Werner J. Egli
wurde 1943 in Luzern, Schweiz, geboren und lebt heute als freier Schriftsteller in Tucson (USA) und in Egg bei Zürich. Seine erfolgreichen und in viele Sprachen übersetzten Jugendbücher wurden unter anderem mit dem Friedrich-Gerstäcker-Preis, mit dem Preis der Leseratten (ZDF) und mit dem Jugendbuchpreis der Ausländerbeauftragten des Senats Berlin ausgezeichnet. 2002 wurde er für die Hans-Christian-Andersen-Medaille nominiert, der international höchsten Auszeichnung für Jugendliteratur.
Unter www.aravaipa.ch ist der Autor auch im Internet zu finden.
Roman
Für meine Töchter Tamara, Dunja, und Lara,
meinen Sohn Nicolas, für Marlies und Conchita und
all die anderen Lillys, die ich kenne.
W. J. E.
eISBN 978-3-03864-227-5
Alle Urheberrechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe in jeder Form, einschließlich einer Verwertung in elektronischen Medien, der reprografischen Vervielfältigung, einer digitalen Verbreitung und der Aufnahme in Datenbanken, sind ausdrücklich vorbehalten.
Lektorat: Horst u. Fritz Eibl (A)
Umschlaggestaltung: Agentur flin
Bildnachweis: iStock | Neutronman
Realisation: Brigitta Vasella
Copyright © 2018 by ARAVAIPA–Verlag,
Egg bei Zürich
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ARAVAIPA im Internet: www.aravaipa.ch
1. Kapitel Ein schöner Tag
2. Kapitel Ein Gespräch mit Jim Fletcher
3. Kapitel Ausgelatschte Schuhe
4. Kapitel Alesha Baby
5. Kapitel Nigger sind schwarz
6. Kapitel Begegnung in Baton Rouge
7. Kapitel Lady in Blue
8. Kapitel Die Legende
9. Kapitel JBs Girl
10. Kapitel Sex mit Hanna
11. Kapitel Im rosa Licht
12. Kapitel Beale Street Blues
13. Kapitel Die Ehre der Familie
14. Kapitel Winstel Blues
15. Kapitel Fünfzig Jahre
16. Kapitel Forrest County Jail
17. Kapitel Mit gebrochenen Flügeln
18. Kapitel Yesterday Man
19. Kapitel Zurück zum Anfang
20. Kapitel JBs Gitarre
21. Kapitel Laugh, Clown, Laugh
22. Kapitel Das Wunder der Liebe
23. Kapitel Texas Blues
Was mir von Lilly bis heute geblieben ist, schenkte sie mir, als ich zum ersten Mal in ihre Augen sah. Es ist vielleicht der größte Schatz von allen, die bis dahin noch nicht entdeckt waren. Man muss sich das einmal vorstellen: Da stirbt ein Mensch, und in seinen Augen ist ein wunderbares Leuchten, an dem sich der Tod die Knochenhände hätte wärmen können, wäre ihm danach zumute gewesen.
Für mich, der ich da war und ihre letzten Stunden miterlebte, war in diesem Leuchten das Erbe verborgen, das mir Lilly hinterließ. Kein Gold war es und keine Juwelen. Kein Vermögen auf irgendeinem geheimen Bankkonto, von dem außer mir noch keiner wusste, und trotzdem spürte ich, dass Lilly mir nichts Wertvolleres hätte schenken können, nichts, was mich reicher gemacht hätte. Ich kann das noch immer nicht richtig erklären, glaube ich. Vielleicht schreibe ich deswegen dieses Buch. Damit ich zu begreifen lerne, was ich an jenem Tag, als Lilly von uns ging und mich mit einem Gefühl von Trauer und gleichzeitiger Freude zurückließ, entdeckt hatte. Die Liebe, wahrscheinlich. Was heißt denn wahrscheinlich? Heute weiß ich, dass es so war. Aber damals dachte ich, es gäbe für einen wie mich nichts anderes mehr zu entdecken. Ich hatte alles erfahren, alles erlebt. Alles war mir, davon war ich in jener Zeit felsenfest überzeugt, schon bekannt. Ich besaß, wie Hannas Vater, George Ledbetter, zu meiner Mutter gesagt hatte, eine besondere Gabe.
„Mit Bradley werden Sie noch Ihr blaues Wunder erleben“, warnte er sie. „Er besitzt nämlich etwas, was nicht viele Menschen besitzen. Vielleicht ist es ein Geschenk, vielleicht aber auch ein Fluch.“
„Bei allem Respekt, Mr. Ledbetter, was soll denn das sein?“, fragte ihn meine Mutter.
„Bradley bringt Leute zum Reden, ohne dass es seine Absicht ist. Er braucht nur irgendwo reinzukommen, und schon erzählen ihm die Leute ihr Leben. Das ist selbst meiner Frau passiert. Sie hat ihm erzählt, wie unsere Zwillinge gestorben sind. Noch nie hat sie mit jemandem darüber geredet, aber mit Bradley glaubte sie ihren Schmerz teilen zu können. Als ich zufällig hereinkam, weinte sie.“
„Und warum sollte das ein Fluch sein, wenn Sie mir die Frage gestatten? Es gibt wohl wenige Menschen, mit denen jemand über seine Trauer reden möchte.“
„Eben“, pflichtete ihr Mr. Ledbetter bei.
