu einem Chor aus Licht und Schatten, der Mia wie unter einem Zauber in den Gesang einfallen ließ. Noch nie hatte sie solche Worte auf ihren Lippen gefühlt, es war, als wären sie die Knospen einer goldenen Blume, die immer schon tief in ihrem Inneren darauf gewartet hatte, zu erblühen. Sie hörte Grims, Remis’ und Jakobs Stimmen in dem Meer aus Klängen und wusste, dass Hortensius in diesen Augenblicken ein Teil von ihnen allen wurde. Seine Sturheit, seine Hoffnung, seine Stärke, zu kämpfen bis zum Schluss – all das würden sie in sich bewahren.
Da tauchten Gestalten aus dem Meer auf. Im ersten Moment sahen sie aus wie Menschen, doch dann erkannte Mia ihre bläuliche Haut und das grüne, algenbesetzte Haar. Die Augen dieser Geschöpfe waren groß und mandelförmig und von einem durchdringenden Türkis, das fremd und schön zu ihr herüberschimmerte. Meerwesen waren es, die dort aus den Wellen tauchten, sieben an der Zahl, und sie streckten die Arme aus den Fluten und fielen mit sanften Stimmen in den Gesang ein. Langsam bewegte das Floß sich wie unter einem magischen Ruf auf sie zu, wurde von den Wellen empfangen und von den Geschöpfen des Meeres weiter hinaus gezogen, bis es schließlich in einiger Entfernung innehielt. Im selben Augenblick endete der Gesang.
Die Stille, die nun folgte, nahm Mia den Atem. Gleichzeitig traten sieben Elfen vor, ergriffen ihre Bögen und schickten sieben brennende Pfeile auf Hortensius’ Floß. Augenblicklich entfachten sich die Flammen. Mia versuchte, Hortensius’ Gesicht noch einmal zu sehen, doch schon wurde seine Gestalt vom Feuer verschluckt.
Da trat Carven vor, er ging einfach ins Meer hinein, als wollte er seinem Meister folgen. Grim wollte ihn zurückhalten, doch Mia ließ seinen Arm nicht los. Schon blieb Carven stehen, knietief im Meer versunken, den Blick fest auf die Flammen gerichtet, und wiederholte den Chorus des Albenliedes mit kristallklarer Stimme. Mia spürte, wie ihr Tränen über die Wangen liefen, als sie Carven singen hörte. Es klang wie ein Klagelied, wie das Weinen eines Kindes in tiefschwarzer Nacht, und gleichzeitig so kraftvoll und unantastbar, dass Mia unwillkürlich das Bild eines Engels im Kopf hatte, als sie den Jungen betrachtete mit seinen durchnässten Kleidern und dem Wind in seinem Haar. Eines wusste sie genau: Wenn sie jemals einen Engel würde singen hören – dann musste er sich an diesen Klängen messen lassen.
Mit leisem Flügelschlag landete Grim auf einer kleinen Anhöhe. Die Elfen und die Armee Ghrogonias hatten bereits Aufstellung genommen und schauten schweigend auf Brú na Bóinne hinab, das Tal der Könige, in dem noch vor kurzer Zeit nicht mehr zu finden gewesen war als einige Grabmale aus der Megalith-Kultur. Die Menschen hatten geglaubt, dass diese Bauwerke von Menschenhand errichtet worden waren, doch das war ein Irrtum gewesen. In Wahrheit hatten die Feen an diesem Ort vor langer Zeit die Tempelstadt Alfrhandhar errichtet, in der sie ihren Vorfahren huldigten – unter ihnen die Göttin Bóinne, nach der auch der das Tal umfassende Fluss Boyne benannt war. Viele Tausend Jahre war es her, dass die Stadt erbaut worden war, und als die Feen sich in die Hügel zurückzogen, verfielen ihre oberirdischen Stätten nach und nach, bis sie durch den Zauber des Vergessens beinahe vollkommen von der Erdoberfläche getilgt wurden. Bis vor Kurzem war in diesem Tal nichts weiter übrig gewesen als einige Ganggräber wie Dowth, Knowth oder Newgrange. Doch nun war die Magie der Feen in die Welt zurückgekehrt – und sie errichtete die Alte Tempelstadt neu.
Die Ausmaße Alfrhandhars waren gewaltig. Die Stadt umschloss sämtliche Gräber und wurde im Süden vom Fluss begrenzt. Grim konnte sich einer gewissen Bezauberung nicht erwehren, als er den Blick über die Gebäude gleiten ließ. Sie bestanden aus glänzendem Schwarzkristall, einem besonderen Mineral der Feen, das härter war als Diamant und in klaren Nächten das Licht des Mondes in sich aufnahm, sodass die Gebäude stets in einem silbrig schwarzen Schimmer standen. Gewaltige Banyanbäume hatten ihre Wurzeln in die Häuser gekrallt und erhoben sich mit dunkelblauen Blättern auf den Dächern und in den Nischen zwischen den Gebäuden. Noch lagen zahlreiche Bauten in Ruinen, aber die Magie der Feen strich in geisterhaften Nebeln über sie hin und Grim meinte fast, das Seufzen der Türme und Zinnen zu hören, während sie wieder errichtet wurden. Schattenreich erhoben sich die Umrisse verschiedener Tempel, wie das Heiligtum der Hoffnungsgöttin Ayon mit der gewaltigen Treppe, aber Grim erkannte auch Thermen und kleinere Theater, die mit geschwungenen Sitzreihen in der Dunkelheit lagen, und er sah die kristallene Kuppel der Rh’ag Fheyna – der berühmten Bibliothek der Feen, in der Zauberschriften wie das »Sefer ha-Razim«, das Buch der Geheimnisse, das »Arbatel de Magia Veterum« und das Original des »Voynich«-Manuskripts ebenso bewahrt wurden wie der achtfache Höllenzwang des »Doktor Faustus«.
Die Stadt lag in silbernem Zwielicht, umspielt von tanzenden Schatten. Nur in ihrem Zentrum, ganz in der Nähe des Grabhügels Newgrange, erhob sich ein Tempel aus purem Gold. Reich verzierte Säulen hielten das Gebälk und warfen das flackernde Licht der Fackeln zurück, die den riesigen sternförmigen Platz vor dem Tempel umsäumten. Golden pulste das Licht zu Grim herüber und ließ ihn an das Schlagen eines gewaltigen Herzens denken. Beinahe hätte ihn dieser Anblick lächeln lassen. Doch er wusste, wessen Herz es war: Deutlich sah er die mit kostbaren Juwelen besetzte Figur einer Krähe im Tympanon des Tempels – das Zeichen Morrígans. Und er erkannte auch die Alben und Feen, die sich auf dem Platz vor dem Heiligtum der Urfee versammelt hatten. Die Schneekönigin konnte er nicht sehen, aber er wusste, dass sie im Tempel der Urfee auf die Todesstunde Auryls wartete – und dann würde sie sich Morrígan einverleiben und ihre Pläne mit der Erweckung ihres Sohnes und dem Einriss der Grenze zu einem fulminanten Ende bringen. Ja, das war ihr Ziel, doch mit einem hatte sie nicht gerechnet. Grim ließ die Knöchel seiner Faust knacken. So leicht würde er es ihr nicht machen.
Er wandte den Blick halb zurück. Die Umrisse der Ghrogonier und Elfen erhoben sich wie Schattenrisse in der Nacht. Aus dem Augenwinkel sah er Kronk, Walli und Vladik, auch Larvyn, Rosalie und Mourier und all die anderen, die auf sein Zeichen warteten. Gemeinsam würden sie die Pläne der Königin vereiteln. Noch hörte er die Stimmen der Elfenmagier, die konzentriert den Zauber wirkten, der sämtliche Alben von der Zwischenwelt trennen und so ihre Regeneration verhindern würde. Sobald sie ihn beendet hatten, würden die Gargoyles sich in diese Welt des Nichts begeben und rechtzeitig vor dem Erlöschen des Zaubers die Herzen der Alben vernichten, deren kriegerische Pendants ebenso wie die Feen zeitgleich von den Elfen und den übrigen Ghrogoniern zum Kampf gefordert würden. Sobald ihre Herzen zerstört waren, konnten die Alben sich nicht länger regenerieren und ihre Reihen würden sich unter den Hieben ihrer Gegner lichten.
Grim holte tief Atem. Er wartete auf den Ruf von Remis, der mit den Kobolden als Vorhut in die Stadt geschlichen war, um eine vorzeitige Entdeckung der übrigen Truppen auszuschließen. Er warf Mia einen Blick zu, die neben ihm stand und konzentriert auf Morrígans Tempel schaute, und nickte Jakob, Asmael und Theryon zu. Der Feenkrieger hatte einen Zauber über alle gelegt, denen sonst durch die maskenlosen Augen seines Volkes Gefahr gedroht hätte, und er lächelte leicht, als er Grims Blick begegnete. Vorsichtig legte Grim Carven die Klaue auf die Schulter und schaute auf den Arm des Jungen, an dem das Zepter der Gargoyles flammte. Nach einem eindringlichen Gespräch hatte Mourier es dem Jungen für diesen Kampf überlassen und es würde Carvens Zauber um ein Vielfaches verstärken. Gemeinsam würden sie sich zur Königin durchschlagen, das Schwert zurückerlangen und den Albenbann an sich bringen – und dann würden sie die Feen ebenso wie die Alben in ihre Welten zurücktreiben und die Risse des Himmels verschließen.
Aufmerksam hörte Grim auf die Stimmen der Elfenmagier. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Zauber vollendet wäre. Es wurde Zeit, in der Stadt Position zu beziehen, denn die Alben würden den Abschluss des Zaubers spüren und es galt, sie im Augenblick dieser Erkenntnis zu überraschen, ehe sie vollständig realisierten, was vor sich ging. Da vernahm er Remis’ Ruf. Er intensivierte den Druck seiner Klaue auf Carvens Schulter und als der Junge ihn ansah und nickte, hob Grim die Faust und gab das Zeichen.
Lautlos glitten sie die Anhöhe hinab und ergossen sich wie ein Strom aus fließenden Schatten in die Gassen der Tempelstadt. Grim fühlte, wie die Nebel der Feenmagie seinen Körper umschmeichelten, und eilte, so schnell er konnte, an einer Reihe spitzgiebeliger Totenhäuser vorüber. Unwillkürlich musste er an Thyros, die einstige Hauptstadt der Anderwelt, denken, die tief unterhalb Roms in Ruinen lag. Er erinnerte sich an die Erhabenheit, die er bei seinem Besuch in jener Stadt gespürt hatte, und fühlte jetzt, da er durch die verlassenen Straßen der Tempelstadt lief, etwas ganz Ähnliches. Ein seltsamer Zauber lag über diesem Ort, eine Verwunschenheit, die ihm einen Schauer über den Rücken schickte. Diese Stadt war ein Wunder der Alten Zeit, das sich neu errichtete. Grim ließ seinen Blick über die Gebäude gleiten, die teilweise vollständig von den Wurzeln der Banyanbäume umschlossen wurden. Mitunter hatten die Pflanzen den Eingang offen gelassen, der in ihren Klauen wirkte wie ein Schlund in ein geheimes Zauberreich. Einige Tempel verfügten über Türme, in deren Kristall riesige Gesichter eingearbeitet waren, und immer wieder meinte Grim, in den schwarzen Augen der Gottheiten ein Flackern zu sehen oder ein Lächeln auf den scheinbar reglosen Lippen. Ja, dieser Ort war ein Reich der Magie und Grim spürte ein Aufwallen in sich, als ihm bewusst wurde, dass er gerade dabei war, diese Magie wieder aus der Welt zu verbannen. Er holte tief Luft. Die Welt war reicher geworden, seit die Magie der Feen zurückgekehrt war, das stand außer Frage – doch der Preis der Schneekönigin für dieses Wunder war zu hoch. Die Menschen waren ein Teil der Welt. Sie konnte nicht wieder ganz werden, wenn zwar ein Teil der Magie zu ihr zurückkehrte, dafür jedoch ein anderer Part unwiederbringlich vernichtet wurde.
Grim fühlte die ersten Lichter des goldenen Tempels Morrígans auf seinem Gesicht. Er verlangsamte seinen Schritt und wandte sich halb zu Mia und den anderen um, während sie sich von einer schmalen Seitengasse aus näher an den Platz heranschlichen. Grim sah die dunklen Gestalten der Alben, die mit ihren geflügelten Panthern den Platz füllten, und die Feen, die sich in silbernen Rüstungen unter die Alben gemischt hatten oder auf den Stufen des Tempels saßen. Doch in der Mitte des Platzes, umringt von bewaffneten Alben, standen einige Hundert Menschen. Sie drängten sich verängstigt aneinander. Viele hatten Platzwunden und Kratzspuren am Körper, ihre Kleider waren schmutzig und zerrissen und in den Händen hielten sie Waffen – Schwerter, Dolche, sogar Morgensterne erkannte Grim im Gewühl. Er zog die Brauen zusammen, als ihm bewusst wurde, dass dies die Menschen waren, die von den Alben aus Dublin entführt worden waren. Was, zur Hölle noch eins, hatte die Königin mit ihnen vor?