Meine Mutter wusste nicht, was er damit meinte, aber als sie mir später von dem Gespräch erzählte, hatte ich so meine Vermutungen. Vielleicht meinte er, ich könnte irgendwann mal durchdrehen, wenn ich mir den ganzen Ballast auflud, der andere Leute erdrückte. Außerdem wollte er natürlich nicht, dass ich meine besondere Gabe dazu verwendete, das Leben seiner Tochter Hanna zu ruinieren, welches er, selbstverständlich nur zu ihrem Wohl, bereits verplant hatte.
Natürlich hatte er keinen Schimmer, wie viel ich vertragen konnte. Ich war nämlich trotz meiner Jugend schon ziemlich abgehärtet. Immerhin hatte ich schon einiges erlebt. Zum Beispiel hatte ich bereits Menschen verloren, die mir viel bedeuteten. Meinen Vater etwa, nachdem er mir sozusagen Alesha weggenommen und einen Traum zerstört hatte. Und McDelcott, der Mann meiner Mutter, der uns, meinem Bruder Mitch und mir, nie ein Vater sein konnte, obwohl er sich alle Mühe gab und zumindest für Mitch eine Zeit lang ein gewisser Halt war. Ich hatte ein Gefühl erfahren, das ich für die Liebe hielt, und mich beim ersten Mal, als ich von meinem Verlangen überwältigt wurde, bis auf die Knochen blamiert. Ich hatte mein Herz herumgetragen, als wollte ich es irgendeinem Gott opfern, und es war in meinen Händen zersplittert. Ich hatte meine Wunden geleckt, als sie noch bluteten bis nur noch ein bitterer Geschmack übrig blieb. Ich war im kalten Grau der Dämmerung, in der mein Freund Santiago Gomez von der Kugel eines Grenzbeamten getötet wurde, meinem eigenen Schatten begegnet, der mich vor mir selbst warnte. Aber das, was ich an jenem Tag des Abschiedes in Lillys Augen sah, dieses leuchtende Feuer, war eine ganz besondere Sache. Die Liebe. Die wahre Liebe. Ich musste danach gesucht haben, weil ich ahnte, dass es eine andere Liebe geben musste als die, die ich spürte, wenn ich mit Hanna unten am Brewster-Teich saß und merkte, wie sehr ich Alesha vermisste und dass ich lieber in die Stadt gegangen und nach Alesha gesucht hätte, weil ich mit niemandem zusammen sein konnte, ohne an sie zu denken, nicht einmal mit Hanna.
Dabei glaubte ich, ich wüsste schon alles. Ich glaubte, ich wüsste schon alles, weil ich eines Nachts nicht unten am Flussufer unter freiem Himmel geschlafen hatte, sondern wie der Mann, der ich werden wollte, heimlich zu Alesha gegangen war. Ein Junge war ich noch, als ich ohne Führerschein nach Dickens fuhr, einfach ihr Motelzimmer aufsuchte und an die Tür klopfte. Sie machte auf und hinter ihr schimmerte dieses rosa Licht, das mich beinahe schwindelig werden ließ, und sie sagte kein Wort, sah mich nur an und sagte nicht, warum bist du hergekommen oder so was, weil sie wusste, warum ich da war. Sie trug dieses dünne, fast durchsichtige Nachthemd und ich stand vor ihr und wusste nicht, was ich tun sollte, und da nahm sie mich bei der Hand und zog mich herein und umarmte mich, und wir küssten uns und ich drückte sie an mich und irgendwie, ich weiß heute noch nicht genau, wie das alles geschah, lagen wir später im Bett und seither glaubte ich, auch über die Liebe, alles zu wissen. Alles!
Heute erst weiß ich, dass mir die Liebe die ich meine, eben diese wahre Liebe, in Lillys Augen zum ersten Mal begegnete. Das weiß ich heute, nachdem drei Jahre vergangen sind. Drei lange Jahre, die mich zum Mann gemacht haben, ohne dass ich es merkte. Damals, vor drei Jahren, saß sie in ihrem Bett und in ihren Augen war dieses Leuchten, das ich nie mehr vergessen mag. Und manchmal träumte ich seither, eines Tages so glücklich zu sterben, wie es Lilly an jenem Tag tat. Glücklich war sie. Glücklich, gelebt zu haben. Glücklich, den Weg zu gehen, auf den sie sich seit Monaten gefreut hatte wie auf eine lange schöne Reise in ein fernes Land. Und manchmal wünsche ich mir heute noch, nicht nur wenn ich träume, ich hätte sie begleiten können, dorthin, von wo es Gott sei Dank kein Zurück mehr gab, und wo eines Tages Alesha auch hinkommen würde.
Lilly ging allein. Sie sah mich nur an, bevor sie ihre Augen für immer schloss, sah mich an, als wäre ich der Held, der sie durch Nacht und Nebel geführt hatte, als sie sich längst verloren glaubte in einem Labyrinth, in dem sie, ohne es zu wissen, nicht allein herumirrte.
Dabei war ich selbst erst achtzehn und die Wege, die ich kannte, führten alle durch meine eigene verquere Welt nach Nirgendwo.