Ein Raunen ging durch die Menge der Alben und Feen, als die Schneekönigin in Begleitung von Alvarhas zwischen den vorderen Säulen des Tempels erschien, begleitet von ehrerbietigem Applaus. Beide trugen auffallend kostbare Kleidung – die Königin ein perlenbesetztes Kleid aus weißer Seide, Alvarhas eine schwarze Uniform mit samtenen Beschlägen an den Schultern. Das Rapier funkelte an seinem Gürtel und die Messer, die quer über seine Brust liefen, schimmerten im Licht der Fackeln. Das Zepter der Menschen glomm am Arm der Schneekönigin, Kirgans Schwert hing an einem prunkvollen Gürtel an ihrer Hüfte. Für einen Moment hätte man meinen können, dass ein Königspaar vor sein Volk getreten war. Doch Grim wusste es besser. Alvarhas war nichts als ein Diener. Eine seltsame Befriedigung überkam ihn, als er diese Worte in seinem Kopf wiederholte.
Langsam trat die Königin vor und breitete die Arme aus, um die Anwesenden zum Schweigen zu bringen. Der Applaus verstummte, angespannt schauten alle zu ihr auf – auch die Elfen und Ghrogonier, die lautlos in den umliegenden Gassen darauf warteten, dass Grim ihnen das Zeichen zum Angriff gab. Doch noch waren die Elfenmagier nicht bereit, noch hatten sie den Zauber nicht vollendet. Konzentriert beobachtete Grim die Königin, die Klaue fest um Carvens Schulter geschlossen, und spürte Mias Herzschlag neben sich.
»Ich heiße euch in einer schwarzen Nacht willkommen«, sagte die Königin und ihre Stimme fegte wie ein Schleier aus Schneeflocken über den Platz. »In dieser Nacht vor vielen Jahren verlor ich mein Kind und bis heute war sie eine Nacht der Trauer für mich. Doch das wird sich nun ändern! Ich werde sie verwandeln in eine Nacht des Neubeginns, eine Nacht der Veränderung – eine Nacht des Triumphs!«
Beifall brandete über die Menschen hinweg, die erschrocken zusammenfuhren. Hilflos hoben einige von ihnen die Waffen, zitternd wie kleine Kinder unter der Last eines Schwertes. Doch weder Alben noch Feen achteten auf sie. Unverändert hatten sie ihre Blicke der Königin zugewandt, die nun die Hand hob und sie zur Faust ballte.
»Heute wird mein Sohn zu mir zurückkehren!«, rief sie mit Inbrunst. »Heute wird die Grenze zur Welt der Feen fallen – durch die Kraft Morrígans, in deren Tempel ich stehe! Sie wird in meinen Körper einfahren, um das hier zu bekommen!«
Ein Schrei ging durch die Menge der Menschen, als der Boden des Tempels sich öffnete und lange Reihen gläserner Tanks sich aufwärtsschoben. Kinder saßen darin, die Gesichter zu Masken aus Angst verzerrt. Zahlreiche Menschen schrien auf, bis ein halbes Dutzend Alben einige Male mit glühenden Peitschen über ihre Köpfe schlugen. Grim spannte die Muskeln an. Er konnte nicht zusehen, wie die Königin diese Kinder der Urfee zum Fraß vorwarf. Verflucht, warum brauchten die Magier so lange?
»Doch zunächst«, fuhr die Königin fort, »werde ich mein Versprechen halten.«
Wie auf Befehl trat Alvarhas vor. Ein Lächeln hatte sich auf sein Gesicht gelegt, und als die Königin die Hand ausstreckte und eine blauschwarze Flamme auf ihrer Handfläche erschien, wusste Grim auch, warum der Alb auf diese Weise lächelte. Er ließ den Blick zu ihrem Hals gleiten – die Kette, die sie getragen hatte, war verschwunden.
Der Albenbann, schoss es Grim durch den Kopf.
»Durch eure Hilfe gelangten meine Anhänger und ich zurück in diese Welt«, fuhr die Königin fort. »Ich versprach euch die Freiheit in jener Stunde, da meine Ziele erreicht wären – und dieser Zeitpunkt ist nun gekommen. Hiermit übergebe ich den Bannzauber der Alben an euch, auf dass ihr niemals wieder unter der Herrschaft fremder Mächte stehen müsst.«
Die Königin hielt den Zauber in ihrer Hand, der die Alben in die Zwischenwelt verbannt hatte – die einzige Möglichkeit, sie wieder dorthin zurückzuschicken. Grim hörte, wie Mia neben ihm die Luft einsog, als die Königin Alvarhas ein Lächeln schenkte und den Bannzauber in seine ausgestreckte Hand gleiten ließ. Ohne den Blick von ihr abzuwenden, schloss Alvarhas seine Finger um das Feuer, fuhr mit der freien Hand darüber und öffnete die Faust. Nun hielt er eine Kette in der Hand, die Flamme war in einem silbernen Amulett eingeschlossen wie eine Figur aus Eis. Schweigend legte Alvarhas sich die Kette um den Hals, andächtig und mit geschlossenen Augen, als beginge er eine rituelle Handlung. Grim ballte die Klauen. Dieser verfluchte Alb würde die nächstbeste Gelegenheit nutzen, um den Bannzauber mithilfe der mächtigsten Magier der Feen und Alben zu brechen, so viel stand fest.
Wir müssen uns aufteilen, hörte Grim Theryons Stimme in seinem Kopf und wandte sich dem Feenkrieger zu, dessen Gesicht fast vollständig in den Schatten der Gasse verborgen lag. Mia und Jakob sind meine Schüler, ich weiß, dass sie fähig sind, Alvarhas den Bann abzunehmen. Gemeinsam mit Asmael werden sie ihn jagen – und ich werde mich euch anschließen.
Grim nickte wortlos und auch Mia und Jakob neigten die Köpfe zum Zeichen der Zustimmung.