Ja, ich wollte bei ihr sein, wenn sie starb. Ich allein. Das war damals mein größter Wunsch und ich hatte Glück, dass er in Erfüllung ging. So nahm ich sie bei der Hand, als wüsste ich den Weg, und ich weinte, obwohl auch ich glücklich war mit ihr, so glücklich wie noch nie zuvor.
Es war ein Tag voller Geheimnisse, ein Tag voller Wunder. Wir hatten zusammen gegessen. Zusammen mit allen anderen im großen Speisesaal mit den vielen Tischen und der Fensterfront, die zum Garten hinaus gerichtet war. Ich hatte eine Kerze mitgebracht und auf dem Tisch, im flackernden Licht, stand eine silbergerahmte Fotografie von JB. Es gab Putenschnitzel in Rahmsauce, kleine Kartoffelpuffer und Spinat mit Reibkäse. Lilly trank von einem Glas Rotwein zwei oder drei Schlückchen und tupfte sich die Lippen mit der Serviette ab, jede Handbewegung machte sie sorgfältig und achtsam, so, als fürchtete sie, dieses Abendessen würde ihr sonst nicht in Erinnerung bleiben.
Viel aß Lilly nicht mehr, aber alles, was sie aß, kostete sie auf eine ganz besondere Art, beinahe so, als hätte sie gewusst, dass dieses Mal ihr letztes war. Zum Dessert hatte sie sich einen Karamellpudding gewünscht und davon aß sie zwei kleine Löffel.
„Jetzt ist es genug“, sagte sie danach. „Komm, Brad, wir gehen.“
Ich half ihr auf die Beine, stützte sie, indem ich sie am Arm festhielt, wie ich es schon hundertmal gemacht hatte. Langsam gingen wir zwischen den Tischen hindurch, und die anderen schauten uns nach, schauten uns mit plötzlich wachen Augen nach, neugierig, wohin wir gehen würden, obwohl es nur die eine Tür gab, die in den langen Flur führte, und einige sagten „Gute Nacht, Lilly“ oder „Wir sehen uns im Garten“, und Lilly lächelte nur, und das Lächeln war ihr Abschied, ohne dass es jemand erkannte und darüber hätte traurig werden können.
Wir machten gemeinsam einen Spaziergang durch den kleinen Garten, und sie hielt sich an meinem Arm fest, manchmal blieben wir stehen und sie betrachtete die Blumen und die Grashalme oder sie berührte mit ihrer freien Hand die Blätter eines Zierbusches, als spürte sie in ihnen den Pulsschlag ewigen Lebens. Nichts schien ihrer Aufmerksamkeit zu entgehen, aber sie blieb nicht ein einziges Mal stehen, um mit jemandem zu reden, schien die Menschen überhaupt nicht wahrzunehmen, die auf den Bänken in der Abendsonne saßen und uns betrachteten, als wären wir zwei merkwürdige Fremde, die sich hier in diesem schönen Garten verloren hatten. Und dann, als die Sonne in die Kronen der alten Bäume eintauchte und ihr Grün zum Leuchten brachte, als es ein wenig kühler wurde, gingen wir hinauf in ihr Zimmer, in dem das große Bett stand und der Fernseher und die Kommode mit dem Kippspiegel und den Fotos und der Rose, die vor langer, langer Zeit verdorrt war und nur noch in Lillys Erinnerung blühte.
Ich stellte JBs silbergerahmtes Foto zu den anderen und öffnete das Fenster, um Luft und Licht hereinzulassen, aber die Sonne war inzwischen irgendwo jenseits des Mississippi untergegangen. Es war der Abendhimmel, welcher die Wände in ihrem Zimmer dunkelrot färbte, und wenn ich am Fenster stehen geblieben wäre, hätte ich zwischen den Bäumen hindurch den Mississippi sehen können, den großen alten Mann, wie ihn Lilly immer respektvoll nannte, wenn wir über ihn redeten wie über einen treuen Freund, helle Flecken des träge dahinfließenden Wassers nur, das ich von hier aus mehr erahnt als wirklich gesehen hätte, und ich hätte die Stadt hören können, dieser gedämpfte gleichmäßige Lärm, der überall war und nirgendwo, und vielleicht flüsternde Stimmen vom Garten herauf, in dem die alten Leute auf den Bänken saßen, mit ihren blassen Erinnerungen und mit denen, die manchmal so frisch waren, als hätten sie all die Jahre hindurch eine Nische in ihrem Gedächtnis gefunden, in der nichts Aufbewahrtes verdarb.
Aber ich setzte mich auf den Stuhl neben Lillys Bett und nahm JBs Gitarre zur Hand und spielte leise darauf herum, spielte nichts Besonderes, nichts, was sie schon einmal gehört hatte, klimperte einfach leise vor mich hin, lächelte sie an, während mir die Tränen über die Wangen liefen, und ihre Hände lagen jetzt regungslos auf der weißen Bettdecke. Wie ein wunderschöner Engel sah sie aus, der hierhergefunden hatte, um sich hier nach einem langen Flug zur Ruhe zu legen. Die Falten in ihrem Gesicht glätteten sich und ihre wunderbaren Augen strahlten, und ich bewunderte sie einmal mehr, bewunderte sie für ihre Zierlichkeit und die Kraft, die in ihr versteckt war, und ich bewunderte sie für ihre Schönheit und ihre Lebensfreude, mit der sie mir so oft die Furcht vor einer ungewissen Zukunft genommen hatte.
Natürlich wusste ich, an wen sie in jenem Moment dachte, als sie die Augen für immer schloss, halb aufgerichtet in ihrem viel zu großen Bett, drei oder vier Kissen im Rücken und eines hinter dem Kopf, sodass sie ihn leicht zurücklegen und sich ausruhen konnte.
Diese alte Gitarre in meinen Händen, die hatte eine Stimme, die nur sie verstehen konnte. Ganz egal, was ich spielte, es war JB, den sie hörte. Ich selbst existierte nicht mehr für meine geliebte Lilly. Mich gab es nicht mehr.
Sie starb, während ich spielte. Sie brauchte sich nicht zu verabschieden. Das hatte sie vorher getan, als wir ins Zimmer kamen. Sie hatte sich im Bad umgezogen und zurechtgemacht, sich ein letztes Mal gekämmt und sich gewaschen.
Und als sie sich ins Bett legte und ich ihr die Kissen unter den Rücken schob und hinter den Kopf, da gab sie mir einen Kuss.
„Es war ein gutes Leben, Brad“, sagte sie. „So viel, wie ich bekommen habe, durfte ich nicht erwarten. Ja, es war ein gutes Leben.“
„Du lebst noch“, antwortete ich und lächelte. Und ich lächelte, weil ich sie in dieser Sekunde zu verlieren fürchtete. So versuchte ich, die Angst zu verstecken, und das Lächeln blieb, während sich die Angst nach und nach verlor wie Schatten in der Morgendämmerung.
Meine geliebte Lilly. Ich wusste, dass sie jetzt tot war, obwohl sie aussah, als schliefe sie. Dieses Gesicht kannte ich. Dieses Lächeln. Als hätte sie mir damit ein letztes Mal sagen wollen, wie sehr sie sich auf alles freute, was nach dem Tod kam. Auf einen wunderschönen Pfad, auf dem noch nie ein Rad gerollt war. Eine leise Melodie im Wind, der von irgendwoher kam, wo noch nie ein Schuss gefallen war. Einen strahlenden Himmel, wie sie ihn aus ihrer Jugend kannte, als sie noch geglaubt hatte, der Sommer würde ewig dauern. Keine Mauern. Keine Gitter. Nicht einmal eine bedrohliche Gewitterwolke, die sich über den fernen Horizont schiebt. Und irgendwo, irgendwo in dieser Unendlichkeit würde er auf sie warten, und sie würde auf ihn zulaufen, leichtfüßig und schnell, getragen von ihrem Glück, ihr langes blondes Haar im Wind fliegend, ein Kleid beinahe wie ein Hauch, und er würde seine Arme ausbreiten und sie mit seinen starken Händen an sich ziehen, wie er es damals, als sie beide jung gewesen waren, lange nicht zu tun gewagt hatte. Ich legte JBs Gitarre auf den Stuhl und beugte mich über sie und küsste sie auf die Stirn.
Und ich küsste ihre Wange und nahm ihre Hände in meine Hände und drückte sie so sanft, als fürchtete ich, sie könnten zu Staub zerfallen. Ihre Gesichtshaut war blass und zart, und ich küsste ihre Lippen und als ich glaubte noch einmal ihren Atem zu spüren, ganz leicht nur auf meiner Wange, da verharrte ich völlig regungslos, hielt meinen Atem an und suchte mit allen meinen Sinnen nach einer letzten Berührung, nach einem schwachen Seufzer. Einem Hauch.
Die Tränen trockneten auf meiner Haut, und irgendwann nahm ich die Kissen hinter ihrem Rücken hervor. Nur das eine Kopfkissen ließ ich liegen. Dann legte ich mich neben sie auf das Bett und verschränkte die Arme hinter meinem Kopf. Ich blickte hinaus, über die Blätter einer alten knorrigen Eiche hinweg und in den Abendhimmel, durchzogen von den Kondensstreifen der Jets, und jetzt erst vernahm ich die Stimmen von unten im Garten, leise Stimmen von Menschen, die noch ein Stück zu leben hatten, während Lilly hier in ihrem Zimmer so leise und friedlich gestorben war, dass es außer mir niemand bemerkt hatte.
Ich lag lange neben ihr, merkte nicht, wie es dunkel wurde und wie sich die Luft abkühlte, die in das kleine Zimmer drang, und in meinen Gedanken war ich bei ihr, begleitete sie auf ihrem Pfad über die Wiesen und durch die Wälder, und es war Herbst und schönes Wetter, alles bunt und nach Wärme riechend, und da sah ich JB auf der Bank vor seinem kleinen Haus sitzen, das schon vor vielen Jahren abgebrannt war, in einem dunklen Anzug und einem weißen Hemd, und im Knopfloch des Jackett Kragens steckte eine dunkelrote Rose. Er lachte, als sie auf ihn zu rannte, erhob sich von seinem Stuhl und ging die Verandatreppe hinunter, ein großer schlaksiger Junge, dem die Sonne ins Gesicht schien. Er breitete seine Arme aus.