»Von nun an seid ihr frei«, sagte die Königin und zog Grims Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Mein Volk strebt nicht nach der Herrschaft über die Menschen – uns genügen ihre Kinder. Daher überlasse ich es euch, über die Sterblichen zu regieren, wie es euch beliebt – zu ihrer Qual und unserer Freude.«
Carven versteifte sich unter Grims Klaue. Wie träumend griff er nach der Hauswand, um sich daran abzustützen, und wäre dennoch gefallen, wenn Grim ihn nicht gehalten hätte.
Die Menschen schrien erschrocken auf, als Alvarhas auf sie zutrat. Leichtfüßig sprang er die Treppe des Tempels hinab, während die Menschen vor ihm zurückwichen, und blieb auf einer der letzten Stufen stehen. Mit grausamem Lächeln zog er sein Rapier. Grim sah das hitzige Brennen in seinen Augen, das ihn an die Gier eines ausgehungerten Panthers erinnerte. Die Menschen waren zu seinem Vergnügen hier, das wusste Grim plötzlich, und alle Ereignisse, die nun folgen sollten, waren ein erster Schritt in die blutige Herrschaft, die Alvarhas auf der Welt errichten würde.
Mit spielerischer Geste entbot er den Menschen den Fechtgruß, die ihn mit vor Entsetzen geweiteten Augen anstarrten. »Meine Name ist Alvarhas von Markar«, sagte er leise und bedrohlich. »Doch lasst euch nicht einfallen, ihn auszusprechen. Ihr seid es nicht wert, ihn auf eurer Zunge zu fühlen. Ich bin euer neuer König und ihr …« Er hielt inne und betrachtete sie herablassend. »Ihr seid nichts als wimmerndes Gewürm. Ich sollte euch alle auf einmal töten, denn euer jämmerlicher Anblick ist kaum zu ertragen. Aber das wäre zu einfach, nicht wahr? Es verschafft keine Befriedigung, etwas zu töten, das das Leben nicht verdient.« Er lächelte und sein Schweigen ließ die Menschen noch enger zusammenrücken. »Und vielleicht irre ich mich. Vielleicht ist einer unter euch, den es sich zu töten lohnt. Daher fordere ich einen von euch zum Kampf. Ich werde keine Magie anwenden, nichts, das nicht auch euch zur Verfügung stünde. Gewinnt mein Gegner, schenke ich ihm sein Leben. Verliert er – geschieht das!«
Ehe Grim auch nur die Bewegung seiner Hand hätte verfolgen können, ließ Alvarhas sein Rapier vorschnellen, schickte schwarzes Feuer aus seiner Waffe und verbrannte einen Menschen in der ersten Reihe in einem winzigen Augenblick bei lebendigem Leib. Mit lauten Schreien des Entsetzens wichen die Menschen zurück. Schreckensstarr sahen sie zu Alvarhas auf, der prüfend durch die Reihen blickte. Grim hatte aufgehört zu atmen. Angestrengt lauschte er in die Stille seiner Gedanken, doch die Elfen riefen nicht nach ihm. Nur ihre leisen Stimmen hörte er, und er fühlte die Magie ihrer Worte, die sich langsam dem Ende des Zaubers näherten.
»Hat keiner den Mut, gegen mich zu kämpfen?«, rief Alvarhas und Zorn schwang in seiner Stimme mit. »Will keiner versuchen, sein lächerliches Leben zu retten? Wie ihr wollt!« Wieder riss er seine Waffe vor, doch da rief eine Stimme:
»Ich will es versuchen!«
In die Menge kam Bewegung. Jemand drängte sich aus ihrer Mitte nach vorn. Grim sah, wie die Menschen zurückwichen, bis eine Gestalt aus ihren Reihen trat. Es war ein Mann mit grauen, wirr vom Kopf abstehenden Haaren, der in einem einfachen schwarzen Anzug steckte. In seinem rechten Ohr hing ein goldener Ring und in seinen außergewöhnlich blauen Augen sprang ein Funke auf und nieder, der es Grim schwer machte, sich abzuwenden. Es war Tomkin, der Barde, der vor scheinbar ewig langer Zeit im Pub des Zwergs Phorkus gesungen hatte und später in der Nähe der Half Penny Bridge von den Alben entführt worden war. Jedes Lachen war aus seinem Gesicht verschwunden, als er zu Alvarhas aufschaute und langsam mit seinem Schwert einen Gruß entbot.
Alvarhas sah ungläubig auf den dürren Mann in seinem unförmigen Anzug hinab, der sich schützend zwischen ihn und die Menge gestellt hatte. Für einen Moment glaubte Grim, er würde ihn mit einer Bewegung seiner Hand in Brand setzen. Doch dann hob Alvarhas den Kopf, holte tief Atem – und sprang vor. Grim fiel es schwer, seiner Bewegung zu folgen, doch Tomkin wich mit überraschender Schnelligkeit aus, parierte Alvarhas’ Hieb und traf den Alb an der Schulter. Wutschnaubend fuhr Alvarhas zurück, doch Tomkin eilte ihm bereits nach. Blitzschnell zog er sein Schwert über die Messer auf der Brust seines Gegners, die aus ihrem Riemen glitten und klirrend zu Boden fielen. Tomkin trieb Alvarhas zurück, ergriff drei der Messer und drängte seinen Gegner über den Platz, bis dieser mit dem Rücken gegen eine Hauswand stand. Im selben Moment schleuderte Tomkin die Hand mit den Messern nach vorn. Grim hörte das silbrige Klirren, als sie die Luft zerschnitten – und direkt neben Alvarhas Gesicht, über seiner Schulter und neben seiner Hüfte in der Wand einschlugen. Keines der Messer hatte auch nur die Haut des Albs gestreift, dessen Gesicht sich nun zu einer Fratze aus Zorn verzerrte. Wutentbrannt sprang er vor, seine Uniform zerriss an der Schulter, an der ein Messer den Stoff durchbohrt hatte. Grim hörte Tomkin schnell atmen, als Alvarhas hoch in die Luft sprang. In einer raschen Folge aus Wirbelattacken raste er auf den Barden nieder, bis dieser stolperte und zu Boden fiel. Im letzten Moment riss Tomkin sein Schwert hoch und trieb Alvarhas zurück. Der Alb taumelte, er fiel auf den Rücken und sein Rapier glitt aus seiner Hand. Klirrend landete es auf den Steinen, ein Geräusch, das Grim zusammenfahren ließ. Tomkin stand über ihm, er hielt die Klinge seines Schwertes an Alvarhas’ Kehle.