„Lilly“, rief er, als hätte er so unendlich lange auf sie gewartet. „Lilly, du weißt nicht, wie sehr ich dich liebe.“
Aber sie wusste es, und sie war noch nie im Leben schneller gerannt als jetzt. Nie.
Ich fuhr mit dem Aufzug hinunter. Die Luft im Aufzug war schlecht. Sie roch nach kalt gewordenem Essen und nach einem Putzmittel. Das ganze Heim roch danach. Am Anfang, als ich zum ersten Mal hergekommen war, hatte ich mich davor geekelt. Ich hätte hier nichts essen können, nichts trinken. Ich dachte, ich müsste ersticken. Am Anfang wollte ich nicht hierbleiben, nicht einmal fünf Minuten lang, aber inzwischen war mir alles so vertraut geworden, dass ich nirgendwo lieber war als hier.
Unten ging ich den langen Flur entlang, in dem Bilder hingen, die von den Kindern einer Schulklasse gemalt worden waren. Sonnenaufgänge. Sonnenuntergänge. Mond und Sterne. Hügel mit merkwürdigen Figuren, die aussahen wie Fische mit Antennen. Oder Flugzeuge. In einer Nische zwischen zwei Fenstern stand der Käfig mit einem eingesperrten Beo, der immerfort redete. Man brauchte nur vorbeizugehen und schon redete er.
Manchmal blieb ich stehen und ließ ihn reden. Heute hörte ich nicht hin. Er sagte sowieso immer das Gleiche. „Bock auf Kaviar?“ Keine Ahnung, wer ihm das beigebracht hatte. „Bock auf Kaviar?“ Und: „Was willst du? Einen alten Hut zum Trommeln?“
Eine Pflegerin, von der ich wusste, dass sie Rhonda hieß, kam durch eine stählerne Schwingtür aus der Küche, sah mich am Käfig vorbeigehen und lächelte.
„Lilly hat nicht viel gegessen“, sagte sie. „Es ist mir beim Abräumen aufgefallen.“
„Ja“, antwortete ich. Mir fiel nichts anderes ein und später konnte ich mir nicht erklären, warum ich ihr nicht gesagt hatte, dass Lilly gestorben war. Ich ging hinaus und die Straße hinunter und meine Mutter saß bei McDonald’s am Fenster, genau auf dem Platz, wo sich auch Lilly immer hingesetzt hatte, wenn wir zusammen zum Essen gingen. Meine Mutter las in einem Filmmagazin. Ihre Fritten waren kalt geworden, sie lagen schlapp auf dem Tablett, die meisten im Ketchup. Sie trank Dr. Pepper. Ich kenne sonst keine Frau, die Dr. Pepper gern mag. Meine Mutter trinkt Dr. Pepper. Unser Kühlschrank zu Hause ist voll von Dr. Pepper. Cola zerfrisst dir den Magen, meint sie. Ich mag Dr. Pepper nicht. Damals nicht und auch heute noch nicht. Ich mag Cola, aber manchmal wache ich mitten in der Nacht auf, weil ich träume, Coca Cola ist ein Monster mit spitzen Zähnen.
Sie blickte auf, als ich hereinkam, und sie sah mir sofort an, dass Lilly tot war.
„Komm her“, sagte sie und streckte eine Hand nach mir aus.
„Es ist schon okay.“ Ich konnte sie nicht ansehen. Ich blieb einfach stehen und starrte aus dem Fenster auf die Straße hinaus und auf den riesigen Ronald McDonald, der draußen stand und Kinder hereinwinkte.
Irgendwo dort draußen in dieser Stadt war Alesha. Hätte ich gewusst, wo ich sie hätte finden können, ich wäre wahrscheinlich zu ihr gegangen. Einfach so. Hätte an die Tür geklopft und dann hätte ich gesagt, hier bin ich und ich bleibe bei dir.
„Brad, setz dich zu mir“, sagte meine Mutter, während sie das Magazin zuschlug und in ihrer Tasche verstaute. Ich blieb stehen und blickte durch das große Fenster hinaus.
„Brad! Komm her und setz dich zu mir!“
Ich schüttelte den Kopf, ohne sie anzusehen.
„Jemand muss hingehen und ihnen sagen, dass sie tot ist“, sagte ich.
„Du meinst, du hast niemandem dort gesagt, dass sie tot ist?“
„Nein. Jetzt, wo sie tot ist, kannst du ja hingehen und es ihnen sagen.“
Meine Mutter erhob sich von der Bank, auf der sie gesessen hatte. Sie kam zu mir.
„Brad, hast du ihr gesagt, dass ich da bin?“
„Nein. Sie hat nicht nach dir gefragt.“
Jetzt blickte ich sie an. Blickte ihr direkt in die Augen und sie wich meinem Blick nicht aus.
Das konnte sie gut, meinem Blick standhalten. Und ich glaube, ich war immer der, der zuerst wegschaute. Aber nicht dieses Mal. Dieses Mal sah ich ihr in die Augen und ich spürte nur, wie mir die Tränen kommen wollten, und ich erinnerte mich an den Tag, an dem mir JB gesagt hatte, die Kunst des Lebens bestehe darin, seinen Schmerz hinter einem Lächeln zu verbergen. Nur, in diesem Moment gelang es mir nicht.
„Dann geh ich jetzt und sag es ihnen“, sagte sie. „Bleibst du hier?“
Ich nickte nur, und sie verließ den McDonald’s und ich bestellte eine Cola und dachte, dass ich eigentlich Hanna anrufen sollte, um ihr mitzuteilen, dass wir ein paar Tage in Memphis bleiben und wahrscheinlich nicht vor Samstag wieder zurück in Winstel sein würden, weil alle Formalitäten erledigt werden mussten.
Ich ging mit dem Colabecher in der Hand zur Telefonzelle und rief Hanna an.
Ihr Vater hob ab und meldete sich.
„Ledbetter“, sagte er nur, aber irgendwie klang das immer wie eine Warnung. Einen Moment lang dachte ich daran, einfach aufzuhängen, aber dann fragte ich ihn nach Hanna, und zwar ohne die Stimme zu verstellen, wie ich das schon oft getan hatte, wenn ich keinen Bock hatte, mit ihm über mich und über Hanna zu reden.
„Bist du das, Brad?“, fragte er. „Ich dachte, du bist mit deiner Mutter nach Memphis gefahren, um Lilly zu sehen.“
„Ich bin in Memphis, Sir“, sagte ich.
„Ah.“
Er schien eine Sekunde lang überlegen zu müssen, was er mir als Nächstes sagen sollte. Und dann kam es. Kalt und hart, als hätte er die Worte in der Tiefkühltruhe gelagert, die bei Hanna zu Hause in der Küche stand.
„Übrigens, Brad, ich würde mich demnächst gern mal mit dir über gewisse Dinge unterhalten, die für uns alle von Bedeutung sind.“
Ich wusste natürlich sofort, was er meinte, aber ich stellte mich blöd.
„Dinge, Sir? Welche Dinge?“
„Nun, über Hannas Zukunft zum Beispiel. Und natürlich auch über deine. Du bist ein begnadeter Junge mit einem großen Talent. Da ist es wichtig, dass man sich Ziele setzt. Du hast dir doch Ziele gesetzt, nicht wahr, Brad?“
Ausgerechnet jetzt versuchte er mich festzunageln. Lilly war noch nicht mal eine halbe Stunde tot, und er redete mit mir über meine Zukunft. Dabei hatte er keinen Schimmer. Er war Bankangestellter, verdammt, und irgendwann hatte man ihn zum Bürgermeister von Winstel gewählt, weil sonst niemand den Job haben wollte. Am liebsten hätte ich ihm gesagt, dass er mir mal den Buckel herunterrutschen könne, aber ich hatte jetzt nicht die Kraft dazu.
„Ja, Sir, wenn ich zurück bin …“
„Aber natürlich, Brad. Moment mal, da kommt eben Hanna herein.“ Ich hörte ihn nach Hanna rufen. Seine Stimme klang dumpf. Vermutlich hielt er eine Hand über die Sprechmuschel, aber ich konnte ihn trotzdem hören. „Telefon für dich, Hanna.“ Und dann Hannas Stimme. Von fern. Vermutlich von der Haustür her, durch den Flur und ins Wohnzimmer. „Wer ist es? Brad?“ Und wieder Mr. Ledbetter. „Wer denn sonst.“ Irgendwelche Geräusche folgten, und ich stellte mir vor, dass Hanna im Flur ihre Sporttasche hingeworfen hatte und ihrem Vater den Hörer aus der Hand zerrte, bevor er sich von mir verabschieden konnte.
„Brad! Bist du das, Brad?“
„Ja.“
„Du … du klingst so nah. So, als wärst du hier in Winstel.“
„Ich bin in Memphis. Wollte dir nur sagen, dass wir wahrscheinlich nicht vor Samstag zurückkommen, meine Mutter und ich.“
Sekunden vergingen. Ich konnte sie atmen hören. Irgendwo wurde eine Tür zugemacht.
„Schön, dass du mich angerufen hast, Brad“, sagte sie leise. „Ich habe gehofft, dass du mich anrufst.“
„Ich wollte dir nur sagen, dass wir nicht gleich …“
„Heute ist erst Dienstag“, unterbrach sie mich. „Du wolltest am Donners…“ Sie brach mitten im Wort ab und einige Sekunden lang drang kein Geräusch mehr an mein Ohr, weil sie plötzlich begriff, was ich ihr gesagt hatte, und sie jetzt wahrscheinlich den Atem anhielt.