Der Alb rührte sich nicht. »Wer bist du«, zischte er tonlos, »dass du so gut kämpfen kannst?«
Grim hielt den Atem an. Er wusste, dass Alvarhas nach einer List suchte, um den Barden zu übertölpeln, irgendetwas, um aus dieser misslichen Lage zu entkommen, ohne die Regeln zu brechen, die er selbst für diesen seltsamen Kampf erdacht hatte. Tu es, flüsterte Grim in Gedanken und fixierte Tomkin mit seinem Blick. Und wenn du ihn schon nicht töten kannst – füge ihm Schmerzen zu, diesem verfluchten Albengewächs, bis dein Schwert schwarz ist von seinem Blut!
»Ich bin niemand, Herr«, erwiderte Tomkin leise. »Aber ich kenne Euch gut. Und ich werde nicht weiter gegen Euch kämpfen, wenn das Ziel darin besteht, dass einer von uns stirbt.«
Mit lautloser Geste ließ der Barde das Schwert sinken. Grim krallte seine Klaue ins Mauerwerk der Gasse, um nicht zu brüllen. Verfluchter Narr von einem Menschen!
Alvarhas war so schnell bei seiner Waffe, die er im nächsten Augenblick an Tomkins Kehle hielt, dass es Grim wie ein Zauber vorkam. Doch er tötete den Barden nicht. Etwas ließ ihn zögern, und da, erst leise und heiser, dann immer klarer, begann Tomkin zu singen. Es war eine Melodie aus uralter Zeit, das konnte Grim hören, und ein seltsamer Zauber legte sich auf die Szene, als Tomkin die Zeilen vortrug.
»Ein Traum, geboren aus den Sehnsüchten der Nacht,
geweiht im Blut der Ewigkeit,
durch Schlachten und Tränen der Zeit gewandert,
um dich zu finden – dich und dein … Herz.
Er hielt inne und lächelte. »Ich habe viele Lieder über Euch gehört und selbst gesungen«, sagte er dann. »Und ich habe lange auf diese Zeit gewartet, die mit Euch hereingebrochen ist – auf die Zeit, da die Magie in unsere Welt zurückkehrt.« Er wandte sich halb zu der Menge der Menschen um, das Schwert wie eine große Last in seiner Hand, die seinen Körper halb zu Boden zog. »Die Feen haben unsere Welt verlassen«, sagte er, als wäre Alvarhas’ Klinge an seiner Kehle nicht mehr als eine Illusion. »Sie haben es getan, weil sie wussten, dass die Welt mehr sein muss als das, was wir aus ihr gemacht haben. Wie hat unsere Stadt sich verwandelt, wie verzaubert ist jeder Platz, seit die Feen zurückgekehrt sind! Und wie verändert sind wir selbst in unserem Inneren gewesen, ehe der Schrecken über Dublin hereinbrach und uns unsere Kinder raubte. Die Magie der Feen hat uns verwandelt. Sie hat uns zurückgegeben, was uns fehlte.« Er sah Alvarhas an, eine tiefe Ruhe stand auf einmal in seinem Blick. »Ich habe von Euch geträumt«, fuhr er mit leisem Lächeln fort. »Es waren Träume voll dunkler Schönheit, voll Gefahr und Geheimnis. Ich habe Eure Welt gesehen, eine Welt in rauschenden Tüchern, und ich habe mich in die Welt der Feen gesehnt, von der schon mein Großvater mir erzählte, lange bevor ich seine Worte verstand. Wir haben viel verloren, wir Menschen, und Ihr habt es uns vor Augen geführt, indem Ihr zurückgekehrt seid. Offenbar ist großer Hass zwischen unseren Völkern – zwischen den Menschen und der Anderwelt. Und nun seid Ihr gekommen, um mich zu töten, mich, den Ihr als einen unter vielen zu kennen meint, und Ihr fordert mich auf, in einen Kampf zu ziehen, den ich in Euren Augen nicht gewinnen kann. Doch nicht nur wir Menschen sind blind geworden für die Anderwelt – auch Ihr seht nicht mehr, was wir wirklich sind. Wir sind beide blind, mein fremder Freund.« Er hob die Hand mit dem Schwert und drehte die Waffe leicht mit den Fingern. »Tötet mich, wenn Ihr wollt. Aber ich werde keine weitere Stufe mehr gehen auf der Leiter aus Hass. Ich werde nicht gegen ein Wesen in die Schlacht ziehen, das in meinen Träumen erschienen ist.«
Grim sah, wie er das Schwert fallen ließ, er hörte es auf den Steinen aufschlagen und meinte für einen Moment, sämtliche Geräusche der Welt wären mit diesem Klang erloschen.
Alvarhas stand regungslos. Grim spürte seinen Zorn so glühend wie das Feuer der Fackeln rings um den Platz. Langsam ließ der Alb seine Waffe sinken, trat dicht an den Barden heran und flüsterte leise: »Du stehst allein.«
Damit trat er von Tomkin zurück und schaute auf die Menge, als erwartete er, einen neuen Gegner aus ihr gewinnen zu können. Und tatsächlich trat jemand vor – eine Frau war es von ungefähr dreißig Jahren, das Gesicht fleckig von Tränen und Schmutz. Sie hielt einen Säbel in der Hand, doch sie trat nicht auf Alvarhas zu – sie stellte sich neben Tomkin. Stolz hob sie den Kopf und ließ die Waffe zu Boden fallen. Im nächsten Moment erklang das Geräusch von Metall auf Stein erneut und dann wieder und wieder, während die Menschen ihre Waffen fortwarfen. Niemals, das wusste Grim, würde er diesen Klang vergessen.
Er sah Alvarhas vor der Menge stehen, mit einem Schrei riss der Alb die Arme in die Luft. Grim fühlte den Zauber, mit dem er die Menschen mit einem Schlag verbrennen wollte – und hörte den Ruf der Magier, der mit klarem Ton seine Gedanken zerriss. Golden senkte sich der Elfenzauber auf die Alben nieder. Im gleichen Moment stieß Grim mit einem Brüllen die Faust vor und schleuderte einen Flammenzauber auf Alvarhas, der den Alb auf die Stufen des Tempels zurückwarf. Gleich darauf stürmten die Elfen und Ghrogonier vor, legten einen Schutzwall auf die Menschen und stürzten sich in die Fassungslosigkeit der Alben und Feen.
Grim warf Mia einen letzten Blick zu, ehe sie sich zusammen mit Jakob auf Asmaels Rücken in die Luft erhob. Dann packte er Carven an der Schulter. Es hatte begonnen.