„Brad, ist sie … Oh, mein Gott, sie ist gestorben, nicht wahr?“
„Ja.“
„Oh, Brad, mein Armer“, schluchzte sie. „Lieber Gott, das tut mir so schrecklich Leid für dich. Ich weiß doch, wie sehr du sie gemocht hast. Und jetzt ist sie nicht mehr. Ich kann es nicht fassen, Brad. Es ist so schrecklich. Es ist so ungerecht. Du hast dich so auf das Wiedersehen gefreut und jetzt … Oh, Brad, wenn ich nur etwas zu sagen wüsste. Ich wünschte, ich könnte dich trösten. Das ist alles so traurig … Ich muss gleich heulen.“
„Hanna, es ist …“
Sie heulte tatsächlich. Sie heulte einfach drauflos und es gab nichts, was ich für sie hätte tun können, und so sagte ich ihr Auf Wiedersehen und legte auf. Ich ging zum Tisch zurück und setzte mich ans Fenster und blickte auf die Straße hinaus und auf die Autos, die in den McDrive einbogen, Mütter mit fröhlichen Kindern hinten im Auto, und aus irgendeinem Grund dachte ich, Mann, wenn jetzt ein Verrückter plötzlich in den McDonald’s kommt und um sich zu schießen beginnt, einfach so auf alles schießt, was sich bewegt, auf die Mütter und die Kinder und auf die Angestellten und auf den alten Mann, der vornübergebeugt an einem Tischchen sitzt und einen Cheeseburger verdrückt … Bei dieser Vorstellung wurde mir ganz mulmig. Ich schaute mir den nächsten Fahrer, der in den McDrive einbog, ganz genau an, sah, dass er einen Overall trug und eine schmutzige Basketballmütze mit einem Texaco-Stern drauf, und ich sagte mir, dass er ein ganz gewöhnlicher Automechaniker war, der daheim eine Frau und drei oder vier Kinder hatte. Das nächste Auto, das in den McDrive einbog, war ein Streifenwagen der Stadtpolizei mit zwei Cops drin, die parkten den Streifenwagen und kamen in den McDonald’s und beide bestellten sich Milkshakes, einer mit Bananen- und der andere mit Erdbeergeschmack. Ich sah sie mir genau an. Einer von ihnen war um einiges älter als der andere, hatte schon einen ergrauten Schnurrbart, und der andere, der Jüngere, war ein Schwarzer, der eine Pilotensonnenbrille aufgesetzt hatte. Ich dachte mir, die solltest du fragen, ob sie Alesha kennen und vielleicht sogar wissen, wo sie wohnt, aber ich ließ es bleiben, weil es wahrscheinlich ohnehin keinen Sinn hatte, in einer Millionenstadt nach einem Mädchen zu fragen, von dem einem nur der Vorname in Erinnerung geblieben ist. Das hatte doch schon einmal Elvis in einem Chuck-Berry-Song versucht, den Mutter hin und wieder auf dem alten Plattenspieler hörte, wenn sie glücklicheren Zeiten nachtrauerte.
Die Cops gingen hinaus und setzten sich wieder in den Streifenwagen und da saßen sie und tranken ihre Milkshakes, und wahrscheinlich hatten sie das Funkgerät laufen und warteten nur, dass irgendwo irgendetwas passierte und ihnen der Einsatzleiter einen Einsatzbefehl durchgeben würde.
Dann kam Mom zurück. Sie war geschafft. Ich konnte es ihr ansehen, obwohl sie sich Mühe gab, sich nichts anmerken zu lassen. Sie musste geweint haben. Am linken Auge war irgendetwas verschmiert. Wahrscheinlich Farbe vom Lid Stift oder so was. Keine Ahnung, was sie sich aufs Gesicht pflastert. Ich gehe nie hin und schau in ihrem Zeug nach, das im Badezimmer herumliegt. Sie beugte sich zu mir herunter und umarmte mich.
„Du warst bei ihr, als sie starb, nicht wahr“, sagte sie.
Ich nickte. Sie richtete sich auf.
„Hat sie noch etwas gesagt?“
Ich nickte wieder.
„Wegen deinem Vater, meine ich.“
„Nein.“
„Ich habe versucht, ihn vom Heim aus anzurufen. Er sollte wenigstens wissen, dass sie gestorben ist. Er war nicht zu Hause.“ Mom bestellte sich ein Dr. Pepper und kam mit dem Becher zum Tisch zurück. Sie setzte sich auf den gleichen Platz, auf dem sie schon vorher gesessen hatte.
„Vielleicht solltest du ihn später anrufen, Brad.“
„Ich?“
„Er ist dein Vater, oder nicht? Wir werden Lillys Asche bei uns in Winstel beisetzen. Sag ihm das! Sag ihm, dass er wenigstens zur Beerdigung kommen könnte. Das ist das Mindeste, finde ich.“
„Wir werden Lillys Asche zum Mississippi hinuntertragen und über dem Wasser ausstreuen, Mutter. Sie hat sich das so gewünscht.“
Meine Mutter blickte mich an.
„Hat sie es dir gesagt, dass das ihr Wunsch ist?“
„Ja. Als JB starb, sagte sie es mir. JBs Asche wurde über dem Mississippi ausgestreut. Von der Mississippi Brücke. Dort werde ich Lillys Asche ausstreuen.“
„Dann sag ihm das, Brad. Sag deinem Vater, dass Lillys Asche über dem Mississippi ausgestreut wird. Er sollte wenigstens wissen, dass du das vorhast. Es ist immerhin seine Mutter, Brad.“
Sie hatte natürlich Recht. Es ging um die Asche seiner Mutter. Und das sagte ich ihm am Abend vom Hoteltelefon aus.
„Jim Fletcher“, meldete er sich.
„Brad“, sagte ich.
„Brad, verdammt, Brad! Wo steckst du, mein Junge? Verdammt, wir haben uns lange nicht mehr gesehen. Was gibt’s Neues. Wo steckst du?“ Er lachte. „In der Klemme, was? Und jetzt soll dir dein alter Vater da raushelfen und …“
„Lilly ist tot!“, unterbrach ich ihn.