Mia sah Grim, Carven und Theryon in der Menge der Kämpfenden verschwinden. Mehrere Elfen sicherten den Schutzwall, der als grün glimmende Kuppel über den Menschen lag, während die anderen sich auf die Alben und Feen stürzten. Die Gargoyles waren verschwunden. Sie hatten die Zwischenwelt betreten, um den Tod der Alben zu besiegeln. Die Schneekönigin wich in den Tempel zurück, Mia sah, wie sie mit Bannkreide mehrere Kreise auf den Boden zeichnete, und dort, auf den goldenen Stufen des Heiligtums, kam Alvarhas auf die Beine und starrte den herbeistürmenden Elfen und Ghrogoniern entgegen.
Mia wandte den Blick halb zurück, sie wusste, dass auch Jakob den Alb gesehen hatte. Gerade legte Asmael die Schwingen an den Körper und schoss über die Köpfe der Kämpfenden hinweg, als Alvarhas den Kopf wandte und Mia direkt anschaute. Für einen Moment stand er regungslos, dann glitt etwas wie Spott über sein Gesicht. Er riss den rechten Arm vor und schleuderte ihnen einen Flammenstrahl entgegen, der so hell war, dass Mia gleich darauf nichts mehr sah als weißes Licht. Sie hörte, wie der Zauber direkt vor Asmael zerbrach, fühlte den tiefen Schrei des Hippogryphen in ihrer eigenen Lunge ebenso wie die Erschütterung, die durch seinen Leib ging – und spürte im nächsten Moment, wie die Flammen Alvarhas’ sie packten und von Asmaels Rücken rissen. Ihr Schrei zerfetzte ihre Blindheit, sie sah sich auf den Boden zurasen und konnte ihren Sturz nur noch halbherzig mit einem Schutzwall abmildern. Schnell kam sie auf die Beine und sah sich nach Asmael und Jakob um, doch sie waren nirgends zu sehen. Stattdessen umringten sie Kämpfende, Mia sah die wutverzerrten Gesichter von Alben und spürte die mächtigen Magieströme einiger Elfen.
»Menschenkind!«
Mia fuhr herum und sah, wie Alvarhas über die Köpfe der Kämpfenden hinweg auf sie zusprang. Wenige Schritte von ihr entfernt landete er. Schwarzes Feuer loderte in seinem Blick und um seinen Hals lag das Amulett mit der Flamme des Bannzaubers. Für einen Moment schien es Mia, als würde die Zeit für sie beide stehen bleiben. Die Kämpfenden umtosten sie wie ein Meer aus dunklen Leibern, die Geräusche traten in den Hintergrund und überdeutlich hörte sie Alvarhas’ Stimme.
»Du willst mich zurücktreiben in eine Welt des Nichts«, flüsterte er und es war, als träufelte er schwarzes Gift auf ihre Lippen. »Du willst mich verbrennen sehen in den Schatten und Nebeln der Zeit, mich, der Äonen damit zubrachte, Geschöpfe wie dich zu jagen. Du, ein winziger Funken im Strom meiner Ewigkeit, forderst mich heraus – mich, der ich dich mit einem einzigen Bad in meiner Finsternis um den Verstand bringen könnte.« Er lächelte sanft. »Glaubst du wirklich, dass du mich töten kannst?«
Mia spürte das Blut in ihren Adern, sie hörte ihren Herzschlag und wusste, dass auch Alvarhas ihn wahrnahm. »Ich habe keine Angst vor deiner Finsternis«, erwiderte sie und stellte mit Befriedigung fest, dass ihre Stimme ebenso kalt und verachtend klang wie seine. »Aber vielleicht solltest du damit beginnen, das Licht zu fürchten!«
Ein Schatten glitt über sein Gesicht, für einen Moment meinte Mia, seine Maske verrutschen zu sehen, und dahinter lag ein schmerzvoller Ausdruck. Doch gleich darauf kehrte der Frost auf seine Züge zurück. »Du weißt nicht, gegen wen du kämpfen willst«, erwiderte er tonlos. »Doch mir steht nicht der Sinn danach, ein armseliges Menschenkind zu töten – nicht jetzt, da wertvollere Krieger auf diesem Schlachtfeld ihren Tod durch meine Hand erwarten. Du willst mich herausfordern – dann besiege meinen Schatten!«
Er pfiff, laut und durchdringend. Mia hörte das Brüllen seines Panthers, es riss ihr die Haare zurück und jagte kalte Schauer über ihren Rücken. Schon hörte sie die Sprünge der Kreatur, rasend schnell schoss der Panther durch die Menge auf sie zu. Alvarhas lächelte grausam, verbeugte sich galant – und war verschwunden. Im nächsten Moment sprang der Panther an seine Stelle und mit einem Schlag war jede Zeitverzögerung zerrissen. Laut und schrill drang der Kampfeslärm an Mias Ohr und nur allzu deutlich hörte sie das Grollen aus der Kehle des Panthers, als er mit tief geneigtem Kopf auf sie zukam.
Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Hand zitterte, als sie in Angriffshaltung ging und einen Flammenzauber in ihre Finger schickte. Sie spürte den Blick ihres Gegners, prüfend und abwägend, als wollte er herausfinden, ob sie heimliche Waffen in ihrem schwachen Menschenkörper versteckt hielt. Dann breitete sich etwas wie Hohn auf seinem Gesicht aus – derselbe eiskalte Spott, der auch in Alvarhas’ diamantenem Auge lag. Seine Muskeln spannten sich, sein Blick fixierte sie mit lähmender Kraft, ehe er auf sie zusprang.
Mit einem Schrei ließ sie die Faust vorschnellen, eine Scheibe aus wirbelnden Flammen raste dem Panther entgegen. Doch er durchsprang sie, als würde er das Feuer nicht spüren, das sich tief in sein Fleisch grub. Im letzten Moment zog Mia einen Schutzzauber um sich und legte all ihre Kraft in das grüne Licht, das sie umgab. Fauchend kam der Panther direkt vor ihr zum Stehen, holte aus und hieb mit gewaltiger Kraft gegen ihren Wall. Sie sah die tiefen Kerben, die sein Angriff in ihrem Schutz hinterlassen hatte, und fühlte im selben Moment die Erschütterung, die vom Zauber auf sie zulief wie eine riesige Welle aus Schmerz. Sie schrie auf, als die Welle sie erreichte, es war, als würde ihr Kopf mit voller Wucht eine ganze Reihe von Wänden durchschlagen. Ihr Herz raste in ihrer Brust, ihre Knie gaben unter ihr nach. Sie spürte den kalten Stein des Bodens unter ihren Fingern und hörte das Grollen des Panthers, als er zu seinem zweiten Hieb ausholte. Verdammt noch mal, schoss es Mia durch den Kopf. Ich werde mich nicht von einer Katze besiegen lassen!