Es verschlug ihm den Atem.
Wir schwiegen beide. Ich glaube, es verging eine Minute oder mehr, bevor er wieder da war.
„Brad, wo bist du?“ Seine Stimme zitterte.
„In Memphis.“
„Warst du bei der alten Dame, als sie starb?“
„Ja.“
„Und wer noch? Deine Mutter?“
„Nein. Mom ist hier, aber ich war allein bei Lilly.“
Er schwieg wieder. Es klang fast, als wäre er überhaupt nicht mehr dran.
„Hallo“, sagte ich. „Bist du noch dran?“
„Natürlich bin ich noch dran. Ich habe mir nur überlegt, was ich dir sagen soll.“
„Du brauchst mir nichts zu sagen.“
„Okay. Dann sag ich lieber nichts, verstehst du. Ich frage dich nur, was jetzt passiert. Ich meine, es wird wahrscheinlich so was wie ’ne Beerdigung geben. Was hat mein Bruder Lewis dazu gesagt. Weiß er überhaupt, dass die alte Dame gestorben ist?“
„Mom sagt, dass du ihn anrufen sollst.“
„Werd ich tun, Brad, Ganz klar. Wann … Wann ist sie denn … gestorben?“
„Heute Abend. Kurz vor sieben.“
„Kurz vor sieben?“
„Ja.“
„Ah ja, da war ich noch unterwegs. Du weißt ja, ich fahr wieder Laster. Ich war unterwegs nach Hause. Ist deine Mutter in der Nähe?“
„Ja.“
„Gib sie mir mal.“
„Sie will nicht.“
„Okay. Dann sag mir, was ich tun soll? Wann ist denn die Beerdigung? Und wo? Ich komm natürlich hin. Und Lewis wahrscheinlich auch. Ich werd’s ihm auf jeden Fall sagen.“
„Es gibt keine Beerdigung.“
„Keine Beerdigung?“
„Lilly wird kremiert.“
„Verbrannt?“
„Ja. Und ich soll ihre Asche über dem Mississippi ausstreuen.“
„Hm, das ist keine schlechte Idee. Ich meine, was ist denn da noch übrig, wenn man einmal tot ist …“
„Asche.“
„Stimmt. Ein Häufchen Asche.“
„Und Erinnerungen.“
„Stimmt.“ Er dachte nach. Dachte wahrscheinlich an irgendetwas in seinem Leben. Irgendetwas, das ihn an Lilly erinnerte.
„Was hast du vor, Brad?“
„Was meinst du?“
„Das mit der Asche. Wann geschieht das?“
„Keine Ahnung. Mom sagt, dass übermorgen die Kremation stattfinden kann. Hinterher kriegen wir die Urne mit der Asche, und da wir gerade hier sind, in Memphis, sollten wir sie auch gleich in den Fluss streuen.“
„Natürlich. Ist wahrscheinlich auch besser. Für Lilly meine ich. Und für alle.“
„Ja.“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Eigentlich hätte ich es schon gewusst, aber ich sagte es nicht.
„He, ich bin verdammt froh, dass du wenigstens bei ihr warst, Brad. Verdammt froh. Werd ich dir nie vergessen.“
„Okay.“
„Wie geht’s dir denn?“
„Okay.“
„Okay okay?“
„Okay.“
„Wieder mal was von Alesha gehört?“
Ich hätte darauf gefasst sein sollen, aber ich war es nicht. Und so schoss mir das Blut in den Kopf, und meine Mutter, die mich genau beobachtete, wusste sofort, was los war.
„Sag deinem Vater, dass die kleine Nutte das County bei Nacht und Nebel verlassen hat, bevor man sie steinigen konnte.“
„War das deine Mutter?“
„Ja.“
„Was hat sie gesagt?“
„Sie hat gefragt, ob du kommst“, log ich ihn an.
„Nach Memphis?“
„Ja. Übermorgen. Das schaffst du.“
„Nein. Das schaff ich nicht. Mein Job …“ Er brach ab, schien sich irgendeine Ausrede zu überlegen, aber dann machte er mir einen Vorschlag. „Hör zu, Brad, du kennst mich. Ich sag nicht, ich kann kommen, und dann komm ich nicht. Und ich sag auch nicht, ich kann nicht kommen, und denk mir ganz schnell ein paar Ausreden aus. Deshalb sage ich dir, ich komme, wenn du sie mitnimmst nach Winstel.“
„Ich? Wen …?“
„Lilly.“
„Lilly?“ Ich dachte irgendwas mit seinem Kopf sei nicht mehr in Ordnung.
„Die Asche, verdammt. Nimm die Urne …“
„Lass dich nur nicht auf irgendeinen Kuhhandel ein“, sagte Mutter so laut, dass ich abgelenkt wurde. „Du weißt ja, wie er ist. Der redet dir ein Ohr ab, wenn’s darum geht, seine …“
„Deine Mutter quatscht andauernd dazwischen, Brad. Sag ihr doch, sie soll endlich mal die Klappe halten, verdammt!“
„Mutter, hör auf!“
Sie hörte auf.