Schon hörte sie, wie die Krallen des Panthers die Luft durchschnitten. Im letzten Moment riss sie ihren Zauber ein, sprang auf die Beine und rannte los. Der Panther krachte mit voller Wucht auf das Pflaster, ein wütendes Brüllen zerfetzte die Luft hinter Mia wie Papier. Gleich darauf spürte sie, wie der Panther ihr nachsprang, warf sich einen Sturmzauber in den Rücken und katapultierte sich auf das Dach eines Tempels. So schnell sie konnte, rannte sie darüber hin, doch der Panther war ihr dicht auf den Fersen. Ohne sich umzudrehen, schickte sie messerscharfe Eiszapfen in seine Richtung und überzog das Dach hinter ihren Schritten mit einer dünnen Schicht aus Eis. Der Panther verlor das Gleichgewicht und schlug laut fauchend auf dem Dach auf, als Mia das Ende des Tempels erreichte. Ein gewaltiger Abgrund klaffte zwischen ihr und der gegenüberliegenden Kuppel eines Heiligtums. Hinter ihr erhob sich der Panther in die Luft. Mia ließ drei Eisfunken auf die Straße hinabfallen. Dann vereiste sie die Luft zwischen den Gebäuden an zwei Stellen zu schimmernden Schollen und sprang darüber, hin auf die andere Seite. Atemlos landete sie auf allen vieren und drehte sich auf den Rücken. Der Panther sprang auf sie zu, mit einem Brüllen glitt er über den Abgrund. Da warf Mia die Arme nach vorn und brüllte einen Eiszauber, der in mehreren Blitzen aus ihren Fingern schoss und sich züngelnd um die Schwingen des Panthers legte. Wütend riss er das Maul auf, als er den Halt in der Luft verlor und abwärtsstürzte, doch Mia war noch nicht am Ende. Blitzschnell sprang sie auf und klatschte drei Mal in die Hände. Sofort entzündeten sich die drei Funken auf der Straße zu Scheiben aus Eis, die sich in rasender Geschwindigkeit übereinanderschichteten. Fauchend durchschlug der Panther Mias Zauber, die ihn in eine Statue aus Eis verwandelten. Er landete auf dem Boden – und zerbrach donnernd in tausend Stücke.
Schwer atmend ließ Mia sich auf einem schwachen Wirbelwind abwärtsgleiten, bis sie inmitten der Scherben landete. Selbst das Blut der Bestie war zu schwarzem Eis gefroren. Sie fuhr sich über die Augen. Die Zauber hatten sie Kraft gekostet, aber ihr Kampf war noch nicht vorbei. Alvarhas’ Lächeln stand ihr vor Augen und sie ballte die Fäuste, als sie an das Amulett mit dem Bannzauber dachte, das noch immer um seinen Hals lag. Schwankend trat sie über die Scherben ihres Opfers hinweg. Sie musste Jakob und Theryon finden und dann würde sie Alvarhas zum Kampf fordern, wie sie es sich geschworen hatte. Sie würde ihm diesen verfluchten Zauber abnehmen und ihn zurückschicken in seine Welt des Nichts, und dann …
Sie hatte das Ende der Gasse fast erreicht, als sie das Scharren hörte, dieses leise, seltsame Knistern, das plötzlich die Luft durchzog wie das Prasseln von Eis auf Steinen. Mia spürte, wie eine unheimliche Kälte sie von hinten anflog. Schneeflocken tanzten an ihren Wangen vorüber. Sie griff nach der Hauswand, als sie das Grollen hörte, das ihr das Blut aus dem Kopf zog, und wandte sich wie in einem schrecklichen Albtraum um.
Vor ihr stand der Panther, doch er war nicht länger ein Wesen aus Fleisch und Blut. Die Scherben hatten seinen Körper wieder zusammengesetzt und bildeten nun einen Leib aus Schatten, Eis – und Zorn. Wie war das möglich? Die Gargoyles mussten sein Herz längst vernichtet und eine derartige Regeneration unmöglich gemacht haben. Irgendetwas hatte ihre Pläne durchkreuzt. Doch was? Atemlos wich Mia vor dem Panther zurück. Rot loderten seine Augen in seinem Gesicht, aus dessen Brüchen grauer Nebel drang, und ehe Mia etwas hätte tun können, riss er das Maul auf und spie ihr einen Sturm aus Eissplittern entgegen. Im nächsten Moment schob sich das Antlitz des Panthers durch den Orkan, ein riesiges, hasserfülltes Gesicht war es. Mia wollte schreien, doch schon sperrte das Untier das Maul auf und grub seine Zähne tief in ihren Hals. Jeder Ton glitt in ihre Kehle zurück und der Schmerz wurde so übermächtig, dass ihr schwarz vor Augen wurde. Doch sie verlor nicht das Bewusstsein, im Gegenteil, sie spürte, wie der Panther sie aus ihrem Körper herausriss, ohne sie zu töten, fühlte, wie ihr Leib unsanft auf dem Boden der Gasse aufschlug und wie ihr Bewusstsein in einem nebelhaften Leib von der Bestie durch Schleier aus Seide gezogen wurde. Ich habe Eure Welt gesehen, eine Welt in rauschenden Tüchern, ging ihr Tomkins Stimme durch den Kopf. Da ließ der Panther sie los.
Sie kam mit ihrem Nebelkörper auf weicher, feuchter Erde auf. Etwas Nasses tropfte ihr ins Gesicht, sie spürte eisigen Atem auf ihren Lidern. Erschrocken öffnete sie die Augen und starrte in das halb zerfressene Gesicht des Panthers. Mit einem Schrei kam sie auf die Beine, doch das Untier starrte sie nur aus boshaften Augen an. Maden schoben sich durch sein Fleisch, das Fell hing in Fetzen von seinem Körper und seine Gliedmaßen waren unnatürlich verdreht. Ein grelles rotes Licht pulste durch seinen Leib, das sich in seinem Herzen sammelte – sein Herz, das glühend wie ein Kohlestück in seinem verformten Körper lag. Es war, als wäre er eine Karikatur seiner selbst, ein Abbild, das eine grausame Macht nach seinem Vorbild erschaffen hatte, eine Zusammensetzung aus Hass und – Nichts.
Die Erkenntnis kam so plötzlich, dass Mia der Atem stockte. Du willst mich zurücktreiben in eine Welt des Nichts. Sie war in der Zwischenwelt gelandet, und das da vor ihr war nicht der Panther, gegen den sie gerade noch gekämpft hatte – es war sein Herz. Jetzt nahm sie die Schleier wahr, die sie in ewigem Rauschen umtosten, und sah die Gestalten der Gargoyles, die brüllend und keuchend gegen ähnlich missgestaltete Kreaturen kämpften – die Herzen der Alben, die nicht so leicht zu bezwingen waren, wie sie geglaubt hatten.
Der Panther keuchte und riss ihren Blick zurück auf sein schreckliches Gesicht. Ihr könnt uns die Herzen nicht nehmen, flüsterte er in ihren Gedanken, doch Mia wusste, dass nicht er es war, der mit ihr sprach. Es war das Nichts – die Zwischenwelt. Sie hatte sich die Herzen der Alben angeeignet, und nun kämpfte sie darum, dieses bisschen Leben zu behalten. Gleich darauf zerrissen die Schleier um Mia herum und vereinzelte Alben sprangen in die Zwischenwelt. Sie stürzten sich auf die Gargoyles und verteidigten ihre Herzen. Mia spürte, wie ihre Beine unter ihr nachgaben, als die Erkenntnis sie flutete: Der Elfenzauber war gebrochen.
Die Schleier legten sich um Mias Kehle, sie drangen in ihre Lunge ein, bis sie nicht mehr atmen konnte. Stimmen riefen sie aus weiter Ferne, es waren grausame, tödliche Stimmen, und doch wollte sie für einen Moment nichts weiter als ihrem Ruf folgen. Es war vorbei. Schatten tanzten um sie herum und aus der Dunkelheit schob sich eine Gestalt – eine schöne, hochgewachsene Gestalt mit einem Lächeln aus Eis.
Alvarhas blieb dicht vor ihr stehen und legte die Hand auf ihren Brustkorb. Sie fühlte, wie er nach dem Licht rief, das sie in sich trug, doch als es seine Finger berührte, verbrannte er sich. Mia sah in seine Augen, sah das Erstaunen darin und dann den Zorn, und sie spürte, wie sie zu sich selbst zurückkehrte. Nein, schoss es ihr durch den Kopf. Niemals.
Sie spürte die Flammen kaum, die mit einem Schrei aus ihrem Mund schossen und Alvarhas’ Bild zerrissen, ehe sie dem bestialischen Panther das Fleisch von den Knochen fetzten. Fauchend sprang er von ihr zurück, das Gesicht nun kaum mehr als ein nackter Schädel mit Stücken aus blutiger Haut. Mia kam auf die Beine, bereit, ihm die Augen aus dem Leib zu brennen. Doch da taumelte das Untier, für einen Moment sah es aus, als würde es tanzen. Ein riesiger Speer ragte zwischen seinen Schulterblättern auf. Dann brach es zusammen, wo es stand, und verwandelte sich in rasender Geschwindigkeit in einen Berg aus Asche. Mia sah noch den Umriss von Kronk, der das Herz des Panthers mit dem Speerzauber vernichtet hatte und ihr höflich zunickte. Im nächsten Moment wurde sie gepackt und emporgerissen. Schwarze Tücher rasten über ihren Körper, sie spürte eisigen Wind in ihrem Gesicht. Gleich darauf kam sie in der Gasse zu sich. Der Panther aus Eis lag niedergestreckt neben ihr und sie schaute in Jakobs Gesicht, der einen starken Heilungszauber durch ihren Körper schickte. Er griff nach ihrem Arm und half ihr auf Asmaels Rücken. Wortlos schwang er sich hinter ihr auf den Hippogryphen, der sich umgehend in die Luft erhob.
Mia grub ihre Finger in Asmaels Fell, als sie über das Schlachtfeld flogen, und spürte, wie ihr Tränen übers Gesicht liefen. Zahlreiche Elfen und Ghrogonier waren gefallen, die Straßen der Tempelstadt waren verfärbt von ihrem Blut. Dunkel wie Schatten erhoben sich bereits gefallene Alben aus dem Meer der Toten und stürzten sich mit neuer Kraft auf ihre Gegner. Die Königin hatte ihre Bannkreise in schwarze und grüne Flammen gesetzt, mehrere verschlungene Symbole standen in brennenden Schnüren in der Luft und bewegten sich unter den dunklen Beschwörungsformeln, mit denen sie ihren Zauber vollendete. Verzweifelt suchte Mia Grim, Carven und Theryon im Gewühl, aber sie konnte sie nicht entdecken, und auch, wenn sie sich noch so sehr gegen den Gedanken wehrte, wurde ihr eines unmissverständlich klar: Ein Sieg war ausgeschlossen. Sie spürte die Hoffnungslosigkeit übermächtig auf sich zurasen, krallte ihre Finger in Asmaels Fell und schloss die Augen. Sie wollte sich nicht mitreißen lassen, und doch meinte sie für einen Moment, an der Dunkelheit um sich herum ersticken zu müssen.
Und dann durchdrang ein Ton die Finsternis, ein silberner, klarer Ton. Mia stockte der Atem, als sie über die dunklen Gebäude der Stadt hinwegsah. Für einen Moment glaubte sie, der Morgen würde anbrechen, als sie den golden glänzenden Horizont sah – doch dann erkannte sie die Rüstungen und hörte noch einmal das silberne Horn, dessen Klang über die Kämpfenden hinwegzog wie ein Schlachtruf. Mia sah ein gewaltiges Luftschiff über den Reihen der Armee, die dort heraufzog, und sie erkannte eine Faust mit einem schneeweißen Falken in ihrer Mitte auf den Fahnen und Wappen der Krieger. Da preschte einer von ihnen vor. Er saß auf einem riesigen Falken und trug eine Rüstung aus grünem Adamantkristall. Sein Haar flatterte hinter ihm drein wie eine Fackel aus nachtschwarzem Feuer.
»Fa’rrol Oghram – Khergur Ifnatram!«, rief König Lir und Mia hörte seine Worte tausendfach gebrochen in sich widerhallen: Für das Licht – Ritter der Sterne!
Mit einem Schrei riss der Zwergenherrscher seine Axt in die Luft. »Flieht vor uns, Alben der Nacht!«, brüllte König Lir so laut, dass seine Stimme über die Straßen hinwegfegte wie ein Sturm aus Feuer. »Flieht vor dem Zorn der Zwerge!«